Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]

Es war einmal eine arme Frau, die gebar ein Söhnlein, und weil es eine Glückshaut umhatte, als es zur Welt kam, so ward ihm geweissagt, es werde im vierzehnten Jahr die Tochter des Königs zur Frau haben. Es trug sich zu, daß der König bald darauf ins Dorf kam, und niemand wußte, daß es der König war, und als er die Leute fragte, was es Neues gäbe, so antworteten sie: »Es ist in diesen Tagen ein Kind mit einer Glückshaut geboren. Was so einer unternimmt, das schlägt ihm zum Glück aus. Es ist ihm auch vorausgesagt, in seinem vierzehnten Jahre solle er die Tochter des Königs zur Frau haben.« Der König, der ein böses Herz hatte und über die Weissagung sich ärgerte, ging zu den Eltern, tat ganz freundlich und sagte: »Ihr armen Leute, überlaßt mir euer Kind, ich will es versorgen.« Anfangs weigerten sie sich, da aber der fremde Mann schweres Gold dafür bot und sie dachten »Es ist ein Glückskind, es muß doch zu seinem Besten ausschlagen!« so willigten sie endlich ein und gaben ihm das Kind.

Was ist eine ‚Glückshaut‘? Ein äußerer Körper, der dem Wesen viel Glück in dieser Welt bringt, und das nicht nur rein statistisch, sondern schicksalhaft vorherbestimmt. So sehen wir wieder, daß ein Kind kein unbeschriebenes Blatt ist, wenn es in diese Welt geboren wird. In Indien wird diesbezüglich von Karma gesprochen, das aus der Sünde und den Verdiensten vergangener Leben geerbt wird. In der christlichen Welt spricht man vor allem von Erbsünde und weniger von Erbverdienst. Aber wo es ein Minus gibt, muß auch ein Plus existieren, und so ist es sicherlich nicht umsonst, wenn wir im Leben viel Gutes tun und anderen helfen, auch wenn sich die guten Früchte nicht gleich zeigen. Vielleicht erfreut man sich dieses Glücks erst im nächsten Leben, wie unser Glückskind in diesem Märchen. Es wurde ihm sogar die Königswürde vorhergesagt, wovon sich der amtierende König sogleich bedroht fühlte. So etwas geschieht in der äußeren Welt, aber auch auf geistiger Ebene in unserem Inneren, wo auch nicht immer die edelsten Kräfte die Herrschaft führen. Und so wollen wir nun lesen, wie ein verdienstvoller Mensch die Hindernisse dieser Welt bewältigt.

Der König legte es in eine Schachtel und ritt damit weiter, bis er zu einem tiefen Wasser kam. Da warf er die Schachtel hinein und dachte: »Von dem unerwarteten Freier habe ich meine Tochter geholfen.« Die Schachtel aber ging nicht unter, sondern schwamm wie ein Schiffchen, und es drang auch kein Tröpfchen Wasser hinein. So schwamm sie bis zwei Meilen von des Königs Hauptstadt, wo eine Mühle war, an dessen Wehr sie hängenblieb. Ein Mahlbursche, der glücklicherweise da stand und sie bemerkte, zog sie mit einem Haken heran und meinte große Schätze zu finden. Als er sie aber aufmachte, lag ein schöner Knabe darin, der ganz frisch und munter war. Er brachte ihn zu den Müllersleuten, und weil diese keine Kinder hatten, freuten sie sich und sprachen: »Gott hat es uns beschert.« Sie pflegten den Findling wohl, und er wuchs in allen Tugenden heran.

Es trug sich zu, daß der König einmal bei einem Gewitter in die Mühle trat und die Müllersleute fragte, ob der große Junge ihr Sohn wäre. »Nein,« antworteten sie, »es ist ein Findling, er ist vor vierzehn Jahren in einer Schachtel ans Wehr geschwommen, und der Mahlbursche hat ihn aus dem Wasser gezogen.« Da merkte der König, daß es niemand anders als das Glückskind war, das er ins Wasser geworfen hatte, und sprach: »Ihr guten Leute, könnte der Junge nicht einen Brief an die Frau Königin bringen? Ich will ihm zwei Goldstücke zum Lohn geben.« - »Wie der Herr König gebietet,« antworteten die Leute, und hießen den Jungen sich bereit halten. Da schrieb der König einen Brief an die Königin, worin stand: »Sobald der Knabe mit diesem Schreiben angelangt ist, soll er getötet und begraben werden, und das alles soll geschehen sein, ehe ich zurückkomme.«

Der Knabe machte sich mit diesem Briefe auf den Weg, verirrte sich aber und kam abends in einen großen Wald. In der Dunkelheit sah er ein kleines Licht, ging darauf zu und gelangte zu einem Häuschen. Als er hineintrat, saß eine alte Frau beim Feuer ganz allein. Sie erschrak, als sie den Knaben erblickte, und sprach: »Wo kommst du her und wo willst du hin?« - »Ich komme von der Mühle,« antwortete er, »und will zur Frau Königin, der ich einen Brief bringen soll. Weil ich mich aber in dem Walde verirrt habe, so wollte ich hier gerne übernachten.« - »Du armer Junge,« sprach die Frau, »du bist in ein Räuberhaus geraten, und wenn sie heimkommen, so bringen sie dich um.« - »Mag kommen, wer will,« sagte der Junge, »ich fürchte mich nicht. Ich bin aber so müde, daß ich nicht weiter kann,« streckte sich auf eine Bank und schlief ein. Bald hernach kamen die Räuber und fragten zornig, was da für ein fremder Knabe läge. »Ach,« sagte die Alte, »es ist ein unschuldiges Kind, es hat sich im Walde verirrt, und ich habe ihn aus Barmherzigkeit aufgenommen. Er soll einen Brief an die Frau Königin bringen.« Die Räuber erbrachen den Brief und lasen ihn, und es stand darin, daß der Knabe sogleich, wie er ankäme, sollte ums Leben gebracht werden. Da empfanden die hartherzigen Räuber Mitleid, und der Anführer zerriß den Brief und schrieb einen andern, und es stand darin, sowie der Knabe ankäme, sollte er sogleich mit der Königstochter vermählt werden. Sie ließen ihn dann ruhig bis zum andern Morgen auf der Bank liegen, und als er aufgewacht war, gaben sie ihm den Brief und zeigten ihm den rechten Weg. Die Königin aber, als sie den Brief empfangen und gelesen hatte, tat, wie darin stand, hieß ein prächtiges Hochzeitsfest anstellen, und die Königstochter ward mit dem Glückskind vermählt. Und da der Jüngling schön und freundlich war, so lebte sie vergnügt und zufrieden mit ihm.

Nun, so lebt ein Glückskind. Die Umstände entwickeln sich stet zu seinem Guten, und sogar die Verirrungen gereichen ihm zum Glück. Sein Leben wird bewahrt, die Mühle der Welt nimmt ihn liebevoll auf, und tugendhafte Menschen sorgen sich um ihn. Selbst die wilden Räuber haben Mitleid mit dem Jungen, und obwohl sie der Welt soviel Böses bringen, so wirken sie in diesem Fall viel Gutes. So ein verdienstvoller Mensch strahlt weit auf seine Umgebung aus. Wenn vielleicht nur einer von hundert Menschen solche verdienstvolle Ausstrahlung hätte, dann sähe unsere ganze Welt wesentlich freundlicher aus. Solche Menschen sind wie helle Lichter, welche die Dunkelheit ringsherum vertreiben. Wir sehen also: Es lohnt sich, tugendhafte Verdienste im Leben anzusammeln, die zum Segen aller werden.

Nach einiger Zeit kam der König wieder in sein Schloß und sah, daß die Weissagung erfüllt und das Glückskind mit seiner Tochter vermählt war. »Wie ist das zugegangen?« sprach er, »ich habe in meinem Brief einen ganz andern Befehl erteilt.« Da reichte ihm die Königin den Brief und sagte, er möchte selbst sehen, was darin stände. Der König las den Brief und merkte wohl, daß er mit einem andern war vertauscht worden. Er fragte den Jüngling, wie es mit dem anvertrauten Briefe zugegangen wäre, warum er einen andern dafür gebracht hätte. »Ich weiß von nichts,« antwortete er, »er muß mir in der Nacht vertauscht sein, als ich im Walde geschlafen habe.« Voll Zorn sprach der König: »So leicht soll es dir nicht werden! Wer meine Tochter haben will, der muß mir aus der Hölle drei goldene Haare von dem Haupte des Teufels holen. Bringst du mir, was ich verlange, so sollst du meine Tochter behalten.« Damit hoffte der König ihn auf immer los zu werden. Das Glückskind aber antwortete: »Die goldenen Haare will ich wohl holen, ich fürchte mich vor dem Teufel nicht.« Darauf nahm er Abschied und begann seine Wanderschaft.

So wie die Eltern bereits großes Vertrauen in sein gutes Schicksal hatten, so hat auch unser Glückkind ein gesundes Selbstvertrauen. Wovor sollte er sich auch fürchten? Doch der üble König gibt nicht auf. Wer ist dieser falsche König? Auf einer tieferen Ebene wird ihn wohl jeder in sich selbst finden können. Es ist ein Wesen, das nur seine eigenen Vorteile sucht, und es damit sogar geschafft hat, die Herrschaft der Welt zu ergreifen. Es intrigiert und lügt, um seine persönliche Herrschaft zu erhalten. Und alles, was ihn bedroht, wird rücksichtslos bekämpft. Das erinnert natürlich an unser geliebtes Ego, das sich in dieser Körper-Burg zum König aufgeschwungen hat. Und der zornvolle König tut alles, um die Vernunft von der Seele fernzuhalten, und stellt sie vor größte Herausforderungen, an denen sie zerbrechen soll. Oft gelingt das auch im gewöhnlichen Leben. Doch wir ahnen bereits, daß eine solche Herrschaft nicht lange gut gehen kann.

Die Vernunft soll in die Hölle gehen und vom Kopf des Teufels drei goldene Haare holen. Was bedeutet das? Weshalb hat der Teufel goldene Haare auf dem Kopf? Das ist ein wunderbares Symbol! Gold steht für das Wahre und Unvergängliche, sogar für das Göttliche. Und das läßt sich beim Teufel finden? Natürlich, denn diese gedankliche Polarität von Gott und Teufel sollte man sich nicht so vorstellen, daß beide weit voneinander getrennt sind und man lange wandern muß, um von dem einen zum anderen zu kommen. Diese beiden Pole gleichen einer Batterie, wo sich Plus und Minus im Inneren treffen und sozusagen mit dem Rücken aneinander stehen, wie das berühmte Janus-Gesicht. Nur nach außen hin erscheinen Plus- und Minuspol, Gott und Teufel. Und je weiter man nach außen geht, um so größer wird diese Trennung und entsprechend die Spannung. Deshalb geht unser Glückskind wahrscheinlich auch einen Weg ins Innere. Und dieser mystische Weg ins eigene Wesen wird im folgenden mit vielen Symbolen beschrieben:

Der Weg führte ihn zu einer großen Stadt, wo ihn der Wächter an dem Tore ausfragte, was für ein Gewerbe er verstände und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete das Glückskind. »So kannst du uns einen Gefallen tun,« sagte der Wächter, »wenn du uns sagst, warum unser Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, trocken geworden ist, und nicht einmal mehr Wasser gibt.« - »Das sollt ihr erfahren,« antwortete er, »wartet nur, bis ich wiederkomme.« Da ging er weiter und kam vor eine andere Stadt, da fragte der Torwächter wiederum, was für ein Gewerbe er verstünde und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete er. »So kannst du uns einen Gefallen tun und uns sagen, warum ein Baum in unserer Stadt, der sonst goldene Äpfel trug, jetzt nicht einmal Blätter hervortreibt.« - »Das sollt ihr erfahren,« antwortete er, »wartet nur, bis ich wiederkomme.« Da ging er weiter, und kam an ein großes Wasser, über das er hinüber mußte. Der Fährmann fragte ihn, was er für ein Gewerbe verstände und was er wüßte. »Ich weiß alles,« antwortete er. »So kannst du mir einen Gefallen tun,« sprach der Fährmann, »und mir sagen, warum ich immer hin- und herfahren muß und niemals abgelöst werde.« - »Das sollst du erfahren,« antwortete er, »warte nur, bis ich wiederkomme.«

Der Weg ins Innere bzw. Jenseitige führt hier durch zwei Tore und über ein Wasser. Die Wächter fragen ihn nach dem Stand seiner Erkenntnis. Ohne höhere bzw. tiefere Erkenntnis kommt man dort vermutlich nicht weiter. Unser Glückskind antwortet stets: „Ich weiß alles! Und eure Fragen beantworte ich, wenn ich von dieser Reise ins Innere zurückkehre.“ Das ist ein wunderbarer Spruch! Denn die Wahrheit ist in jedem von uns verborgen. Dort wartet die große Weisheit bzw. Allwissenheit auf ihre Entdeckung. Jeder kann sie in seinem Inneren finden. Dort liegt der größte Schatz versteckt. Aber noch sprudelt dieser reine Brunnen nicht mit göttlichem Nektar, und der Baum des Lebens trägt keine ewigen Früchte. Und deshalb wandern wir in endlosen Zyklen durch Geburt und Tod zwischen Jenseits und Diesseits, und fahren über den Fluß des Todes hin und her, ohne je davon erlöst zu werden. Dieser Totenfluß mit dem Fährmann ist eine sehr alte und weitverbreitete Symbolik. Man findet sie bereits bei den alten Ägyptern wie auch bei den alten Griechen und Germanen oder im Gilgamesch-Epos.

Als er über das Wasser hinüber war, so fand er den Eingang zur Hölle. Es war schwarz und rußig darin, und der Teufel war nicht zu Haus, aber seine Großmutter saß da in einem breiten Sorgenstuhl. »Was willst du?« sprach sie zu ihm, sah aber gar nicht so böse aus. »Ich wollte gerne drei goldene Haare von des Teufels Kopf,« antwortete er, »sonst kann ich meine Frau nicht behalten.« - »Das ist viel verlangt,« sagte sie, »wenn der Teufel heimkommt und findet dich, so geht dir’s an den Kragen. Aber du dauerst mich, ich will sehen, ob ich dir helfen kann.« Sie verwandelte ihn in eine Ameise und sprach: »Kriech in meine Rockfalten, da bist du sicher.« - »Ja,« antwortete er, »das ist schon gut, aber drei Dinge möchte ich gerne noch wissen: Warum ein Brunnen, aus dem sonst Wein quoll, trocken geworden ist, jetzt nicht einmal mehr Wasser gibt? Warum ein Baum, der sonst goldene Äpfel trug, nicht einmal mehr Laub treibt? Und warum ein Fährmann immer herüber- und hinüberfahren muß und nicht abgelöst wird?« - »Das sind schwere Fragen,« antwortete sie, »aber halte dich nur still und ruhig, und hab acht, was der Teufel spricht, wenn ich ihm die drei goldenen Haare ausziehe.«

Im Totenreich findet er den Eingang zur dunklen Hölle. Dort trifft er zunächst die Großmutter des Teufels. Die ‚große Mutter‘ erinnert wieder an die Mutter Natur, die natürlich auch dort existiert und im ‚Sorgenstuhl‘ sitzt. Das heißt, sie sorgt sich um die Wesen, die in ihrem Reich wohnen. Darüber hinaus ist der Sorgenstuhl auch ein alter Begriff für einen bequemen Sessel, in dem man gemütlich nachdenken kann. - Unser Glückskind wird natürlich auch hier gut aufgenommen und findet Hilfe. Dafür wird er in eine Ameise verwandelt. Denn wahrlich, wer den großen Geist erlangen möchte, muß dafür körperlich ganz klein werden. Und wie geht das? Es ist ganz einfach, denn wir befinden uns hier in einem geistigen Reich, wo der Geist jede Form annehmen kann.

Als der Abend einbrach, kam der Teufel nach Haus. Kaum war er eingetreten, so merkte er, daß die Luft nicht rein war. »Ich rieche, rieche Menschenfleisch,« sagte er, »es ist hier nicht richtig.« Dann guckte er in alle Ecken und suchte, konnte aber nichts finden. Die Großmutter schalt ihn aus, »Eben ist erst gekehrt,« sprach sie, »und alles in Ordnung gebracht, nun wirfst du mir’s wieder untereinander. Immer hast du Menschenfleisch in der Nase! Setze dich nieder und iß dein Abendbrot.« Als er gegessen und getrunken hatte, war er müde, legte der Großmutter seinen Kopf in den Schoß und sagte, sie sollte ihn ein wenig lausen. Es dauerte nicht lange, so schlummerte er ein, blies und schnarchte. Da faßte die Alte ein goldenes Haar, riß es aus und legte es neben sich. »Autsch!« schrie der Teufel, »was hast du vor?« - »Ich habe einen schweren Traum gehabt,« antwortete die Großmutter, »da hab ich dir in die Haare gefaßt.« - »Was hat dir denn geträumt?« fragte der Teufel. »Mir hat geträumt, ein Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, sei versiegt, und es habe nicht einmal Wasser daraus quellen wollen, was ist wohl schuld daran?« - »He, wenn sie’s wüßten!« antwortete der Teufel, »Es sitzt eine Kröte unter einem Stein im Brunnen, wenn sie die töten, so wird der Wein schon wieder fließen.« Die Großmutter lauste ihn wieder, bis er einschlief und schnarchte, daß die Fenster zitterten. Da riß sie ihm das zweite Haar aus. »Hu! was machst du?« schrie der Teufel zornig. »Nimm’s nicht übel,« antwortete sie, »ich habe es im Traum getan.« - »Was hat dir wieder geträumt?« fragte er. »Mir hat geträumt, in einem Königreiche ständ ein Obstbaum, der hätte sonst goldene Äpfel getragen und wollte jetzt nicht einmal Laub treiben. Was war wohl die Ursache davon?« - »He, wenn sie’s wüßten!« antwortete der Teufel, »An der Wurzel nagt eine Maus, wenn sie die töten, so wird er schon wieder goldene Äpfel tragen, nagt sie aber noch länger, so verdorrt der Baum gänzlich. Aber laß mich mit deinen Träumen in Ruhe, wenn du mich noch einmal im Schlafe störst, so kriegst du eine Ohrfeige.« Die Großmutter sprach ihm gut zu und lauste ihn wieder, bis er eingeschlafen war und schnarchte. Da faßte sie das dritte goldene Haar und riß es ihm aus. Der Teufel fuhr in die Höhe, schrie und wollte übel mit ihr wirtschaften, aber sie besänftigte ihn nochmals und sprach: »Wer kann für böse Träume!« - »Was hat dir denn geträumt?« fragte er, und war doch neugierig. »Mir hat von einem Fährmann geträumt, der sich beklagte, daß er immer hin- und herfahren müßte, und nicht abgelöst würde. Was ist wohl schuld?« - »He, der Dummbart!« antwortete der Teufel, »Wenn einer kommt und will überfahren, so muß er ihm die Stange in die Hand geben, dann muß der andere überfahren, und er ist frei.«

Wenn es im Geist dunkel wird, kommt der Teufel nach Hause. Und er riecht die Menschen schon auf große Entfernung. Das ist auch verständlich, denn er wurde ja vom menschlichen Denken selbst geschaffen. Und wie sie gegeneinander kämpfen, so ziehen sie sich auch magisch an. Denn im Grunde ist der Teufel nichts anderes als eine Personifizierung unserer eigenen Sünden, die uns vor dem Gericht der Wahrheit bzw. vor Gott anklagen. Daß unser Glückskind hier nicht sofort erkannt und verurteilt wird, deutet bereits auf eine gewisse geistige Reinheit hin. Der Vorwurf, daß der Teufel hier alles durcheinanderwirft, ist sicherlich auch kein Zufall, denn dieser Begriff kommt vom altgriechischen ‚Diabolos‘, was soviel wie ‚Durcheinanderwerfer‘ oder ‚Verwirrer‘ bedeutet. Nun, wenn der Teufel schläft, sollte man die Zeit nutzen, um ihn zu besiegen, und das durch die große Erkenntnis, die er uns sonst verhüllt. Diese wird hier natürlich in wunderbarer Symbolik angedeutet, die schwer zu durchschauen ist.

Die erste Frage, die mit dem ersten goldenen Haar verbunden ist, bezieht sich auf den Brunnen, der keinen Wein mehr gibt. Dieser Brunnen erinnert uns an die biblische Geschichte, als Jesus zur Samariterin sprach: „Wer von diesem (weltlichen) Wasser trinkt, den wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten. Sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“ Und der Wein erinnert an den göttlichen Nektar, als Jesus zum großen Hochzeitsfest der Seele das weltliche Wasser in himmlischen Wein verwandelte, der beim Abendmahl sogar als Symbol für sein eigenes Blut steht. Natürlich gibt es auch den Wein, der uns weltlich berauscht, doch dieser ist hier offensichtlich nicht gemeint. Und was ist die Antwort? Eine Kröte sitzt in der Tiefe und versperrt die Quelle. Die Kröte ist ein uraltes Symbol für ein Erd-Wesen, das aus der Dunkelheit heraus wirkt, und wird oft mit Sünde, tödlichem Gift und Habgier verbunden. In dieser Richtung sollte man wohl in der Tiefe danach suchen, was den Brunnen der Wahrheit in uns verstopft.

Mit dem zweiten goldenen Haar steht die Frage, warum der Baum des Lebens keine ewigen Früchte mehr bringt und zu verdorren droht. Diesen Baum findet man nicht nur am Anfang der Bibel, sondern in fast allen alten Kulturen. Bei den Germanen hieß er zum Beispiel Yggdrasil, der als Weltenbaum den gesamten Kosmos symbolisiert. Und wie in unserem Märchen eine Maus an der Wurzel nagt und den Baum bedroht, so ist es dort der Drache Nidhöggr, und im indischen Mahabharata sind es weiße und schwarze Ratten [MHB 11.6]. All das sind sicherlich Symbole für den Zahn der Zeit, der an jedem Geschöpf nagt. Diese allumfassende Vergänglichkeit ist natürlich eine große Herausforderung, die man auf dem Weg zur Wahrheit meistern muß, um sich von den Fesseln der Illusion zu befreien. Solange man diesen Feind nicht besiegt hat, ist alles bedroht, und es kann keine ewigen Früchte geben. Auch wenn es nur eine kleine graue Maus ist, sie lebt im Dunklen verborgen und ist schwer zu finden.

Die dritte Frage für das dritte goldene Haar betrifft den mystischen Fährmann, der ständig auf dem Fluß des Todes von einem Ufer zum anderen rudert und wie in endlosen Kreisen die Seele ins Jenseits und wieder zurück in diese Welt bringt. Wer ist dieser Fährmann, der mittlerweile müde vom ewigen Hin und Her geworden ist und nach Erlösung fragt? Wir sollten uns hier bewußt sein, daß wir auf der Reise in unser Inneres natürlich immer nur uns selbst treffen. Das Selbst nimmt alle Formen an und wirkt in jedem Wesen. Dort gibt es keine ‚anderen‘ mehr. So ist dieser Fährmann ein wunderbares Symbol, das weit in die Tiefe zeigt. Wer ist es, der diesen Körper bewegt und diese Seele durch die Welten wandern läßt? Und was ist die Erlösung von dieser Wanderung? Die Frage könnte uns zunächst absurd erscheinen. Denn unsere modernen Ideale wünschen sich, solange und soweit wie möglich durch die Welt zu reisen, immer Neues zu sehen und nie zur Ruhe zu kommen. Das liegt vermutlich an unserer modernen Weltanschauung, daß nämlich das Leben mit dem Tod endet. Deshalb sind wir uns dieses ewigen Kreislaufs kaum noch bewußt. Warum sollten wir also nach Erlösung suchen, wenn mit dem Tod alles vorbei ist? Das ist wohl auch der Grund, warum wir heutzutage so wenig Verantwortung für die kommenden Generationen auf dieser Erde übernehmen und vor allem nur an uns persönlich denken. Aber praktisch geht das Leben immer weiter. Schon seit Millionen Jahren werden Menschen geboren, welche von ihren Eltern lernen und immer wieder die gleichen Bahnen gehen. Auch wenn sie glauben, alles anders und besser zu machen, nur sehr wenige sind wirklich so frei wie unser Glückskind in diesem Märchen. Und wer sich dieses endlosen Hamsterrades wirklich bewußt wird, könnte irgendwann nach Erlösung fragen, um sich aus diesem Kreislauf von Geburt und Tod zu befreien. Und was ist in unserem Märchen die Antwort auf diese Frage: „Gib das Ruder ab, und halte dich nicht daran fest! Dann bist Du frei...“ Höchst erstaunlich! In ähnlicher Weise spricht das Mahabharata: „Der Weise jedoch besteigt ein Boot mit Segeln und überquert das Wasser, ohne zu ermüden. Am anderen Ufer angekommen läßt er das Boot zurück, denn er ist vom Gedanken an ‚mein‘ befreit [MHB 14.50].“ Zugegeben, das ist für uns eine sehr verwirrende Botschaft, denn gerade in diesem ‚mein‘ suchen wir heutzutage das große Glück im Leben.

Da die Großmutter ihm die drei goldenen Haare ausgerissen hatte und die drei Fragen beantwortet waren, so ließ sie den alten Drachen in Ruhe, und er schlief, bis der Tag anbrach.

Es ist also die große Mutter, die Natur, die uns zur wahren Erkenntnis verhilft. Und danach sollte man diesen mystischen Drachen in Ruhe lassen, der vielleicht nur ein feuerspeiender Engel ist, bis die Zeit wieder kommt, daß er seine Aufgabe in diesem Universum erfüllen muß.

Als der Teufel wieder fortgezogen war, holte die Alte die Ameise aus der Rockfalte, und gab dem Glückskind die menschliche Gestalt zurück. »Da hast du die drei goldenen Haare,« sprach sie, »was der Teufel zu deinen drei Fragen gesagt hat, wirst du wohl gehört haben.« - »Ja,« antwortete er, »ich habe es gehört und will’s wohl behalten.« - »So ist dir geholfen,« sagte sie »und nun kannst du deiner Wege ziehen.« Er bedankte sich bei der Alten für die Hilfe in der Not, verließ die Hölle und war vergnügt, daß ihm alles so wohl geglückt war. Als er zu dem Fährmann kam, sollte er ihm die versprochene Antwort geben. »Fahr mich erst hinüber,« sprach das Glückskind, »so will ich dir sagen, wie du erlöst wirst.« und als er auf dem jenseitigen Ufer angelangt war, gab er ihm des Teufels Rat: »Wenn wieder einer kommt und will übergefahren sein, so gib ihm nur die Stange in die Hand.« Er ging weiter und kam zu der Stadt, worin der unfruchtbare Baum stand, und wo der Wächter auch Antwort haben wollte. Da sagte er ihm, wie er vom Teufel gehört hatte: »Tötet die Maus, die an seiner Wurzel nagt, so wird er wieder goldene Äpfel tragen.« Da dankte ihm der Wächter und gab ihm zur Belohnung zwei mit Gold beladene Esel, die mußten ihm nachfolgen. Zuletzt kam er zu der Stadt, deren Brunnen versiegt war. Da sprach er zu dem Wächter, wie der Teufel gesprochen hatte: »Es sitzt eine Kröte im Brunnen unter einem Stein, die müßt ihr aufsuchen und töten, so wird er wieder reichlich Wein geben.« Der Wächter dankte und gab ihm ebenfalls zwei mit Gold beladene Esel.

Wie unser Glückskind nun in diese Welt zurückkehrt, löst er alle Rätsel und gewinnt den ewigen Lohn, der hier wieder mit viel Gold symbolisiert wird. Wunderbar ist in diesem Märchen, daß gerade der übelgesinnte König unser Glückskind auf seine mystische Reise geschickt hat, die so gewinnbringend war. So hat wohl jeder seine Aufgabe in der Welt.

Endlich langte das Glückskind daheim bei seiner Frau an, die sich herzlich freute, als sie ihn wiedersah und hörte, wie wohl ihm alles gelungen war. Dem König brachte er, was er verlangt hatte, die drei goldenen Haare des Teufels, und als dieser die vier Esel mit dem Golde sah, ward er ganz vergnügt und sprach: »Nun sind alle Bedingungen erfüllt und du kannst meine Tochter behalten. Aber, lieber Schwiegersohn, sage mir doch, woher ist das viele Gold? Das sind ja gewaltige Schätze!« - »Ich bin über einen Fluß gefahren,« antwortete er, »und da habe ich es mitgenommen, es liegt dort statt des Sandes am Ufer.« - »Kann ich mir auch davon holen?« sprach der König und war ganz begierig. »So viel Ihr nur wollt,« antwortete er, »es ist ein Fährmann auf dem Fluß, von dem laßt Euch überfahren, so könnt Ihr drüben Eure Säcke füllen.« Der habsüchtige König machte sich in aller Eile auf den Weg, und als er zu dem Fluß kam, so winkte er dem Fährmann, der sollte ihn übersetzen. Der Fährmann kam und hieß ihn einsteigen, und als sie an das jenseitige Ufer kamen, gab er ihm die Ruderstange in die Hand und sprang davon. Der König aber mußte von nun an fahren zur Strafe für seine Sünden.

Nun haben sich Mann und Frau - in diesem Märchen könnte man auch von Vernunft und Seele sprechen - wieder glücklich vereint, und das Glückskind ist zum wahrhaften König geworden. Und der falsche König? Seine Leidenschaft läßt ihn nach dem materiellen Gold greifen. Aber genau diese egoistische Begierde bindet ihn an den Kreislauf der Welt, und so muß er nun mühsam hin und her rudern. Das ist wohl das große Problem unseres Egos: Es kann einfach nicht loslassen...

»Fährt er wohl noch?« - »Was denn? Es wird ihm niemand die Stange abgenommen haben.«


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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
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