Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Katze und Maus in Gesellschaft

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]

Eine Katze hatte Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr so viel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, daß die Maus endlich einwilligte, mit ihr zusammen in einem Hause zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. »Aber für den Winter müssen wir Vorsorge tragen, sonst leiden wir Hunger,« sagte die Katze, »du, Mäuschen, kannst dich nicht überall hinwagen und gerätst mir am Ende in eine Falle.« Der gute Rat ward also befolgt und ein Töpfchen mit Fett angekauft. Sie wußten aber nicht, wo sie es hinstellen sollten, endlich nach langer Überlegung sprach die Katze: »Ich weiß keinen Ort, wo es besser aufgehoben wäre, als die Kirche, da getraut sich niemand, etwas wegzunehmen. Wir stellen es unter den Altar und rühren es nicht eher an, als bis wir es nötig haben.« Das Töpfchen ward also in Sicherheit gebracht, aber es dauerte nicht lange, so trug die Katze Gelüsten danach und sprach zur Maus: »Was ich dir sagen wollte, Mäuschen, ich bin von meiner Base zu Gevatter gebeten; sie hat ein Söhnchen zur Welt gebracht, weiß mit braunen Flecken, das soll ich über die Taufe halten. Laß mich heute ausgehen und besorge du das Haus allein.« - »Ja, ja,« antwortete die Maus, »geh in Gottes Namen, wenn du was Gutes issest, so denk an mich: von dem süßen roten Kindbetterwein tränk ich auch gerne ein Tröpfchen.« Es war aber alles nicht wahr, die Katze hatte keine Base, und war nicht zu Gevatter gebeten. Sie ging geradeswegs nach der Kirche, schlich zu dem Fettöpfchen, fing an zu lecken und leckte die fette Haut ab. Dann machte sie einen Spaziergang auf den Dächern der Stadt, besah sich die Gelegenheit, streckte sich hernach in der Sonne aus und wischte sich den Bart, sooft sie an das Fettnäpfchen dachte. Erst als es Abend war, kam sie wieder nach Haus. »Nun, da bist du ja wieder,« sagte die Maus, »du hast gewiß einen lustigen Tag gehabt.« - »Es ging wohl an,« antwortete die Katze. »Was hat denn das Kind für einen Namen bekommen?« fragte die Maus. »Hautab.« sagte die Katze ganz trocken. »Hautab,« rief die Maus, »das ist ja ein wunderlicher und seltsamer Name, ist der in eurer Familie gebräuchlich?« - »Was ist da weiter,« sagte die Katze, »er ist nicht schlechter als Bröseldieb, wie deine Paten heißen.«

Nicht lange danach überkam die Katze wieder ein Gelüsten. Sie sprach zur Maus: »Du mußt mir den Gefallen tun und nochmals das Hauswesen allein besorgen, ich bin zum zweitenmal zu Gevatter gebeten, und da das Kind einen weißen Ring um den Hals hat, so kann ichs nicht absagen.« Die gute Maus willigte ein, die Katze aber schlich hinter der Stadtmauer zu der Kirche und fraß den Fettopf halb aus. »Es schmeckt nichts besser,« sagte sie, »als was man selber ißt.« und war mit ihrem Tagewerk ganz zufrieden. Als sie heim kam, fragte die Maus: »Wie ist denn dieses Kind getauft worden?« - »Halbaus.« antwortete die Katze. »Halbaus! Was du sagst! Den Namen habe ich mein Lebtag noch nicht gehört, ich wette, der steht nicht in dem Kalender.«

Der Katze wässerte das Maul bald wieder nach dem Leckerwerk. »Aller guten Dinge sind drei,« sprach sie zu der Maus, »da soll ich wieder Gevatter stehen, das Kind ist ganz schwarz und hat bloß weiße Pfoten, sonst kein weißes Haar am ganzen Leib, das trifft sich alle paar Jahr nur einmal: du lässest mich doch ausgehen?« »Hautab! Halbaus!« antwortete die Maus, »Es sind so kuriose Namen, die machen mich so nachdenksam.« »Da sitzest du daheim in deinem dunkelgrauen Flausrock und deinem langen Haarzopf,« sprach die Katze, »und fängst Grillen: das kommt davon, wenn man bei Tage nicht ausgeht.« Die Maus räumte während der Abwesenheit der Katze auf und brachte das Haus in Ordnung, die naschhafte Katze aber fraß den Fettopf rein aus. »Wenn erst alles aufgezehrt ist, so hat man Ruhe.« sagte sie zu sich selbst und kam satt und dick erst in der Nacht nach Haus. Die Maus fragte gleich nach dem Namen, den das dritte Kind bekommen hätte. »Er wird dir wohl auch nicht gefallen,« sagte die Katze, »er heißt Ganzaus.« »Ganzaus!« rief die Maus, »Das ist der allerbedenklichste Namen, gedruckt ist er mir noch nicht vorgekommen. Ganzaus! Was soll das bedeuten?« Sie schüttelte den Kopf, rollte sich zusammen und legte sich schlafen.

Von nun an wollte niemand mehr die Katze zu Gevatter bitten, als aber der Winter herangekommen und draußen nichts mehr zu finden war, gedachte die Maus ihres Vorrats und sprach: »Komm, Katze, wir wollen zu unserm Fettopfe gehen, den wir uns aufgespart haben, der wird uns schmecken.« - »Jawohl,« antwortete die Katze, »der wird dir schmecken, als wenn du deine feine Zunge zum Fenster hinausstreckst.« Sie machten sich auf den Weg, und als sie anlangten, stand zwar der Fettopf noch an seinem Platz, er war aber leer. »Ach,« sagte die Maus, »jetzt merke ich, was geschehen ist, jetzt kommt’s an den Tag, du bist mir die wahre Freundin! Aufgefressen hast du alles, wie du zu Gevatter gestanden hast: erst Haut ab, dann halb aus, dann ...« »Willst du schweigen,« rief die Katze, »noch ein Wort, und ich fresse dich auf.« »Ganz aus« hatte die arme Maus schon auf der Zunge, kaum war es heraus, so tat die Katze einen Satz nach ihr, packte sie und schluckte sie hinunter. Siehst du, so geht’s in der Welt.

Auf der obersten Ebene ist dieses Märchen relativ klar. Katze und Maus sind natürliche Freßfeinde. Deshalb sollte sich die Maus vor der Katze hüten und ihr nicht vertrauen, denn es ist nun einmal das Naturell der Katze, daß sie gern Mäuse frißt. Auch wenn die Katze einen guten Charakter zeigt und die besten Vorsätze hat, sobald ihr Hunger erwacht, gibt es kein Halten mehr. Das ist die Macht der Natur, und diese sollte man in der Natur auch akzeptieren. So hat es nicht allzuviel Sinn, der Katze große Vorwürfe zu machen. Die Maus sollte achtsam sein und sich von der Katze fernhalten. Dieses Fressen und Gefressen werden ist in der Natur ‚normal‘. Der Mensch versucht zwar, aus diesem System herauszukommen, aber auch er ist auf natürliche Nahrung angewiesen. Und es gibt wohl keine Nahrung, unter der nicht andere Wesen leiden müssen. Sogar unsere künstliche Chemie, die uns hier eine unabhängige Lösung bringen sollte, macht dem natürlichen Ökosystem sehr zu schaffen und zieht noch viel größere Kreise der Zerstörung als das Schlachten eines Schweines oder das Ernten eines Krautkopfes. Wenn man es also tiefer betrachtet, dann steckt der Mensch immer noch im System der Natur, auch wenn er sich als etwas Besonderes dünkt, was natürlich auch jede Katze macht.

Auf einer tieferen Ebene kann man diesen Interessenkonflikt auch in unser Inneres verlagern. Dann könnte man die graue Maus als unsere Vernunft und die Katze als unser leidenschaftliches Ego betrachten. Und anhand dieses Märchens läßt sich sehr gut das Wesen der beiden studieren. Da ist zunächst die Vernunft, die nach dem Guten und Idealen sucht, aber in diesem Haus unseres Körpers gewöhnlich mit dem Ego zusammenleben muß oder sogar will. Das Ego wünscht sich natürlich einen Vorrat als Sicherheit für die Zukunft und hat nur wenig Vertrauen zu anderen, weil es sich ja selbst gut genug kennt. Nach dem Motto: „Was ich selber denk und tu, das traue ich auch den andern zu!“ So entscheidet es sich für einen Ort, wo es eine gewisse Sicherheit erwartet, nämlich die Kirche. Doch es dauert nicht lange, dann erwacht die egoistische Begierde und belügt unsere Vernunft. Und es geschieht wirklich oft, daß sich die egoistische Begierde hinter der Lüge versteckt, anderen zu helfen und ihnen Gutes zu tun. Eine starke Vernunft hätte hier die Chance, das Ego zu zügeln. Aber unsere kleine Maus läßt sich verführen, glaubt der Lüge und schwärmt sogar vom Genuß. Damit verliert die Vernunft zuerst ihre ‚Haut‘. Und jede Begierde, die erfüllt wird, und jede Lüge, die akzeptiert wird, läßt die Vernunft weiter schwinden, bis sie am Ende ganz vom gierigen Ego verschluckt wird. So spielt das Leben...

Wer dieses Spiel in seinem Inneren bereits beobachten konnte, wird auch das trügerische Gefühl der Erleichterung kennen, wenn irgendeine Begierde kurzfristig erfüllt wurde. Aber dieses Gefühl ist schnell vergänglich, wie wir auch in diesem Märchen lesen. Und selbst wenn der Topf leer ist und man denkt, daß die Begierde nun Ruhe geben wird, war es nicht die Lösung, denn schnell sucht sich das gierige Ego das nächste Objekt und schnappt danach...

Wenn wir dieses Problem von Katze und Maus in unserem Innern wirklich lösen wollen, werden wir uns am Ende auf die Seite der Maus stellen müssen und die Vernunft stärken, daß sie standhaft wird und sich nicht mehr von Lügen überwältigen läßt. Diese Wahrhaftigkeit ist eine wirklich große Herausforderung und beginnt natürlich bei den ganz kleinen Lügen, die wir uns täglich gönnen, um ganz kleine Vorteile zu gewinnen. Und das beginnt nicht bei den ‚Anderen‘ da draußen, sondern in unserem eigenen Kopf. Diesbezüglich könnte man noch viel über dieses innere Dilemma unterschiedlicher Interessen nachdenken. Eine ähnliche Geschichte über das Zusammenleben von Katze und Maus finden wir bereits im alten indischen Epos des Mahabharata [MHB 12.138], wo viele dieser Aspekte noch ausführlicher beleuchtet werden.

Den Altar könnte man auch als den eigenen Körper betrachten, mit den Lichtern der fünf Sinne und des Denkens sowie dem Kreuz als Symbol für die heilige Dreieinigkeit. Im Inneren wohnen sowohl Vernunft als auch Ego mit dem Topf der angesammelten Verdienste, die das gierige Ego gern verzehrt, am besten gleich zusammen mit der Vernunft.

Vielleicht noch ein Gedanke zu dem Vertrauen, das hier die egoistische Katze gerade in die Kirche hat. Angesichts unserer schnellebigen Gesellschaft suchen heute wieder viele Menschen ihren Halt in religiösen Gemeinschaften. Das ist sicherlich gut, damit die geistige Dimension in unserem Leben nicht ganz verloren geht. Problematisch wird es allerdings, wenn es vor allem das gierige Ego ist, das dort nach Schutz, Bestätigung und Verwirklichung sucht. Das erkennt man an den vielen hundert religiösen Grüppchen, die sich gegenseitig gern feindlich gesinnt sind. Dann schließt man sich einem bestimmten ...Ismus an, als würde man in eine Partei eintreten und um politische Ziele kämpfen. Und in diesem ...Ismus werden wir dann bestimmte ...Isten oder sogar ...IstInnen, wie wir bald auch von MenschInnen reden müssen. Denn das ist typisch für den Egoismus, daß man natürlich etwas besonders sein, sich abheben und über ‚Andere‘ stellen will. Wie kann es nur so viele steinharte Differenzen geben, wenn es auf dem geistigen Weg eigentlich darum geht, die verhärteten oberflächlichen Ansichten aufzulösen und die tiefere Wahrheit zu finden? Das liegt vor allem am Egoismus, denn unser Ego ist von der Wahrheit am härtesten bedroht und reagiert dann gewöhnlich so, wie die Katze am Ende unseres Märchens: Schnapp, und Wahrheit und Vernunft sind im gierigen Rachen verschwunden.


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Das Mädchen ohne Hände - (Thema: Der Leidensweg zur Erlösung)
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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[MHB] Das Mahabharata des Vyasa, 2014, www.mahabharata.pushpak.de
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de