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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand. Er war aber von einer hohen Mauer umgeben, und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht hatte und von aller Welt gefürchtet ward. Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war: und sie sahen so frisch und grün aus, daß sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie wußte, daß sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie ganz ab, sah blaß und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: »Was fehlt dir, liebe Frau?« »Ach,« antwortete sie, »wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.« Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: »Eh du deine Frau sterben lässest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.«
Am Anfang dieses Märchen steht wieder einmal der Gegensatz von Männlich und Weiblich, der auch in der Bibel am Anfang steht und dort aus einem ganzheitlichen Wesen durch Trennung entstanden ist. Diese Polarität oder Gegensätzlichkeit, die wieder nach Vereinigung strebt, wird zum Motor der Entwicklung einer ganzen Welt, im Großen wie im Kleinen. Wie dieser Motor funktioniert und welche Kräfte hier wirken, wird in unserem Märchen mit Symbolen des alltäglichen Lebens beschrieben. Aus dem Wunsch von Mann und Frau wird die Natur schwanger, um die vom Geist gezeugte Seele zu gebären. Das kleine Fenster im Haus erinnert an unsere Sinne, die mit begrenzter Sicht aus dem Körper in die äußere Natur schauen, in den malerischen Garten, wo die Früchte unserer Wünsche wachsen. Dieser Garten steht allerdings in der Macht einer Zauberin, die durch Illusion wunderbare Dinge erscheinen läßt. Und nach diesen Dingen greift der Mensch mit der Kraft der Begierde, wobei man hier seine weibliche Seite als die verlangende Kraft und die männliche Seite als die erkennende und handelnde Kraft betrachten kann. Diese Kräfte spielen miteinander wie Feuer und Wasser. Doch das Spiel zwischen Männlich und Weiblich sollte man nicht allzusehr auf unser äußeres Geschlecht beziehen. Jeder Mensch hat beides in sich. Es geht hier vor allem um eine wesenhafte Symbolik, die sich natürlich auch in der äußeren Welt in den Rollen zeigt, die wir spielen. Wir lesen nun, wie sich die Begierde Tag für Tag entwickelt, und die Erfüllung unserer Wünsche zum Inbegriff des Lebens wird.
In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, daß sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mußte der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. »Wie kannst du es wagen,« sprach sie mit zornigem Blick, »in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen!« - »Ach,« antwortete er, »laßt Gnade für Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: Meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, daß sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.«
Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: »Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst, allein ich mache eine Bedingung: Du mußt mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.« Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Wie im Leben, so nimmt auch hier unser Märchen seinen Lauf. Die menschliche Begierde läßt sich nicht so einfach erfüllen. Auch wenn wir es gewöhnlich nicht glauben, jeder einmal befriedigte Genuß verdreifacht sie nur. Die Abenddämmerung erinnert hier an die Verdunklung des reinen Bewußtseins, so daß der Mann die gegebenen Grenzen der Natur nicht akzeptieren will und nach den fremden Früchten greift. „Rapunzel stechen“ besagt soviel, daß es auch um die Wurzeln der Pflanze geht. So ist hier vermutlich nicht unser bekannter Feldsalat gemeint, sondern eine blaue Glockenblume mit einer fleischigen Wurzel, die im Mittelalter gern im Garten für Salate und Gemüse angebaut wurde. Der Mann wird natürlich irgendwann von der Zauberin in Form der Illusion überrascht und muß einen hohen Preis dafür zahlen. Denn die werdende Seele wird bereits an die Illusion der Welt verkauft, noch bevor sie geboren wurde. Wir kommen nicht als eine reine und unbelastete Seele in diese Welt, sondern tragen die Last unserer Eltern und Vorfahren. Daran sollten wir auch selbst im Leben denken, und uns der Verantwortung für unsere Kinder und Kindeskinder bewußt werden.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin und rief
»Rapunzel, Rapunzel, laß mir dein Haar herunter.«
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.
Nun, die Seele wird also von ihren Eltern getrennt, wird von einer Zauberin aufgezogen und kennt ihren wahren Ursprung nicht. Als sie das fruchtbare Alter erreicht hatte, ab dem sich das Weibliche und das Männliche wieder verbinden wollen, wird sie in einem einsamen Turm inmitten der Natur eingesperrt, zu dem das Männliche keinen Zugang finden soll. Denn die Illusion weiß, daß sie die Seele verliert, sobald sie sich wieder mit dem männlichen Geist der Erkenntnis vereint. Und was ist dieser Turm? Er erinnert an unseren materiellen Körper mit dem kleinen Fensterchen der Sinne, wo wir sozusagen in einer kopflastigen Welt der Begriffe und begrenzten Sicht leben und wie ein stolzer Turm die Natur überragen wollen. In der Bibel wird von einem ähnlichen Turm gesprochen, dem Turmbau zu Babel. Auch hier wollte sich der Mensch auf eine seltsame Art aus der Natur in den Himmel erheben, mit einem Turm aus gebrannten Ziegeln und Pech als Mörtel. Wer denkt da nicht an unsere versteinerten Konzepte und klebrigen Illusionen, aus denen wir den Wehrturm unseres Egos mauern? Wollen wir uns auf diese Weise wirklich von den Zwängen der Natur befreien?
Die zwölf Jahre mögen zum einen auf die kommende Pubertät hinweisen, aber auch auf das anbrechende dreizehnte Jahr, das oft auf etwas Außergewöhnliches deutet, wie auch der dreizehnte Mond-Monat im Sonnenjahr eine außergewöhnliche Rolle spielt. Den einzigen Zugang in den Kopf der jungen Seele sollte die Zauberin selbst haben, und dafür gibt es dann natürlich auch einen Zauberspruch, um den Weg zu öffnen. Das Haar spielt in diesem Märchen eine besondere Rolle, wie feingesponnenes Gold, das zum einen auf eine gewisse Reinheit der Seele hindeutet, aber auch auf die Illusionsgespinste, die wir im Kopf haben. Vielleicht sind auch die verflochtenen Gedanken gemeint, die sowohl ein Weg der Illusion als auch der Weg zur Befreiung sein können. Die Länge der Haare mit 20 Ellen, also ungefähr 12 Metern, ist natürlich märchenhaft und würde bei einem Haarwuchs von 12cm im Jahr auf ein Alter von 100 Jahren schließen lassen. Das ist immer das Wunderbare an einem Märchen, daß man mit wachsendem Geist merkt, daß vieles sprichwörtlich „an den Haaren herbeigezogen“ ist. Und so zieht auch unsere Seele die Illusion in Gestalt der Zauberin in ihren Kopf.
Unser Kopfhaar spielt in der Menschheitsgeschichte schon immer eine wichtige Rolle. Zum einen bringen die Haare unser inneres Wesen zum Ausdruck. Denken wir hier an die wilden Haare der Hippie-Zeit, die extravaganten Frisuren und Perücken im Rokoko, die angriffslustigen Hahnenkämme der Punker, die asketischen Frisuren der Mönche, die verfilzten Haare der indischen Yogis und vielleicht auch unsere eigenen Versuche, in der Frisur eine passende Identität zu finden. Aber man sagt, Haare gleichen nicht nur Antennen, die Botschaften nach außen funken, sondern auch empfangen können. Im Tierreich ist das klar, denn dort kennen wir die Tasthaare, wie zum Beispiel den Schnurrbart der Katzen. Es wird auch von den alten Hexen berichtet, daß sie ihre Haare lang und offen trugen, um die Botschaften der Geister einzufangen. Wie auch immer, zumindest sind unsere Haare mit unserem Gefühl verbunden, und in unserem Märchen spielen sie eine entsprechend wichtige Rolle. Und wie die Katzen ohne Schnurrhaare orientierungslos umherirren, so irren vielleicht auch wir durchs Leben, wenn wir in unserem Turm eingeschlossen sind und den wahren Geist nicht empfangen, der uns aus diesem Gefängnis befreien kann, sondern ziehen mehr und mehr Illusionen zu uns herein.
Bezüglich der Kopfhaare finden wir auch in der Bibel das Gebot, daß die Frauen das Haupt bedeckt tragen sollen, die Männer aber entblößt [z.B. 1 Kor. 11]. Nun, soweit die weibliche Kraft der Begierde nach außen wirkt und die Illusion hereinziehen will, ist es sicherlich sinnvoll, den Kopf zu beschützen und die Einflüsse abzuwehren. Und soweit die männliche Kraft nach innen wirkt und den heiligen Geist der Befreiung empfängt, sollte man den Kopf öffnen und alle Antennen auf Empfang schalten. Aus diesem Grund nimmt man wohl auch den Hut ab, wenn man Höherem begegnet oder sogar einen Gottes-Tempel betritt.
Nach ein paar Jahren trug es sich zu, daß der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüberkam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, daß er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, daß eine Zauberin herankam, und hörte, wie sie hinaufrief
»Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter.«
Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. »Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.«
Die gute Nachricht ist, daß man die wachsende Seele nicht ewig in den Turm der Illusion einsperren kann. Die Verbindung mit dem männlichen Prinzip ist wesenhaft und läßt sich nicht verhindern. Natürlich sehen wir hier zuerst auf der oberen Ebene den Prinzen, der vom Gesang angezogen die Herausforderung annimmt. Und welches Mädchen wünscht sich nicht, von einem echten Prinzen erobert zu werden? Die tiefere Ebene ist natürlich wieder der Geist, der in Form der Erkenntnis die Natur erobert. Der wahre Geist, das reine Bewußtsein, ist der wahre König, und sein Sohn ist der suchende Geist, der auf dem Weg zur wahren Erkenntnis ist, die natürlich nicht getrennt von der Natur zu finden ist. So beobachtet er zunächst die Natur und findet einen Zugang.
Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:
»Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter.«
Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf. Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, daß von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, daß es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen wollte, und sie sah, daß er jung und schön war, so dachte sie: »Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,« und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: »Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bringe jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten, und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.« Sie verabredeten, daß er bis dahin alle Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte.
Was hier zunächst wie ein Liebesabenteuer aussieht, ist auch im Geistigen eine große Sache, und die tieferen Erkenntnisse finden oft plötzlich und auf seltsame Weise ihren Weg in unser Bewußtsein. Auch sie erscheinen zunächst sehr fremd, und wir schrecken vor ihnen zurück. Doch wenn man ihrer Botschaft lauscht und Vertrauen findet, dann vereint man sich schnell mit ihnen, und sie finden immer leichter ihren Zugang zu unserem Wesen. Das ist die berühmte geistige Hochzeit, die auch im Hohelied der Bibel beschrieben wird, und den Weg zur Befreiung aus der Herrschaft der Illusion verspricht. Dieses „Ja“ ist sehr wichtig auf dem geistigen Weg.
Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte: »Sag sie mir doch, Frau Gothel, wie kommt es nur, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir.« - »Ach du gottloses Kind,« rief die Zauberin, »was muß ich von dir hören, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!« In ihrem Zorne packte sie die schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paarmal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.
Der Weg zur Befreiung ist natürlich voller Hindernisse. Wir machen Fehler und verraten uns selbst. In einer älteren Version dieses Märchens heißt es an dieser Stelle: »Sag' sie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.« Nun, die neue Liebe kommt irgendwie zum Ausdruck, zuerst in der Parteilichkeit und später sogar in einer Schwangerschaft, die sich auf der tieferen Ebene natürlich auch auf den Geist bezieht. Die Bibel würde sagen: „Sie wurde schwanger vom heiligen Geist!“ Doch die Illusion gibt nicht so schnell auf und benutzt die Waffen der Natur: Trennung, Leid und Blindheit. Um diesen Weg der Reinigung kommt kaum eine Seele herum. Dazu wird ihr sogar das Haar abgeschnitten, das bisher ihr geistiger Zugang war. Und wie die Katzen ohne Schnurrhaare umherirren, so muß nun auch die Seele durchs Leben irren, wenn ihr die Antennen fehlen, um die geistigen Botschaften zu empfangen, die sie befreien können.
Klar, jedes Kind fragt irgendwann, weshalb nicht der Prinz einfach das Haar abgeschnitten und am Fensterhaken festgebunden hat, damit sich beide nacheinander abseilen konnten. Das ist das Wunderbare am Märchen, das hinter solchen Fragen immer tiefere Erkenntnisse warten. Denn offenbar ist es der Weg der Illusion, irgendetwas abzuschneiden und listig zu handeln, und der Weg des Geistes ist es, eine Leiter aus reiner Seide zu bauen, damit die Seele aus ihrem kopflastigen Turmgefängnis herabsteigen kann.
„Gothel“ bedeutet angeblich soviel wie „Patin“ und besagt zumindest, daß sie sich zwar gut um die Seele kümmert, aber nicht die wahre Mutter ist. Es kann aber auch nur ein beliebiger Name sein, welchen die Seele hier verwendet, weil sie ihre wahre Mutter nicht kennt. Das geschieht oft, daß wir etwas Unbekanntes mit einem Begriff assoziieren und dann das Gefühl haben, das Wesen zu kennen.
Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatte, machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der Königssohn kam und rief
»Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter,«
so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah. »Aha,« rief sie höhnisch, »du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.« Der Königssohn geriet außer sich vor Schmerzen, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau.
Ja, so hinterlistig kann die Illusion sein. Sie verbannt die wahre Seele, nimmt ihren Platz ein, überwältigt den Geist und macht ihn blind. Das ist es vielleicht, was wir das illusorische Ich oder Ego nennen. Dann irrt unser Geist voller Leiden durch die Natur und kann seine Seele nicht wiederfinden.
So wanderte er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie deuchte ihm so bekannt: Da ging er darauf zu, und wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.
Und doch ist das Happy-End nicht aufzuhalten. Nach einer Zeit des Leidens, die immer auch eine Zeit der Reinigung und Prüfung ist, findet sich wie von selbst, was zusammen gehört, weil es in Wahrheit untrennbar ist. Jegliche Illusion ist vergänglich und kann nicht ewig herrschen. Die unvollkommenen gegensätzlichen Pole erkennen sich, auch wenn sie weit und lange getrennt waren, und vereinen sich wieder zur Vollkommenheit. Das Leiden der Seele heilt die geistige Blindheit, und dann führt der Geist die Seele in das Reich seines Vaters, des wahren Herrschers. Und wenn sie (in unserer Vernunft) nicht gestorben sind, dann leben sie dort noch immer glücklich vereint. Das mag das Ende unseres Märchens sein, aber natürlich nicht das Ende der Welt. Sie dreht sich weiter, denn auch diese Vereinigung war nicht fruchtlos. Ein neues Zwillingspaar wurde geboren, ein Junge und ein Mädchen, die nun hoffentlich aus diesem Märchen lernen und sich entsprechend höherentwickeln.
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |