Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hans im Glück

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018/19]

Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm: »Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn.« Der Herr antwortete: »Du hast mir treu und ehrlich gedient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein.« und gab ihm ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war. Hans zog ein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus. Wie er so dahinging und immer ein Bein vor das andere setzte, kam ihm ein Reiter in die Augen, der frisch und fröhlich auf einem muntern Pferd vorbeitrabte. »Ach,« sprach Hans ganz laut, »was ist das Reiten ein schönes Ding! Da sitzt einer wie auf einem Stuhl, stößt sich an keinen Stein, spart die Schuh, und kommt fort, er weiß nicht wie.« Der Reiter, der das gehört hatte, hielt an und rief: »Ei, Hans, warum läufst du auch zu Fuß?« - »Ich muß ja wohl,« antwortete er, »da habe ich einen Klumpen heimzutragen, es ist zwar Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht gerad halten, auch drückt mir’s auf die Schulter.« »Weißt du was,« sagte der Reiter, »wir wollen tauschen: Ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen.« - »Von Herzen gern,« sprach Hans, »aber ich sage Euch, Ihr müßt Euch damit schleppen.« Der Reiter stieg ab, nahm das Gold und half dem Hans hinauf, gab ihm die Zügel fest in die Hände und sprach: »Wenn’s nun recht geschwind soll gehen, so mußt du mit der Zunge schnalzen und ‚hopp hopp‹ rufen.«

Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank und frei dahinritt. Über ein Weilchen fiel’s ihm ein, es sollte noch schneller gehen, und fing an mit der Zunge zu schnalzen und ‚hopp hopp‹ zu rufen. Das Pferd setzte sich in starken Trab, und ehe sich’s Hans versah, war er abgeworfen und lag in einem Graben, der die Äcker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre auch durchgegangen, wenn es nicht ein Bauer aufgehalten hätte, der des Weges kam und eine Kuh vor sich hertrieb. Hans suchte seine Glieder zusammen und machte sich wieder auf die Beine. Er war aber verdrießlich und sprach zu dem Bauer: »Es ist ein schlechter Spaß, das Reiten, zumal, wenn man auf so eine Mähre gerät, wie diese, die stößt und einen herabwirft, daß man den Hals brechen kann. Ich setze mich nun und nimmermehr wieder auf. Da lob ich mir Eure Kuh, da kann einer mit Gemächlichkeit hinterhergehen, und hat obendrein seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiß. Was gäb ich darum, wenn ich so eine Kuh hätte!« - »Nun,« sprach der Bauer, »geschieht Euch so ein großer Gefallen, so will ich Euch wohl die Kuh für das Pferd vertauschen.« Hans willigte mit tausend Freuden ein. Der Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon.

Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Handel. »Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mir’s noch nicht fehlen, so kann ich, sooft mir’s beliebt, Butter und Käse dazu essen. Hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?« Als er zu einem Wirtshaus kam, machte er halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich hatte, sein Mittags- und Abendbrot, rein auf, und ließ sich für seine letzten paar Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine Kuh weiter, immer nach dem Dorfe seiner Mutter zu. Die Hitze ward drückender, je näher der Mittag kam, und Hans befand sich in einer Heide, die wohl noch eine Stunde dauerte. Da ward es ihm ganz heiß, so daß ihm vor Durst die Zunge am Gaumen klebte. »Dem Ding ist zu helfen,« dachte Hans, »jetzt will ich meine Kuh melken und mich an der Milch laben.« Er band sie an einen dürren Baum, und da er keinen Eimer hatte, so stellte er seine Ledermütze unter, aber wie er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen Milch zum Vorschein. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so gab ihm das ungeduldige Tier endlich mit einem der Hinterfüße einen solchen Schlag vor den Kopf, daß er zu Boden taumelte und eine Zeitlang sich gar nicht besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam gerade ein Metzger des Weges, der auf einem Schubkarren ein junges Schwein liegen hatte. »Was sind das für Streiche!« rief er und half dem guten Hans auf. Hans erzählte, was vorgefallen war. Der Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach: »Da trinkt einmal und erholt Euch. Die Kuh will wohl keine Milch geben, das ist ein altes Tier, das höchstens noch zum Ziehen taugt oder zum Schlachten.« - »Ei, ei,« sprach Hans und strich sich die Haare über den Kopf, »wer hätte das gedacht! Es ist freilich gut, wenn man so ein Tier ins Haus abschlachten kann, was gibt’s für Fleisch! Aber ich mache mir aus dem Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer so ein junges Schwein hätte! Das schmeckt anders, dabei noch die Würste.« - »Hört, Hans,« sprach da der Metzger, »Euch zuliebe will ich tauschen und will Euch das Schwein für die Kuh lassen.« - »Gott lohn Euch Eure Freundschaft.« sprach Hans, übergab ihm die Kuh, ließ sich das Schweinchen vom Karren losmachen und den Strick, woran es gebunden war, in die Hand geben.

Hans zog weiter und überdachte, wie ihm doch alles nach Wunsch ginge, begegnete ihm ja eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich wieder gutgemacht. Es gesellte sich danach ein Bursch zu ihm, der trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die Zeit, und Hans fing an, von seinem Glück zu erzählen, und wie er immer so vorteilhaft getauscht hätte. Der Bursch erzählte ihm, daß er die Gans zu einem Kindtaufschmaus brächte. »Hebt einmal,« fuhr er fort und packte sie bei den Flügeln, »wie schwer sie ist, die ist aber auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt, muß sich das Fett von beiden Seiten abwischen.« »Ja,« sprach Hans, und wog sie mit der einen Hand, »die hat ihr Gewicht, aber mein Schwein ist auch keine Sau.« Indessen sah sich der Bursch nach allen Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. »Hört,« fing er darauf an, »mit Eurem Schweine mag’s nicht ganz richtig sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schulzen eins aus dem Stall gestohlen worden. Ich fürchte, ich fürchte, Ihr habt’s da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie Euch mit dem Schwein erwischten. Das Geringste ist, daß Ihr ins finstere Loch gesteckt werdet.« Dem guten Hans ward bang, »Ach Gott,« sprach er, »helft mir aus der Not, Ihr wißt hier herum bessern Bescheid, nehmt mein Schwein da und laßt mir Eure Gans.« - »Ich muß schon etwas aufs Spiel setzen,« antwortete der Bursche, »aber ich will doch nicht schuld sein, daß Ihr ins Unglück geratet.« Er nahm also das Seil in die Hand und trieb das Schwein schnell auf einen Seitenweg fort. Der gute Hans aber ging, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter dem Arme der Heimat zu. »Wenn ich’s recht überlege,« sprach er mit sich selbst, »habe ich noch Vorteil bei dem Tausch: Erstlich den guten Braten, hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das gibt Gänsefettbrot auf ein Vierteljahr, und endlich die schönen weißen Federn, die laß ich mir in mein Kopfkissen stopfen, und darauf will ich wohl gewiegt einschlafen. Was wird meine Mutter eine Freude haben!«

Als er durch das letzte Dorf gekommen war, stand da ein Scherenschleifer mit seinem Karren, sein Rad schnurrte, und er sang dazu:

»Ich schleife die Schere und drehe geschwind,
und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind.«

Hans blieb stehen und sah ihm zu. Endlich redete er ihn an und sprach: »Euch geht’s wohl, weil Ihr so lustig bei Eurem Schleifen seid.« - »Ja,« antwortete der Scherenschleifer, »das Handwerk hat einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, sooft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Aber wo habt Ihr die schöne Gans gekauft?« - »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« - »Und das Schwein?« - »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« - »Und die Kuh?« - »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« - »Und das Pferd?« - »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« - »Und das Gold?« - »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst.« - »Ihr habt Euch jederzeit zu helfen gewußt,« sprach der Schleifer, »könnt Ihr’s nun dahin bringen, daß Ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn Ihr aufsteht, so habt Ihr Euer Glück gemacht.« - »Wie soll ich das anfangen?« sprach Hans. »Ihr müßt ein Schleifer werden wie ich. Dazu gehört eigentlich nichts als ein Wetzstein, das andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür sollt Ihr mir aber auch weiter nichts als Eure Gans geben. Wollt Ihr das?« - »Wie könnt Ihr noch fragen,« antwortete Hans, »ich werde ja zum glücklichsten Menschen auf Erden. Habe ich Geld, sooft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?« reichte ihm die Gans hin, und nahm den Wetzstein in Empfang. »Nun,« sprach der Schleifer und hob einen gewöhnlichen schweren Feldstein, der neben ihm lag, auf, »da habt Ihr noch einen tüchtigen Stein dazu, auf dem sich’s gut schlagen läßt und Ihr Eure alten Nägel gerade klopfen könnt. Nehmt ihn und hebt ihn ordentlich auf.«

Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter. Seine Augen leuchteten vor Freude. »Ich muß in einer Glückshaut geboren sein,« rief er aus »alles, was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind.« Indessen, weil er seit Tagesanbruch auf den Beinen gewesen war, begann er müde zu werden. Auch plagte ihn der Hunger, da er allen Vorrat auf einmal in der Freude über die erhandelte Kuh aufgezehrt hatte. Er konnte endlich nur mit Mühe weitergehen und mußte jeden Augenblick halt machen. Dabei drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen brauchte. Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen, wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben. Damit er aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig neben sich auf den Rand des Brunnens. Darauf setzte er sich nieder und wollte sich zum Trinken bücken, da versah er’s, stieß ein klein wenig an, und beide Steine plumpten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Tränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auf eine so gute Art, und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären. »So glücklich wie ich,« rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.

Das ist sicherlich ein Märchen, das jedes Kind zumindest einmal hören sollte, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht wie ein Märchen erscheint. Es gibt weder Hexen noch Geister oder Magie. Nicht einmal die Tiere sprechen, und die Menschen handeln sehr gewöhnlich, außer unserem Hans, der zunächst als Verlierer in einer Welt erscheint, wo alle ihren persönlichen Vorteil suchen. Er kehrt von seinen Lehrjahren nach Hause zurück und verliert auf seinem beschwerlichen Weg in einer Kette von seltsamen Tauschgeschäften den Lohn, welchen er für sieben Jahre Dienen erhalten hat, nämlich einen großen Klumpen Gold. Das große Wunder an dieser Geschichte ist allerdings, daß unser Hans am Ende zwar viel verloren hat, sich allerdings darüber überhaupt nicht ärgert, sondern überglücklich ist.

Wir denken, die Botschaft auf der obersten Ebene richtet sich zunächst an unsere Kinder und erklärt, wie leicht man in dieser Welt betrogen wird, und wie schnell man dabei seinen Reichtum verlieren kann. Man sollte also nicht allzu leichtgläubig sein, sondern achtsam und klug handeln. Eine mittlere Ebene wäre der gesellschaftliche Abstieg von der reichen Oberschicht über den Edelmann auf dem Pferd, die verschiedenen Stufen der Bauern bis zum Scherenschleifer, der wahrscheinlich zu den ärmsten Handwerkern zählte. Am Ende ist unser Hans praktisch ein Tagelöhner, der nichts besitzt und auch keine besonderen Fähigkeiten zeigt, aber trotzdem glücklich sein kann. Das wären sozusagen die weltlichen Ebenen der Geschichte, wie man im Leben nach und nach durch unglückliche Geschäfte alles verlieren und gesellschaftlich absteigen kann, aber daran nicht verzweifeln muß. Man erkennt in dieser Geschichte auch, daß alle nützlichen Dinge in unserer Welt auch ihre Schattenseiten und Gefahren haben. Der Besitz allein reicht nicht aus, man muß auch lernen, damit umzugehen und zu wirtschaften. Dazu bedarf es einer gewissen Ausbildung, Fähigkeit und Erfahrung im Leben, die unser Hans wohl nicht hat. So könnte man dieses Märchen zunächst „Der dumme Hans“ nennen.

Doch ein Sprichwort sagt: „Weltlich verloren ist geistig gewonnen!“ Und so möchten wir nun versuchen, dieses Märchen auch auf einer tieferen, geistigen Ebene zu interpretieren. Da steht zunächst die Frage: Was hat unser Hans eigentlich in den sieben Jahren gelernt, wofür er so reichen Lohn empfangen hat, daß er selbst für die Lehrlinge unserer Zeit exorbitant ist? Es scheint nichts Praktisches gewesen zu sein. Weder zeigt er irgendein handwerkliches oder bäuerliches Geschick noch irgendeine körperliche Stärke oder geschäftlichen Biß, außer seiner geistigen Überlegenheit, in allen Situationen das Gute und Glückliche zu sehen und alles Gewonnene auch schnell wieder loszulassen. So liegt natürlich die Vermutung nahe, daß hier eine geistige Lehre gemeint ist, die er von seinem Herrn, Lehrer und damit geistigen Vater empfangen hat. Diesbezüglich ist es vielleicht kein Zufall, daß der Klumpen Gold mit Hansens Kopf verglichen wird, und im symbolischen Sinne die Lehre gemeint ist, die er im Kopf empfangen hat und so wertvoll wie Gold ist. Denn überall glücklich zu sein, ist sicherlich etwas sehr Wertvolles. Was das speziell für eine Lehre war, bleibt allerdings offen, denn es wird nur von der Wirkung gesprochen, und wie diese Lehre am Anfang seines Weges noch sehr „kopflastig“ war und der praktischen Lebenserfahrung und Verwirklichung in der Welt bedurfte. Vielleicht ging er deshalb den Weg vom geistigen Vater zur natürlichen Mutter, damit der Theorie nun auch die Praxis folgt.

Man könnte zum Beispiel an eine Alchemisten-Lehre denken, und der Klumpen Gold war sozusagen sein Gesellenstück, das ihm der Lehrer als Lohn geschenkt hatte. Doch das war in der Alchemie noch lange nicht das große Ziel, wie manche irrtümlicherweise glaubten und diese Lehre in Verruf brachten. Das praktische Ziel der Alchemie bestand darin, die materielle Welt in eine geistige Welt zu transformieren. Und dafür mußte sich der Alchemist vor allem selbst transformieren und einen Wandlungsprozeß im praktischen Leben durchlaufen, um das große Ziel zu verwirklichen. Entsprechend könnte man auch die Symbole deuten, die ihm auf diesem Weg begegnen.

Zum ersten ist es die Ungeduld, die uns oft verführt, schneller voranzukommen. Dafür steht das Pferd, das ihn im schnellen Lauf abwirft. Zum zweiten sind es Hunger und Durst, die uns dazu treiben, nach dem Genuß zu greifen. Dafür steht die Kuh, die früher einem Bauern fast alle Wünsche erfüllte, aber unserem Hans nur einen harten Tritt gibt. Zum dritten steht das Schwein, als Inbegriff für weltliches Glück, Trägheit und Fettlebe, die uns schnell auf Abwege führen können. Als viertes könnte der Tausch des Schweins in eine weiße Gans als Symbol für das Greifen nach weltlicher Gerechtigkeit stehen. Diese Gerechtigkeit nimmt manchmal sehr seltsame Formen an, vor allem wenn es um das persönliche Eigentum an Tieren oder anderen Lebewesen geht. Man hat oft das Gefühl, unsere weltlichen Gesetze wurden aufgestellt, um vor allem die gierigen Interessen der großen Egos zu schützen, die das Schwein symbolisiert. Kein Wunder, daß sich unser Hans fürchtet, darin verwickelt zu werden. Er versucht vernünftigerweise sich herauszuhalten und läßt lieber das fette Schwein zurück im Austausch für eine weiße Gans. Das ist vielleicht ein Zeichen seiner Unschuld, während der andere das Schwein auf ’Seitenwegen‘ davonführt.

Und als fünftes steht das Handwerk des Scherenschleifers als Symbol für den beruflichen Erfolg in der Welt, der uns Freiheit und Unabhängigkeit verspricht. Auch hier wird angesprochen, wie der Scherenschleifer selbstverständlich in die Natur greift und unserem Hans einen Stein schenkt, als wäre es sein Eigentum. Bei einem gewöhnlichen Feldstein lächeln wir vielleicht über die Dummheit, aber bei Diamanten, Gold oder Perlen ist das schon eine denkwürdige Sache, auf welchem Weg wir uns die Schätze der Natur aneignen und persönliches Eigentum entsteht.

Doch am Ende fällt alles schwer Errungene in einen tiefen Brunnen und verschwindet wieder im Bauch der Natur. Jedes eingebildete Eigentum geht wieder verloren. Wir würden dann jammern und uns noch von der Natur betrogen fühlen. - So könnte man Hansens Heimweg sogar als einen ganzen Lebensweg von der Geburt bis zum Tod betrachten. Denn im Laufe des Lebens sollten wir Menschen genau all dies meistern: Ungeduld, Leidenschaft, Trägheit und egoistisches Handeln. Und was bleibt unserem Hans am Ende? Aus Sicht der Alchemie hat er nach der sogenannten „äußeren Alchemie“ während seiner Lehrzeit auch die „innere Alchemie“ des Geistes gemeistert und den Wandlungsprozeß vom materiellen Gold über das Leben zum mystischen „Stein der Weisen“, dem geistigen Gold geistiger Freiheit verwirklicht. Frei von aller Last und Sorge kehrt er in seine Heimat und zu seinem Ursprung zurück, zur Großen Mutter, von der er geboren wurde. So hat unser Hans am Ende das erreicht, wonach wir alle mehr oder weniger bewußt im Leben suchen, nämlich das große Glück.

Das ist natürliche eine schreckliche Botschaft für unsere moderne Welt. Das heißt nämlich, das wahre Glück liegt nicht darin, immer mehr Eigentum anzusammeln oder irgendetwas Besonderes in der Welt zu werden. Und da steckt viel Wahrheit drin. Denn mal ehrlich, wer ist der reichste Mann in der Welt? Natürlich der, der alle seine Wünsche erfüllen kann. Und wer erfüllt sich alle Wünsche? Der innerlich zufrieden ist. Zufriedenheit ist das große Glück, daß uns wahrhaft unabhängig und frei macht. Zufriedenheit ist der größte Reichtum, den man erreichen kann. Zufriedenheit ist wahre Freiheit. Persönlicher Besitz bringt immer Bindung mit sich. Je mehr Besitz, um so mehr persönliche Bindung. Und wer gebunden ist, kann natürlich nicht frei sein. Und wer nicht frei ist, kann natürlich nicht glücklich sein. Je zufriedener, um so reicher. Je unzufriedener, um so ärmer. Können Sie sich das vorstellen?



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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[2018/19] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de