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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und da begegnete ihm eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen »Töpfchen, koche!«, so kochte es guten süßen Hirsebrei, und wenn es sagte »Töpfchen, steh!«, so hörte es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten. Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter »Töpfchen, koche!«, da kocht es, und sie ißt sich satt. Nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll, und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt’s die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim, und spricht nur »Töpfchen, steh!«, da steht es und hört auf zu kochen; und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.
Ein kleines Märchen mit großer Bedeutung. Auf der oberen Ebene geht es um den altbekannten Hunger, mit dem die Menschen wohl schon immer kämpfen. Dieses Problem endgültig zu lösen, ist ein Traum, den wir natürlich auch heute noch verfolgen. Die erste Idee ist natürlich das Schlaraffenland: Essen als Flatrate, und vor allem das Schmackhafte! Und in bestimmter Weise haben wir es auch geschafft, daß unsere moderne Wirtschaft so viel Nahrung produziert, daß wir kaum noch wissen, wohin damit. Denken wir an den berühmten Butterberg oder Milchsee der EU. Deshalb können wir es uns auch leisten, alles Obst und Gemüse, das nicht dem Idealbild entspricht, in großen Mengen zu vernichten, oft 50% einer ganzen Ernte. Und trotzdem brauchen wir unbedingt immer größere Rekordernten, die man „auf Teufel komm raus“ mit viel Chemie und Gift erzwingt. Es ist, als ob man überall nur noch hört: „Töpfchen koche!“ Und je größer der Gewinn, um so weniger scheint die Vernunft anwesend zu sein. So ist die moderne Massenproduktion an Nahrungsmitteln offensichtlich ein Zaubertopf, der schwer zu beherrschen ist. Aber wir geben uns zumindest Mühe, auch wenn die praktischen Strategien oft absurd erscheinen und im allgemeinen Überfluß die Fettleibigkeit bereits zur weltweiten Volkskrankheit geworden ist...
Entsprechend finden wir hier im Märchen zwei Generationen, Mutter und Tochter, die eine Entwicklung darstellen, die offensichtlich schon früher ein wichtiges Thema war. Was die ältere Generation in Gang gebracht hat, muß nun die nachfolgende Generation lernen, zu beherrschen und zu zügeln. Das mag hier zunächst die Botschaft und Herausforderung für unsere Kinder sein, daß sie ihre Tugend nutzen, um die Weiterentwicklung dieser Welt zu beherrschen und nicht darin zu ersticken. Das wird natürlich kindlich zum Ausdruck gebracht, nach dem Motto: „Ach Mami, weißt Du nicht, wie man dieses Gerät richtig bedient?“ So wachsen die Generationen. Denken wir zum Beispiel an das Autofahren: Wenn es früher zuerst um das Schnellfahren ging, so muß nun die heutige Generation vor allem das kontrollierte Bremsen und Anhalten lernen, um größere Katastrophen im dichten Verkehrschaos zu vermeiden. Doch auch diese Generation wird ihre Wellen schlagen, und die nächste muß dann wahrscheinlich lernen, den Bordcomputer und all die Sicherheitssysteme zu beherrschen, und darf sich morgens in Geduld üben, bis alle nötigen Updates installiert wurden und ihr Auto endlich anspringt. So schlägt jede Generation ihre eigenen Wellen, welche die nachkommenden dann ausbaden müssen. Das Gleiche gilt für unsern allgemeinen Überfluß, der z.B. Fettleibigkeit verursacht, die vor allem unsere Kinder trifft, und für viele andere süße Begierden, die sich schnell in Laster und Sucht verwandeln...
Auf mittlerer Ebene können wir Mutter und Tochter auch in einem Menschen vereinen und als unsere egozentrische Person zusammen mit der menschlichen Vernunft betrachten. Das Ego sorgt dafür, daß wir uns gern von anderen unterscheiden. Aus dieser Unterscheidung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘ entsteht der große Hunger, und die Vernunft geht auf die Suche in den Wald der Welt und trifft dort die uralte Mutter Natur, die bereits weiß, was sie sucht. Wenn wir die Tiere und Pflanzen in der Natur betrachten, dann sehen wir, daß ihnen die Nahrung mehr oder weniger zugeteilt wird. Die Natur selbst setzt hier die Grenzen, und dieses System hat sich über lange Zeit so gebildet, daß es relativ gut und gesund funktioniert. Manchmal gibt es Überfluß und manchmal Hunger. Auf diese Weise bilden Natur und Lebewesen einen großen und intelligenten Organismus, der sich selbst organisiert, reguliert und optimiert. Das nennt man heute ‚Ökosystem‘. So gibt die Natur jedem Lebewesen die nötige Nahrung entsprechend seinem Entwicklungsstand. Das heißt hier im Märchen: „die alte Frau wußte um ihren Jammer...“ Und daß wir Menschen von der Natur heute so große Gaben empfangen wie gewaltige Energiemengen, Chemie und Maschinen, entspricht unserem Entwicklungsstand. Und was ist der tiefere Sinn? Unsere Vernunft soll daran wachsen und lernen, sie vernünftig zu gebrauchen. Und so bekommt die Tochter nicht nur den ‚Topf‘ als eine materielle Gabe, sondern auch das Wissen, damit umzugehen. Wenn nun aber die Vernunft nicht zu Hause ist und unsere egozentrische Person nach den Gaben der Natur greift, dann werden schnell alle vernünftigen Grenzen überschritten. Und was zuvor ein großer Segen war, läuft nun außer Rand und Band und wird zum großen Fluch, bis die Vernunft wieder zurückkehrt.
Denken wir an den ‚Topf‘ der fossilen Brennstoffe wie Kohle, Erdöl und Erdgas. Sie stammen von Lebewesen, die vor langer Zeit wie wir um ihr Leben gekämpft und diese Energiemengen in ihren Körpern angesammelt haben. Es sind sozusagen unsere Vorfahren, denen wir diese Energie verdanken. Und wie vernünftig gehen wir damit um? Hört man nicht überall nur ‚Töpfchen koche!‘? Oder auch der ‚Topf‘ der Atomenergie! Wenn die Vernunft nicht zu Hause ist, dann wird jeder Segen schnell zum Fluch. Auch die Tiere im Wald haben ihre ‚Töpfe‘, doch sie sind immer nur so groß wie nötig. Als Menschen sind wir hier sicherlich keine Ausnahme, auch unsere ‚Töpfe‘ sind nur so groß wie nötig. Aber wie das Märchen bereits sagt, das sind alles noch ‚Töpfchen‘. Denn je höher sich der Mensch entwickelt, desto größer werden auch die ‚Töpfe‘, bis hin zur Flatrate im Paradies. Solche wirklich großen ‚Töpfe‘ können wir uns heute kaum vorstellen, wie sich auch vor ein paar hundert Jahren noch kein Mensch den ‚Topf‘ der Atomenergie oder komplizierter Maschinen vorstellen konnte. Und doch existieren schon sehr lange solche Geschichten von den alten Weisen, die über wunscherfüllende Kühe und ähnliches sprechen, wie zum Beispiel die berühmte Geschichte vom Weisen Vasishta im indischen Ramayana [RAMA 1.52], der als armer Einsiedler mit seiner einzigen Kuh eine ganze Armee beköstigte und sogar den Neid des Königs weckte.
Aber so richtig Sinn macht das ganze Märchen erst auf einer noch tieferen, geistigen Ebene. Auch hier gibt es einen großen Hunger, ein Verlangen nach geistiger Nahrung, das wir sicherlich gut kennen. Und dann heißt der Spruch nicht mehr ‚Töpfchen koche!‘ sondern ‚Köpfchen koche!‘, und es geht vor allem um die geliebten Gedanken, die uns oft wie ein süßer Brei überkochen und ringsherum alles überschwemmen und ersticken. Dazu gehört heutzutage auch die gewaltige Informationsmenge, die uns mit den modernen Medien tagtäglich überflutet. Diesen ‚Topf‘ könnte man auch ‚Wissen-Schafft‘ nennen, also eine Art Massenproduktion an Wissen. Das Internet ist wohl ein typischer Ausdruck für diese Entwicklung. Noch vor hundert Jahren wollten wir uns von diesem Wissen gesund ernähren und die faule Speise des Aberglaubens abschaffen. Doch nun kocht es schon über und überschwemmt alles. Und erst, wenn es das ‚letzte Haus‘ angreift, nämlich unser eigenes, kommt wohl die Vernunft wieder zurück und bannt diesen Brei. Doch all unsere Nachkommen, die in diesem Land noch mitarbeiten wollen, müssen sich nun zuerst durch diesen Wissens-Brei hindurchessen. Das schaffen vor allem jene, die eine schlechte oder gar keine geistige Verdauung haben. Die tiefer Denkenden bleiben mit chronischer Verfettung irgendwann auf der Strecke liegen, während die oberflächlichen Vielwisser klare Vorteile haben. Kommt uns das bekannt vor? Vielleicht ist diese ‚Fettgeistigkeit‘ sogar die wahre Ursache für die allgemeine ‚Fettleibigkeit‘...
Und wenn wir nun am Ende ganz in unser menschliches Wesen hineingehen, dann könnte dieses Märchen auch von der Zügelung unserer eigenen Gedankenflut handeln, die uns alltäglich überrollt. Dieses weitschweifende Denken ist im Grunde ein Geschenk der Natur, das unsere menschliche Vernunft entwickeln soll. Dafür wurde uns dieser ‚Topf‘ bzw. ‚Kopf‘ gegeben, doch nicht nur mit dem Gebot ‚Köpfchen koche!‘ sondern auch mit ‚Köpfchen steh!‘. Und damit kommen wir in den Bereich der geistigen Übung und sprechen von Meditation, Gebet und Yoga, wo es vor allem um die Zügelung der ruhelosen Gedanken geht. Dort heißt es: „Wer wahrhafte Erkenntnis sucht, sollte mithilfe der Vernunft seine Rede und seine Gedanken zügeln. [MHB 12.236]“ Für diese Zügelung der überkochenden Gedanken gibt es im Yoga verschiedene Mittel. Eins davon sind die Mantras, wie zum Beispiel ‚Köpfchen steh!‘. Wer will, kann es ausprobieren.
Und damit schließt sich der Kreis unseres Märchens: „Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein...“ Denn das beste Mittel, die wilden Gedanken zu beruhigen, ist am Ende die reine Armut und das wahre Alleinsein in Einheit mit der großen Mutter. Was bedeutet „All-Ein-Sein“? Für unser kleines Ego-Ich ist es bekanntlich so schrecklich wie der Tod. Für unser wahres Ich ist es vollkommene Erlösung, große Zufriedenheit und Glückseligkeit, das Happy-End von jedem Märchen.
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |