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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation aus Yoga-Sicht von Undine & Jens in Grün [2018]
Weil es in der Menschenwelt heißt „Aller guten Dinge sind drei.“, möchten wir dieses berühmte Märchen mit den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen, das schon viele Generationen zum Nachdenken angeregt hat, als drittes neben „Die zwölf Brüder“ und „Die sieben Raben“ stellen. Das paßt gut, denn hier wird vermutlich die gleiche Thematik wieder aus einer etwas anderen Sicht betrachtet. Auf der oberen Ebene ist dieses Märchen eine wunderbare Botschaft an unsere Kinder, die altehrwürdigen Tugenden wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Demut und Wahrhaftigkeit zu üben und sich nicht vom gierigen Ego und der Sucht nach äußerer Schönheit verführen zu lassen. Auf einer mittleren Ebene sehen wir die übliche Entwicklung eines Kindes vom Kinderwunsch über die unbeschwerte Kindheit, dem Dienst im Haushalt, die Pubertät mit heftiger Krise bis hin zur großen Liebe mit der erhofften Traumhochzeit. Und auf der tieferen Ebene können wir hier eine wunderbare Reise in unser inneres Wesen finden, wo der große Kampf zwischen dem gierigen Ego und dem reinen Ichbewußtsein stattfindet, zwischen „Ich will!“ und „Ich bin.“.
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: »Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.« Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und ward darum das Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
Das Märchen beginnt mit einer Königin, die sich ein vollkommenes Kind wünscht. Wenn wir bisher den König als herrschenden Geist versinnbildlicht hatten, so können wir hier die Königin als herrschende Natur sehen. Die Natur schaut durch ihr Fenster auf vollkommene Schönheit und wünscht sich eine entsprechende Verkörperung. Offensichtlich wird ihr der Wunsch vom König erfüllt, und ein wunderschönes Kind wird geboren. Doch wie das Märchen weiter erzählt, scheint mit der Geburt des Kindes die reine Mutter-Natur zu verschwinden und wandelt sich in eine neue Königin mit einem schrecklichen Ich-Ego voller Begierde, Haß und Illusion, das die vollkommene Schönheit vor allem persönlich in ihrem eigenen Aussehen sucht. Wir würden heutzutage sagen: „Typische Insellösung! Ob das gut geht...“
Für diese Entwicklung wird hier eine großartige Symbolik verwendet. Am Anfang steht der berühmte Nadelstich, der den Schicksalsfaden führt, das heißt die Seele auf ihren Weg durch Glück und Leid schickt. Und wie der Geist, so strebt auch die Natur zu einer Harmonie, die man gewöhnlich als ‚Schönheit‘ bezeichnet. Wenn wir aus geistiger Sicht von der heiligen Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist sprechen, so kann man auch aus natürlicher Sicht drei grundlegende Prinzipien sehen, die überall in der Natur wirken. Daß man diese Prinzipien mit den drei Farben von Weiß, Rot und Schwarz symbolisiert, hat eine lange Tradition. Wir finden diese Farben zum Beispiel im uralten Hohelied der Bibel, wo vermutlich die Seele ihren Körper beschreibt: „Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Augen der Tauben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und stehen in Fülle. Seine Backen sind wie Würzgärtlein, da Balsamkräuter wachsen. Seine Lippen sind wie Rosen, die von fließender Myrrhe triefen... [Bibel, Hohelied 5.10]“ Sogar den erwähnten Raben und die Taube werden wir weiter unten im Märchen wiederfinden.
Ähnlich heißt es aber auch im alten indischen Epos Mahabharata über die sogenannten drei Gunas bzw. natürlichen Qualitäten: „Unter dem Einfluß von Tamas bekommt er das Dunkle und Illusorische, unter dem Einfluß von Rajas brennt er in Leidenschaft, und durch das Sattwa erreicht er das Heitere und Gütige. So entstehen die drei Farben Weiß, Rot und Schwarz. Alle diese Farben (und deren Mischungen) gehören zur Natur (der Prakriti). [MHB 12.303]“
Darin steckt eine gewisse Genialität, denn mit diesen drei Prinzipien konnte man damals den ganzen Prozeß der Entstehung der geistigen und natürlichen Welt auf relativ einfache Weise hinreichend genau erklären. Und das widerspricht nicht unbedingt unserer heutigen Wissenschaft von den Naturgesetzen. Die Schwerkraft gehört zum Beispiel zum Prinzip von Tamas, der Trägheit, die zur Anziehung und Verfestigung neigt, sozusagen der Rahmen aus dunklem Ebenholz, der in der Natur alles begrenzt und zusammenhält. Der berühmte Urknall gleicht dem oben erwähnten Nadelstich, der mit ein paar Tropfen Leidenschaft bzw. Energie alles in Bewegung bringt und die Welt im hellen Licht unseres Bewußtseins erscheinen läßt.
Aber was ist nun die vollkommene Schönheit in der Welt? Goethe sagte: „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig verborgen geblieben wären.“ Demnach könnten wir die Schönheit auch in den inneren Qualitäten der Natur suchen, wie das Sprichwort sagt: „Wahre Schönheit kommt von Innen.“ Und daß Schönheit nicht immer eine gleichmäßige Symmetrie bedeutet, kennen wir bereits vom berühmten goldenen Schnitt. So steht auch in unserem Märchen für die vollkommene Schönheit das Symbol: Drei Tropfen rote Leidenschaft auf einem weiten Feld von weißer Güte bzw. Reinheit, das in einem dunklen Rahmen aus Trägheit, der die Ordnung bewahrt, zusammengehalten wird. Wenn wir in unserem Bewußtsein eine solche Harmonie finden könnten, wäre sicherlich schon viel erreicht. Und dieses schöne Kind wird sogar geboren, aber trifft hier in der Welt auf einen schrecklichen Gegner, nämlich ein Ego voller Begierde, Haß und Illusion, das diese Welt wie eine allmächtige Königin zu beherrschen scheint und jeder wahren Reinheit und Harmonie feindlich gegenübersteht. Das ist wirklich eine große Herausforderung in unserem Leben.
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig, und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete der Spiegel
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«
Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte.
Der Spiegel ist ein gebräuchliches Symbol für unser Ichbewußtsein, das sich darin als eine Person erkennt und mit einem Bild identifiziert. Und je mehr Begierde, Haß und Illusion in uns entstehen, um so mehr wandelt sich dieses Ichbewußtsein in ein gieriges Ich-Ego, das zur Ursache großer Leidenschaft wird, was natürlich auch viel ‚Leiden schafft‘. Wir denken, diese beiden Pole, sozusagen das wahre und das illusionäre Ich, sind das Thema dieses ganzen Märchens. Das Tückische daran ist, solange unser gieriges Ego genügend Nahrung und Bestätigung bekommt, fühlt es sich richtig gut an. Deswegen glauben wir gern dem Spiegel, der unser gewünschtes Bild bestätigt, und sehen darin die Wahrheit, obwohl es nur ein Abbild ist. Das geht heutzutage nicht nur eitlen Frauen so, sondern auch stolzen Männern und vielen Wissenschaftlern, die gern an objektive Meßwerte glauben und darin mehr Wahrheit sehen als in subjektiven Erfahrungen. Natürlich spiegeln unsere Meßgeräte bestimmte Eigenschaften der Natur wieder, aber eben längst nicht alle, und wie das Bild im Spiegel, so sollte man auch die Meßwerte nicht mit der Wahrheit verwechseln. Das führt sonst soweit, daß man alles, was sich nicht messen läßt, als falsch und unwahr definiert, wie am Beispiel der Homöopathie gut zu erkennen ist.
Diesen messenden Zauberspiegeln haben wir einerseits unseren modernen Fortschritt zu verdanken, anderseits aber auch jede Menge Leidenschaft und blinden Egoismus, der frei nach dem Motto lebt: „Nach mir die Sintflut!“ Und wie wir wissen, kann so ein gieriges Ego höchst gefährlich werden, denn es fühlt sich in seiner Illusionsblase äußerst bedroht. Und was bedroht die Illusion am meisten? Natürlich die Wahrheit, das reine Bewußtsein, daß wir hier in Form von Schneewittchen heranwachsen sehen. Denn vollkommene Schönheit jenseits aller illusorischen Ideale ist im Grunde nichts anderes als ein reines und harmonisches Bewußtsein, das man auch wahre Liebe nennen kann.
Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag, und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete er
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«
Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: »Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.« Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: »Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben. Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heim kommen.« Und weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleid und sprach: »So lauf hin, du armes Kind.« - »Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben.« dachte er, und doch war’s ihm, als wär ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling daher gesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus, und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.
So kommt es nun auch: Das gierige Ego kann es nicht ertragen, wenn das Spiegelbild nicht seinen Wünschen entspricht. Und anstatt sich selbst innerlich weiterzuentwickeln, versucht es die äußere Welt zu verändern, bis das eigene, selbstherrliche Bild wieder stimmt. Dann fühlt es für kurze Zeit eine gewisse Erleichterung. Kommt uns das bekannt vor? So schickt das gierige Ego sogar den Tod in Gestalt eines Jägers in die Welt, damit sein Bild wieder in Ordnung kommt und verlangt dafür ein ‚Wahrzeichen‘, um sich sicher zu fühlen. Man sieht bereits, wie schwer es eigentlich ist, eine Illusion zu ‚bewahren‘. Und doch geben wir uns damit die größte Mühe im Leben. Dem Jäger geht es nicht besser, denn wie sollte er so ein reines Wesen töten? Im Verlauf des Märchens werden wir noch sehen, daß es sogar unmöglich ist, das reine Ichbewußtsein zu töten. Das liegt vor allem auch dran, daß der Tod auch nur ein Bild ist, das sich das gierige Ego aus Angst um seine Illusionsblase erzeugt. Solange wir also äußere Bilder als Wahrheit betrachten und das innere wahre Wesen nicht erkennen, wird es auch diese Angst vor dem Tod geben.
Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelig allein, und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, solange nur die Füße noch fort konnten, bis es bald Abend werden wollte, da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblein, und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot, und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war: und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.
Auf diese Art und Weise tobt auch der Kampf in unserem Inneren, und das reine Bewußtsein wird gern tief in die Natur verbannt. Doch so leicht gibt es nicht auf, es geht seinen Weg durch das Leiden und alle Hindernisse bis es in das Innere unseres körperlichen Häuschens eintritt. Während in den letzten beiden Märchen wenigstens noch die Vernunft zu Hause war, sind hier alle Herren ausgeflogen und es trifft nur auf die äußerlichen Dinge, die sieben Bewohner vermuten lassen, die hier alle noch klein und rein sind, was uns an den kleinen Körper eines noch unschuldigen Kindes erinnert, wo die Welt noch relativ in Ordnung ist. Daß es sieben unterschiedliche Wesen sind, symbolisieren hier die unterschiedlichen Betten, und wenn wir an die fünf Sinne nebst Denken und Vernunft aus dem letzten Märchen von den sieben Raben denken, dann könnte das Ichbewußtsein am besten in das Bett der Gedanken oder sogar der Vernunft passen. Doch bevor es sich hier schlafen legt, geht es noch von Stuhl zu Stuhl und nascht von der Speise der Sinne. Danach befiehlt es sich Gott und findet Ruhe. Was bedeutet das? Es meint vermutlich das gleiche, wie der Anfang vom berühmten Gebet: „Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel... [Bibel, Lukas 11.2]“ Also nicht: „Mein Name, Mein Reich und Mein Wille geschehe...“ Das kann wirklich ein großer Schlüssel sein, um innerlich zur Ruhe zu kommen.
Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« Der zweite: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« Der dritte: »Wer hat von meinem Brötchen genommen?« Der vierte: »Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?« Der fünfte: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« Der sechste: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« Der siebente: »Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?« Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: »Wer hat in mein Bettchen getreten?« Die andern kamen gelaufen und riefen: »In meinem hat auch jemand gelegen.« Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Schneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen, und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Schneewittchen. »Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!« riefen sie, »Was ist das Kind so schön!« und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.
Auch hier kehren die Sinne, die Gedanken und die Vernunft am Abend, wenn es draußen in der Welt dunkel wird, in ihr Haus zurück, nachdem sie den ganzen Tag in der Welt fleißig gearbeitet haben. Diese innere Einkehr ist heutzutage selten geworden. Künstliches Licht und moderne Medien binden die Sinne auch zum Feierabend an die äußere Welt und die weltlichen Sorgen verfolgen uns bis in den Schlaf. Das ist schade, so leben wir fast ausschließlich in einer 2D Welt und verpassen die dritte Dimension der Tiefe in uns, wo doch das eigentliche Leben spielt. Denn dort könnten wir hinter den sieben Bergen diese mystischen Zwerge finden, die im Verborgenen wirken und körperlich so klein bzw. subtil oder feinstofflich sind, daß man sie kaum sehen kann. So stellte man sich damals vielleicht unsere Sinne mit dem Denken als solche kleinen Wesen vor, die in unserem Körper leben und in der Natur ihre jeweilige Nahrung suchen. Heutzutage kann man hier an unsere kleinen Nervenzellen denken, die im Auge, Ohr usw., ihre fleißige Arbeit tun. Und als ihr Sinnesbewußtsein von der Arbeit in der Welt zurückkehrte, entzündeten sie ihr Licht im Inneren ihres Hauses und merkten natürlich, daß sich hier etwas verändert hatte und ein bisher unbekanntes Bewußtsein eingezogen war. Zuerst merkten sie es an ihrer Nahrung und dann an ihren Schlafplätzen, wo sie gewöhnlich zur Ruhe kommen. Daß ihre Betten mit schneeweißen Laken bedeckt sind, paßt auch gut zu den Sinnen, von denen man sagt: „Wer schläft, der sündigt nicht.“ Doch ein Bett war nun bereits belegt, und sie wunderten sich sehr über die reine Schönheit, die sie dort erblickten. Über die Unterschiede der Zwerge kann man auch hier nur spekulieren. Jeder scheint eine etwas andere Neigung zu haben, und die verwendete Symbolik bezieht sich auf eine normale Mahlzeit mit Stuhl, Messer und Gabel, Teller und Becher, Brot, Gemüse und Wein. Ob darin bestimmte Hinweise versteckt sind, ist schwer zu sagen. Zumindest paßt auch diese Symbolik zu den fünf Sinnen. Denn sie haben einen Sitz in bestimmten Sinnesorganen, verwenden bestimmte Werkzeuge ähnlich Messer und Gabel, sie lernen und sammeln Erinnerungen wie auf Tellern und in Bechern, haben ihre jeweilige Nahrung und als Sinnesbewußtsein ihr eigenes Licht. Damit könnte es auch erklärbar sein, daß die Vernunft nacheinander bei den anderen Sinnen und dem Denken schläft, wenn ihr Bett vom reineren Bewußtsein belegt ist. Das wäre gut und könnte bereits eine innere Höherentwicklung symbolisieren.
Unseren Körper mit einem Haus, einer Burg oder einer Stadt zu vergleichen ist eine sehr alte Symbolik, die wir unter anderem auch im indischen Mahabharata finden: „Der Körper wird mit einer Stadt verglichen. Die Vernunft ist ihr König, und das im Körper wohnende Denken gleicht einem Minister, der die Angelegenheiten vor den König bringt, welcher sie entscheiden sollte. Die Sinnesorgane sind die vom Denken angestellten Bürger... [MHB 12.254]“
Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: »Wie heißt du?« - »Ich heiße Schneewittchen,« antwortete es. »Wie bist du in unser Haus gekommen?« sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: »Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.« - »Ja,« sagte Schneewittchen, »von Herzen gern.« und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung: morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein. Den Tag über war das Mädchen allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: »Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein.«
Irgendwann erwacht auch in uns ein reineres Bewußtsein, daß sich zunächst vor den Zwergen der Sinne fürchtet. Aber unsere Sinne und Gedanken müssen nicht unbedingt gefährlich oder wie man sagt ‚sündhaft‘ sein. Sie können auch zu unseren Freunden werden, sich mit dem reineren Ichbewußtsein anfreunden und uns sogar vor dem gierigen Ego der bösen Stiefmutter warnen und beschützen. Und so freuen sich die Sinne, daß sie nun ein reineres Bewußtsein gefunden haben, daß in ihrem Haus Ordnung hält und ihre Nahrung gut zubereitet. So etwas sollten wir uns auch in unserem Körper wünschen, denn das gierige Ego kümmert sich gewöhnlich viel zu sehr um äußere Dinge und sucht nur dort sein Glück. Und im Inneren entsteht oft Chaos, große Müllberge sammeln sich an, und es ist so grau und dunkel, daß wir uns nicht wundern müssen, wenn uns Depressionen oder seltsame Ängste einholen. Warum sollten die Zwerge in einem solchen Haus auch ihre Lichter entzünden, wo es nichts Reines, Schönes und Harmonisches mehr gibt?
Die Königin aber, nachdem sie Schneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als wäre sie wieder die erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete der Spiegel:
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«
Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Schneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte. Denn solange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht, und kleidete sich wie eine alte Krämerin, und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: »Schöne Ware feil! Feil!« Schneewittchen guckte zum Fenster heraus und rief: »Guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?« - »Gute Ware, schöne Ware«, antwortete sie, »Schnürriemen von allen Farben.« und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. »Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen.« dachte Schneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. »Kind,« sprach die Alte, »wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.« Schneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie, und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren: Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Schneewittchen der Atem verging, und es für tot hinfiel. »Nun bist du die Schönste gewesen.« sprach sie und eilte hinaus.
Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Schneewittchen auf der Erde liegen sahen; und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei. Da fing es an ein wenig zu atmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: »Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin. Hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.«
Oh ja, so ein gieriges Ego hat es nicht leicht. Es fühlt sich von allen und sogar dem Tod betrogen und muß wohl am Ende wirklich alles selber machen. Und so sinnt es die nächste Untat aus. Es verkleidet sich und erscheint in Gestalt einer Händlerin mit schönen Waren. Und wirklich, sie kann das reine Ichbewußtsein verführen, appelliert an den ersten der drei Tropfen Leidenschaft, nutzt die große Gutmütigkeit aus und greift den schneeweißen Körper an. Das Korsett ist hier sicherlich kein zufälliges Symbol und steht vermutlich für den äußerlichen Schönheitswahn, der lange Zeit weit über die gesunde Vernunft hinaus betrieben wurde. Interessanterweise sind es hier die Zwerge, also die Sinne mit den Gedanken und der Vernunft, die das Ichbewußtsein aus seinen Zwängen erlösen, während es in den beiden vorhergehenden Märchen das Ichbewußtsein war, das die Sinne usw. aus ihren animalischen Bindungen erlöste. Das ist nicht wirklich ein Widerspruch, denn im Grunde ist es nur ein Bewußtsein, das sich in verschieden Formen zeigt und mit sich selbst kämpft. Sogar das gierige Ego ist im Grunde nur reines Bewußtsein, sonst hätte es Schneewittchen niemals hinter den sieben Bergen in diesem kleinen Häuschen finden und mit ihr handeln können.
Was sind diese sieben Berge? Es sind vermutlich sieben äußerliche Formen, hinter denen sich in Gestalt der Zwerge sieben Naturkräfte verstecken. Das erinnert zunächst an unsere körperlichen Hüllen, hinter denen sich im Inneren das Ichbewußtsein verbirgt. Praktisch sind es die Mauern, die wir um uns errichten, um uns als eigenständige Person zu fühlen. Zu diesen Hüllen zählen auch die fünf Sinne mit dem Denken und der Vernunft, die unser wahres Ich im Inneren verhüllen, so daß wir es nicht erkennen können. Die Zwerge könnten dann das Sinnenbewußtsein symbolisieren, das mit jedem Sinn verbunden ist. Denn das Sinnesbewußtsein, das in der Welt nach Schätzen gräbt, ist wirklich zwergenhaft, solange es in unserem kleinen Körper gebunden ist. Solche Vorstellungen wurden früher gern in symbolischen Zeichnungen als Hilfsmittel zur Meditation versinnbildlicht. Auch die mittelalterliche Alchemie verwendete sie für ihre Zwecke, und dank des aufkommenden Buchdrucks wurden manche von ihnen überliefert. Denken wir zum Beispiel an den Vitriol-Siebenstern aus dem 16. Jahrhundert:
Hier könnte man folgendes deuten: Auf der linken Seite befindet sich der herrschende Geist in Gestalt eines Sonnenkönigs mit Zepter und Schild auf dem goldenen Löwen der Erkenntnis bzw. Stein der Weisen, der den feuerspeienden Ur-Drachen in der Erdhöhle beherrscht. Dieser Drache gleicht der zischelnden Schlange von Adam und Eva oder auch der Kundalini-Schlange im Yoga. Praktisch kämpfen wir hier gewöhnlich mit einem feuerspeienden Ego-Drachen voll brennender Leidenschaft. Auf der rechten Seite befindet sich die Mondgöttin mit dem Bogen der sinnlichen Liebe als herrschende Natur über die Lebewesen, die hier als ein großer Fisch im Wasser dargestellt werden. Der kosmische Mann mit dem reinen Bewußtsein im Inneren des Kreises hält die Elemente Feuer und Luft in Form von Kerze und Fischblase und steht auf den beiden Elementen Erde und Wasser. Seine Verkörperung ist das große Dreieck von Seele, Geist und Körper (Anima, Spiritus und Corpus), dessen Ursprung im inneren Bewußtsein bzw. reinem Geist liegt, der dort als kleineres Dreieck symbolisiert wird. Über der animalischen Seele mit der weltlichen Sonne brennt ein Salamander im Feuer der Reinigung und Wandlung. Über dem Geist mit dem kühlen Mond der Erkenntnis im Dunklen steht ein Vogel, der an den weißen Vogel der Intuition erinnert, den wir zum Beispiel bei Hänsel und Gretel finden, oder auch an die weiße Taube als Symbol des heiligen Geistes. In der Mitte kann man die Flügel des Hermestabes als Symbol der Einheit der Gegensätze und des geistigen Aufstiegs erkennen.
Der Siebenstern symbolisiert hier die sieben Wandelsterne (Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond) mit den sieben chemischen Elementen (Blei, Zinn, Eisen, Gold, Kupfer, Quecksilber und Silber) ähnlich den sieben Chakren in unserem Körper. Dazwischen befindet sich eine Abfolge von Bildern, die unsere menschliche Entwicklung von der dunklen Unwissenheit mit der Herrschaft des Todes über die Reinigung, Erkenntnis und Einsicht bis zur Auferstehung zum ewigen Leben symbolisieren. Im Außenkreis liest man die lateinische Inschrift „Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem” mit den Anfangsbuchstaben VITRIOL, zu deutsch: „Suche im Inneren der Erde, durch Läuterung wirst du den verborgenen Stein finden.“ Das könnte auch heißen: „Erforsche mit deinen fünf Sinnen, dem Denken und der Vernunft die Tiefen der Natur, und finde auf dem Weg der Reinigung den ewigen und unvergänglichen Geist dahinter.“ Damit erinnern die Spitzen des Siebensterns auch an die sieben Zwerge mit ihren Zipfelmützen hinter den sieben Bergen im Sinne von den sieben Naturkräften hinter den sieben Planeten und Elementen, die natürlich auch eng mit unseren fünf Sinnen und dem Denken verbunden sind, und hinter denen das reine Bewußtsein oder auch Gott zu finden ist.
Solche Diagramme sollte man allerdings nicht mit den Systematiken unserer modernen Wissenschaft verwechseln. Man sollte sie nicht als die Wahrheit selbst betrachten, sondern als Hilfsmittel zur Konzentration und Erinnerung, die man auf dem Weg zur Wahrheit benutzen kann. Damit verkörpern sie das gleiche Prinzip wie die alten Märchen, und auch hier ist es gut, die Tiefen zu ergründen und nicht in der oberflächlichen Gestaltung steckenzubleiben.
In Indien nennt man solche Hilfsmittel ein Mandala oder Yantra. Und in unserem Fall könnte man sich auch folgendes vorstellen:
Dann wären die sechs Ecken des Sterns, der aus den beiden Dreiecken von Männlich und Weiblich besteht, mit dem Innenkreis der Vernunft die sieben Berge um das reine Bewußtsein. In dieser Symbolik sind auch die drei Körperhüllen bzw. Ebenen gut zu erkennen, von denen man im Yoga spricht, nämlich die äußere grobstoffliche Hülle als Quadrat symbolisiert, die mittlere feinstoffliche Hülle als Stern und die innere geistige Hülle als Kreis. Auf der feinstofflichen Ebene können wir all die märchenhaften Wesen wie Zwerge, Trolle, Feen und Elfen finden, die als Bindeglied zwischen unserem materiellen Körper und unserem geistigen Wesen arbeiten. Wissenschaftlich könnte man hier von den Nervenzellen sprechen, sozusagen kleine und intelligente Zellen, welche Materie und Geist verbinden. Durch die äußeren beiden Hüllen des Körpers und der Sinne geht das gierige Ego in Gestalt der bösen Schwiegermutter hindurch und versucht, hinter den ‚sieben Bergen bei den sieben Zwergen‘ unser reines Ichbewußtsein zu vergiften.
Was sind diese Gifte des Bewußtseins? Allgemein spricht man hier von Begierde, Haß und Illusion bzw. Anhaftung, Ablehnung und Unwissenheit. Deswegen sagen die Zwerge und vor allem die Vernunft: „Laß das gierige Ego niemals herein, wenn wir nicht bei dir sind und die Tore der Sinne offen stehen!“
Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete er wie sonst
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«
Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, denn sie sah wohl, daß Schneewittchen wieder lebendig geworden war. »Nun aber,« sprach sie, »will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll.« und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines andern alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: »Gute Ware feil! Feil!« Schneewittchen schaute heraus und sprach: »Geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen.« - »Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein.« sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: »Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.« Das arme Schneewittchen dachte an nichts, und ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte, und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. »Du Ausbund von Schönheit,« sprach das boshafte Weib, »jetzt ist’s um dich geschehen.« und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Schneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach, und fanden den giftigen Kamm, und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Schneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen.
Und wieder schaut das gierige Ego in den Spiegel. Diesen Spiegel kann man nicht nur im Äußeren der materiellen Welt finden, sondern auch in der inneren, geistigen Welt. Und dort ist es das Bewußtsein selbst, daß sich und seine Umgebung mithilfe der Sinne, dem Denken und der Vernunft wahrnimmt. Diese ‚Wahr-Nehmung‘ ist nichts anderes, als der Blick in einen Spiegel. Und diese Wahrnehmung gilt es zu reinigen und rein zu halten, als würde man einen Spiegel rein halten, damit das Bild so wenig wie möglich verfälscht wird. Im Zen-Buddhismus heißt es:
Der Körper ist wie der Baum der Erkenntnis,
Das Bewußtsein ist wie ein klarer Spiegel,
Poliere ihn allzeit mit Eifer,
Laß keinen Staub daran haften.
Nun könnte man hier im Märchen fragen: Kommt nun das gierige Ego von außen oder von innen? Beides! Von innen kommt es, soweit sich unser Ichbewußtsein durch Begierde, Haß und Illusion zum gierigen Ego entwickelt. Von außen kommt es, soweit wir Begierde, Haß und Illusion einladen und hereinlassen. Das eine ist Schneewittchen als unser inneres Bewußtsein und das andere die Königin als die äußerlich herrschende Natur. Diese Frage von Innen und Außen hat natürlich viel mit der Trennung von „Mein“ und „Dein“ oder „Ich“ und „Andere“ zu tun. Das reine Bewußtsein kümmert sich eigentlich wenig um diese Grenzen. Es wirkt von außen wie von innen, und diesbezüglich ist kein Mensch völlig unabhängig. Jeder Mensch wirkt auch auf andere Menschen, und schon im Mutterleib sind wir diesen Wirkungen der ‚herrschenden Natur‘ ausgesetzt. Wer das erkennt, wird sich seiner Verantwortung bewußt, die er gegenüber allen Wesen in dieser Welt hat.
Und auch der zweite Tropfen Leidenschaft zeigt nun seine Wirkung, das gierige Ego findet einen Zugang über die Eitelkeit, und diese betrifft nun die schwarzen Haare wie Ebenholz. Das Symbol erinnert an das stundenlange Kämmen, Frisieren und Schminken vor dem Spiegel, um unser äußeres Ideal zu formen. Damit kommt das Gift von Begierde, Haß und Illusion in unser Inneres, lähmt das wahre Leben und läßt das reine Bewußtsein in eine Traumwelt versinken. Doch auch dieses Gift konnte das reine Bewußtsein nicht völlig töten, sondern nur für einige Zeit betäuben. Wieder können die Zwerge helfen, finden die giftige Ursache und befreien Schneewittchen davon. Schließlich warnt die Vernunft erneut vor dem gierigen Ego.
Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Da antwortete er wie vorher
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.«
Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. »Schneewittchen soll sterben,« rief sie, »und wenn es mein eignes Leben kostet.« Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen, giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: »Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir’s verboten.« - »Mir auch recht,« antwortete die Bäuerin, »meine Äpfel will ich schon los werden. Da, einen will ich dir schenken.« - »Nein,« sprach Schneewittchen, »ich darf nichts annehmen.« - »Fürchtest du dich vor Gift?« sprach die Alte, »Siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den weißen will ich essen.« Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Schneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte.
Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach: »Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.« Und als sie daheim den Spiegel befragte
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
so antwortete er endlich
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«
Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann.
Jeder Mordversuch macht das gierige Ego immer zorniger und aggressiver. Es ist ja auch unerträglich, wenn man seine persönlichen Ziele nicht erzwingen kann. Dann scheint das Ego noch mehr Intelligenz zu entwickeln als unsere Vernunft, kommt auf die hinterlistigsten Ideen, versteckt sich hinter den schönsten Formen und ist sehr schwer zu erkennen. Doch auch der dritte Tropfen Leidenschaft verlangt sein Recht, das Ichbewußtsein hält Tore und Fenster nicht verschlossen, sondern steckt neugierig seinen Kopf heraus. Und diesmal verschwindet das Gift mit dem Wunsch nach Genuß im roten Mund, kann von innen her wirken, und der Zauberspiegel bestätigt: Das Ziel ist endlich erreicht!
Kommt uns das bekannt vor? Sind nicht auch unsere Äpfel im Supermarkt vor allem äußerlich schön und verführerisch? Das schaffen wir mit viel Gift, wie auch das Sprichwort sagt: „Außen hui und innen pfui!“ Das ist eine sehr heimtückische Geschichte, die weite Kreise zieht, und unser gieriges Ego spielt hier natürlich eine große Rolle.
Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Schneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf, suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle sieben daran und beweinten es, und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch, und hatte noch seine schönen roten Backen. Sie sprachen »Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken.« und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein, und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf, und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen. Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß als Schnee, so rot als Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz.
Diesmal konnten die Zwerge nicht helfen, vermutlich weil die giftige Ursache von außen nicht mehr sichtbar war. Das paßt zumindest zu unseren Sinnen, die gewöhnlich nur äußerliche Dinge erkennen können. Wenn das lebendige Licht des Bewußtseins ins uns erstickt, entsteht natürlich eine große innere Trauer, die wir heutzutage als eine typische Depression bezeichnen würden. Doch auch hier ist es gut, niemals die Hoffnung zu verlieren und wenigstens die äußere Form zu bewahren. Dann bauen wir uns im Inneren einen gläsernen Sarg, schreiben unseren Namen darauf und bewachen wenigstens dieses Ideal. Und wirklich, solch ein Mensch, der mit ersticktem Bewußtsein in Depression versinkt, verdient sogar das Bedauern der wilden Tiere, die hier im einzelnen die natürlichen Qualitäten von Leidenschaft, Dunkelheit und Güte symbolisieren könnten, die überall in der Natur wirken. Zumindest finden wir im obigen Zitat aus dem Hohelied den Raben und die Taube wieder. Die Eule könnte als typischer Raubvogel für die Leidenschaft stehen. Wer Depression erlebt hat, wird wissen, wovon hier gesprochen wird und kennt auch die große Frage: Wo kann man um Himmelswillen jetzt noch Rettung finden?
Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Schneewittchen darin, und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: »Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.« Aber die Zwerge antworteten: »Wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt.« Da sprach er: »So schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Schneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.« Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleiden mit ihm und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe, und richtete sich auf, und war wieder lebendig. »Ach Gott, wo bin ich?« rief es. Der Königssohn sagte voll Freude »Du bist bei mir!« und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: »Ich habe dich lieber als alles auf der Welt. Komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden.« Da war ihm Schneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet.
Zum Glück gibt es neben der herrschenden Natur immer noch einen herrschenden Geist, der hier seinen Sohn schickt, um das Bewußtsein aus der Dunkelheit zu erlösen. Das geschieht natürlich nicht durch Geld oder Gold sondern durch das große Mitgefühl und die Gnade der wahren Liebe. Dieser Geist ist es, der alles trägt oder zumindest tragen läßt, auch unser Ichbewußtsein. Und was wir sonst im Leben als Leiden betrachten, wenn wir über Hindernisse auf dem Weg stolpern, das dient am Ende unserem Erwachen aus dem dunklen Traum der Illusion. So könnte hier im Märchen sogar das Erwachen zum wahren Leben gemeint sein, wie es die wunderbaren Worte sagen: „Ach Gott, wo bin ich? - Du bist bei mir!“ So kehrt die Seele schließlich zum Vater zurück, wo die mystische Hochzeit der Einheit zwischen Mann und Frau bzw. Geist und Natur gefeiert wird. Diese Einheit, wo sich alle Gegensätze auflösen und jeder Spiegel seine Objektivität verliert, ist etwas sehr großes, das man mit gewöhnlichen Gedanken nicht mehr fassen kann.
So gab es auch damals auf den oben erwähnten Zen-Spruch über den Spiegel folgende mystische Antwort von einem Küchenjungen namens Huineng, der daraufhin in China ein berühmter Zen-Meister wurde:
Im Grunde gibt es keinen Baum der Erkenntnis,
kein klarer Spiegel ist aufgestellt.
Im Ursprung gibt es kein Ding,
Worauf sollte sich Staub legen?
Zu dem Fest wurde aber auch Schneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?«
Der Spiegel antwortete
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr.«
Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen: doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.
Und was geschieht mit dem gierigen Ego? Nun, es verflucht sich selbst zu großer Qual, und am Ende muß natürlich die Illusionsblase platzen, sonst wäre es keine Illusionsblase geworden. Was hier mit den eisernen Pantoffeln so archaisch klingt, ist heutzutage eine weitverbreitete Qual und wird zum Beispiel „Burn-Out“ genannt. Wir rennen und tanzen auf den glühenden Sohlen der Leidenschaft und können nicht aufhören, bis wir völlig ausgebrannt sind. Was soll man weiter dazu sagen? Wenn schon drei Tropfen Leidenschaft für unser Schneewittchen so leidvoll waren, was erwarten wir, wenn heutzutage die Leidenschaft über jede Tugend und Vernunft gesetzt wird und unsere ganze Welt überschwemmt?
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |