Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]

Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit, und wußte sich in alles wohl zu schicken. Der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: »Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!« Wenn nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten; hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: »Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!« Denn er fürchtete sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: »Ach, es gruselt mir!« Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. »Immer sagen sie, es gruselt mir, es gruselt mir! Mir gruselt’s nicht. Das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.«

Wie das Märchen von Frau Holle mit einer Mutter und zwei Töchtern beginnt, für die der Vater fehlt, so beginnt dieses Märchen mit einem Vater und zwei Söhnen, wobei die Mutter fehlt. Das deutet bereits darauf hin, daß es hier weniger um die äußere Natur sondern mehr um den inneren Geist geht. Und am Anfang steht wieder einmal ein offensichtlicher Gegensatz in Gestalt zweier Söhne. Der Ältere war ‚normal‘, und der Jüngere war ‚sehr seltsam‘. Er verhielt sich völlig anders als alle anderen, weil ihm eine Kleinigkeit im Leben fehlte, denn er kannte keine Angst. Und wer keine Angst kennt, weder vor Strafe noch vor Leid, der kümmert sich natürlich um viele Dinge nicht, die anderen sehr wichtig erscheinen. Auch unsere Medizin kennt solche seltenen Fälle und spricht von einer ernsten Krankheit, denn Menschen ohne Angst leben sehr gefährlich, weil sie vielen Gefahren nicht ausweichen. Doch unserem Fürchtenix scheint es gar nicht so schlecht zu gehen. Er wundert sich nur über diese Welt um ihn herum. So geht es zunächst in diesem Märchen darum, mit dem Gedanken zu spielen, was es eigentlich bedeutet, frei von Angst zu sein. Ein Zustand, den wir uns oft wünschen, aber gewöhnlich nicht einmal vorstellen können. Umgedreht ist es für den Jungen genauso schwer, ein Gefühl zu verstehen, das er nie erlebt hat. Das Ganze ist ein wunderbares Gedankenexperiment, und die erste Erkenntnis besteht darin, daß unser Fürchtenix von anderen als ein Dummkopf betrachtet wird.

Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: »Hör, du in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du mußt auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.« - »Ei, Vater,« antwortete er, »ich will gerne was lernen; ja, wenn’s anginge, so möchte ich lernen, daß mir’s gruselte; davon verstehe ich noch gar nichts.« Der älteste lachte, als er das hörte und dachte bei sich: Du lieber Gott, was ist mein Bruder für ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts. Was ein Häkchen werden will, muß sich beizeiten krümmen. Der Vater seufzte und antwortete ihm: »Das Gruseln, das sollst du schon lernen, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.«

Da haben wir bereits den ersten Effekt der Angstlosigkeit. Unserem Fürchtenix fehlt es am üblichen Ehrgeiz, etwas werden zu wollen und in dieser Welt bestehen zu müssen, denn er hat keine Angst vor dem Tadel der Welt. Bei ihm ist „Hopfen und Malz verloren“, das heißt, wer kein Bier brauen kann, dem nützen auch die besten Zutaten nichts. Und auf die Frage des Vaters, was er im Leben lernen möchte, entscheidet er sich natürlich für das, was er an der Welt um sich herum am wenigsten versteht. Sein Bruder lacht darüber, denn welcher Mensch wünscht sich so etwas Unangenehmes wie das Fürchten zu lernen, um in der Welt etwas zu werden? Er sieht es wohl sogar als stolze Überheblichkeit an und empfiehlt seinem jüngeren Bruder, sich lieber dieser Welt zu beugen, wenn er hier etwas Nützliches werden will. Der Vater seufzt zwar, aber sieht kein Problem darin, das Fürchten zu lernen, denn dafür ist diese Welt ja da. Sie wird es ihn schon lehren, aber davon leben könne er nicht. Heutzutage ist das allerdings nicht mehr so klar, denn in unserer Marktwirtschaft kann man sogar die Angst verkaufen. Das ist zwar absurd, aber das Geschäft mit z.B. Versicherungen oder Horrorfilmen läuft hervorragend. So besteht die zweite Erkenntnis darin, daß unser Fürchtenix auch als stolz und überheblich betrachtet wird.

Bald danach kam der Küster zu Besuch ins Haus. Da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts. »Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.« - »Wenn’s weiter nichts ist,« antwortete der Küster, »das kann er bei mir lernen; tut ihn nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln.« Der Vater war es zufrieden, weil er dachte: Der Junge wird doch ein wenig zugestutzt. Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er mußte die Glocken läuten. Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und läuten. Du sollst schon lernen, was Gruseln ist, dachte er, ging heimlich voraus, und als der Junge oben war und sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weiße Gestalt stehen. »Wer da?« rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. »Gib Antwort,« rief der Junge, »oder mache, daß du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen!« Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte, es wäre ein Gespenst. Der Junge rief zum zweitenmal: »Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab.« Der Küster dachte: Das wird so schlimm nicht gemeint sein, gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief ihn der Junge zum drittenmal an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, daß es zehn Stufen hinabfiel und in einer Ecke liegenblieb. Darauf läutete er die Glocke, ging heim, legte sich ohne ein Wort zu sagen ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er wollte nicht wiederkommen. Da ward ihr endlich angst, sie weckte den Jungen und fragte: »Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben ist? Er ist vor dir auf den Turm gestiegen.« - »Nein,« antwortete der Junge, »aber da hat einer dem Schalloch gegenüber auf der Treppe gestanden, und weil er keine Antwort geben und auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so werdet Ihr sehen, ob er’s gewesen ist, es sollte mir leid tun.« Die Frau sprang fort und fand ihren Mann, der in einer Ecke lag und jammerte und ein Bein gebrochen hatte.

Welche große Rolle die Angst in unserem gewöhnlichen Leben spielt, zeigen bereits die vielen Begriffe, die wir dafür mit verschiedensten Nuancen verwenden. Das geht von Respekt über Furcht bist zu Angst und Panik. Dazu gehören auch Gruseln, Horror, Schrecken und Grauen. Über die Unterschiede streiten sich die Psychologen, doch das Volk verwendet diese Begriffe ganz intuitiv, wie wir auch. So würden wir hier sagen, daß unser Fürchtenix zumindest Respekt hat, denn er folgt seinem Vater bereitwillig, der ihn nun in die Lehre zum Küster schickt, einem Kirchendiener, der sich dort wie ein Hausmeister um praktische Dinge kümmert, unter anderem das Läuten der Glocke. Nun, hier geht es um die sogenannte Erziehung. Das ist ein wirklich großes Thema, in dem die Furcht eine wesentliche Rolle spielt. Wer Kinder hat, wird dieses Problem gut kennen. Kinder brauchen ihre Grenzen, sie müssen lernen, was zu tun und zu lassen ist, und hier hat die Furcht in allen Nuancen eine ganz natürliche Aufgabe, vom Respekt vor den Eltern bis zur Furcht vor Schmerzen, die vor Gefahren warnen, oder der Furcht vor der Fremde, damit sie in der Nähe der Eltern bleiben. Kinder ohne Grenzen werden schnell zu Tyrannen, die sich selbst und ihren Eltern zweifellos nicht viel Gutes tun. Die Kunst ist natürlich, auch in der Erziehung jedes Mittel vernünftig anzuwenden und sinnvoll zu dosieren. Sonst geht das Ganze schnell nach hinten los, wie in unserem Märchen. Inwieweit diese Verbindung zwischen Küster und Gespenst auf die Erziehungsmethoden der kirchlich-weltlichen Institutionen anspielen, kann man nur vermuten. Denn wahrlich, auch in der Kirche wurde die Angst oft mißbraucht, um die Menschen zu unterdrücken oder sogar schreckliche Kriege zu führen, und entsprechend wurde großer Schaden angerichtet, der schließlich auch der Kirche die Glieder zerbrochen hat. Zumindest handelt unser Fürchtenix aus seiner Sicht hier völlig vernünftig, fühlt sich zum Kampf herausgefordert, kämpft und gewinnt sogar gegen einen Erwachsenen, der von der Reaktion des Jünglings völlig überrascht und überwältigt wurde. Wem sollte man hier die Schuld geben? Mag es der Küster auch gut gemeint haben, das Unglück traf ihn sicherlich nicht unverdient.

Sie trug ihn herab und eilte dann mit lautem Geschrei zu dem Vater des Jungen. »Euer Junge,« rief sie, »hat ein großes Unglück angerichtet, meinen Mann hat er die Treppe hinabgeworfen, daß er ein Bein gebrochen hat. Schafft den Taugenichts aus unserm Hause!« Der Vater erschrak, kam herbeigelaufen und schalt den Jungen aus. »Was sind das für gottlose Streiche, die muß dir der Böse eingegeben haben.« - »Vater,« antwortete er, »hört nur an, ich bin ganz unschuldig. Er stand da in der Nacht wie einer, der Böses im Sinne hat. Ich wußte nicht, wer’s war, und habe ihn dreimal ermahnt, zu reden oder wegzugehen.« - »Ach,« sprach der Vater, »mit dir erleb ich nur Unglück, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr ansehen.« - »Ja, Vater, recht gerne, wartet nur bis Tag ist, da will ich ausgehen und das Gruseln lernen, so versteh ich doch eine Kunst, die mich ernähren kann.« - »Lerne, was du willst,« sprach der Vater, »mir ist alles einerlei. Da hast du fünfzig Taler, damit geh in die weite Welt und sage keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schämen.« - »Ja, Vater, wie Ihr’s haben wollt, wenn Ihr nicht mehr verlangt, das kann ich leicht in acht behalten.«

Aber klar, wer würde dem Jungen hier Recht geben und sagen „Das hast du gut gemacht!“? Damit kommen wir zur dritten Erkenntnis, daß unser Fürchtenix sogar als böse betrachtet wird, was damals eng mit dem Teufel, der Verkörperung des Bösen, verbunden war. Das endet in einer Art Verbannung, der Vater sagt sich von seinem Sohn los und schickt ihn in die Fremde. Doch unser Fürchtenix scheint auch mit der Fremde und dem Verlust von Vertrautem kein Problem zu haben. Er folgt seinem Vater gern und scheint ihm diesen schweren Tadel gar nicht übelzunehmen. Hier zeigt sich bereits eine wunderliche Einfalt, über die wir später noch sprechen wollen. Bereitwillig stellt er sich den Herausforderungen der Welt und hofft, eines Tages lernen zu können, was die Leute um ihn herum unter ‚Angst‘ verstehen.

Als nun der Tag anbrach, steckte der Junge seine fünfzig Taler in die Tasche, ging hinaus auf die große Landstraße und sprach immer vor sich hin: »Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!« Da kam ein Mann heran, der hörte das Gespräch, das der Junge mit sich selber führte, und als sie ein Stück weiter waren, daß man den Galgen sehen konnte, sagte der Mann zu ihm: »Siehst du, dort ist der Baum, wo sieben mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen: setz dich darunter und warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon noch das Gruseln lernen.« - »Wenn weiter nichts dazu gehört,« antwortete der Junge, »das ist leicht getan; lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du meine fünfzig Taler haben; komm nur morgen früh wieder zu mir.« Da ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis der Abend kam. Und weil ihn fror, machte er sich ein Feuer an. Aber um Mitternacht ging der Wind so kalt, daß er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegeneinanderstieß, daß sie sich hin und her bewegten, so dachte er: Du frierst unten bei dem Feuer, was mögen die da oben erst frieren und zappeln. Und weil er mitleidig war, legte er die Leiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los und holte sie alle sieben herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an und setzte sie ringsherum, daß sie sich wärmen sollten. Aber sie saßen da und regten sich nicht, und das Feuer ergriff ihre Kleider. Da sprach er: »Nehmt euch in acht, sonst häng ich euch wieder hinauf.« Die Toten aber hörten nicht, schwiegen und ließen ihre Lumpen fortbrennen. Da ward er bös und sprach: »Wenn ihr nicht achtgeben wollt, so kann ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euch verbrennen,« und hing sie nach der Reihe wieder hinauf. Nun setzte er sich zu seinem Feuer und schlief ein, und am andern Morgen, da kam der Mann zu ihm, wollte die fünfzig Taler haben und sprach: » Nun, weißt du, was Gruseln ist?« - »Nein,« antwortete er, »woher sollte ich’s wissen? Die da droben haben das Maul nicht auf getan und waren so dumm, daß sie die paar alten Lappen, die sie am Leibe haben, brennen ließen.« Da sah der Mann, daß er die fünfzig Taler heute nicht davontragen würde, ging fort und sprach: »So einer ist mir noch nicht vorgekommen.«

Eine große Angst, die wir gewöhnlich alle mit uns herumtragen, ist die Angst vor dem Tod. Diese Angst war auch damals ein wichtiges Werkzeug, um die Menschen in den Grenzen von Recht und Gesetz zu halten. Wer diese Grenzen überschritt, mußte mit der Todesstrafe rechnen und endete gewöhnlich am Galgen, wo er mit des Seilers Tochter, nämlich dem Strick, aufgehängt wurde und im Wind baumelte. Und es war wichtig, daß diese Strafe alle sehen konnten, um von weiteren Untaten abgeschreckt zu werden. Doch auch hier hat unser Fürchtenix keine Angst, sogar der Tod schreckt ihn nicht, im Gegenteil, er scheint gar nicht zu verstehen, was „Tod“ bedeutet. Er behandelt die Toten wie Lebende und macht ihnen noch Vorwürfe, weil sie am Feuer nicht achtsam genug sind. Und sicherlich, wären sie im Leben achtsamer gewesen, hätten sie wahrscheinlich nicht diesen Weg genommen.

Auch an seinem Geld scheint er nicht allzusehr zu hängen, denn er ist bereit, alles hinzugeben, wie er auch bereit war, seine Familie und sein Vaterhaus zurückzulassen. Das wäre dann die vierte Erkenntnis, daß unser Fürchtenix praktisch keine Anhaftung kennt.

Der Junge ging auch seines Wegs und fing wieder an, vor sich hin zu reden: »Ach, wenn mir’s nur gruselte! Ach, wenn mir’s nur gruselte!« Das hörte ein Fuhrmann, der hinter ihm her schritt, und fragte: »Wer bist du?« - »Ich weiß nicht,« antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte weiter: »Wo bist du her?« - »Ich weiß nicht.« - »Wer ist dein Vater?« - »Das darf ich nicht sagen.« - »Was brummst du beständig in den Bart hinein?« - »Ei,« antwortete der Junge, »ich wollte, daß mir’s gruselte, aber niemand kann mich’s lehren.«

Nun wird’s noch interessanter. Unser Fürchtenix weiß nicht, wer er ist und woher er kommt. Hat er keinen Namen? Geht er keinen Weg? Ist er keine Person? Auch wenn er hier nur dem Gebot seines Vaters folgt, mal ehrlich: Können wir uns vorstellen, was wir ohne Ego wären, ohne dieses eingebildete „Ich“, diese seltsame Persönlichkeit mit Charakter, Namen und Adresse? Für gewöhnliche Menschen, wie wir, ist das genauso unvorstellbar, wie für unseren Fürchtenix die Angst und der Tod unvorstellbar sind. Damit erinnert uns nun diese Geschichte weniger an eine schreckliche Krankheit, sondern an die unglaublichen Berichte über Menschen, welche die sogenannte Befreiung oder Erlösung erreicht haben, von der die großen Religionen sprechen. Wovon sind sie befreit? Von der Illusion des eingebildeten Egos, und damit von den Fesseln dieser Welt, von Tod, Angst, Anhaftung und Sünde bzw. Karma. Solche Menschen sind schon immer sehr selten gewesen, und manche von ihnen empfangen diese große Freiheit scheinbar einfach so, als würden sie zufällig ein Los kaufen und den Jackpot im Lotto gewinnen. Dann wundern sie sich zunächst sehr, was mit ihnen geschehen ist und können es selbst nicht verstehen. Zwei praktische Beispiele, die wir diesbezüglich in unserer Zeit kennen, sind Eckhart Tolle und Dadaji. Doch sicherlich gibt es noch mehr in dieser Welt, und nicht jeder von ihnen wurde zu einem berühmten Lehrer. Und wenn dieses seltene Ereignis bereits in der Kindheit auftaucht, dann könnte ungefähr das geschehen, was hier im Märchen beschrieben wird. Solche Menschen haben auch im Alter noch das, was man die reine Einfalt nennt, die bereits erwähnt wurde. Und wir kommen hier auch auf die vier genannten Erkenntnisse zurück, nämlich daß ihre Weisheit anderen oft wie nutzlose Dummheit erscheint, und nicht selten werden sie sogar als stolz, überheblich und bösartig oder zumindest seltsam beschimpft, weil ihr Wesen so fremdartig wirkt. Sie reagieren unerwartet, denn sie sind von weltlicher Anhaftung, Begierde, Haß und Leidenschaft frei und mit einer höheren Wahrheit vereint. Nur deshalb können sie sich erlauben, in dieser Welt ohne Angst zu leben, die ansonsten notwendig ist, um diesen egoistischen Neigungen natürliche Grenzen zu setzen. Deshalb ist es auch völlig normal, daß andere Menschen, die zu dieser geistigen Ebene noch keinerlei Zugang haben, gar nicht wissen, wovon sie sprechen.

»Laß dein dummes Geschwätz,« sprach der Fuhrmann. »Komm, geh mit mir, ich will sehen, daß ich dich unterbringe.« Der Junge ging mit dem Fuhrmann, und abends gelangten sie zu einem Wirtshaus, wo sie übernachten wollten. Da sprach er beim Eintritt in die Stube wieder ganz laut: »Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!« Der Wirt, der das hörte, lachte und sprach: »Wenn dich danach lüstet, dazu sollte hier wohl Gelegenheit sein.« - »Ach, schweig stille,« sprach die Wirtsfrau, »so mancher Vorwitzige hat schon sein Leben eingebüßt, es wäre Jammer und Schade um die schönen Augen, wenn die das Tageslicht nicht wieder sehen sollten.« Der Junge aber sagte: »Wenn’s noch so schwer wäre, ich will’s einmal lernen, deshalb bin ich ja ausgezogen.« Er ließ dem Wirt auch keine Ruhe, bis dieser erzählte, nicht weit davon stände ein verwünschtes Schloß, wo einer wohl lernen könnte, was Gruseln wäre, wenn er nur drei Nächte darin wachen wollte. Der König hätte dem, der’s wagen wollte, seine Tochter zur Frau versprochen, und die wäre die schönste Jungfrau, welche die Sonne beschien; in dem Schlosse steckten auch große Schätze, von bösen Geistern bewacht, die würden dann frei und könnten einen Armen reich genug machen. Schon viele wären wohl hinein, aber noch keiner wieder herausgekommen. Da ging der Junge am andern Morgen vor den König und sprach: »Wenn’s erlaubt wäre, so wollte ich wohl drei Nächte in dem verwünschten Schlosse wachen.« Der König sah ihn an und weil er ihm gefiel, sprach er: »Du darfst dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose Dinge sein, und das darfst du mit ins Schloß nehmen.« Da antwortete er: »So bitt ich um ein Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank mit dem Messer.«

Weiter geht die Geschichte voll wunderbarer Symbole. Ein Fuhrmann bringt ihn zu einem Wirt. Dessen Frau scheint etwas zu ahnen und erkennt in den Augen des Jungen bereits etwas Besonderes, vielleicht einen ungewöhnlichen Glanz. Und der Wirt spricht von einem Schloß, in dem es unvergleichliche Schätze gibt, die von bösen Geistern bewacht werden. Könnte damit unser Körper gemeint sein? Die dunklen Geister kommen uns sicherlich bekannt vor, aber was ist der große Schatz in unserem Inneren? Und warum ist es so schwer, dieses körperliche Schloß wieder lebendig zu verlassen? Natürlich gibt es für das Schloß auch einen König, und wer die Prüfung besteht, gewinnt die Hand seiner Tochter zusammen mit der Königswürde. Hier könnte man symbolisch an die Seele denken, die im Körper wohnt, an den reinen Geist, der als wahrer König aus seinem Schloß flieht, weil dort die Spuk-Illusionen regieren, und die reine Natur als Königstochter, mit der sich die Seele wieder verbinden kann, wenn sie sich nach innen gerichtet und die Spuk-Illusionen besiegt hat. Die drei berühmten Tage der Prüfung sind dann im Leben wahrscheinlich drei Jahre oder auch drei Jahrzehnte. Doch die Zeit spielt hier keine große Rolle, denn der Weg ist das Ziel. So wird im folgenden nicht nur die Art und Weise beschrieben, wie ein furchtloser Mensch handeln kann, sondern vermutlich auch ein Weg, wie man sich selbst dieser geistigen Ebene der Furchtlosigkeit nähern könnte. Das Ganze ist mit vielen Symbolen beschrieben und beginnt mit den drei nützlichen Werkzeugen für den Weg, der in unser Inneres führt.

Der König ließ ihm das alles bei Tage in das Schloß tragen. Als es Nacht werden wollte, ging der Junge hinauf, machte sich in einer Kammer ein helles Feuer an, stellte die Schnitzbank mit dem Messer daneben und setzte sich auf die Drehbank. »Ach, wenn mir’s nur gruselte,« sprach er, »aber hier werde ich’s auch nicht lernen.« Gegen Mitternacht wollte er sich sein Feuer einmal aufschüren, wie er so hineinblies, da schrie’s plötzlich aus einer Ecke: »Au, miau! Was uns friert!« - »Ihr Narren,« rief er, »was schreit ihr? Wenn euch friert, kommt, setzt euch ans Feuer und wärmt euch.« Und wie er das gesagt hatte, kamen zwei große schwarze Katzen in einem gewaltigen Sprunge herbei, setzten sich ihm zu beiden Seiten und sahen ihn mit feurigen Augen ganz wild an. Über ein Weilchen, als sie sich gewärmt hatten, sprachen sie: »Kamerad, wollen wir eins in der Karte spielen?« - »Warum nicht?« antwortete er, »aber zeigt einmal eure Pfoten her.« Da streckten sie die Krallen aus. »Ei,« sagte er, »was habt ihr lange Nägel! Wartet, die muß ich euch erst abschneiden.« Damit packte er sie beim Kragen, hob sie auf die Schnitzbank und schraubte ihnen die Pfoten fest. »Euch habe ich auf die Finger gesehen,« sprach er, »da vergeht mir die Lust zum Kartenspiel,« schlug sie tot und warf sie hinaus ins Wasser. Als er aber die zwei zur Ruhe gebracht hatte und sich wieder zu seinem Feuer setzen wollte, da kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze Hunde an glühenden Ketten, immer mehr und mehr, daß er sich nicht mehr bergen konnte. Die schrien greulich, traten ihm auf sein Feuer, zerrten es auseinander und wollten es ausmachen. Das sah er ein Weilchen ruhig mit an, als es ihm aber zu arg ward, faßte er sein Schnitzmesser und rief: »Fort mit dir, du Gesindel,« und haute auf sie los. Ein Teil sprang weg, die andern schlug er tot und warf sie hinaus in den Teich. Als er wiedergekommen war, blies er aus den Funken sein Feuer frisch an und wärmte sich.

Wenn es draußen Nacht wird, richten sich unserer Sinne mehr und mehr nach innen, auf unsere geistige Welt. Hier macht man sich ein helles Feuer, das zum einen die Lebenswärme gibt und zum anderen das Licht, um etwas zu erkennen. Dann legt man seine Werkzeuge griffbereit, setzt sich auf die Drehbank und wartet voller Achtsamkeit, was man auch Meditation nennt. Die Drehbank ist hier ein wunderbares Symbol. Denn in Meditation zu sitzen heißt, den Kopf rundzudrechseln und die Gegensätze auszugleichen, damit die Gedanken nicht anecken und überall hängenbleiben, sondern frei fließen können. Als die Nacht am tiefsten war und das Feuer, das heißt die Achtsamkeit, noch einmal ordentlich geschürt wurde, erschienen zwei schwarze Katzen mit feurigen Augen, welche die Wärme des Lebens suchten. Und als sie sich wohl und lebendig fühlten, wollten sie spielen. Aber mit solchen Katzen sollte man nicht spielen, denn sie haben scharfe Krallen und symbolisieren hier wahrscheinlich Eigenwilligkeit und Täuschung, also die Illusion (wie man auch im Märchen „Katze und Maus in Gesellschaft“ lesen kann). Das ist das größte Hindernis auf dem geistigen Weg zur Befreiung. Die Illusion bindet uns an diese Welt und ist die Ursache für Angst und Tod. Und wer es jemals versucht hat, die Illusion zu besiegen, weiß, wie hinterlistig sie ist. Wenn man eine erschlagen hat, kommen schon die nächsten in Form endloser Gedanken aus irgendwelchen Löchern des Geistes. Es sind die dunklen Wesen in uns, und neben den schwarzen Katzen kommen noch die schwarzen Hunde aus Begierde und Haß, die uns anbellen und so sehr an ihren Ketten ziehen, daß sie schon glühen. Nun gilt es die Werkzeuge zu benutzen, die geschickten Mittel, um sich der Geister zu erwehren. Die Schnitzbank ist ebenfalls ein vorzügliches Symbol. Was macht man damit? Man klemmt das rohe Holz ein und formt es mit dem Messer um. Gleiches geschieht in der Mediation, wenn man versucht, wie ein geschickter Handwerker die Formen des Geistes zu wandeln. Das funktioniert, und mit etwas Übung kann mancher Alptraum in Frieden gewandelt werden, mancher Haß in Liebe und mancher Mißerfolg in einen Erfolg. Das funktioniert, weil das Ganze mit Illusion zu tun hat, und Illusion ist in alles wandelbar. Das ist sicherlich schon eine große Hilfe im Leben. Aber die Nacht ist noch nicht zu Ende. Wer sich darin versucht, wird bald sehen, mit welcher Macht immer neue Gedanken und Illusionen kommen und versuchen, das Bewußtsein abzulenken, das Feuer der Achtsamkeit zu zerstreuen und auszutreten. Das schaut man sich eine Weile gelassen an, und dann sollte man reagieren, kämpfen und nach Möglichkeit siegen und zurückkehren, um die Reste der Achtsamkeit wieder zu sammeln und auflodern zu lassen. Den Kampf führt man am besten mit dem berühmten Schwert der Erkenntnis, und die Leichen gibt man zurück ins Wasser. Das ist erstaunlich. Was könnte mit diesem Wasser gemeint sein, dem Wassergraben um das Schloß und dem Teich? Sicherlich, wer den geistigen Kampf sucht, sollte keine Leichen zurücklassen, denn irgendwann wird alles wieder lebendig. So gibt man sie am besten der Natur zurück, wo sie hingehören, ins Wasser, aus dem unser Leben entstanden ist, oder sogar in dieses mystische Meer des Geistes, aus dem alles entsteht. Auf diese Weise bringt man alles zu seinem Ursprung zurück.

Und als er so saß, wollten ihm die Augen nicht länger offen bleiben und er bekam Lust zu schlafen. Da blickte er um sich und sah in der Ecke ein großes Bett. »Das ist mir eben recht,« sprach er, und legte sich hinein. Als er aber die Augen zutun wollte, so fing das Bett von selbst an zu fahren und fuhr im ganzen Schloß herum. »Recht so,« sprach er, »nur besser zu.« Da rollte das Bett fort, als wären sechs Pferde vorgespannt, über Schwellen und Treppen auf und ab: auf einmal, hopp hopp! warf es um, das Unterste zuoberst, daß es wie ein Berg auf ihm lag. Aber er schleuderte Decken und Kissen in die Höhe, stieg heraus und sagte: »Nun mag fahren, wer Lust hat,« legte sich an sein Feuer und schlief, bis es Tag war. Am Morgen kam der König, und als er ihn da auf der Erde liegen sah, meinte er, die Gespenster hätten ihn umgebracht und er wäre tot. Da sprach er: »Es ist doch schade um den schönen Menschen.« Das hörte der Junge, richtete sich auf und sprach: »So weit ist’s noch nicht!« Da verwunderte sich der König, freute sich aber, und fragte, wie es ihm gegangen wäre. »Recht gut,« antwortete er, »eine Nacht wäre herum, die zwei andern werden auch herumgehen.« Als er zum Wirt kam, da machte der große Augen. »Ich dachte nicht,« sprach er, »daß ich dich wieder lebendig sehen würde; hast du nun gelernt, was Gruseln ist?« - »Nein,« sagte er, »es ist alles vergeblich. Wenn mir’s nur einer sagen könnte!«

Bei aller Achtsamkeit, irgendwann kommt der Schlaf. Die Symbolik erinnert uns zunächst an einen Traum, der uns mit sich fortzieht und umherschweifen läßt. Unser Fürchtenix schaut wieder gelassen zu und läßt sich forttragen. Was hätte er auch zu befürchten? Erst, als es ihm zu bunt wird, weil sich alles umkehrt und ihn bedrückt, schüttelt er den Traum ab und legt sich wieder an sein Feuer der Achtsamkeit, bis es Tag wird. Eine andere Deutung wäre, wie all die komfortablen Dinge eigentlich auf unser Leben wirken, von denen wir unser ganzes Glück im Leben erwarten. Das geht alles eine Weile gut, und dann ‚hopp hopp!‘ kehren sie sich um und fallen über uns her. Es heißt, mit dem ganzen Luxus verlieren wir schnell den Boden unter den Füßen, also die Erdung in der Natur und das Feuer der Achtsamkeit. So sehr uns die moderne Technik auch hilft, so bringt sie uns auch Bindung, Unruhe und Leiden. Und oft verwechseln wir das wilde Hin und Her dieser hektischen Welt mit der Lebendigkeit des Lebens. Wer hier nicht mitwirbelt, gilt schon für tot, und man hört: „Es ist doch schade um das Leben!“ Gandhi soll dazu einst gesagt haben: „Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“

Die zweite Nacht ging er abermals hinauf ins alte Schloß, setzte sich zum Feuer und fing sein altes Lied wieder an: »Wenn mir’s nur gruselte!« Wie Mitternacht herankam, ließ sich ein Lärm und Gepolter hören; erst sachte dann immer stärker, dann war’s ein bißchen still, endlich kam mit lautem Geschrei ein halber Mensch den Schornstein herab und fiel vor ihn hin. »Heda!« rief er, »noch ein halber gehört dazu, das ist zu wenig.« Da ging der Lärm von frischem an, es tobte und heulte und fiel die andere Hälfte auch herab. »Wart,« sprach er, »ich will dir erst das Feuer ein wenig anblasen.« Wie er das getan hatte und sich wieder umsah, da waren die beiden Stücke zusammengefahren und saß da ein greulicher Mann auf seinem Platz. »So haben wir nicht gewettet,« sprach der Junge, » die Bank ist mein.« Der Mann wollte ihn wegdrängen, aber der Junge ließ sich’s nicht gefallen, schob ihn mit Gewalt weg und setzte sich wieder auf seinen Platz.

Und weiter geht es auf der Suche nach der Angst in unserem Inneren. Den Schornstein kennen wir bereits aus anderen Märchen. Er erinnert an Ruß und Dunkelheit, Qualm und Nebel, also eine gute Quelle für die Illusion. Daraus erscheint ein halber Mensch. Es heißt, ein weiteres großes Hindernis auf dem Weg zur Freiheit von Angst und Tod sind die Gegensätze, wie Heiß und Kalt, Gut und Böse, Mein und Dein, Tod und Leben. Es ist die Eigenart unseres Intellekts, alles zu unterscheiden und zu trennen. Und dann zerbrechen wir uns noch die Köpfe, wie wir die Teile wieder zu einem Ganzen zusammenfügen können, die wir selbst zuvor künstlich getrennt haben. Das erinnert an einen Gespenster-Fluch, daß manche Wesen in zwei Hälften solange durch die Welt irren müssen, bis sie jemand wieder zusammenfügt, damit der Spuk endet. Und mit dem Zusammenfügen erwacht wieder das Leben in dem, was zuvor zwei tote Gespensterteile waren. Die vorliegende Symbolik ist sehr interessant. Das Wesen, das unser Fürchtenix vereint und wieder lebendig gemacht hat, scheint ihn nun selbst zu bedrängen. Diese Gefahr besteht immer, daß unsere selbstgeschaffenen Wesen unser wahres Wesen im Inneren verdrängen. Selbstgeschaffen sind z.B. die Rollen, die wir im Leben spielen (heute Manager und morgen Pflegefall), und auch diese seltsame, egoistische Person, das Ich, das wie ein eigenständiges Wesen erscheint und dem Rest der Welt gegenübersteht, anstatt mit ihm in Harmonie vereint zu sein. Im schlimmsten Fall beginnt sogar das Ego zu meditieren. Nun, unser Fürchtenix läßt sich davon nicht bedrängen. Warum auch, wenn er keine Angst hat? Er bewahrt seine Achtsamkeit und weiß, daß es die Natur ist, die alle Geschöpfe hervorbringt. Natur, Geist und Leben sind ein Ganzes. All die gegensätzlichen Teile, die wir darin sehen, ergreifen und in einzelne Kategorien packen, haben sicherlich ihre Aufgabe und sind gut und nützlich für unser alltägliches Leben. Doch in Wahrheit ist alles miteinander verbunden und nichts kann aus diesem Ganzen herausfallen.

Da fielen noch mehr Männer herab, einer nach dem andern, die holten neun Totenbeine und zwei Totenköpfe, setzten auf und spielten Kegel. Der Junge bekam auch Lust und fragte: »Hört ihr, kann ich mit sein?« - »Ja, wenn du Geld hast.« - »Geld genug,« antwortete er, »aber eure Kugeln sind nicht recht rund.« Da nahm er die Totenköpfe, setzte sie in die Drehbank und drehte sie rund. »So, jetzt werden sie besser schüppeln,« sprach er, »heida! nun geht’s lustig!« Er spielte mit und verlor etwas von seinem Geld, als es aber zwölf schlug, war alles vor seinen Augen verschwunden. Er legte sich nieder und schlief ruhig ein. Am andern Morgen kam der König und wollte sich erkundigen. »Wie ist dir’s diesmal gegangen?« fragte er. »Ich habe gekegelt,« antwortete er, »und ein paar Heller verloren.« - »Hat dir denn nicht gegruselt?« - »Ei was,« sprach er, »lustig hab ich mich gemacht. Wenn ich nur wüßte, was Gruseln wäre!«

Jetzt kommen wir zu einem sensiblen Thema, die Pietät. Mit Totenbeinen spielen und Totenköpfen kegeln wäre sicherlich für Kinder gar kein Problem. Doch viele Erwachsene getrauen sich nicht einmal, mit dem Gedanken über ihren Tod zu spielen. Tod und Leben als ein Spiel zu betrachten, trifft gewöhnlich auf härtesten Protest: „Das ist doch eine ernste Sache!“ Ja, das ist es sicherlich für viele Menschen und oft sogar ein Tabu, und das wird auch seinen Sinn haben. Doch damit verhärten sich natürlich die Gegensätze in unseren Gedanken, und es entsteht ein großer Quell der Angst, die sogenannte Todesangst: „Ich werde mein Leben verlieren!“ Eckhart Tolle fragte hier: „Wie kannst du dein Leben verlieren? Wer bist Du? Und was ist dein Leben?“ Nun, wer irgendwann die Angst vor dem Tod überwinden möchte, sollte mit diesen Gedanken spielen. Und damit die Köpfe nicht so sehr holpern und überall anecken, also ohne Hindernisse und Anhaftung sind, ist es gut, sie nach und nach rund zu drechseln. Dann rollt die Kugel wie von selbst, und wenn alle Neune fallen, dann wurde der Tod mit dem Tod besiegt. Das ist eine Symbolik, worüber man sicherlich lange nachdenken kann. Man verliert dabei natürlich etwas vom weltlichen Besitz, aber der Spuk verschwindet und damit auch die innere Angst, die uns so sehr beunruhigt.

In der dritten Nacht setzte er sich wieder auf seine Bank und sprach ganz verdrießlich: »Wenn es mir nur gruselte!« Als es spät ward, kamen sechs große Männer und brachten eine Totenlade hereingetragen. Da sprach er: »Ha, ha, das ist gewiß mein Vetterchen, das erst vor ein paar Tagen gestorben ist,« winkte mit dem Finger und rief: »Komm, Vetterchen, komm!« Sie stellten den Sarg auf die Erde, er aber ging hinzu und nahm den Deckel ab: da lag ein toter Mann darin. Er fühlte ihm ans Gesicht, aber es war kalt wie Eis. »Wart,« sprach er, »ich will dich ein bißchen wärmen,« ging ans Feuer, wärmte seine Hand und legte sie ihm aufs Gesicht, aber der Tote blieb kalt. Nun nahm er ihn heraus, setzte sich ans Feuer, legte ihn auf seinen Schoß und rieb ihm die Arme, damit das Blut wieder in Bewegung kommen sollte. Als auch das nichts helfen wollte, fiel ihm ein, »wenn zwei zusammen im Bett liegen, so wärmen sie sich,« brachte ihn ins Bett, deckte ihn zu und legte sich neben ihn. Über ein Weilchen ward auch der Tote warm und fing an sich zu regen. Da sprach der Junge: »Siehst du, Vetterchen, hätt ich dich nicht gewärmt!« Der Tote aber hub an und rief: »Jetzt will ich dich erwürgen.« - »Was,« sagte er, »ist das mein Dank? Gleich sollst du wieder in deinen Sarg,« hub ihn auf, warf ihn hinein und machte den Deckel zu; da kamen die sechs Männer und trugen ihn wieder fort. »Es will mir nicht gruseln,« sagte er, »hier lerne ich’s mein Lebtag nicht.«

Das ist Symbolik vom Feinsten! Sechs Männer bringen einen Leichnam herein. Sind es vielleicht die fünf Sinne und das Denken, die auch den Tod in unser inneres Wesen hereintragen? Und unser Fürchtenix sieht darin nichts Fremdes. Er fühlt sich mit dem Toten sogar eng verbunden und unternimmt alles, um diesem kalten Körper wieder Leben zu geben. Und das gelingt ihm auch. Doch was macht der Tote? Er will töten und greift nach dem Tod. Deswegen mußte er auch sterben, und deshalb ist er ein Toter. Das ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Hier im Inneren, wo es um Wahrheit und Leben geht, hat er nichts mehr zu suchen, und so kommt er wieder in den Sarg, und wie er hereingekommen ist, so geht er auch wieder hinaus. Also, ebenfalls kein Grund zum Gruseln.

Da trat ein Mann herein, der war größer als alle anderen, und sah fürchterlich aus; er war aber alt und hatte einen langen weißen Bart. »O du Wicht,« rief er, »nun sollst du bald lernen, was Gruseln ist, denn du sollst sterben.« - »Nicht so schnell,« antwortete der Junge, »soll ich sterben, so muß ich auch dabei sein.« - »Dich will ich schon packen,« sprach der Unhold. - »Sachte, sachte, mach dich nicht so breit; so stark wie du bin ich auch, und wohl noch stärker.« - »Das wollen wir sehn,« sprach der Alte, »bist du stärker als ich, so will ich dich gehn lassen; komm, wir wollen’s versuchen.« Da führte er ihn durch dunkle Gänge zu einem Schmiedefeuer, nahm eine Axt und schlug den einen Amboß mit einem Schlag in die Erde. »Das kann ich noch besser,« sprach der Junge, und ging zu dem andern Amboß. Der Alte stellte sich nebenhin und wollte zusehen, und sein weißer Bart hing herab. Da faßte der Junge die Axt, spaltete den Amboß auf einen Hieb und klemmte den Bart des Alten mit hinein. »Nun hab ich dich,« sprach der Junge, »jetzt ist das Sterben an dir.« Dann faßte er eine Eisenstange und schlug auf den Alten los, bis er wimmerte und bat, er möchte aufhören, er wollte ihm große Reichtümer geben. Der Junge zog die Axt raus und ließ ihn los. Der Alte führte ihn wieder ins Schloß zurück und zeigte ihm in einem Keller drei Kasten voll Gold. »Davon,« sprach er, »ist ein Teil den Armen, der andere dem König, der dritte dein.« Indem schlug es zwölfe, und der Geist verschwand, also daß der Junge im Finstern stand. »Ich werde mir doch heraushelfen können,« sprach er, tappte herum, fand den Weg in die Kammer und schlief dort bei seinem Feuer ein. Am andern Morgen kam der König und sagte: »Nun wirst du gelernt haben, was Gruseln ist?« - »Nein,« antwortete er, »was ist’s nur? Mein toter Vetter war da, und ein bärtiger Mann ist gekommen, der hat mir da unten viel Geld gezeigt, aber was Gruseln ist, hat mir keiner gesagt.« Da sprach der König: »Du hast das Schloß erlöst und sollst meine Tochter heiraten.« - »Das ist alles recht gut,« antwortete er, »aber ich weiß noch immer nicht, was Gruseln ist.«

Wer ist dieser alte Mann? Ein Riese, ein Schmied mit langem, weißem Bart. Und was schmiedet er? Das Schicksal, die Welt oder sogar die Ketten, die uns an diese Welt binden. Er fordert unseren Fürchtenix zu einem Zweikampf auf Leben und Tod heraus. Wow, soweit muß man erstmals kommen! Doch der antwortet: „Soll ich sterben, so muß ich auch dabei sein.“ Das ist ein gewaltiger Satz, auf dem man lange kauen kann. Der Umkehrschluß wäre: „Wenn ich nicht persönlich dabei bin, kann ich auch nicht sterben.“ - Nun, dunkle Gänge führen tief ins Innere, wo das mystische Schmiedefeuer brennt, aus dem alles geschaffen wird. Ebenso mystisch ist der Wettbewerb, wer den Amboß am weitesten in die Erde schlägt, wie einen Nagel ins Holz. Der alte Schmied zeigt seine ganze Naturgewalt und versenkt den Amboß mit einem Schlag. Nun, wollen wir uns mit diesen Naturgewalten messen, sollten wir natürlich auch jene Kraft benutzen, die uns Menschen so mächtig macht, nämlich die geistige. Die Symbolik, wie man ein Schwert schmieden kann, das schließlich sogar den Amboß spaltet, auf dem es geschmiedet wurde, erinnert uns an die alten germanischen Sagen von Siegfried und dem Schmied Regin. In unserem Märchen ist es eine Axt und bezüglich unserer geistigen Kräfte spricht man vom scharfen Schwert der Erkenntnis, das alles durchdringen kann, sogar das Härteste. - Der Amboß zerbricht und klemmt den Bart des Riesen ein. Auch das ist eine alte Symbolik, die uns auch in „Schneeweißchen und Rosenrot“ begegnet. Der Bart scheint eine schwache Stelle mächtiger Wesen zu sein, wie man auch einen wilden Stier am Nasenring zähmen kann. So gewinnt unser Fürchtenix auch diesen letzten Kampf und wird reichlich belohnt, aber ohne das Ego zu fördern. Schließlich fand er zu seinem Feuer zurück und ruhte zufrieden, bis es Tag wurde. Was die Leute allerdings als gruslige Angst bezeichnen, konnte er hier nirgends finden.

Da ward das Gold heraufgebracht und die Hochzeit gefeiert, aber der junge König, so lieb er seine Gemahlin hatte und so vergnügt er war, sagte doch immer: »Wenn mir’s nur gruselte! Wenn mir’s nur gruselte!« Das verdroß sie endlich. Ihr Kammermädchen sprach: »Ich will Hilfe schaffen, das Gruseln soll er schon lernen.« Sie ging hinaus zum Bach, der durch den Garten floß, und ließ sich einen ganzen Eimer voll Gründlinge (kleine Fische) holen. Nachts, als der junge König schlief, mußte seine Gemahlin ihm die Decke wegziehen und den Eimer voll kalt Wasser mit den Gründlingen über ihn herschütten, daß die kleinen Fische um ihn herum zappelten. Da wachte er auf und rief: »Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist.«

Wer die zehn Ochsenbilder des Zen-Buddhismus über den geistigen Weg kennt, weiß, daß das letzte Bild die Rückkehr in die Welt beschreibt. So heiratet unser Fürchtenix die Königstochter und wurde verdienterweise auch im Weltlichen ein junger König. Damit kommt endlich wieder die weibliche Seite ins Spiel. Er verbindet sich mit der Natur, und so erfährt er schließlich, daß all dieses Gruseln, die Angst und der Tod, von denen die Menschen so gern sprechen, nur zur äußeren oder oberflächlichen Welt gehören. Denn wahrlich, wer achtsam mit dem Auge der Wahrheit in sein inneres Wesen schaut, wird sie dort nirgends finden können. Es sind unsere Sinneseindrücke und Gedankenkonstrukte, die uns zur Wirklichkeit werden. Ein wunderbares Märchen, und vielleicht wissen auch wir jetzt, was das Gruseln ist!


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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de