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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hieß die älteste Einäuglein, weil sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, und die mittelste Zweiäuglein, weil sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei Augen hatte, und das dritte stand bei ihr gleichfalls mitten auf der Stirne. Darum aber, daß Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern und die Mutter nicht leiden. Sie sprachen zu ihm: »Du mit deinen zwei Augen bist nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns.« Sie stießen es herum und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrigließen, und taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.
Das Problem, das hier am Anfang dieses Märchens steht, ist uns sicherlich allen bekannt. Wir wollen gewöhnlich etwas Besonderes im Leben sein und aus der grauen Normalität herausragen. Wozu ist das gut? Unsere Persönlichkeit bildet sich aus solchem Denken, und davon ernährt sich das Ego. Das geschieht im Kleinen bei jedem einzelnen Menschen und im Großen mit ganzen Völkern und der Menschheit selbst, die sich aus der Natur zu erheben versucht. Sicherlich ist dieses Streben ein wichtiger Motor der menschlichen Entwicklung, hat aber auch seine Schattenseiten, die sich vor allem in überheblichem Stolz zeigen. Das geschieht, wenn man sich selbst auf Kosten von anderen erhöhen will. Und da es sich hier wieder um eine Plus-Minus Polarität handelt, erscheint es oft einfacher, die anderen ringsherum zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen, anstatt sich selbst wirklich höher zu entwickeln. Das zeigt sich dann in Haß, Unterdrückung und Gemeinheit, was heutzutage auch Mobbing genannt wird.
So fühlen sich wohl auch Einäuglein und Dreiäuglein als etwas Besonderes, weil die eine sozusagen unter dem Normal und die andere über dem Normal liegt. Die Parodie ist nun, daß sie sich als außergewöhnlich schön betrachten und ihre mittlere Schwester abgrundtief hassen, weil sie vielleicht doch irgendwo im Inneren einige Zweifel an ihrer Einbildung haben. Das läßt sich verhaltenspsychologisch sicherlich erklären. Interessant ist, daß auch die Mutter auf ihrer Seite steht, und auf diese Weise an die übliche Stiefmutter anderer Märchen erinnert, wo die Kraft des Vaters fehlt. Sie spielt auch hier eine bösartige Rolle im Gegensatz zur wahren Mutter, die wir nun im Folgenden kennenlernen werden.
Es trug sich zu, daß Zweiäuglein hinaus ins Feld gehen und die Ziege hüten mußte, aber noch ganz hungrig war, weil ihm seine Schwestern so wenig zu essen gegeben hatten. Da setzte es sich auf einen Rain und fing an zu weinen, und so zu weinen, daß zwei Bächlein aus seinen Augen herabflossen. Und wie es in seinem Jammer einmal aufblickte, stand eine Frau neben ihm, die fragte »Zweiäuglein, was weinst du?« Zweiäuglein antwortete: »Soll ich nicht weinen? Weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen, als was sie übriglassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, daß ich noch ganz hungrig bin.« Sprach die weise Frau: »Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, daß du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege
»Zicklein, meck, Tischlein, deck,«
so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, daß du essen kannst, soviel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur
»Zicklein, meck, Tischlein, weg,«
so wird’s vor deinen Augen wieder verschwinden.« Darauf ging die weise Frau fort. Zweiäuglein aber dachte, »Ich muß gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr,« und sprach
»Zicklein, meck, Tischlein, deck,«
und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, die schönsten Speisen standen rundherum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen.
Da sagte Zweiäuglein das kürzeste Gebet her, das es wußte, »Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen«, langte zu und ließ sich’s wohl schmecken. Und als es satt war, sprach es, wie die weise Frau gelehrt hatte:
»Zicklein, meck, Tischlein, weg.«
Alsbald war das Tischchen und alles, was darauf stand, wieder verschwunden. »Das ist ein schöner Haushalt,« dachte Zweiäuglein und war ganz vergnügt und guter Dinge.
Unser Zweiäuglein war schließlich so verzweifelt, daß ihre Tränen flossen. Verzweifelte Tränen haben große Kraft und können andere mitfühlende Wesen um Hilfe bitten. Und ganz unerwartet kann plötzlich Hilfe erscheinen, als wäre ein Wunder geschehen. So zeigt sich auch hier mitten in der Natur beim Ziegenhüten eine „weise Frau“, die einen besonderen Zauber offenbart. Und was oberflächlich wie ein unglaubliches Wunder erscheint, an das nur Kinder glauben, ist eigentlich eine tiefere Wahrheit. Denn im Grunde ist es immer Mutter Natur, die uns alle Nahrung gibt und den Tisch reichlich deckt, wenn wir sie auf rechte Weise behandeln und dankbar sind. Dieser Dankbarkeit sollte man sich eigentlich ständig bewußt sein, zumindest bei den Mahlzeiten, weshalb es früher üblich war, vor dem Essen zu beten und Gott zu danken. „Sei unser Gast zu aller Zeit!“ bedeutet natürlich, daß das Göttliche ständig anwesend sein sollte, nicht nur zu den Mahlzeiten.
Die Ziege ist ein sehr verbreitetes Symbol als Nahrungs- und Opfertier und oft mit der Mutter Natur als göttliches Wesen verbunden. Wenn wir eine geistige Verbindung zu ihr finden, kann sie uns die Schlüssel zu ihren Reichtümern geben. Sie kann sich sogar als ein lebendiges Wesen zeigen, und der Schlüssel kann ein unscheinbarer Spruch mit viel Kraft sein, ähnlich den Mantras der fernöstlichen Traditionen. Diese Kraft ist ein Geheimnis, das schwer zu verstehen, aber sicherlich eng mit unserem Vertrauen verbunden ist. Am Ende sind wir es vermutlich selbst, die dem Zauberspruch seine große geistige Kraft geben. Das Beste ist natürlich, wenn man gleich praktisch von der Wirkung überzeugt werden kann. Und in unserem Märchen sind die Verzweiflung und das Vertrauen wohl so groß, daß der Spruch auch gleich beim ersten Mal funktioniert. Das muß nicht immer so sein, denn manche berühmte Mantras muß man oft tausende Male murmeln, damit sie ihre praktische Wirkung zeigen.
Abends, als es mit seiner Ziege heimkam, fand es ein irdenes Schüsselchen mit Essen, das ihm die Schwestern hingestellt hatten, aber es rührte nichts an. Am andern Tag zog es mit seiner Ziege wieder hinaus und ließ die paar Brocken, die ihm gereicht wurden, liegen. Das erstemal und das zweitemal beachteten es die Schwestern gar nicht, wie es aber jedesmal geschah, merkten sie auf und sprachen: »Es ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein, das läßt jedesmal das Essen stehen und hat doch sonst alles aufgezehrt, was ihm gereicht wurde. Das muß andere Wege gefunden haben.« Damit sie aber hinter die Wahrheit kämen, sollte Einäuglein mitgehen, wenn Zweiäuglein die Ziege auf die Weide trieb, und sollte achten, was es da vorhätte, und ob ihm jemand etwas Essen und Trinken brächte.
Als nun Zweiäuglein sich wieder aufmachte, trat Einäuglein zu ihm und sprach: »Ich will mit ins Feld und sehen, daß die Ziege auch recht gehütet und ins Futter getrieben wird.« Aber Zweiäuglein merkte, was Einäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: »Komm, Einäuglein, wir wollen uns hinsetzen, ich will dir was vorsingen.« Einäuglein setzte sich hin und war von dem ungewohnten Weg und von der Sonnenhitze müde, und Zweiäuglein sang immer
»Einäuglein, wachst du? Einäuglein, schläfst du?«
Da tat Einäuglein das eine Auge zu und schlief ein. Und als Zweiäuglein sah, daß Einäuglein schlief und nichts verraten konnte, sprach es
»Zicklein, meck, Tischlein, deck,«
und setzte sich an sein Tischlein und aß und trank, bis es satt war, dann rief es wieder
»Zicklein, meck, Tischlein, weg,«
und alles war augenblicklich verschwunden. Zweiäuglein weckte nun Einäuglein und sprach: »Einäuglein, du willst hüten und schläfst dabei ein, derweil hätte die Ziege in alle Welt laufen können. Komm, wir wollen nach Haus gehen.« Da gingen sie nach Haus, und Zweiäuglein ließ wieder sein Schüsselchen unangerührt stehen, und Einäuglein konnte der Mutter nicht verraten, warum es nicht essen wollte, und sagte zu seiner Entschuldigung: »Ich war draußen eingeschlafen.«
Am andern Tag sprach die Mutter zu Dreiäuglein: »Diesmal sollst du mitgehen und acht haben, ob Zweiäuglein draußen ißt, und ob ihm jemand Essen und Trinken bringt, denn essen und trinken muß es heimlich.« Da trat Dreiäuglein zum Zweiäuglein und sprach: »Ich will mitgehen und sehen, ob auch die Ziege recht gehütet und ins Futter getrieben wird.« Aber Zweiäuglein merkte, was Dreiäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: »Wir wollen uns dahin setzen, Dreiäuglein, ich will dir was vorsingen.« Dreiäuglein setzte sich und war müde von dem Weg und der Sonnenhitze, und Zweiäuglein hub wieder das vorige Liedlein an und sang
»Dreiäuglein, wachst du?«
Aber statt es nun singen mußte
»Dreiäuglein, schläfst du?«
sang es aus Unbedachtsamkeit
»Zweiäuglein, schläfst du?«
und sang immer
»Dreiäuglein, wachst du?« - »Zweiäuglein, schläfst du?«
Da fielen dem Dreiäuglein seine zwei Augen zu und schliefen, aber das dritte, weil es von dem Sprüchlein nicht angeredet war, schlief nicht ein. Zwar tat es Dreiäuglein zu, aber nur aus List, gleich als schlief es auch damit: doch blinzelte es und konnte alles gar wohl sehen. Und als Zweiäuglein meinte, Dreiäuglein schliefe fest, sagte es sein Sprüchlein
»Zicklein, meck, Tischlein, deck,«
aß und trank nach Herzenslust und hieß dann das Tischlein wieder fortgehen,
»Zicklein, meck, Tischlein, weg,«
und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach: »Ei, Dreiäuglein, du bist eingeschlafen? Du kannst gut hüten! Komm, wir wollen heimgehen.« Und als sie nach Haus kamen, aß Zweiäuglein wieder nicht, und Dreiäuglein sprach zur Mutter: »Ich weiß nun, warum das hochmütige Ding nicht ißt: Wenn sie draußen zur Ziege spricht
»Zicklein, meck, Tischlein, deck,«
so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wir’s hier haben, und wenn sie satt ist, so spricht sie
»Zicklein, meck, Tischlein, weg,«
und alles ist wieder verschwunden. Ich habe alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wachgeblieben.« Da rief die neidische Mutter: »Willst du’s besser haben als wir? Die Lust soll dir vergehen!« Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, daß sie tot hinfiel.
Die beiden Schwestern wollen nun das Geheimnis erfahren, durch welches sie zunächst ihre Macht über Zweiäuglein verloren hatten. Und so geht es weiter mit dem Thema Zaubersprüche. Unser Zweiäuglein schien nicht nur einen Spruch von der weisen Fee gelernt zu haben, sondern auch die allgemeine Fähigkeit, die Kraft der Sprüche zu nutzen. Das funktioniert zuerst gut, aber dann macht sie leider einen Fehler, und durch diese Unachtsamkeit verliert sie ihre Ziege. Man möchte nun sagen, daß das dumm von ihr war. Aber solche Fehler sind wichtig im Leben, damit wir uns weiter entwickeln. Außerdem erfahren wir, daß besondere Kräfte immer mit der nötigen Achtsamkeit einhergehen. Wer zerstreut ist, kann nichts Heilsames wirken.
Das Wesen der falschen Mutter kennen wir bereits aus anderen Märchen. Sie symbolisiert unsere oberflächliche Natur der Illusion, die das wahre Wesen verhüllt und sogar töten möchte. Klar, sie weiß, daß alles Oberflächliche verschwindet, wenn sich das wahre Wesen offenbart. Und so versucht sie gar nicht erst, die Magie der Ziege zu gewinnen, sondern tötet sie sofort nach dem berühmten Motto: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Interessant ist, das sie damit unserem Zweiäuglein trotzdem hilft, und wir lesen im Folgenden, welchen Sinn das Opfern der Ziege hatte.
Als Zweiäuglein das sah, ging es voller Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine bitteren Tränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach: »Zweiäuglein, was weinst du?« - »Soll ich nicht weinen!« antwortete es, »Die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich Euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter totgestochen. Nun muß ich wieder Hunger und Kummer leiden.« Die weise Frau sprach: »Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rat erteilen, bitt deine Schwestern, daß sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben, und vergrab es vor der Haustür in die Erde, so wird’s dein Glück sein.« Da verschwand sie, und Zweiäuglein ging heim und sprach zu den Schwestern: »Liebe Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.« Da lachten sie und sprachen: »Kannst du haben, wenn du weiter nichts willst.« Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrub’s abends in aller Stille nach dem Rate der weisen Frau vor die Haustüre.
Am andern Morgen, als sie insgesamt erwachten und vor die Haustüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hingen dazwischen, daß wohl nichts Schöneres und Köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wußten aber nicht, wie der Baum in der Nacht dahin gekommen war, nur Zweiäuglein merkte, daß er aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein: »Steig hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab.« Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen, und das geschah jedesmal, so daß es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen, wie es wollte. Da sprach die Mutter: »Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.« Einäuglein rutschte herunter und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen, wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen und griff immer in die leere Luft. Da sprach Zweiäuglein: »Ich will mich einmal hinaufmachen, vielleicht gelingt mir’s eher.« Die Schwestern riefen zwar: »Du mit deinen zwei Augen, was willst du wohl!« Aber Zweiäuglein stieg hinauf, und die goldenen Äpfel zogen sich nicht vor ihm zurück, sondern ließen sich von selbst in seine Hand herab, also daß es einen nach dem andern abpflücken konnte und ein ganzes Schürzchen voll mit herunterbrachte. Die Mutter nahm sie ihm ab, und statt daß sie, Einäuglein und Dreiäuglein dafür das arme Zweiäuglein hätten besser behandeln sollen, so wurden sie nur neidisch, daß es allein die Früchte holen konnte, und gingen noch härter mit ihm um.
Es folgt wieder die Verzweiflung mit den bitteren Tränen und die Hilfe der wahren Mutter. Und was rät sie diesmal? Traure nicht um das Äußere der Ziege. Nimm das Innere, die Eingeweide, und gib sie in fruchtbaren Boden. Daraus wächst dann ein wunderbarer Baum mit goldenen Zweigen und Früchten. Nun, an dieser Stelle kommen wir nicht umhin, wieder auf die geistige Ebene zu steigen. Das Ganze erinnert natürlich an den Baum des ewigen Lebens, mit den unvergänglichen Zweigen und Früchten, die nur eine reine Seele ernten kann. Wer jedoch an oberflächlichen Dingen haftet wie die falsche Mutter mit ihren beiden überstolzen Töchtern, hat dort natürlich keinen Zugriff und faßt immer ins Leere, selbst wenn die ewigen Früchte verführerisch erscheinen. Denn sie leben von den vergänglichen Früchten vom Baum der weltlichen Erkenntnis, wie es damals bei Adam und Eva symbolisch begonnen hat. Der andere Weg ist die wahre Erkenntnis für das ewige Leben, nämlich das unvergängliche innerste Wesen aller Dinge zu erkennen. Von diesem Baum kann man die ewigen Früchte aus Gold ernten. Doch warum sind ihre Schwestern gleich wieder so neidisch, obwohl unser Zweiäuglein bereitwillig alles geben möchte? Das ist ein sehr seltsames Phänomen, das wir schon seit uralten Zeiten kennen. Viele Weise, die den Weg der Erkenntnis gingen und bereit waren, ihre Weisheit anderen zu geben, fielen bereits diesen Flammen von Neid und Haß zum Opfer. Ist das nicht irgendwie absurd? So sind wir nun gespannt, wie unser Märchen weitergeht.
Es trug sich zu, als sie einmal beisammen an dem Baum standen, daß ein junger Ritter daherkam. »Geschwind, Zweiäuglein,« riefen die zwei Schwestern, »kriech unter, daß wir uns deiner nicht schämen müssen,« und stürzten über das arme Zweiäuglein in aller Eil ein leeres Faß, das gerade neben dem Baume stand, und schoben die goldenen Äpfel, die es abgebrochen hatte, auch darunter. Als nun der Ritter näher kam, war es ein schöner Herr, der hielt still, bewunderte den prächtigen Baum von Gold und Silber und sprach zu den beiden Schwestern: »Wem gehört dieser schöne Baum? Wer mir einen Zweig davon gäbe, könnte dafür verlangen, was er wollte.« Da antworteten Einäuglein und Dreiäuglein, der Baum gehörte ihnen zu, und sie wollten ihm einen Zweig wohl abbrechen. Sie gaben sich auch beide große Mühe, aber sie waren es nicht imstande, denn die Zweige und Früchte wichen jedesmal vor ihnen zurück. Da sprach der Ritter: »Das ist ja wunderlich, daß der Baum euch zugehört, und ihr doch nicht Macht habt, etwas davon abzubrechen.« Sie blieben dabei, der Baum wäre ihr Eigentum. Indem sie aber so sprachen, rollte Zweiäuglein unter dem Fasse ein paar goldene Äpfel heraus, so daß sie zu den Füßen des Ritters liefen, denn Zweiäuglein war bös, daß Einäuglein und Dreiäuglein nicht die Wahrheit sagten. Wie der Ritter die Äpfel sah, erstaunte er und fragte, wo sie herkämen. Einäuglein und Dreiäuglein antworteten, sie hätten noch eine Schwester, die dürfte sich aber nicht sehen lassen, weil sie nur zwei Augen hätte wie andere gemeine Menschen. Der Ritter aber verlangte sie zu sehen und rief: »Zweiäuglein, komm hervor.« Da kam Zweiäuglein ganz getrost unter dem Faß hervor, und der Ritter war verwundert über seine große Schönheit und sprach: »Du, Zweiäuglein, kannst mir gewiß einen Zweig von dem Baum abbrechen.« - »Ja,« antwortete Zweiäuglein, »das will ich wohl können, denn der Baum gehört mir.« Und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zweig mit feinen silbernen Blättern und goldenen Früchten ab und reichte ihn dem Ritter hin. Da sprach der Ritter »Zweiäuglein, was soll ich dir dafür geben?« - »Ach,« antwortete Zweiäuglein, »ich leide Hunger und Durst, Kummer und Not vom frühen Morgen bis zum späten Abend: Wenn ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wäre ich glücklich.« Da hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein väterliches Schloß. Dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen, und ward die Hochzeit in großer Freude gehalten.
Weil dieses Märchen bisher nur vom Weiblichen gehandelt hat, kommt natürlich irgendwann das Männliche ins Spiel. Das geschieht hier in Form eines Ritters, der vermutlich die geistige Seite im Spiel von Natur und Geist symbolisiert. So fragt er auch sogleich nach dem Baum und sucht die reine Seele, die mit diesem Baum verbunden ist. Denn die ewigen Früchte sind ein Ausdruck des inneren, wesentlichen Geistes, während die vergänglichen Früchte ein Ausdruck der äußeren, oberflächlichen Natur sind. Die beiden egoistischen Schwestern sind schnell entlarvt, weil sie keine wahre Verbindung zu diesem ewigen Baum haben und dessen goldene Früchte nicht ernten können. So erlöst der Geist schließlich die Natur von ihrem Leiden und führt die reine Seele in eine reine Welt, die man auch Paradies nennen könnte. Lästerzungen möchten hier vielleicht behaupten, daß es dem Ritter vor allem um das Gold auf dem Baum ging, doch praktisch interessiert er sich am Ende mehr für die gute Seele und fragt nicht weiter nach dem goldenen Baum.
Wie nun Zweiäuglein so von dem schönen Rittersmann fortgeführt ward, da beneideten die zwei Schwestern ihm erst recht sein Glück. »Der wunderbare Baum bleibt uns doch,« dachten sie, »können wir auch keine Früchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehen bleiben, zu uns kommen und ihn rühmen. Wer weiß, wo unser Weizen noch blüht!« Aber am andern Morgen war ihr Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin. Und wie Zweiäuglein zu seinem Kämmerlein hinaussah, so stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgefolgt.
Das Verlangen nach dem schön glänzenden Gold war offensichtlich mehr auf Seiten der beiden Schwestern, die an den Äußerlichkeiten anhaften und sogar diesen Baum als ihr persönliches Eigentum festhalten wollen. Doch wir lesen ganz klar, der Baum des ewigen Lebens gehört der reinen Seele viel eigentlicher, als ihr äußerliches Haus, das sie hier als einen Ort des Leidens zurückläßt, während der Baum ihr ganz von selbst folgt. Das ist ein wunderbares Symbol für die wahre Erkenntnis, bei der man nicht mehr fürchten muß, daß sie uns wieder verlorengeht, wie all die vergänglichen Dinge und Erkenntnisse dieser Welt.
Zweiäuglein lebte lange Zeit vergnügt. Einmal kamen zwei arme Frauen zu ihm auf das Schloß und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein, die so in Armut geraten waren, daß sie umherziehen und vor den Türen ihr Brot suchen mußten. Zweiäuglein aber hieß sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also daß die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.
Und diese Vergänglichkeit der äußeren Formen und Begriffe wird auch in diesem letzten Abschnitt noch einmal deutlich beschrieben, wie ihre stolzen Schwestern in Armut fielen und sogar ihre Mutter verloren hatten. Doch auch dieses Märchen hat ein Happy-End, denn sie ernten das Mitgefühl ihrer Schwester und bereuen ihre Bösartigkeit.
Zusammenfassend kann man dieses Märchen als ein wunderbares Plädoyer für den Wert der Normalität betrachten. Auch Buddha hat den mittleren Weg gelehrt, alle Extreme in jeder Richtung zu vermeiden, die Gegensätze zu überwinden und die innere Mitte zu finden. Es gibt sicherlich in jedem Leben eine Zeit in der Jugend, wo sich ein Mensch beweisen und auch Herausragendes leisten sollte. Aber im ganzen Leben nur nach äußerlichen Extremen zu jagen, sich ständig mit anderen zu vergleichen und etwas Besonderes sein zu wollen, ist sicherlich nicht heilsam und endet in unserer „modernen Armut“, wie es auch dieses Märchen beschreibt. Es entsteht ein riesiges Ego voller Neid, Haß und Begierde mit großer Anhaftung und Illusion. Und man verpaßt eigentlich das Wichtigste im Leben, den wahren Sinn zu entdecken und den Baum des ewigen Lebens mit den goldenen Zweigen und Früchten zu finden.
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |