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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Ein Müller war nach und nach in Armut geraten und hatte nichts mehr als seine Mühle und einen großen Apfelbaum dahinter. Einmal war er in den Wald gegangen, Holz zu holen, da trat ein alter Mann zu ihm, den er noch niemals gesehen hatte, und sprach: »Was quälst du dich mit Holzhacken? Ich will dich reich machen, wenn du mir versprichst, was hinter deiner Mühle steht.« - »Was kann das anders sein als mein Apfelbaum?« dachte der Müller, sagte »Ja.« und verschrieb es dem fremden Manne. Der aber lachte höhnisch und sagte »Nach drei Jahren will ich kommen und abholen, was mir gehört.« und ging fort. Als der Müller nach Haus kam, trat ihm seine Frau entgegen und sprach: »Sage mir, Müller, woher kommt der plötzliche Reichtum in unser Haus? Auf einmal sind alle Kisten und Kasten voll, kein Mensch hat’s hereingebracht, und ich weiß nicht, wie es zugegangen ist.« Er antwortete: »Das kommt von einem fremden Manne, der mir im Walde begegnet ist und mir große Schätze verheißen hat. Ich habe ihm dagegen verschrieben, was hinter der Mühle steht: den großen Apfelbaum können wir wohl dafür geben.« - »Ach, Mann,« sagte die Frau erschrocken: »Das ist der Teufel gewesen! Den Apfelbaum hat er nicht gemeint, sondern unsere Tochter, die stand hinter der Mühle und kehrte den Hof.«
Das Märchen beginnt symbolisch mit einer Mühle. Diese ganze Welt kann man als eine Mühle betrachten, die langsam aber sicher alles Grobe ins Feine malt, denn überall reiben sich die Gegensätze wie Mühlsteine aneinander. Auch unsere Wissenschaft sagt, daß sich das Universum immer weiter ausdehnt, und irgendwann alle grobe Materie wieder zu Licht und Energie wird. Ähnliches finden wir im Mahabharata: „Und wie eine Ölmühle die Sesamkörner zerreibt, so wird in diesem Rad für die gute Ölung die Welt vom Tode bedrückt und zerrieben. [MHB 12.211]“
Und was ist die Armut des Müllers? Er besitzt nur noch das Leben und die Mühle, in der er schwer arbeiten muß. Was damals mit weltlicher Armut bezeichnet wurde, können wir uns heute im reichen Deutschland kaum noch vorstellen. Doch diese Armut hat sich nur gewandelt. Denn wie der Teufel damals die Armut des Müllers benutzte, um mittels Reichtum Gewalt über ihn zu erlangen, so ergeht es uns heute sicherlich nicht anders. Denken wir nur an den Fördermittel-Teufel, der mittlerweile unsere Wirtschaft regiert. Weltlicher Reichtum schafft nun einmal Bindung. Und dafür bringen wir oft sehr große Opfer dar: Unsere Familien zerbrechen und die Kinder leiden, wir ertragen Krankheit und Burnout, aber das schlimmste Opfer ist unsere Wahrhaftigkeit. Wenn wir für den Reichtum noch lügen, dann hat uns der Teufel zweifellos in der Hand. Und auch hier sollten wir den Teufel nicht so sehr als ein äußeres Wesen betrachten, das irgendwo da draußen lebt, sondern als einen Teil von uns, der uns von innen her beherrscht. Den Teufel außerhalb zu suchen, ist sehr gefährlich. Denn im nächsten Schritt beginnt man den Krieg gegen irgendwelche Personen oder sogar ganze Völker, die für politische Zwecke verteufelt werden. Das kennen wir leider allzugut aus unserer Geschichte. Denken wir nur an die großen Religionskriege oder den Wahn der Inquisition. Das war sicherlich nicht der Weg, den Teufel zu besiegen. Im Gegenteil, er hat wahrscheinlich höhnisch gelacht, wie in unserem Märchen.
Doch was bedeutet es, sich dem Teufel zu verschreiben? Der ‚Teufelspakt‘ ist ein sehr altes und berühmtes Symbol für einen seltsamen Tauschhandel, wenn der Mensch seine Seele an irgendwelche Reichtümer, Fähigkeiten oder andere weltliche Dinge verliert. Im christlichen Umfeld wurde der Teufelspakt mit der Zeit zum Inbegriff des ideologischen Verrats an der kirchlichen Gemeinschaft und politisch schwer mißbraucht. Doch das Problem liegt eigentlich viel tiefer. Was macht diesen Tauschhandel so verwerflich, daß man am Ende sogar behauptet, der Teufel würde uns damit betrügen? Von Betrug kann man nur sprechen, wenn man durch Täuschung für etwas Wertvolleres etwas Geringwertiges bekommt. Damit steht nun also die Frage, was ist der eigentliche Wert der Seele eines Lebewesens im Gegensatz zum weltlichen Reichtum? Und das ist wirklich eine große Frage, um die sich dieses Märchen dreht. Es beginnt mit dem Apfelbaum, den der Müller zunächst bedenkenlos dem Teufel verschreiben möchte. Dieses Symbol als Baum des Lebens kennen wir bereits aus anderen Märchen. Und gerade dieser Apfelbaum wird zu seiner eigenen Tochter. Das ist sicherlich kein Zufall. Denn wahrlich, unsere Kinder sind der Baum des Lebens, der über die Generationen immer weiter wächst. Und vor allem in den Kindern kann man noch die reine Seele erkennen. Welche Macht so eine reine Seele hat und wie schwach eine verkaufte Seele ist, davon lesen wir im Folgenden:
Die Müllerstochter war ein schönes und frommes Mädchen und lebte die drei Jahre in Gottesfurcht und ohne Sünde. Als nun die Zeit herum war, und der Tag kam, wo sie der Böse holen wollte, da wusch sie sich rein und machte mit Kreide einen Kranz um sich. Der Teufel erschien ganz frühe, aber er konnte ihr nicht nahekommen. Zornig sprach er zum Müller: »Tu ihr alles Wasser weg, damit sie sich nicht mehr waschen kann, denn sonst habe ich keine Gewalt über sie.« Der Müller fürchtete sich und tat es. Am andern Morgen kam der Teufel wieder, aber sie hatte auf ihre Hände geweint, und sie waren ganz rein. Da konnte er ihr wiederum nicht nahen und sprach wütend zu dem Müller: »Hau ihr die Hände ab, sonst kann ich ihr nichts anhaben.« Der Müller entsetzte sich und antwortete: »Wie könnt ich meinem eigenen Kinde die Hände abhauen!« Da drohte ihm der Böse und sprach: »Wo du es nicht tust, so bist du mein, und ich hole dich selber.« Dem Vater ward angst, und er versprach, ihm zu gehorchen. Da ging er zu dem Mädchen und sagte: »Mein Kind, wenn ich dir nicht beide Hände abhaue, so führt mich der Teufel fort, und in der Angst hab ich es ihm versprochen. Hilf mir doch in meiner Not und verzeihe mir, was ich Böses an dir tue.« Sie antwortete: »Lieber Vater, macht mit mir, was Ihr wollt, ich bin Euer Kind.« Darauf legte sie beide Hände hin und ließ sie sich abhauen. Der Teufel kam zum dritten Mal, aber sie hatte so lange und so viel auf die Stümpfe geweint, daß sie doch ganz rein waren. Da mußte er weichen und hatte alles Recht auf sie verloren.
Zugegeben, dieses Ideal der Reinheit wird heutzutage belächelt und sogar in die Kiste des Aberglaubens verbannt. Trotzdem möchten wir nun versuchen, etwas tiefer über diese Reinheit und ihren Wert nachzudenken. Das Mädchen wußte, daß sie der Teufel holen will und lebte drei Jahre ohne Sünde. Diese Chance haben wir alle, daß uns Zeit gegeben wird. Aber was bedeutet es, ohne Sünde zu leben? Das ist eine sehr schwierige Frage, und allgemein heißt es, man lebt so, daß man in Gedanken, Worten und Taten nichts ansammelt, was sich später leidvoll entwickelt. Das entspricht zumindest dem Prinzip, daß Sünde zum Leiden und Verdienst zum Glück führt. So gewann das Mädchen eine gewisse Reinheit und trifft schließlich auf drei große Prüfungen, die hier symbolisch beschrieben werden. Die erste Prüfung erinnert an die äußere Reinheit des Körpers, die zweite an die Reinheit des Handelns und die dritte an die innere Reinheit der Hingabe. Die äußere Reinheit ist eine Frage der Ordnung, Ehre und Achtsamkeit im Leben. Sie wirkt in gewissen Grenzen wie ein Bannkreis gegen Laster und Sünde. Die Reinheit des Handelns ist eine Frage der Motivation, die uns handeln läßt, vor allem hinsichtlich egoistischer oder selbstsüchtiger Ziele. Und die Reinheit der Hingabe ist mit das Größte, was ein Mensch im Leben erreichen kann, denn damit wird der Egoismus überwunden. Und was bedeuten die Tränen des Mädchens? Auch Tränen sind ein Ausdruck der Reinigung. Sie reinigen nicht nur das Auge durch ihre antibakterielle Wirkung, sondern auch die Seele durch innere Prozesse. So besteht sie alle drei Prüfungen, aber auf eine Art und Weise, die wir zunächst nicht als das große Glück im Leben betrachten würden. Damit kommen wir an einen heiklen Punkt, wenn es nämlich darum geht, was wir persönlich unter Glück und Leid im Leben verstehen. Was auf den ersten Blick relativ klar ist, wird bei tieferer Betrachtung immer subjektiver, und am Ende hat jeder Mensch eine andere Vorstellung von persönlichem Glück. So geht es auch unserem Müller:
Der Müller sprach zu ihr: »Ich habe so großes Gut durch dich gewonnen, ich will dich zeitlebens aufs köstlichste halten.« Sie antwortete aber: »Hier kann ich nicht bleiben: ich will fortgehen. Mitleidige Menschen werden mir schon so viel geben, als ich brauche.« Darauf ließ sie sich die verstümmelten Arme auf den Rücken binden, und mit Sonnenaufgang machte sie sich auf den Weg und ging den ganzen Tag, bis es Nacht ward.
Das ist typisch: Der Müller hat seine Tochter, die man auch als seine eigene Seele betrachten könnte, für weltlichen Reichtum verkauft, will sie aber trotzdem noch behalten und meint, sie mit dem erkauften Reichtum nun verwöhnen und entschädigen zu können. Auch wenn wir es nicht glauben wollen, das funktioniert weder im gewöhnlichen Leben noch in unserem Märchen. Der Müller hat seine Tochter verloren, und in diesem Sinne seine eigene Seele. Damit verläßt sie ihn voll reiner Hingabe und Vertrauen in ihr Schicksal.
Die abgehackten Hände sind natürlich ein ganz besonders denkwürdiges Symbol. Um es noch zu verstärken, läßt sie sich die Arme auf den Rücken binden. Unsere Hände sind praktisch mit dem Handeln in dieser Welt verbunden. Nicht umsonst war das Abhacken der Hände früher eine Strafe für groben Diebstahl. Für viele Menschen ist es eine schreckliche Vorstellung, nicht mehr handeln zu können. Denn das Handeln ist ein Hauptfaktor unserer Persönlichkeit. Vor allem für das Ego ist es überaus wichtig, das Ich dies oder das getan habe. Daraus entsteht unsere gesamte Lebensgeschichte, mit der wir uns identifizieren. Auf diese Weise verbindet uns das Handeln mit der Welt. Was aber unserem Ego so wichtig ist, das wird zum großen Problem, wenn es um die Erlösung von dieser Bindung an die Welt geht. Dafür bräuchte man die Freiheit vom Handeln, die in dieser Symbolik der freiwillig abgeschlagenen Hände einer reinen Seele vorzüglich zum Ausdruck kommt. Sie handelt nicht mehr in dieser Welt, zumindest nicht persönlich, aber trägt trotzdem einen fühlenden Körper, der Glück und Leid erfährt. Das ist schwer vorstellbar, wird aber im Folgenden deutlich beschrieben:
Da kam sie zu einem königlichen Garten, und beim Mondschimmer sah sie, daß Bäume voll schöner Fruchte darin standen. Aber sie konnte nicht hinein, denn es war ein Wasser darum. Und weil sie den ganzen Tag gegangen war und keinen Bissen genossen hatte, und der Hunger sie quälte, so dachte sie: »Ach, wäre ich darin, damit ich etwas von den Früchten äße, sonst muß ich verschmachten.« Da kniete sie nieder, rief Gott den Herrn an und betete. Auf einmal kam ein Engel daher, der machte eine Schleuse in dem Wasser zu, so daß der Graben trocken ward und sie hindurchgehen konnte. Nun ging sie in den Garten, und der Engel ging mit ihr. Sie sah einen Baum mit Obst, das waren schöne Birnen, aber sie waren alle gezählt. Da trat sie hinzu und aß eine mit dem Munde vom Baume ab, ihren Hunger zu stillen, aber nicht mehr. Der Gärtner sah es mit an, weil aber der Engel dabeistand, fürchtete er sich und meinte, das Mädchen wäre ein Geist, schwieg still und getraute nicht zu rufen oder den Geist anzureden. Als sie die Birne gegessen hatte, war sie gesättigt, und ging und versteckte sich im Gebüsch.
Die benutzte Symbolik ist vermutlich sehr an die biblische Geschichte angelehnt. Die reine Seele betet zu Gott, und ein Engel erscheint, der ihren Wunsch erfüllt, ohne daß sie persönlich handeln muß. Und wie für Moses im Alten Testament das Meer geteilt wurde, damit er das gelobte Land erreichen konnte, so geschieht es hier dem Mädchen mit einem Wassergraben, um einen paradiesischen Garten zu erreichen. Es ist wohl die Parodie der Geschichte, daß sie auch hier eine Frucht vom Baum ißt, die natürlich sehr an den Apfel von Adam und Eva erinnert. Doch was ist der Unterschied? Es heißt, im Mittelalter wurde der Birnbaum wegen seiner reinweißen Blüten als Symbol der Mutter Gottes verehrt, und die Birne galt als Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit. Darüber hinaus kann sie die Frucht nicht mit ihren eigenen Händen ergreifen und zeigt auch keine weitere Anhaftung, sondern macht sich danach klein und versteckt sich. Sie ißt die Birne sicherlich nicht aus Begierde, sondern allein, um ihren Körper zu erhalten. Und damit bekommen wir auch eine Antwort auf die Frage, warum so eine reine Seele ohne weltliche Anhaftung noch versucht, ihren Körper zu erhalten. Sie hat eine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen, und dafür steht vermutlich auch das Symbol der Birne.
Der König, dem der Garten gehörte, kam am andern Morgen herab. Da zählte er und sah, daß eine der Birnen fehlte, und fragte den Gärtner, wo sie hingekommen wäre: sie läge nicht unter dem Baume und wäre doch weg. Da antwortete der Gärtner: »Vorige Nacht kam ein Geist herein, der hatte keine Hände und aß eine mit dem Munde ab.« Der König sprach: »Wie ist der Geist über das Wasser hereingekommen? Und wo ist er hingegangen, nachdem er die Birne gegessen hatte?« Der Gärtner antwortete: »Es kam jemand in schneeweißem Kleide vom Himmel, der hat die Schleuse zugemacht und das Wasser gehemmt, damit der Geist durch den Graben gehen konnte. Und weil es ein Engel gewesen sein muß, so habe ich mich gefürchtet, nicht gefragt und nicht gerufen. Als der Geist die Birne gegessen hatte, ist er wieder zurückgegangen.« Der König sprach: »Verhält es sich, wie du sagst, so will ich diese Nacht bei dir wachen.«
Wer glaubt heute noch an Engel? Na, hoffentlich noch ein paar Kinder. Doch im Grunde ist das gar nicht so unglaublich. Solche geistigen Wesen gibt es in allen alten Kulturen als Personifizierungen für alle möglichen Kräfte, die man im Geist und in der Natur auf verschiedenen Ebenen erfahren kann. Und wie die Götter und Dämonen in Indien alle vom gleichen Vater abstammen, so stammen auch die Engel vom Großen Vater ab, jeder spielt eine bestimmte Rolle, und einer wurde sogar zum Teufel. Das ist eigentlich völlig normal, denn alle Kräfte, die in der Natur wirken, müssen in Gegensätzen wirken, sonst hätte diese Welt schon längst ihr Gleichgewicht verloren und wäre umgefallen. Doch wie kann man diese körperlosen Wesen sehen? Nun, soweit sie eine Wirkung in der Natur haben, können wir sie auch wahrnehmen. Es ist nur eine Frage, wie achtsam und empfindlich wir in dieser Richtung sind. Daß eine reine Seele den Engel sehen kann, ist klar. Daß aber Gärtner und König den Engel sehen, deutet bereits auf keinen gewöhnlichen König hin.
Als es dunkel ward, kam der König in den Garten, und brachte einen Priester mit, der sollte den Geist anreden. Alle drei setzten sich unter den Baum und gaben acht. Um Mitternacht kam das Mädchen aus dem Gebüsch gekrochen, trat zu dem Baum, und aß wieder mit dem Munde eine Birne ab. Neben ihr aber stand der Engel im weißen Kleide. Da ging der Priester hervor und sprach: »Bist du von Gott gekommen oder von der Welt? Bist du ein Geist oder ein Mensch?« Sie antwortete: »Ich bin kein Geist, sondern ein armer Mensch, von allen verlassen, nur von Gott nicht.« Der König sprach: »Wenn du von aller Welt verlassen bist, so will ich dich nicht verlassen.« Er nahm sie mit sich in sein königliches Schloß, und weil sie so schön und fromm war, liebte er sie von Herzen, ließ ihr silberne Hände machen und nahm sie zu seiner Gemahlin.
Wie sich die Verbindung zwischen König und Mädchen entwickelt, erinnert wieder an die männliche Rolle des Geistes. Auch daß die Birnen abgezählt sind, ist wahrscheinlich kein Geiz, sondern ein Symbol der Intelligenz, die für die Ordnung in der Natur sorgt. Er gibt der Seele sogar künstliche Hände, wie uns auch der Verstand Werkzeuge oder sogar eine künstliche Welt schaffen kann. Das paßt dann auch auf den Spruch: „Wenn du von aller Welt verlassen bist, so will ich dich nicht verlassen.“ Denn wenn uns auch alles Materielle und Körperliche verläßt, der Geist bleibt.
Dagegen antwortet das Mädchen: „Ich bin kein Geist, sondern ein armer Mensch, von allen verlassen, nur von Gott nicht.“ Das erinnert an die berühmte Seligpreisung von Jesus, wo es heißt: „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer... [Bibel, Lukas 6.20]“ Was für eine Armut ist hier gemeint? In der wahren Seligkeit gibt es keinen egoistischen Besitz mehr, nicht einmal in Gedanken. Alles Mein und Dein ist zum Einen geworden, und das ist das Reich Gottes. Klingt gut, aber:
Nach einem Jahre mußte der König über Feld ziehen, da befahl er die junge Königin seiner Mutter und sprach: »Wenn sie ins Kindbett kommt, so haltet und verpflegt sie wohl und schreibt mir’s gleich in einem Briefe.« Nun gebar sie einen schönen Sohn. Da schrieb es die alte Mutter eilig und meldete ihm die frohe Nachricht. Der Bote aber ruhte unterwegs an einem Bache, und da er von dem langen Wege ermüdet war, schlief er ein. Da kam der Teufel, welcher der frommen Königin immer zu schaden trachtete, und vertauschte den Brief mit einem andern, darin stand, daß die Königin einen Wechselbalg (d.h. Teufelskind) zur Welt gebracht hätte. Als der König den Brief las, erschrak er und betrübte sich sehr, doch schrieb er zur Antwort, sie sollten die Königin wohl halten und pflegen bis zu seiner Ankunft. Der Bote ging mit dem Brief zurück, ruhte an der nämlichen Stelle und schlief wieder ein. Da kam der Teufel abermals und legte ihm einen andern Brief in die Tasche, darin stand, sie sollten die Königin mit ihrem Kinde töten. Die alte Mutter erschrak heftig, als sie den Brief erhielt, konnte es nicht glauben und schrieb dem Könige noch einmal, aber sie bekam keine andere Antwort, weil der Teufel dem Boten jedesmal einen falschen Brief unterschob. Und in dem letzten Briefe stand noch, sie sollten zum Wahrzeichen Zunge und Augen der Königin aufheben.
Nun, wenn der Teufel auch keine Gewalt über die reine Seele bekam, so versucht er sich nun an der nächsten Generation und beginnt wieder zu intrigieren. Der König selbst gibt die Gelegenheit dazu, weil er draußen in der Welt handeln und in den Kampf ziehen muß. Das Verfälschen von Nachrichten ist ein sehr gebräuchliches Symbol für den Teufel. Nicht umsonst mißverstehen sich die Menschen so häufig, daß sich sogar eine gutgemeinte Botschaft ins Gegenteil verkehrt und zur Ursache für Streit und Trennung wird. Auch wenn hier beide Parteien großes Vertrauen ineinander haben, schafft es der Teufel doch, Mann und Frau zu trennen, sozusagen Vernunft und Seele.
Aber die alte Mutter weinte, daß so unschuldiges Blut sollte vergossen werden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Königin: »Ich kann dich nicht töten lassen, wie der König befiehlt, aber länger darfst du nicht hier bleiben. Geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein und komm nie wieder zurück.« Sie band ihr das Kind auf den Rücken, und die arme Frau ging mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie und betete zu Gott. Und der Engel des Herrn erschien ihr und führte sie zu einem kleinen Haus, daran war ein Schildchen mit den Worten: »Hier wohnt ein jeder frei.« Aus dem Häuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach »Willkommen, Frau Königin!« und führte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Rücken und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schönes gemachtes Bettchen. Da sprach die arme Frau: »Woher weißt du, daß ich eine Königin war?« Die weiße Jungfrau antwortete: »Ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.« Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Frömmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Hände wieder.
Wenn die Seele von der Vernunft getrennt wird, geht sie wieder in die große Wildnis der Natur. Aber unsere reine Seele verzweifelt daran nicht und läßt den Reichtum, den sie beim König genossen hat, bereitwillig zurück. Sie fügt sich in ihr Schicksal und weint die reinigenden Tränen, die wir bereits aus dem Anfang der Geschichte kennen. Wegen ihrer Reinheit findet sie in der Tiefe der Natur das „Haus der Gnade“, wo jeder frei wohnen kann. Denn die Natur ernährt jedes Wesen, und soweit man selbst von Schulden frei ist, soweit muß man dafür auch nichts bezahlen. So wird die reine Seele von einem reinen Engel empfangen, der für sie ganz anders sorgt als oben der Teufel mit seinem Reichtum. Und hier in der Natur wachsen ihr sogar die natürlichen Hände wieder. Denn Mutter Natur gibt uns nicht nur die körperliche Nahrung, sondern auch die körperliche Fähigkeit zum Handeln. Und wenn noch die göttliche Gnade dazukommt, dann erreicht das Handeln eine viel höhere und selbstlose Ebene. Schon dieses große Vertrauen in Natur und Geist ist sicherlich ein unbezahlbarer Wert einer reinen Seele.
Der König kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war, daß er seine Frau mit dem Kinde sehen wollte. Da fing die alte Mutter an zu weinen und sprach: »Du böser Mann, was hast du mir geschrieben, daß ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!« Sie zeigte ihm die beiden Briefe, die der Böse verfälscht hatte, und sprach weiter »Ich habe getan, wie du befohlen hast.« und wies ihm die Wahrzeichen, Zunge und Augen. Da fing der König an noch viel bitterlicher zu weinen über seine arme Frau und sein Söhnlein, daß es die alte Mutter erbarmte und sie zu ihm sprach: »Gib dich zufrieden, sie lebt noch. Ich habe eine Hirschkuh heimlich schlachten lassen und von dieser die Wahrzeichen genommen. Deiner Frau aber habe ich ihr Kind auf den Rücken gebunden, und sie geheißen, in die weite Welt zu gehen, und sie hat versprechen müssen, nie wieder hierher zu kommen, weil du so zornig über sie wärst.« Da sprach der König: »Ich will gehen, soweit der Himmel blau ist, und nicht essen und nicht trinken, bis ich meine liebe Frau und mein Kind wiedergefunden habe, wenn sie nicht in der Zeit umgekommen oder Hungers gestorben sind.«
Darauf zog der König umher, an die sieben Jahre lang, und suchte sie in allen Steinklippen und Felsenhöhlen, aber er fand sie nicht und dachte, sie wäre verschmachtet. Er aß nicht und trank nicht während dieser ganzen Zeit, aber Gott erhielt ihn.
Damit macht der König sein Versprechen wahr, daß er seine weibliche Hälfte nie verlassen wird, und begibt sich auf die große Suche. Was bedeutet es, wenn er sieben Jahre nichts aß und trank? Das klingt wie ein Märchen, aber macht Sinn, wenn man den König als Symbol des Geistes betrachtet. Dann ist es eine Zeit der harten Askese, wenn der Geist auf jede äußere Nahrung verzichtet und nur von Gott lebt. Durch diese Reinigung kommt er nach sieben Jahren auch zu dem reinen Ort, wo die reine Seele wohnt. Über die Zahl Sieben gibt es bereits viele Theorien. Praktisch ist sie in geistigen Dingen sehr beliebt. Die Bibel beginnt mit der Geschichte, daß Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat, was an den Zyklus unserer Siebentagewoche erinnert. Ähnlich kommt ein Kind auch mit 7 Jahren in die Schule, mit 14 ist Jugendweihe und mit 21 beginnt die Erwachsenenzeit. So könnte auch hier ein Entwicklungszyklus gemeint sein, der für den König eine wichtige Bedeutung hatte. Denn:
Endlich kam er in einen großen Wald und fand darin das kleine Häuschen, daran das Schildchen war mit den Worten: »Hier wohnt jeder frei.« Da kam die weiße Jungfrau heraus, nahm ihn bei der Hand, führte ihn hinein und sprach »Seid willkommen, Herr König!« und fragte ihn, wo er herkäme. Er antwortete: »Ich bin bald sieben Jahre umhergezogen, und suche meine Frau mit ihrem Kinde, ich kann sie aber nicht finden.« Der Engel bot ihm Essen und Trinken an, er nahm es aber nicht, und wollte nur ein wenig ruhen. Da legte er sich schlafen, und deckte ein Tuch über sein Gesicht.
Wenn es um geistige Entwicklung geht, dann geht es vor allem um die Suche nach Erkenntnis. Das Tuch auf dem Gesicht könnte den Schleier symbolisieren, der unsere wahrhafte Sicht verhüllt, und der Schlaf das Versinken in Illusion und Unbewußtheit.
Darauf ging der Engel in die Kammer, wo die Königin mit ihrem Sohne saß, den sie gewöhnlich Schmerzenreich nannte, und sprach zu ihr: »Geh heraus mitsamt deinem Kinde, dein Gemahl ist gekommen.« Da ging sie hin, wo er lag, und das Tuch fiel ihm vom Angesicht. Da sprach sie: »Schmerzenreich, heb deinem Vater das Tuch auf und decke ihm sein Gesicht wieder zu.« Das Kind hob es auf und deckte es wieder über sein Gesicht. Das hörte der König im Schlummer und ließ das Tuch noch einmal gerne fallen. Da ward das Knäbchen ungeduldig und sagte: »Liebe Mutter, wie kann ich meinem Vater das Gesicht zudecken, ich habe ja keinen Vater auf der Welt. Ich habe das Beten gelernt: Unser Vater, der du bist im Himmel... Da hast du gesagt, mein Vater wär im Himmel und wäre der liebe Gott. Wie soll ich einen so wilden Mann kennen? Der ist mein Vater nicht.« Wie der König das hörte, richtete er sich auf und fragte, wer sie wäre. Da sagte sie: »Ich bin deine Frau, und das ist dein Sohn Schmerzenreich.« Und er sah ihre lebendigen Hände und sprach: »Meine Frau hatte silberne Hände.« Sie antwortete: »Die natürlichen Hände hat mir der gnädige Gott wieder wachsen lassen.« Und der Engel ging in die Kammer, holte die silbernen Hände und zeigte sie ihm. Da sah er erst gewiß, daß es seine liebe Frau und sein liebes Kind war, und küßte sie und war froh, und sagte: »Ein schwerer Stein ist von meinem Herzen gefallen.« Da speiste sie der Engel Gottes noch einmal zusammen, und dann gingen sie nach Haus zu seiner alten Mutter. Da war große Freude überall, und der König und die Königin hielten noch einmal Hochzeit, und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende.
In den sieben Jahren ist viel geschehen, und so ist es wohl kein Wunder, daß der König seine Frau zunächst nicht erkannte, vor allem, weil sich die künstlichen Hände plötzlich wieder in natürliche verwandelt hatten. Und auf die Frage, wer sie sei, antwortet diesmal die Seele: „Ich bin deine Frau, und das ist dein Sohn Schmerzenreich.“ Der Geist erreicht Erkenntnis, die Seele weiß, wer sie ist, und am Ende sind Geist, Seele und Mutter Natur glücklich vereint. Das mag diese mystische Hochzeit sein, von der so viele alte Schriften sprechen, wie auch das berühmte Hohelied in der Bibel.
Was uns vielleicht an diesem Happy-End noch verwirrt, ist der Name „Schmerzenreich“, den ihr Sohn trägt. Da könnte man zunächst an Jesus oder seine Mutter Maria denken, die oft als „Schmerzensreiche“ verehrt werden. Doch vielleicht sind wir sogar selbst damit gemeint, die als Nachkommen diesen großen Kampf noch nicht gewonnen und das hohe Ziel noch nicht erreicht haben. Kennen wir unseren wahren Vater? Oder legen auch wir immer wieder das Tuch auf sein Gesicht, damit er schläft und nichts erkennen kann? Und unser Schmerz und das Leiden, nicht nur unser eigenes, sondern das Leiden all unserer Vorfahren, das wir als Erbe übernommen haben? Ist das vielleicht unser eigentlicher Reichtum? Denn mal ehrlich, wenn es um wahre Erkenntnis, Reinigung und Lernen geht, ist doch das Leiden ein wesentlich besserer Lehrer als alles vergängliche Glück, das wir hier auf Erden ergreifen, ohne die tiefere Wahrheit zu kennen.
Und damit schließt sich der Kreis zu den Fragen, die wir uns am Anfang gestellt haben: Was das Wertvolle einer reinen Seele ist und was wir eigentlich als Glück in unserem Leben betrachten. So ist es manchmal ein großer Trost, wenn wir zu ahnen beginnen, das uns alles Leiden im Leben nicht rein zufällig oder sinnloserweise begegnet, sondern einen tieferen Sinn hat, den es zu ergründen und zu nutzen gilt.
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |