Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die zwölf Brüder

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation aus Yoga-Sicht von Undine & Jens in Grün [2018]

Es war einmal ein König und eine Königin, die lebten in Frieden miteinander und hatten zwölf Kinder, das waren aber lauter Buben. Nun sprach der König zu seiner Frau: »Wenn das dreizehnte Kind, was du zur Welt bringst, ein Mädchen ist, so sollen die zwölf Buben sterben, damit sein Reichtum groß wird und das Königreich ihm allein zufällt.« Er ließ auch zwölf Särge machen, die waren schon mit Hobelspänen gefüllt, und in jedem lag das Totenkißchen, und ließ sie in eine verschlossene Stube bringen, dann gab er der Königin den Schlüssel und gebot ihr, niemand etwas davon zu sagen.

Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte, so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war, und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach: »Liebe Mutter, warum bist du so traurig?« - »Liebstes Kind,« antwortete sie, »ich darf dir’s nicht sagen.« Er ließ ihr aber keine Ruhe, bis sie ging und die Stube aufschloß, und ihm die zwölf mit Hobelspänen schon gefüllten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: »Mein liebster Benjamin, diese Särge hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ich ein Mädchen zur Welt bringe, so sollt ihr allesamt getötet und darin begraben werden.« Und als sie weinte, während sie das sprach, so tröstete sie der Sohn und sagte: »Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und wollen fortgehen.« Sie aber sprach: »Geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setze sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schaue nach dem Turm hier im Schloß. Gebär ich ein Söhnlein, so will ich eine weiße Fahne aufstecken, und dann dürft ihr wiederkommen: gebär ich ein Töchterlein, so will ich eine rote Fahne aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch. Alle Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, daß ihr an einem Feuer euch wärmen könnt, im Sommer, daß ihr nicht in der Hitze schmachtet.«

Das Märchen beginnt seltsam und macht auf der reinen Handlungsebene zunächst wenig Sinn. Warum sollte ein friedlicher König so grausam reagieren? Woher die plötzliche Spannung zwischen König und Königin, die bisher friedlich zusammengelebt hatten? Warum achtet er das Mädchen mehr als seine Söhne, so daß er ihr allen Reichtum und das Königreich vererben will? Üblicherweise galt damals der älteste Sohn als Haupterbe. Dieses Thema, das sich um mehrere Brüder und eine Schwester dreht, zieht sich auch durch andere Märchen wie „Die sieben Raben“ oder „Die sechs Schwäne“, ist angeblich weitverbreitet und schon sehr alt. Eine ähnliche Symbolik finden wir in „Schneewittchen“ mit den sieben Zwergen oder sogar im indischen Epos Mahabharata, wo fünf Göttersöhne eine Frau heirateten, um die Mutter Erde von einer unerträglichen Last zu befreien. So wollen wir annehmen, daß damals die tiefere Botschaft noch selbstverständlich war und viele Menschen berührte. Entsprechend versuchen wir nun hier, die geistige Ebene etwas näher zu beleuchten.

Wir gehen von der üblichen Polarität zwischen Männlich und Weiblich aus, so daß wir den König als herrschenden Geist und die Königin als gebärende Natur betrachten, die friedlich zusammenlebten und Söhne bekamen, deren Symbolik wir aufgrund ihres Geschlechts mehr auf der geistigen Seite suchen wollen. Was sie im einzelnen bedeuten, bleibt in diesem und anderen Märchen relativ unklar. Die Symbolik erinnert uns aber an eine Stelle in der Bibel, als Jesus zur Samariterin sprach: „Fünf Männer hast du gehabt, und den du nun hast, der ist nicht dein Mann...“ Dazu spricht Meister Eckhart: „Welches waren die fünf Männer. Es waren die fünf Sinne, mit denen hatte sie gesündigt, und darum waren sie tot.“ In dieser Hinsicht könnte man annehmen, daß der König seine Söhne gar nicht töten wollte. Vielleicht hat er nur erkannt, daß mit der Geburt der Tochter, die Söhne auf ihren Tod treffen werden, und ließ schon einmal die Särge bereitstellen. Das macht zumindest soweit Sinn, wie man Tod und Vergänglichkeit vor allem als ein Prinzip der Natur betrachtet, also der weiblichen Seite. Deshalb gibt er der Königin auch den Schlüssel zu den Särgen und sieht voraus, daß die Natur herrschen und der Geist als männliches Prinzip seine Herrschaft verlieren wird. Vermutlich weiß er sogar, wie sich das ganze Märchen entwickelt, wie Mutter Natur ihre Tochter gebären muß und wie sie sich voller Güte bemüht, auch ihre Söhne zu bewahren.

Das Spiel mit der 13 kennen wir bereits aus „Dornröschen“. Auch in unserem Märchen könnte die außergewöhnliche Rolle des dreizehnten Mond-Monats im Sonnenjahr gemeint sein, der nur unregelmäßig aller zwei bis drei Jahre erscheint und die natürliche Harmonie zu stören scheint. Man sagt sogar, diese ganze Welt und die Vielfalt der Natur entstanden am Anfang durch eine kleine Störung eines harmonischen Gleichgewichts. Ähnlich wird es auch am Anfang der Bibel beschrieben, als sich Eva vom leisen Zischeln der Schlange verführen läßt und das Ichbewußtsein mit der Erkenntnis von Gut und Böse erwacht, woraus dann Begierde und Haß entstanden sowie diese ganze große Welt, in der wir uns als Menschen bemühen müssen. So wird dann auch die rote Fahne der Leidenschaft auf dem Turm der Körperlichkeit gehißt, und nicht die weiße Fahne eines reinen Geistes.

Nachdem sie also ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer hielt um den andern Wache, saß auf der höchsten Eiche und schaute nach dem Turm. Als elf Tage herum waren und die Reihe an Benjamin kam, da sah er, wie eine Fahne aufgesteckt wurde: es war aber nicht die weiße, sondern die rote Blutfahne, die verkündete, daß sie alle sterben sollten. Wie die Brüder das hörten, wurden sie zornig und sprachen: »Sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden! Wir schwören, daß wir uns rächen wollen: wo wir ein Mädchen finden, soll sein rotes Blut fließen.«

Daß wir Geist und Natur niemals völlig trennen können, wird hier auf vorzügliche Weise beschreiben. Mit der Geburt der weiblichen Seite der Seele, die das Ichbewußtsein verkörpert und nach dem Apfel im Paradies greift, entsteht ein krasser Gegensatz, der den Tod hervorbringt. Im Prinzip geschieht das in jedem Menschen, ob Frau oder Mann, und schließlich richtet sich unser eigener, weil egoistischer Geist gegen uns. Was uns Freund sein sollte, wird uns zum Feind.

Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drein, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen, das leer stand. Da sprachen sie: »Hier wollen wir wohnen, und du, Benjamin, du bist der jüngste und schwächste, du sollst daheim bleiben und haushalten, wir andern wollen ausgehen und Essen holen.« Nun zogen sie in den Wald und schossen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen, und was zu essen stand: das brachten sie dem Benjamin, der mußte es ihnen zurecht machen, damit sie ihren Hunger stillen konnten. In dem Häuschen lebten sie zehn Jahre zusammen, und die Zeit ward ihnen nicht lang.

Der Geist versinkt nun immer tiefer in die Natur und endet schließlich in einem ‚verwunschenen Haus‘, das natürlich an unseren eigenen Körper erinnert, wo auch die Sinne wohnen und bekanntlich viel Hunger herrscht, der gestillt sein will. Benjamin bedeutet soviel wie ‚Glückskind‘ und erinnert in obiger Beschreibung an die Vernunft, unser jüngstes Kind in der geistigen Entwicklung, das gewöhnlich am schwächsten ist. So ist es auch die Vernunft, die zu Hause im Kopf bleibt und alles ‚zubereitet‘, während die fünf Sinne mit dem Denken in der Welt nach Nahrung jagen.

Das Töchterchen, das ihre Mutter, die Königin, geboren hatte, war nun herangewachsen, war gut von Herzen und schön von Angesicht und hatte einen goldenen Stern auf der Stirne. Einmal, als große Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine Mutter: »Wem gehören diese zwölf Hemden, für den Vater sind sie doch viel zu klein?« Da antwortete sie mit schwerem Herzen: »Liebes Kind, die gehören deinen zwölf Brüdern.« Sprach das Mädchen: »Wo sind meine zwölf Brüder, ich habe noch niemals von ihnen gehört.« Sie antwortete: »Das weiß Gott, wo sie sind: sie irren in der Welt herum.« Da nahm sie das Mädchen und schloß ihm das Zimmer auf, und zeigte ihm die zwölf Särge mit den Hobelspänen und den Totenkißchen. »Diese Särge,« sprach sie, »waren für deine Brüder bestimmt, aber sie sind heimlich fortgegangen, eh du geboren warst.« und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Da sagte das Mädchen: »Liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder suchen.«

Wer ist dieses Töchterchen? Vielleicht sind wir es selbst, die irgendwann mit der inneren Reinigung beginnen, die alte Wäsche waschen, und dort zwölf seltsame Formen oder auch Prinzipien finden, über die wir uns sehr wundern. In der indischen Philosophie spricht man hier zum Beispiel von den fünf Handlungsorganen (Hände, Füße, Mund, Anus und Genital), den fünf Sinnen (Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut), den Gedanken und der Vernunft. Das dreizehnte Prinzip wäre dann das Ichbewußtsein, das sich später als Ego verkörpert und zum König des Körpers aufschwingen, die Sinne beherrschen und natürlich allen Reichtum besitzen will, wie es der große König am Anfang unseres Märchens bereits voraussah. Wenn uns diese Formen im Inneren bewußt werden, dann könnten auch wir Mutter Natur fragen: „Wem gehören diese Formen?“ Und sie sagt: „Das sind unsere Brüder, die irgendwo in der Welt herumirren, weil sie vom Tod bedroht werden.“ Als Beweis zeigt sie uns die leeren Särge. Und vielleicht antworten wir dann auch: „Liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder finden, um sie von ihrer Irrfahrt zu erlösen.“

Nun nahm es die zwölf Hemden und ging fort und geradezu in den großen Wald hinein. Es ging den ganzen Tag, und am Abend kam es zu dem verwünschten Häuschen. Da trat es hinein und fand einen jungen Knaben, der fragte »Wo kommst du her und wo willst du hin?« und erstaunte, daß sie so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern auf der Stirne hatte. Da antwortete sie: »Ich bin eine Königstochter und suche meine zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde.« Sie zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da sah Benjamin, daß es seine Schwester war, und sprach: »Ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder.« Und sie fing an zu weinen vor Freude, und Benjamin auch, und sie küßten und herzten einander vor großer Liebe. Hernach sprach er: »Liebe Schwester, es ist noch ein Vorbehalt da, wir hatten verabredet, daß ein jedes Mädchen, das uns begegnete, sterben sollte, weil wir um ein Mädchen unser Königreich verlassen mußten.« Da sagte sie: »Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann.« - »Nein,« antwortete er, »du sollst nicht sterben, setze dich unter diese Bütte, bis die elf Brüder kommen, dann will ich schon einig mit ihnen werden.« Also tat sie; und wie es Nacht ward, kamen die andern von der Jagd, und die Mahlzeit war bereit. Und als sie am Tische saßen und aßen, fragten sie: »Was gibt’s Neues?« Sprach Benjamin: »Wißt ihr nichts?« - »Nein,« antworteten sie. Sprach er weiter: »Ihr seid im Walde gewesen, und ich bin daheim geblieben, und weiß doch mehr als ihr.« - »So erzähle uns,« riefen sie. Antwortete er: »Versprecht ihr mir auch, daß das erste Mädchen, das uns begegnet, nicht soll getötet werden?« - »Ja,« riefen alle, »das soll Gnade haben, erzähl uns nur.« Da sprach er »Unsere Schwester ist da,« und hub die Bütte auf, und die Königstochter kam hervor in ihren königlichen Kleidern mit dem goldenen Stern auf der Stirne, und war so schön, zart und fein. Da freuten sie sich alle, fielen ihr um den Hals und küßten sie und hatten sie von Herzen lieb.

So gehen wir nun in die Natur und suchen den wahren Geist, der zu diesen Formen gehört. Erst suchen wir draußen in der Welt. Und am Abend, wenn es draußen dunkel wird, gehen wir auch nach innen in unser verwünschtes Häuschen und finden einen Knaben, der uns versteht, nämlich die Vernunft, die im Grunde wirklich unser ‚Glückskind‘, d.h. Benjamin ist. Und wenn es draußen dunkel wird, kehren natürlich auch all die Sinne Gedanken und Handlungen nach innen zurück. Sie haben sicherlich viel in der Welt gejagt, aber die wahren Neuigkeiten bringt doch schließlich die Vernunft hervor. Vielleicht entstand deswegen der Spruch: „Nichts Neues unter der Sonne...“ Und so versöhnen sie sich mit ihrer Schwester, die bereit ist, sich ihren Brüdern zu opfern und ihnen zu dienen.

Nun blieb sie bei Benjamin zu Haus und half ihm in der Arbeit. Die elfe zogen in den Wald, fingen Gewild, Rehe, Vögel und Täuberchen, damit sie zu essen hatten, und die Schwester und Benjamin sorgten, daß es zubereitet wurde. Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüs, und stellte die Töpfe ans Feuer, also daß die Mahlzeit immer fertig war, wenn die elfe kamen. Sie hielt auch sonst Ordnung im Häuschen, und deckte die Bettlein hübsch weiß und rein, und die Brüder waren immer zufrieden und lebten in großer Einigkeit mit ihr.

Einige Jahre geht das sicherlich gut, solange das Ichbewußtsein demütig ist und der Vernunft dient und hilft. Dann hilft es in unserem Körperhaus bei der guten Zubereitung und Verdauung der Nahrung, erhält die innere Ordnung und sorgt dafür, daß die Sinne, Gedanken und Taten eine gewisse Reinheit bewahren. Das wäre dann ein zufriedenes Leben, solange unsere inneren Prinzipien in Einigkeit und Harmonie zusammen leben.

Auf eine Zeit hatten die beiden daheim eine schöne Kost zurechtgemacht, und wie sie nun alle beisammen waren, setzten sie sich, aßen und tranken und waren voller Freude. Es war aber ein kleines Gärtchen an dem verwünschten Häuschen, darin standen zwölf Lilienblumen, die man auch Studenten heißt: Nun wollte sie ihren Brüdern ein Vergnügen machen, brach die zwölf Blumen ab und dachte jedem aufs Essen eine zu schenken. Wie sie aber die Blumen abgebrochen hatte, in demselben Augenblick waren die zwölf Brüder in zwölf Raben verwandelt und flogen über den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten war auch verschwunden. Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umsah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach: »Mein Kind, was hast du angefangen? Warum hast du die zwölf weißen Blumen nicht stehen lassen? Das waren deine Brüder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt.« Das Mädchen sprach weinend: »Ist denn kein Mittel, sie zu erlösen?« - »Nein,« sagte die Alte »es ist keins auf der ganzen Welt als eins, das ist aber so schwer, daß du sie damit nicht befreien wirst, denn du mußt sieben Jahre stumm sein, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder werden von dem einen Wort getötet.«

Im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren wandeln wir uns deutlich. Es scheint, als ob in unserer Seele eine neue Persönlichkeit erwacht, von der man oft sagt, daß nun die Unschuld unserer Kindheit verlorengeht. Das könnte hier die Symbolik erklären, daß im Mädchen ein gewisser Stolz erwacht, und sie die zwölf Lilien bricht, die im Allgemeinen ein Symbol der Reinheit sind. Warum sie hier auch Studenten genannt werden, bleibt unserer Phantasie überlassen. Zumindest sind unsere Sinne oft so wißbegierig und fleißig wie Studenten... Da die Seele etwas Besonderes schaffen wollte,  fallen die Sinnes- und Handlungsorgane mit dem Denken und der Vernunft in Unreinheit und fliegen symbolisch als schwarze Raben hinaus in die Welt, so daß auch das geordnete Haus mit dem sauberen Garten verschwindet, welches die Seele bisher beschützt hat. Auf diese Weise erwacht aus dem natürlichen Ichbewußtsein eine neue Persönlichkeit mit einem wachsenden Ego, was wir gewöhnlich ‚Pubertät‘ nennen. Das Kind steht plötzlich mitten im wilden Wald der Welt und fühlt sich nicht selten allein und von allen verlassen. Es beginnt eine schwere Zeit mit manchen Krisen, und oft verfallen Jugendliche sogar in einen großen Schweigeboykott, so daß die Eltern kaum noch einen Zugang finden. Das mag zumindest die mittlere Ebene unseres Märchens sein, auf der sich Jugendliche in dieser Situation erkennen können und Vertrauen schöpfen, daß diese Erfahrung nichts Außergewöhnliches ist und irgendwann der erlösende König erscheint:

Da sprach das Mädchen in seinem Herzen: »Ich weiß gewiß, daß ich meine Brüder erlöse.« und ging und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf und spann, und sprach nicht und lachte nicht. Nun trug’s sich zu, daß ein König in dem Walde jagte, der hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Mädchen darauf saß, sprang herum, schrie und bellte hinauf. Da kam der König herbei und sah die schöne Königstochter mit dem goldenen Stern auf der Stirne, und war so entzückt über ihre Schönheit, daß er ihr zurief, ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie herab, setzte sie auf sein Pferd und führte sie heim. Da ward die Hochzeit mit großer Pracht und Freude gefeiert: aber die Braut sprach nicht und lachte nicht. Als sie ein paar Jahre miteinander vergnügt gelebt hatten, fing die Mutter des Königs, die eine böse Frau war, an, die junge Königin zu verleumden und sprach zum König: »Es ist ein gemeines Bettelmädchen, das du dir mitgebracht hast, wer weiß, was für gottlose Streiche sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen.« Der König wollte zuerst nicht daran glauben, aber die Alte trieb es so lange und beschuldigte sie so viel böser Dinge, daß der König sich endlich überreden ließ und sie zum Tode verurteilte.

Irgendwann geht auch dieser Traum in Erfüllung, der Königssohn erscheint, erkennt die große Schönheit, nimmt die Geliebte auf sein weißes Pferd und führt sie in sein herrliches Königreich. Dann wird eine große Hochzeit gefeiert, und alles ist wunderschön, wenn nur die böse Schwiegermutter nicht wäre...

Wenn wir nun auf eine tiefere Ebene gehen, können wir hier mit dem Wegfliegen und der Farbe der Raben das große Problem der Unreinheit unserer Sinne und unseres Handelns erkennen. Irgendwann stehen wir im wilden Wald der Welt und erkennen, wie uns die eigenen Sinne betrügen, wie unzuverlässig die Handlungen und Gedanken sind, und wie überall Tod und Vergänglichkeit drohen. Dann könnten wir auf die uralte Mutter treffen, die uns fragt: „Wie bist Du mit deinen Sinnen und Gedanken bisher umgegangen? Was hast du daraus gemacht?“ Dann könnten wir traurig antworten: „Gibt es denn gar keine Erlösung? Können wir die Reinheit nicht wiedererlangen?“ Und sie sagt: „Das ist sehr schwer. Es gibt nur einen Weg, und das ist die Zügelung, der Weg der Askese, das große Schweigen. Und den Erfolg erreichst Du erst am Ende des Weges.“ Das ist besonders schwer, denn wir wünschen uns gewöhnlich schon nach wenigen Schritten die ersten Erfolge. Nun, haben wir den Mut dazu? Haben wir das große Vertrauen, daß uns der herrschende Geist retten wird, wie der König hier im Märchen? Dieser große König, der uns am Zeichen auf unserer Stirn erkennt, d.h. an unserer Gesinnung, die uns sprichwörtlich ‚auf die Stirn geschrieben ist‘, wie auch in der Bibel vom ‚Siegel Gottes‘ auf der Stirn gesprochen wird [Bibel, Offenbarung 9.4]. Sind wir bereit für die große mystische Hochzeit zwischen Geist und Natur? Können wir das Ego in uns überwinden? Oder fürchten wir die böse Schwiegermutter, die uns die erwartete Liebe und Achtung der Welt verwehrt, so daß wir den Mund aufreißen und lautstark schimpfen, um uns vor Ungemach zu schützen? 

Nun ward im Hof ein großes Feuer angezündet, darin sollte sie verbrannt werden: und der König stand oben am Fenster und sah mit weinenden Augen zu, weil er sie noch immer so lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war, und das Feuer an ihren Kleidern mit roten Zungen leckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren verflossen. Da ließ sich in der Luft ein Geschwirr hören, und zwölf Raben kamen hergezogen und senkten sich nieder: und wie sie die Erde berührten, waren es ihre zwölf Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen, machten ihre liebe Schwester frei, und küßten und herzten sie. Nun aber, da sie ihren Mund auftun und reden durfte, erzählte sie dem Könige, warum sie stumm gewesen wäre und niemals gelacht hätte. Der König freute sich, als er hörte, daß sie unschuldig war, und sie lebten nun alle zusammen in Einigkeit bis an ihren Tod. Die böse Stiefmutter ward vor Gericht gestellt und in ein Faß gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.

Wow! Welcher Mensch kann soviel Vertrauen haben? Das kann wohl nur die wahre Liebe, die sogar den Tod nicht scheut. Mit selbstloser Liebe wurden die Brüder von ihrer animalischen Irrfahrt erlöst, und erlösten ihrerseits die Seele von ihrem Ego-Fluch. Sie löschten die roten Flammen der Leidenschaft, die uns zu verbrennen drohen. Und mit reinen Sinnen, Taten, Gedanken und Vernunft kann sie nun wahrhaft sprechen. Der herrschende Geist erkennt ihre Reinheit, die mystische Hochzeit in der Einheit ist vollkommen, und auch die unreine, betrügerische Natur erntet die Früchte ihrer Taten und muß schmerzlich untergehen. Damit endet das Märchen.


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Prof. Dr. Imre Koncsik ist ein deutscher Theologe, seit 2014 Professor an der Hochschule Heiligenkreuz und seit 2017 Leiter des Akademischen Instituts für Friedens- und Gerechtigkeitsforschung. Er forscht speziell im Bereich der Naturphilosophie, Quantenphysik und künstlicher Intelligenz. Damit gehört er zu den wenigen Wissenschaftlern, die heutzutage noch versuchen, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Quantenphysik mit unserer geistigen Welt zu verbinden, und darüber hinaus sogar den Mut haben, in der Öffentlichkeit über dieses Thema zu sprechen. Schade ist nur, daß er so viel Fachlatein verwendet.


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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
[Bibel] Luther Bibel, 1912