Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Vom Fischer und seiner Frau

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]

Dieses Märchen wurde von den Gebrüdern Grimm ursprünglich auf Plattdeutsch veröffentlicht. Wir möchten uns hier auf eine hochdeutsche Übersetzung [KHM2] stützen, die wahrscheinlich für viele verständlicher ist. Das Märchen ist sehr interessant, weil es mehrere Bilder in Frage stellt, die wir gern von unserer europäischen Vergangenheit zeichnen. Auf der oberen Ebene kann man über die angebliche Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft nachdenken, und auf der geistigen Ebene über die angebliche Dummheit der Menschen im dunklen Mittelalter, die nicht einmal eine Waschmaschine oder ein Auto erfinden konnten. Zugegeben, es ist wirklich schwer, mit unserer heutigen Weltanschauung auf unsere geschichtliche Vergangenheit zu schauen. Hier würden wir mit Goethe gehen, der im [Faust I] schreibt:

Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Es war einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten zusammen in einer kleinen Fischerhütte, dicht an der See, und der Fischer ging alle Tage hin und angelte: und angelte und angelte. So saß er auch einmal mit seiner Angel und sah immer in das klare Wasser hinein: und so saß er nun und saß.

Da ging die Angel auf den Grund, tief hinunter, und als er sie heraufholte, da holte er einen großen Butt heraus. Da sagte der Butt zu ihm: »Hör mal, Fischer, ich bitte dich, laß mich leben, ich bin kein richtiger Butt, ich bin ein verwunschener Prinz. Was hilft's dir denn, wenn du mich tötest? Ich würde dir doch nicht recht schmecken: Setz mich wieder ins Wasser und laß mich schwimmen.« - »Nun«, sagte der Mann, »du brauchst nicht so viele Worte zu machen: einen Butt, der sprechen kann, werde ich doch wohl schwimmen lassen.« Damit setzte er ihn wieder in das klare Wasser. Da ging der Butt auf Grund und ließ einen langen Streifen Blut hinter sich. Da stand der Fischer auf und ging zu seiner Frau in die kleine Hütte.

Brillant! Bereits der Anfang unseres Märchens benutzt viele Symbole, die wir bereits aus anderen Märchen kennen, und verlangt förmlich nach einer Interpretation auf geistiger Ebene. Mann und Frau wohnen in einer kleinen Hütte, im Plattdeutsch ‚Pißputt‘ genannt, also wahrscheinlich nicht besonders wohlriechend. Das erinnert uns wieder an die männliche und weibliche Polarität, die in unserem Körper lebt, der auch nicht immer nach Veilchen duftet. Denn im Prinzip ist unser Körper ein wandelnder Komposthaufen, der die Nahrung verdaut, um fruchtbaren Boden für künftige Entwicklung zu schaffen. Das Meer erinnert an das Wasser als Element und Symbol des Lebens. Hier sitzt der Fischer geduldig, wie ein meditierender Yogi, bis das Wasser seines Geistes immer klarer wird, und er immer tiefer bis auf den Grund schaut. Von dort holt er mit der Angel der Achtsamkeit ein wundersames Wesen herauf, das hier am Grunde lebt. Der Butt, auch Flunder oder Plattfisch, ist dafür ein vorzügliches Symbol, denn er verbirgt sich gewöhnlich am Grund des Meers im Sand, und nur die Augen schauen noch heraus. Und wie er dieses Wesen mit seiner geistigen Angel fängt, so hört er, daß es kein gewöhnliches Lebewesen sei, sondern ein verwunschener Königssohn. Der König erinnert uns wieder an den Geist, der überall herrscht, und der verwunschene Sohn an einen verkörperten Geist, der durch einen verhängnisvollen Wunsch diese Form annehmen mußte. Es ist nicht Neues in der spirituellen Welt, daß man alles in der Natur als verkörperten bzw. verfestigten Geist betrachten kann. Die moderne Wissenschaft würde hier wahrscheinlich von Energie und Information sprechen, was im Prinzip das Gleiche ist. Hat man einmal einen Körper, steht natürlich sogleich die Frage nach dem Tod. Doch der ‚Mann‘ sieht die Dinge tiefer, erkennt sein wahres Wesen und gibt es wieder zurück in das klare Wasser des Lebens. Das wundersame Wesen kehrt zum Grund zurück, doch zieht eine Blutspur hinter sich her, die vielleicht das allgemeine Leiden oder auch Karma symbolisiert, das alle verkörperten Wesen ertragen müssen. Dann erhebt sich der Fischer aus seiner ’Meditation‘ und kehrt in seinen vergänglichen Körper zurück, wo ihn seine weibliche Seite bereits erwartet:

»Mann«, sagte die Frau, »hast du heute nichts gefangen?« - »Nein«, sagte der Mann. »Ich fing einen Butt, der sagte, er wäre ein verwunschener Prinz, da hab ich ihn wieder schwimmen lassen.« - »Hast du dir denn nichts gewünscht?«, sagte die Frau. »Nein«, sagte der Mann, »was sollte ich mir wünschen?« - »Ach«, sagte die Frau, »das ist doch übel, immer hier in der Hütte zu wohnen: die stinkt und ist so eklig. Du hättest uns doch ein kleines Häuschen wünschen können. Geh noch einmal hin und ruf ihn. Sag ihm, wir wollen ein kleines Häuschen haben, er tut das gewiß.« - »Ach«, sagte der Mann, »was soll ich da noch mal hingehen?« - »I«, sagte die Frau, »du hattest ihn doch gefangen und hast ihn wieder schwimmen lassen - er tut das gewiß. Geh gleich hin!« Der Mann wollte noch nicht recht, wollte aber auch seiner Frau nicht zuwiderhandeln und ging hin an die See.

Als er dorthin kam, war die See ganz grün und gelb und gar nicht mehr so klar. So stellte er sich hin und sagte:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

Da kam der Butt angeschwommen und sagte: »Na, was will sie denn?« -»Ach«, sagte der Mann, »ich hatte dich doch gefangen; nun sagt meine Frau, ich hätt mir doch was wünschen sollen. Sie mag nicht mehr in der Hütte wohnen, sie will gern ein Häuschen.« - »Geh nur«, sagte der Butt, »sie hat es schon.«

Wie sich diese Geschichte gestaltet, können wir auf geistiger Ebene wieder das Paar von Ego und Vernunft sehen, das wie Katze und Maus in diesem Haus des Körpers wohnt. Und sobald sie zusammenkommen, fragt das Ego nach dem Gewinn, worüber sich die reine Vernunft nur wundert. Was sollte man auch in der Welt noch gewinnen oder wünschen, wenn man bereits mit klarem Geist bis auf den Grund des Lebens geschaut hat? Doch das Ego gibt nicht so schnell auf und bedrängt die Vernunft, bis sie nachgibt und die Schöpferkraft im Meer des Lebens um die Gestaltung bestimmter Formen bittet. Hier wirkt Geist auf Geist, und so entsteht wohl unter dem Willen des Egos diese ganze Welt. Das Wollen in Gedanken und Taten bewegt den Geist, wühlt also das Meer auf und läßt seine Klarheit schwinden. Diesbezüglich könnte man den Spruch, der sich hier wie ein Mantra durch das ganze Märchen zieht, wie folgt deuten:

Du Geist im Verborgenen, Schöpfer im Meer des Lebens, gegen alle Vernunft treibt mich die egoistische Begierde.

Und das Wesen spricht: „Geh nur hin, du hast es schon...“ Vorzüglich! Im Grunde ist es doch die lebendige Natur, die uns alles gibt, das Leben selbst. Und je reiner unser Wunsch ist, um so kraftvoller ist er, und um so schneller gibt uns die Natur. Deshalb sagt ein Sprichwort: „Alles, was der Mensch erdenken kann, das kann er auch erschaffen.“ Dabei denkt das gierige Ego: „Ich will es gewinnen und besitzen!“ Und die reine Vernunft weiß: „Ich hab es schon, auch wenn es noch nicht da ist.“ Dieser Unterschied ist wohl das große Geheimnis der Zufriedenheit.

Da ging der Mann hin, und seine Frau saß nicht mehr in der kleinen Hütte, denn an ihrer Stelle stand jetzt ein Häuschen, und seine Frau saß vor der Türe auf einer Bank. Da nahm ihn seine Frau bei der Hand und sagte zu ihm: »Komm nur herein, sieh, nun ist doch das viel besser.« Da gingen sie hinein, und in dem Häuschen war ein kleiner Vorplatz und eine kleine reine Stube und Kammer, wo jedem sein Bett stand, und Küche und Speisekammer, alles aufs beste mit Gerätschaften versehen und aufs schönste aufgestellt, Zinnzeug und Messing, was eben so dazugehört. Dahinter war auch ein kleiner Hof mit Hühnern und Enten und ein kleiner Garten mit Grünzeug und Obst. »Sieh«, sagte die Frau, »ist das nicht nett?« - »Ja«, sagte der Mann, »so soll es bleiben; nun wollen wir recht vergnügt leben.« - »Das wollen wir uns bedenken«, sagte die Frau. Dann aßen sie etwas und gingen zu Bett.

Da nahm ihn seine Frau an die Hand und sagte: „Komm nur herein...“ Auf diese Art und Weise kommt wohl unser Geist in einen Körper. Und die reine Vernunft rät zur Zufriedenheit und sagt: „Wie es ist, ist es gut!“ - Was empfinden Sie bei dem Wort ‚Zufriedenheit‘? Für viele Menschen ist es heutzutage schon fast ein Schimpfwort für eine Untugend. Denn die Unzufriedenheit soll der Motor unserer Gesellschaft sein, das heißt: Kaufen, Kaufen und Kaufen! Das muß nicht völlig falsch sein, sonst wäre es sicherlich nicht entstanden. Aber man sollte zumindest einmal darüber nachdenken. Denn praktisch kann man zwar alles besitzen: Familie, Haus, Firma oder sogar ganze Länder. Aber ohne Zufriedenheit reicht es niemals aus und ist so gut wie Nichts. Während man mit Zufriedenheit schon mit Wenigem wirklich glücklich sein kann. Aber was meint das gierige Ego?:

So ging es wohl nun acht oder vierzehn Tage, da sagte die Frau: »Hör, Mann, das Häuschen ist auch gar zu eng, und der Hof und der Garten ist so klein: der Butt hätt uns auch wohl ein größeres Haus schenken können. Ich möchte wohl in einem großen steinernen Schloß wohnen. Geh hin zum Butt, er soll uns ein Schloß schenken.« - »Ach Frau«, sagte der Mann, »das Häuschen ist ja gut genug, warum wollen wir in einem Schloß wohnen?« - »I was«, sagte die Frau, »geh du mal hin, der Butt kann das schon.« - »Nein, Frau«, sagte der Mann, »der Butt hat uns erst das Häuschen gegeben. Ich mag nun nicht schon wieder kommen, den Butt könnte das verdrießen.« - »Geh doch«, sagte die Frau, »er kann das recht gut und tut es auch gern; geh du nur hin.« Dem Mann war sein Herz so schwer, und er wollte nicht. Er sagte zu sich selber: »Das ist nicht recht.« Aber er ging doch hin.

Als er an die See kam, war das Wasser ganz violett und dunkelblau und grau und dick, und gar nicht mehr so grün und gelb, doch war es noch still. Da stellte er sich hin und sagte:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach«, sagte der Mann, halb betrübt, »sie will in einem großen steinernen Schloß wohnen.« - »Geh nur hin, sie steht vor der Tür«, sagte der Butt.

Wenn die Vernunft das gierige Ego nicht zügelt, kennt es keine Grenzen. Doch man sagt, das ist so schwer, wie die Zügelung des Windes. Und jeder erfüllte Wunsch, macht es noch schwerer. Das gierige Ego ernährt sich davon, will sich immer mehr manifestieren, mit hohen Mauern umgeben und besonderen Formen und Besitz identifizieren. Daraufhin trübt sich unser Geist, und die Illusion verhüllt die klare Sicht in die Tiefe.

Da ging der Mann hin und dachte, er wollte nach Hause gehen. Als er aber dahin kam, da stand dort ein großer steinerner Palast, und seine Frau stand oben auf der Treppe und wollte hineingehen. Da nahm sie ihn bei der Hand und sagte: »Komm nur herein.« Damit ging er mit ihr hinein, und in dem Schloß war eine große Diele mit einem marmornen Estrich, und da waren so viele Bediente, die rissen die großen Türen auf, und die Wände waren alle blank und mit schönen Tapeten ausgestattet, und in den Zimmern lauter goldene Stühle und Tische, und kristallene Kronleuchter hingen von der Decke. Alle Stuben und Kammern waren mit Fußdecken versehen. Auf den Tischen stand das Essen und der allerbeste Wein, daß sie fast brechen wollten. Und hinter dem Haus war auch ein großer Hof mit Pferde- und Kuhstall, und Kutschwagen: alles vom allerbesten. Auch war da ein großer herrlicher Garten mit den schönsten Blumen und feinen Obstbäumen, und ein herrlicher Park, wohl eine halbe Meile lang, da waren Hirsche und Rehe drin und alles, was man nur immer wünschen mag. »Na«, sagte die Frau, »ist das nun nicht schön?« - »Ach ja«, sagte der Mann, »so soll es auch bleiben. Nun wollen wir auch in dem schönen Schloß wohnen und wollen zufrieden sein.« - »Das wollen wir uns bedenken«, sagte die Frau, »und wollen es beschlafen.« Darauf gingen sie zu Bett.

Warum geht die Frau nicht allein in den Palast, sondern wartet auf ihren Mann? Auf geistiger Ebene gleichen diese Pole von Männlich und Weiblich einer Batterie, die uns wie einen Motor bewegt. Und um so tiefer man schaut, um so weniger lassen sich die Pole voneinander trennen, wie man auch die Plus- und Minuspole von Batterien nicht einzeln kaufen kann. Und je weiter man nach außen geht, um so mehr Trennung sehen wir, bis zur üblichen Ehescheidung. Deshalb lesen wir in der Bibel: „Was Gott vereint hat, soll der Mensch nicht scheiden. [Bibel, Markus 10.9]“ Denn jede Trennung ist eine Quelle von Illusion und Leiden. Darüber hinaus ist es wohl das Dümmste, wenn sich der Mensch von der Vernunft trennt. Sicherlich ist unser wissenschaftlich-technisches Zeitalter auch gut, aber die Vernunft sollte immer dabei sein, die uns mahnt: „Nun wollen wir damit leben und zufrieden sein!“

Am andern Morgen wachte die Frau als erste auf. Es war gerade Tag geworden, und sie sah von ihrem Bett aus das herrliche Land vor sich liegen. Der Mann reckte sich noch, da stieß sie ihn mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Mann, steh auf und guck mal aus dem Fenster. Sieh, können wir nicht König werden über all das Land? Geh hin zum Butt, wir wollen König sein.« - »Ach Frau«, sagte der Mann, »warum wollen wir König sein?« -»Nun«, sagte die Frau, »willst du nicht König sein, so will ich König sein. Geh hin zum Butt, ich will König sein.« - »Ach Frau«, sagte der Mann, »was willst du König sein? Das mag ich ihm nicht sagen.« - »Warum nicht?« sagte die Frau, »geh stracks hin, ich muß König sein.« Da ging der Mann hin und war ganz bedrückt, daß seine Frau König werden wollte. Das ist und ist nicht recht, dachte der Mann. Er wollte nicht hingehen, ging aber dann doch hin.

Und als er an die See kam, war die See ganz schwarzgrau, und das Wasser drängte so von unten herauf und stank auch ganz faul. Da stellte er sich hin und sagte:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach«, sagte der Mann, »sie will König werden.« - »Geh nur hin, sie ist es schon«, sagte der Butt.

Und wieder denkt das gierige Ego: „Ich will etwas Besonderes werden!“ Und die reine Vernunft weiß: „Ich bin es schon, auch wenn es noch nicht da ist.“ Das ist wohl das größte Geheimnis der Zufriedenheit, das der ‚Mann‘ in uns kennt. Trotzdem wird der Ozean des Lebens immer mehr aufgewühlt. Ähnliches kennen wir aus den indischen Geschichten vom Quirlen des Ozeans, als sich Götter und Dämonen vereint hatten, um den Nektar der Unsterblichkeit zu erlangen [z.B.: MHB 1.17]. Auch hier entstanden aus dem Ozean viele Wellen mit wünschenswerten Dingen aber auch ein Gift, das alles zu vernichten drohte.

Da ging der Mann hin, und als er zu dem Palast kam, war das Schloß viel größer geworden, mit einem großen Turm und herrlichem Zierat daran: und die Schildwache stand vor dem Tor, und da waren so viele Soldaten und Pauken und Trompeten. Und als er in das Haus kam, so war alles von purem Marmor und Gold, und sammtne Decken und große goldene Quasten. Da gingen die Türen von dem Saal auf, wo der ganze Hofstaat war, und seine Frau saß auf einem hohen Thron von Gold und Diamanten und hatte eine große goldene Krone auf und das Zepter in der Hand von purem Gold und Edelstein. Und auf beiden Seiten von ihr standen sechs Jungfrauen in einer Reihe, immer eine einen Kopf kleiner als die andere. Da stellte er sich hin und sagte: »Ach Frau, bist du nun König?« - »Ja«, sagte die Frau, »nun bin ich König.« Da stand er nun und sah sie an; und als er sie eine Zeitlang so angesehen hatte, sagte er: »Ach Frau, was ist das schön, daß du nun König bist! Nun wollen wir uns auch nichts mehr wünschen.« - »Nein, Mann«, sagte die Frau, und war ganz unruhig, »mir wird schon Zeit und Weile lang, ich kann das nicht mehr aushalten. Geh hin zum Butt: König bin ich, nun muß ich auch Kaiser werden.« - »Ach Frau«, sagte der Mann, »warum willst du Kaiser werden?« - »Mann«, sagte sie, »geh zum Butt, ich will Kaiser sein!« - »Ach Frau«, sagte der Mann, »Kaiser kann er nicht machen, ich mag dem Butt das nicht zu sagen. Kaiser ist nur einmal im Reich: Kaiser kann der Butt nicht machen.« - »Was«, sagte die Frau, »ich bin König, und du bist doch mein Mann; willst du gleich hingehen? Gleich geh hin! - Kann er Könige machen, so kann er auch Kaiser machen. Ich will und will Kaiser sein! Geh gleich hin!« Da mußte er hingehen. Als der Mann aber hinging, war ihm ganz bang; und als er so ging, dachte er bei sich: Das geht und geht nicht gut: Kaiser ist zu unverschämt, der Butt wird's am Ende leid.

Inzwischen kam er an die See. Da war die See noch ganz schwarz und dick und fing an, so von unten herauf zu schäumen, daß sie Blasen warf; und es ging so ein Wirbelwind über die See hin, daß sie sich nur so drehte. Und den Mann ergriff ein Grauen. Da stand er nun und sagte:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach, Butt«, sagte er, »meine Frau will Kaiser werden.« - »Geh nur hin«, sagte der Butt, »Sie ist es schon.«

Da ging der Mann hin, und als er dort ankam, war das ganze Schloß von poliertem Marmor mit Figuren aus Alabaster und goldenen Zieraten. Vor der Tür marschierten die Soldaten, und sie bliesen Trompeten und schlugen Pauken und Trommeln. Aber in dem Hause, da gingen die Barone und Grafen und Herzöge herum und taten, als ob sie Diener wären. Die machten ihm die Türen auf, die von lauter Gold waren. Und als er hereinkam, da saß seine Frau auf einem Thron, der war von einem Stück Gold und war wohl zwei Meilen hoch; und sie hatte eine große goldene Krone auf, die war drei Ellen hoch und mit Brillanten und Karfunkelsteinen besetzt. In der einen Hand hatte sie das Zepter und in der andern den Reichsapfel, und auf beiden Seiten neben ihr, da standen die Trabanten so in zwei Reihen, immer einer kleiner als der andere, von dem allergrößten Riesen, der war zwei Meilen hoch, bis zu dem allerwinzigsten Zwerg, der war so groß wie mein kleiner Finger. Und vor ihr standen viele Fürsten und Herzöge. Da trat nun der Mann zwischen sie und sagte: »Frau, bist du nun Kaiser?« - »Ja«, sagte sie, »ich bin Kaiser.« Da stellte er sich nun hin und besah sie sich recht, und als er sie so eine Zeitlang angesehen hatte, da sagte er: »Ach, Frau, wie steht dir das schön, daß du Kaiser bist.« - »Mann«, sagte sie, »was stehst du da? Ich bin nun Kaiser, nun will ich auch Papst werden. Geh hin zum Butt!« -»Ach Frau«, sagte der Mann, »was willst du denn nicht alles? Papst kannst du nicht werden, ihn gibt's nur einmal in der Christenheit: das kann er doch nicht machen!« - »Mann«, sagte sie, »ich will Papst werden, geh gleich hin, ich muß heute noch Papst werden!« - »Nein, Frau«, sagte der Mann, »das mag ich ihm nicht sagen, das ist nicht gut, das ist zuviel verlangt, zum Papst kann dich der Butt nicht machen.« - »Mann, schwatz kein dummes Zeug!« sagte die Frau. »Kann er Kaiser machen, so kann er auch einen Papst machen. Geh sofort hin; ich bin Kaiser, und du bist doch mein Mann. Willst du wohl hingehen?!« Da wurde ihm ganz bang zumute, und er ging hin, aber ihm war ganz flau dabei. Er zitterte und bebte, und die Knie und Waden schlotterten ihm. Und da strich so ein Wind über das Land, und die Wolken flogen, und es wurde so düster wie gegen den Abend zu: die Blätter wehten von den Bäumen, und das Wasser ging hoch und brauste so, als ob es kochte, und platschte an das Ufer, und in der Ferne sah er die Schiffe, die gaben Notschüsse ab und tanzten und sprangen auf den Wogen. Doch war der Himmel in der Mitte noch ein bißchen blau, aber an den Seiten, da zog es so recht rot auf wie ein schweres Gewitter. Da ging er ganz verzagt hin und stand da in seiner Angst und sagte:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach«, sagte der Mann, »sie will Papst werden.« - »Geh nur hin, sie ist es schon«, sagte der Butt.

Wie wird man in dieser Welt König, Papst oder sonst irgendetwas? Es ist eine Schöpferkraft, ein Ich-Wille, der diese Formen gestaltet. Und das alles sind kleine und große Wellen, die auf dem ewigen Meer des Lebens entstehen, sich wandeln, überlagern, aneinanderschlagen und wieder vergehen. Und je mehr dieses Meer aufgewühlt wird, um so größer werden die Wellen, und um so schmerzlicher schlagen sie aufeinander. Oder wie es im Zen-Buddhismus heißt:

Geist aufgewühlt, alle Dinge aufgewühlt,
Geist still, alles still,
Und nichts hat einen Namen.

Da ging er hin, und als er ankam, da war da eine große Kirche, von lauter Palästen umgeben. Da drängte er sich durch das Volk. Inwendig war aber alles mit tausend und tausend Lichtern erleuchtet, und seine Frau war ganz in Gold gekleidet und saß auf einem noch viel höheren Thron und hatte drei große goldene Kronen auf, und um sie herum, da war so viel geistlicher Staat, und zu beiden Seiten von ihr, da standen zwei Reihen Lichter, das größte so dick und so groß wie der allergrößte Turm, bis zu dem allerkleinsten Küchenlicht. Und all die Kaiser und Könige, die lagen vor ihr auf den Knien und küßten ihr den Pantoffel. »Frau«, sagte der Mann und sah sie so recht an, »bist du nun Papst?« - »Ja«, sagte sie, »ich bin Papst.« Da ging er hin und sah sie recht an, und da war ihm, als ob er in die helle Sonne sähe. Als er sie so eine Zeitlang angesehen hatte, sagte er: »Ach Frau, wie gut steht dir das, daß du Papst bist!« Sie saß aber ganz steif wie ein Baum und rührte und regte sich nicht. Da sagte er: »Frau, nun sei zufrieden, daß du Papst bist, denn nun kannst du doch nichts mehr werden.« - »Das will ich mir bedenken«, sagte die Frau. Damit gingen sie beide zu Bett. Aber sie war nicht zufrieden, und die Gier ließ sie nicht schlafen; sie dachte immer, was sie noch werden könnte.

Der Mann schlief recht gut und fest, er hatte am Tag viel laufen müssen. Die Frau aber konnte gar nicht einschlafen und warf sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere und dachte immer darüber nach, was sie wohl noch werden könnte, und konnte sich doch auf nichts mehr besinnen. Indessen wollte die Sonne aufgehen, und als sie das Morgenrot sah, setzte sie sich aufrecht im Bett hin und sah da hinein. Und als sie aus dem Fenster die Sonne so heraufkommen sah: Ha, dachte sie, kann ich nicht auch die Sonne und den Mond aufgehen lassen? - »Mann«, sagte sie und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen, »wach auf, geh hin zum Butt, ich will werden wie der liebe Gott.« Der Mann war noch ganz schlaftrunken, aber er erschrak so, daß er aus dem Bett fiel. Er meinte, er hätte sich verhört, rieb sich die Augen aus und sagte: »Ach Frau, was sagst du?« - »Mann«, sagte sie, »wenn ich nicht die Sonne und den Mond kann aufgehen lassen, das kann ich nicht aushalten, und ich habe keine ruhige Stunde mehr, daß ich sie nicht selbst kann aufgehen lassen.« Dabei sah sie ihn ganz böse an, daß ihn ein Schauder überlief. »Gleich geh hin, ich will werden wie der liebe Gott!« - »Ach Frau«, sagte der Mann und fiel vor ihr auf die Knie, »das kann der Butt nicht. Kaiser und Papst kann er machen. - Ich bitt dich, geh in dich und bleibe Papst.« Da überkam sie die Bosheit, die Haare flogen ihr so wild um den Kopf und sie schrie: »Ich halte das nicht aus! Und ich halte das nicht länger aus! Willst du hingehen?!« Da zog er sich die Hose an und lief davon wie unsinnig.

So nimmt unser Märchen seinen Lauf, den wir sicherlich mehr oder weniger aus unserem Leben kennen. Die Beschreibung ist psychologisch vom Feinsten, und man sollte beim Lesen auf die vielen kleinen Anspielungen achten, die das übliche Drama in unserem Geist sehr tiefgründig symbolisieren. Die Vernunft kämpft verzweifelt wie Don Quichotte gegen die Windmühlen, der Geist wird immer aufgewühlter und das besitzreiche Ego quält sich zunehmend. Was uns eine Freude im Leben sein sollte, wandelt sich in unerträgliche Qual. So nähern wir uns dem Höhepunkt unseres Märchens:

Draußen aber ging der Sturm und brauste, daß er kaum auf den Füßen stehen konnte. Die Häuser und die Bäume wurden umgeweht, und die Berge bebten, und die Felsenstücke rollten in die See, und der Himmel war ganz pechschwarz, und es donnerte und blitzte, und die See ging in so hohen schwarzen Wogen wie Kirchtürme und Berge, und hatten oben alle eine weiße Schaumkrone auf. Da schrie er, und konnte sein eigenes Wort nicht hören:

»Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will.«

»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach«, sagte er, »sie will werden wie der liebe Gott.« - »Geh nur hin, sie sitzt schon wieder in der Fischerhütte.«

Da sitzen sie noch bis auf den heutigen Tag.

Wow! Worte wie Donnerschläge und dann: Große Stille...

Mancher Zen-Koan würde hier blaß werden. Wir schütteln uns und sagen zu unseren Kindern: „Seht ihr, das hat man nun davon! Wer seine Gier maßlos übertreibt, verliert am Ende alles.“

Wenn man aber tiefer schaut, steht die Frage: Hat nun der Butt den Wunsch erfüllt oder nicht? Warum geht das Wünsche-Spiel nicht wieder von vorn los? Wo ist das gierige Ego plötzlich hin? Und wo die Vernunft? Hätte man nicht irgendeinen Skandal, einen Tod oder zumindest eine Strafe erwartet? Nein, die Frau ist nun Gott und sitzt mit ihrem Mann wieder in der ärmlichen Fischerhütte. Und das „bis auf den heutigen Tag“, als hätten sie sogar den Nektar der Unsterblichkeit gefunden wie die Götter in der indischen Geschichte vom Ozean-Quirlen. Das ist wirklich schwer zu verstehen und fordert eine tiefere Betrachtung. So fragen wir uns zunächst: Wer oder was ist Gott? Der große Herrscher, der noch mächtiger ist, prunkvoller lebt und mehr verehrt wird wie der Papst im Mittelalter? Oder der zufriedene Fischer, der einsam sitzt und in die Tiefe des klaren Wassers schaut? Sogar Jesus wird als Sohn eines einfachen Handwerkers beschrieben und hat seine Jünger unter armen Fischern gefunden. Buddha war ein Königssohn, der später als besitzloser Wandermönch lebte. Wo also ist Gott zu suchen? Und hat nun am Ende unseres Märchens die Vernunft gesiegt oder das gierige Ego?

Wenn man dieses wunderbare Märchen im Ganzen betrachtet, spielt sicherlich das Verdienst der reinen Vernunft, die bereits am Anfang der Geschichte das Wesen am Grunde des Lebens erkannt hat, eine zentrale und entscheidende Rolle. Den Rest der Geschichte könnte man als Schicksal oder Karma betrachten, das notwendigerweise erfahren und durchlebt werden muß. Das heißt nicht, daß jeder diesen Ego-Wahn so extrem ausleben muß wie Ilsebill. Man sollte aber auch nicht glauben, daß sich das gierige Ego einfach so wegdenken oder fortdiskutieren läßt. Das ist gewöhnlich ein harter Kampf, der uns immer wieder an den Rand der Verzweiflung treibt, wie das Märchen sehr realistisch beschreibt. Doch die Botschaft erklingt deutlich: Wenn die Vernunft beständig bleibt, als geduldiger und liebevoller Vermittler stets anwesend ist und vom Wahn der Gier nicht ergriffen und überwältigt wird, dann wird sie zum Schlüssel, das große Problem unseres gierigen Egos zu lösen. Und am Ende fragt man sich: „Wo ist das gierige Ego plötzlich hin, das Frau, Fürst, König, Kaiser und Papst war?“ Dann könnte aus der Tiefe ein Echo kommen und fragen: „War es in Wahrheit überhaupt da?“

Damit schließt sich der Kreis unseres Märchens. Wir sind wieder bei den Wellen, die sich wie Bänder durch die ganze Geschichte ziehen, und dem Butt als Wesen auf dem Grund vom Meer des Lebens. Wenn wir irgendwann wie arme Fischer an der See sitzen und das Spiel der Wellen beobachten, dann können vielleicht auch wir in die Tiefe sehen und erkennen, daß Wellen und Meer eins sind. Dann möge sich der verwunschene Butt erheben und auch zu unserer Welle sprechen: „Geh nur hin, du bist es schon...“ In Indien würde diese Geschichte hier vermutlich mit dem berühmten Sanskrit-Mantra enden: „Tat tvam asi.“ - „Das bist Du.“

Einige letzte Worte zu den einleitenden Bemerkungen dieses Märchens: Im Geschichtsunterricht und so manchem erfolgreichen Kinofilm wurde uns das Bild des Mittelalters recht einseitig vermittelt. Die Menschen, so meint man, waren zumeist arm, unterdrückt, ungebildet und von verheerenden Seuchen geplagt, weil sie ja nicht einmal wußten, was Hygiene ist. Nur langsam wandelt sich dieses überhebliche Stereotyp. Denn wer solche mehrschichtigen Geschichten erfinden kann, die so einfach zu erzählen und so tief im Wissen um das menschliche Bewußtsein und seine geistige Entwicklung sind, der kann nicht -mit Verlaub!- strohdoof gewesen sein. Sicher waren die damaligen Interessen nicht auf technische Entwicklung ausgerichtet, und die Menschen mußten körperlich wesentlich mehr leisten und auch aushalten, als wir heutzutage. Dafür hatten sie mehr geistigen Reichtum, denn offensichtlich brauchte man ihnen die Moral solcher Geschichten nicht extra erklären, sie erfaßten sie intuitiv, was uns nun heute wieder schwerfällt. Es war nicht prinzipiell besser oder schlechter damals - es war anders und keineswegs verachtenswert.


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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[KHM2] Kinder- und Hausmärchen, Gesammelt durch die Brüder Grimm, vollständige Ausgabe mit über 160 Holzschnitten von Ludwig Richter (1803-1884), Gondrom 1982
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[Faust 1] Johann Wolfgang von Goethe, Faust Teil 1, Eine Tragödie, Tübingen 1808.
[MHB] Das Mahabharata des Vyasa, 2014, www.mahabharata.pushpak.de
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de