Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Frau Holle

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit tun und das Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen: sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: »Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.« Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte: und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen.

Da haben wir zunächst das im Märchen oft herangezogene Drama um die Stiefmutter, die ihre leibliche Tochter lieber hat als die Tochter ihres Mannes. Haben wir auch manchmal das Gefühl, daß uns die Natur nicht wie eine liebende Mutter, sondern wie eine Stiefmutter behandelt? Sie quält und treibt uns ständig zu mühevoller Arbeit, und anderen scheint sie alles Glück zu schenken. Wie die Unkräuter, die im Garten offensichtlich viel einfacher wachsen, als unsere Kulturpflanzen, die jede Menge Mühe erfordern. Vom Vater wird in diesem Märchen nicht gesprochen. Vielleicht ist er tot, zumindest erfüllt er hier seine Rolle als geistiger Ausgleich zur Natur der Mutter nicht. Die äußere Natur herrscht allein, und das Gleichgewicht scheint gestört. Die Spindel, auf der sich der Lebensfaden des Schicksals aufwickelt, ist vom Leiden blutig und fällt in den Brunnen, damit dessen Wasser sie reinigen kann. Und der Mensch muß diesem Faden folgen, der nun im Brunnen verschwindet. Zunächst scheint Mutter Natur unbarmherzig zu sein und die Jungfrau direkt in den Tod zu schicken. Der Brunnen, der Mutterschoß der Natur, führt von der oberflächlichen Menschengesellschaft weg in die Tiefe, in das dunkle Wesen der Natur. Und vor allem die Angst im Herzen ist es, die uns auf diesem schicksalhaften Weg vorantreibt, um dem Lebensfaden zu folgen.

Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief »Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.« Da trat es herzu, und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihm zu »Ach schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.« Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter.

Die Seele verliert das gewöhnliche weltliche Bewußtsein und erwacht auf einer anderen Ebene. Sie kommt zu sich selbst in einer glückseligen Welt, wo die ewige Sonne scheint und die ewigen Blumen blühen. Ob diese Welt nun unten oder oben ist, scheint hier keine Rolle mehr zu spielen. Man fällt nach unten und kommt nach oben. Wunderbar, hier endet der rationale Intellekt! Und was findet sie hier im tiefen Wesen der Natur? Das ist höchst erstaunlich. Sie findet den Backofen, der eigentlich zu unserem Haus gehört, und den Apfelbaum, der eigentlich in unserem eingezäunten Garten steht. Doch hier findet sie diese Dinge direkt im Wesen der Natur. Und sie hört sogar ihre Stimmen, die sie zum Handeln bitten. Da steckt viel Wahrheit drin, denn im Grunde ist es doch die Natur, die das Getreide und alle anderen Zutaten gibt und das Brot bäckt, von dem wir Menschen leben. Und im Grunde ist es auch die Natur, die alle Früchte wachsen und reifen läßt. Nicht nur die auf den Bäumen, sondern auch alle anderen Früchte, nach denen wir im Leben greifen, alle Erfolge, Reichtümer und jegliches Glück, aber auch Leid, Krankheit, Verlust und Mißerfolg. Wer dieses Wesen der Natur erkennt, könnte sich bequem zurücklehnen und die Natur alles machen lassen. Und wirklich, die Gefahr besteht, daß man auf diesem Weg der Erkenntnis in die Trägheit abgleitet und sich in den Himmel dichtet, ohne diese irdische Welt weiter zu beachten. Man vergißt dabei, daß der Mensch selbst ein Teil der Natur ist und hier seine Aufgabe zu erfüllen hat, genauso wie die Sonne, die Erde, das Wasser, die Pflanzen und alle anderen Geschöpfe. Und was ist unsere Aufgabe? Die Natur sagt es selbst, denn wir können ihre Stimme hören, wie die Geschöpfe zu uns sprechen, wie der Backofen uns bittet und der Apfelbaum uns ruft, um fleißig zu dienen. Hören wir noch diesen Ruf der Natur? Oder wird er vom Ruf unserer eigenen Begierden übertönt? Die Natur ruft uns zum Handeln, damit wir die Früchte unserer Taten vom Baum des Lebens ernten. Aber wie? Das ist ein großes Thema, das man hier im Märchen in vorzüglichen Symbolen erkennen kann. Der Backofen, in dem die Brote wie Leiber gebacken werden, erinnert uns an die Geburt von kleinen Kindern. Denn unsere Körper bestehen im Grunde auch nur aus Nahrung und dienen selbst der Nahrung im weitesten Sinne. Die Nachkommenschaft ist eine wichtige Aufgabe in unserer Welt, und heutzutage wird sie oft weit hintenan gestellt. Erst kommt das Ego mit der beruflichen Karriere, Haus und Auto, und dann irgendwann eine Familie. Dabei sind die Kinder womöglich nur eine „Anschaffung“ wie vieles andere im Leben. So kann man es natürlich auch sehen. Eine andere Möglichkeit ist, auf den Ruf der Natur zu lauschen, daß da viele Seelen darauf warten, in diese Welt geboren zu werden. Dabei geht es um mehr als eine persönliche Anschaffung, es geht um das Leben selbst. Man kann hier der Natur im tieferen Sinne eines hingebungsvollen Opfers dienen, trotz aller Mühe und Entbehrungen, die damit verbunden sind. Und was sagen uns die reifen Äpfel? Man soll die reifen Früchte ernten, aber nicht daran anhaften. Die Früchte gehören dir nicht persönlich. Sie gehören der Natur, und dort soll man sie auch lassen. Laß sie zurück und geh weiter! Anhaftung ist nicht gut. Laß das Ganze ein Ganzes sein, und versuche es nicht in ‚Mein‘ und ‚Dein‘ zu trennen. Das ist eine großartige Botschaft!

Eine ähnliche Botschaft findet man im biblischen Apfel, den Adam und Eva im Paradies ergriffen. Es ist das Greifen nach der Frucht, aus der Sünde und Leiden entstehen. Dieses Greifen und Behalten wollen wurde zur Ursache, warum die Menschen aus dem Paradies geworfen wurden und nun mühsam um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. Und wenn man in einem Tempel oder einer Kirche Früchte opfert, dann ist genau das gemeint, daß die Früchte aller Taten nicht persönlich ergriffen, sondern dem Ganzen, der Gottheit, gehören sollen. Dann könnte die ganze Welt ein Paradies sein.

Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach »Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du mußt nur acht geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.« Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit, und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auf, daß die Federn wie Schneeflocken umherflogen; dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort, und alle Tage Gesottenes und Gebratenes.

Die Seele geht weiter ihren Weg und kommt zur Wohnstätte einer alten Frau. Das mag uns sehr ungewöhnlich erscheinen, aber es gab Zeiten, da war für die Menschen alles belebt. Die Natur war voller Geist, den man sich als lebendige Wesen vorstellte, die in den Geschöpfen wohnten. Man nannte sie Geister, Elfen, Zwerge, Götter und Göttinnen. Und das war nichts Außergewöhnliches, sondern ganz selbstverständlich und völlig normal. Das können wir uns heutzutage kaum noch vorstellen, denn unsere Weltanschauung hat sich in den letzten Jahrhunderten wesentlich verändert. Das hat uns zwar eine technische Revolution gebracht, aber gleichzeitig ist auch viel Lebendigkeit verlorengegangen. Und so trifft die Seele hier im Märchen auf den Kern der Natur in Gestalt eines uralten weiblichen Wesens, das uns äußerlich oft schrecklich erscheint, aber innerlich voller Güte ist. Es bittet uns, fleißig zu sein und ihm zu helfen, seine Aufgabe in der Welt zu erfüllen. Und wir hören die wunderbare Botschaft: Solange diese Harmonie im Handeln besteht, solange wir vernünftig auf die Stimme der Natur hören, werden wir ein gutes und friedliches Leben haben. Es wird uns an nichts fehlen.

Über den Namen „Frau Holle“ wurde bereits viel spekuliert. Sicherlich wird es irgendwann und irgendwo Göttinnen gegeben haben, die mit ähnlichen oder sogar gleichen Namen als das lebendige Wesen der Natur verehrt wurden. Aber wie immer weiß man nichts Genaues. Wichtig ist hier, welche Rolle sie in diesem Märchen spielt. Und die ist Grund genug, sie als Göttin zu verehren.

Auf einer mittleren Ebene des Märchens kann man auch den Jahreszyklus entdecken. Das Mädchen erwacht auf der Frühlingswiese, das Brot wird vom Sommergetreide gebacken, die Äpfel werden im Herbst geerntet und im Winter schneit es, wenn Frau Holle die Betten schüttelt. Auch daran sieht man, wie eng damals göttliche Wesen mit dem gewöhnlichen Leben verbunden waren. Und man sieht auch, daß der fleißige Dienst an der Natur über das ganze Jahr geht, auf den Wiesen und Feldern, in den Gärten und im Haus.

Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da ward es traurig und wußte anfangs selbst nicht, was ihm fehlte, endlich merkte es, daß es Heimweh war; ob es ihm hier gleich viel tausendmal besser ging als zu Hause, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr »Ich habe den Jammer nach Haus kriegt, und wenn es mir auch noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger bleiben, ich muß wieder hinauf zu den Meinigen.« Die Frau Holle sagte: »Es gefällt mir, daß du wieder nach Hause verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinaufbringen.«

Nun steht die Frage: Wenn die Seele so ein harmonisches und leidloses Leben gefunden hat, warum bleibt sie nicht dort? Das ist ein weiteres großes Thema, das hier symbolisch mit Heimweh beschrieben wird. Warum zieht es die Seele in eine Welt zurück, wo sie unter ihrer Stiefmutter, der äußeren Natur und ihren irdischen Plagen leiden muß? Nun, in der indischen Tradition spricht man diesbezüglich von Karma, einer Schuld, die wir aus vergangenen Taten mit uns herumtragen. Im christlichen Kontext ist es wahrscheinlich die Erbsünde. Hier im Märchen wird ein vorzügliches Symbol verwendet, nämlich die Spule, auf der unser Leben wie ein Faden aufgewickelt wurde, welcher sich dann zwangsläufig wieder abwickeln muß. Der gesponnene Lebensfaden entsteht aus körperlichen und geistigen Handlungen, und das Aufwickeln ist die persönliche Identifikation damit, diese seltsame Einbildung von „Ich“ und „Mein“, woraus eine Person geformt wird. Dahinter steht das Gesetz von Ursache und Wirkung. Das ist nichts Außergewöhnliches. In der klassischen Physik spricht man vom Gesetz der Energieerhaltung und in der modernen Physik sogar von Informationserhaltung, was besagt, daß in diesem Universum nichts verlorengehen kann, sondern nur gewandelt wird. Aus diesem Grund verkündet in unserem Märchen die Mutter Natur selbst, daß es gut ist, in die Welt zurückzukehren. Denn nur dort kann man den Lebensfaden unserer Karma-Spule abwickeln, der zuvor aufgewickelt wurde. Das ist das ‚Heimweh‘, das uns durch viele Jahre und Leben zum Ernten unserer Früchte treibt, bis sie endlich aufgebraucht sind. So führt uns die Natur auf dem Weg, der uns bestimmt ist.

Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Tor. Das Tor ward aufgetan, und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war. »Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist,« sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Tor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus: und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:

»Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.«

Hier wird von einem Tor gesprochen, dem Tor in diese Welt. Gewöhnlich ist es die Geburt aus dem Mutterleib, wodurch wir mit einem bestimmten Potential oder auch Karma in diese Welt kommen. Entsprechend erleben wir ein glückliches und goldenes Leben oder ein leidvolles und pechverfolgtes. Das Ganze muß man nicht allzu mystisch sehen. Praktisch ist es sowohl die Umgebung, in die wir zwangsläufig geboren werden, als auch der Rucksack, den wir mitbringen, die unser zukünftiges Leben wesentlich bestimmen. Darin haben wir gewöhnlich keine Wahl, und das nennt man angesammeltes Karma, das unser Leben bestimmt. Eine gewisse Wahl haben wir nur dabei, was wir an neuen Früchten in unseren Rucksack packen.

Neben der körperlichen Geburt spricht man häufig auch von einer zweiten, geistigen Geburt im Sinne einer höheren Erkenntnis oder Erleuchtung. Eine solche könnte hier gemeint sein, auch wenn das Tor zurück in die heile Welt zunächst verschlossen wird, denn wahrlich, im Leben geht es immer nur voran und noch manche Herausforderung wartet hier auf uns. Das Mädchen ist nun wieder dort, wo es herkam, aber mit Gold gesegnet, dem Potential für ein wahrlich glückliches Leben.

Man könnte sich auch vorstellen, daß das Mädchen tatsächlich gestorben war, einige „Zeit“ in einer Ahnenwelt verbrachte und dann mit ihrem guten Karma wiedergeboren wurde. Wichtig ist, daß sie sich weiterentwickelt hat und nun vergoldet zurückkehrt. Mit dem Hahn könnte unsere bunte Welt gemeint sein, die lautstark überall ihr tieferes Wesen verkündet. Deshalb sitzt er auf dem äußeren Brunnenrand, der wohl als Symbol für die Verbindung mit dem tieferen Wesen nichts anderes als das Tor ist, durch das unser Mädchen in diese Welt zurückkehrte. Oder wie es Goethe sagte: „Solang du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf einer dunklen Erde.“

Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und der Schwester gut aufgenommen. Das Mädchen erzählte alles, was ihm begegnet war, und als die Mutter hörte, wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie der andern häßlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück verschaffen. Sie mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre Spule blutig ward, stach sie sich in die Finger und stieß sich die Hand in die Dornhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder »Ach zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.« Die Faule aber antwortete »Da hätt ich Lust, mich schmutzig zu machen,« und ging fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief »Ach schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.« Sie antwortete aber »Du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen,« und ging damit weiter.

Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich zu ihr. Am ersten Tag tat sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde; am zweiten Tag aber fing sie schon an zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich’s gebührte, und schüttelte es nicht, daß die Federn aufflogen. Das ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor, als sie aber darunter stand, ward statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. »Das ist zur Belohnung deiner Dienste,« sagte die Frau Holle und schloß das Tor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief

»Kikeriki, unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie.«

Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, solange sie lebte, nicht abgehen.

Nun kommt der zweite Teil des Märchens. Wenn wir sehen, daß andere Menschen auf irgendeine Art und Weise glücklich geworden sind, neigen wir schnell dazu, diesen Weg nachzuahmen oder imitieren zu wollen. Hier hört die Seele auf die Stimme der Begierde, um persönlich ein bestimmtes Ziel zu erreichen, um das Glück, das sie bei anderen sieht, ihr eigenes zu nennen. Auch wenn eine solche Seele äußerlich den gleichen Weg geht, kommt sie doch nicht ans gleiche Ziel. Warum? Sie hat nicht das Karma dafür. Sie war nicht fleißig genug. Aus Faulheit handelt sie nicht, wo es nötig ist, und aus Angst erntet sie die reifen Früchte nicht, obwohl sie doch die Stimme der Natur hört. Aber eine andere Stimme ist wesentlich lauter und treibt sie auf dem Weg voran zu ihrem egoistischen Ziel. Sie zeigt keine Ehr-Furcht vor der Mutter Natur, weil sie intellektuell vorgeprägt ist, und dient ihr nicht, weil sie vom Stolz berauscht nur an eigene Interessen denkt. Kommt uns das vielleicht bekannt vor? So erntet sie am Ende anstatt des erhofften Goldregens einen Pechregen, der lebenslang an ihrem Körper haftet. Das „Pech-Haben“ ist heute ein gebräuchlicher Ausdruck für Unglück im Leben. Hier geht es offensichtlich um die Klebrigkeit und Anhaftung. Pech wurde angeblich im Mittelalter verwendet, um Vögel zu fangen, woraus der „Pechvogel“ entstand. Wer etwas tiefer in sich schaut, wird erkennen: Körperliche Anhaftung und Egoismus gehören eng zusammen. Diese Anhaftung an der Einbildung von „Ich“ und „Mein“ und damit an den Früchten eigener Taten wird zu einer gewichtigen Ursache für das persönliche Leiden in der Welt, weil durch die Klebrigkeit des Geistes die Reinheit verlorengeht.

Liebe Leser, laßt uns also der Stimme der Natur lauschen, wie Erde, Wälder, Wasser, Luft und alle anderen Geschöpfe zu uns sprechen und uns bitten, fleißig und ohne Gier zu dienen, wo es nötig ist, um das gesunde Gleichgewicht der Natur zu bewahren. So kann jeder Mensch seine Aufgabe im Leben und seinen Platz in dieser Welt finden.



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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de