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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Vorzeiten lebte eine alte Königin, die war eine Zauberin, und ihre Tochter war das schönste Mädchen unter der Sonne. Die Alte dachte aber auf nichts, als wie sie die Menschen ins Verderben locken könnte, und wenn ein Freier kam, so sprach sie, wer ihre Tochter haben wollte, müßte zuvor einen Bund (eine Aufgabe) lösen, oder er müßte sterben. Viele waren von der Schönheit der Jungfrau verblendet und wagten es wohl, aber sie konnten nicht vollbringen, was die Alte ihnen auflegte, und dann war keine Gnade, sie mußten niederknien, und das Haupt ward ihnen abgeschlagen.
Ein Königssohn, der hatte auch von der großen Schönheit der Jungfrau gehört und sprach zu seinem Vater: »Laßt mich hinziehen, ich will um sie werben.« - »Nimmermehr,« antwortete der König, »gehst du fort, so gehst du in deinen Tod.« Da legte der Sohn sich nieder und ward sterbenskrank, und lag sieben Jahre lang, und kein Arzt konnte ihm helfen. Als der Vater sah, daß keine Hoffnung mehr war, sprach er voll Herzenstraurigkeit zu ihm: »Zieh hin und versuche dein Glück! Ich weiß dir sonst nicht zu helfen.« Wie der Sohn das hörte, stand er auf von seinem Lager, ward gesund und machte sich fröhlich auf den Weg.
Nach den zwölf Brüdern, sieben Raben und sieben Zwergen möchten wir noch etwas über die sechs Diener dieses Märchens nachdenken, um vielleicht mehr Licht in die Mystik solcher Märchen zu bringen. Die Geschichte spricht zunächst von einer wunderschönen Jungfrau, welche durch ihre weiblichen Reize die Jünglinge scharenweise anzieht. Aber keiner konnte sie gewinnen, weil eine Zauberin über sie herrscht, die höchste Anforderungen stellt, so daß die Jünglinge zuerst ihr Herz und dann ihren Kopf verlieren. Das geschieht praktisch oft im Leben. Und welche Mutter wünscht sich nicht den Besten aller Männer zum Gemahl für ihre Tochter? Vor allem aber die große Mutter Natur. Und daß die Liebe wirklich krank machen kann und man sich gegen jede Vernunft in große Abenteuer stürzt, ist sicherlich auch bekannt. Für unsere Kinder erkling dann die Botschaft: Mit viel Mut, Beharrlichkeit und Liebe werden zur rechten Zeit die nötigen Helfer erscheinen, und damit ist im Leben alles erreichbar! Wunderbar...
Doch was ist das für eine große Kraft, die wir ‚Liebe’ nennen? Diese Kraft können wir auf verschiedenen Ebenen finden, von der physikalischen Anziehung zwischen den Plus- und Minuspolen einfacher Magnete über die Kinderliebe zu Vater und Mutter, die Liebe zum eigenen Körper, zu Besitztümern und Genüssen bis hin zum Laster und zur Sucht, aber auch die Liebe zum anderen Geschlecht bis hin zur reinen Gottesliebe. Die Liebe ist eine gewaltige Kraft, die uns alle bewegt. Und das gleiche Prinzip, das hier als die große Jugendliebe beschrieben wird, finden wir auch auf dem geistigen Weg zur wahren Liebe. Das macht solche Märchen für alle Altersklassen interessant, vom Kind bis zum weisen Greis.
Viele bereits bekannte Symbole enthüllen uns einen tieferen Sinn. So begegnet uns wieder ein König als herrschender Geist, sein Sohn als unsere männliche Seite, die zauberhafte Königin als das oft launenhafte Wesen der Natur und ihre Tochter als unsere weibliche Seite. Und diese beiden Polaritäten suchen in unserem Inneren nach ihrer Vereinigung in der mystischen Hochzeit. Doch der Weg dahin ist schwer und voller Hindernisse. Und nicht selten beginnt auch der geistige Weg mit einer langen Zeit großer Krisen, die verflixten sieben Jahre, wo uns kein Arzt mehr helfen kann. Und wenn dann alles ausweglos erscheint, und jede weltliche Hoffnung schwindet, dann sagt vielleicht auch unser Geist: „Nun erhebe Dich und geh den großen Weg zur Glückseligkeit! Dein gewöhnliches Wissen hilft Dir jetzt nicht mehr weiter.“
Es trug sich zu, als er über eine Heide zu reiten kam, daß er von weitem auf der Erde etwas liegen sah wie einen großen Heuhaufen, und wie er sich näherte, konnte er unterscheiden, daß es der Bauch eines Menschen war, der sich dahingestreckt hatte; der Bauch aber sah aus wie ein kleiner Berg. Der Dicke, wie er den Reisenden erblickte, richtete sich in die Höhe und sprach: »Wenn Ihr jemand braucht, so nehmt mich in Eure Dienste.« Der Königssohn antwortete: »Was soll ich mit einem so ungefügen Mann anfangen?« - »O,« sprach der Dicke, »das will nichts sagen, wenn ich mich recht auseinander tue, bin ich noch dreitausendmal so dick.« - »Wenn das so ist,« sagte der Königssohn, »dann kann ich dich brauchen, komm mit mir.« Da ging der Dicke hinter dem Königssohn her, und über eine Weile fanden sie einen andern, der lag da auf der Erde und hatte das Ohr auf den Rasen gelegt. Fragte der Königssohn: »Was machst du da?« - »Ich horche,« antwortete der Mann. »Wonach horchst du so aufmerksam?« - »Ich horche nach dem, was eben in der Welt sich zuträgt, denn meinen Ohren entgeht nichts, das Gras sogar hör ich wachsen.« Fragte der Königssohn: »Sage mir, was hörst du am Hofe der alten Königin, welche die schöne Tochter hat?« Da antwortete er: »Ich höre das Schwert sausen, das einem Freier den Kopf abschlägt.« Der Königssohn sprach: »Ich kann dich brauchen, komm mit mir.« Da zogen sie weiter und sahen einmal ein paar Füße da liegen und auch etwas von den Beinen, aber das Ende konnten sie nicht sehen. Als sie eine gute Strecke fortgegangen waren, kamen sie zu dem Leib und endlich auch zu dem Kopf. »Ei,« sprach der Königssohn, »Was bist du für ein langer Strick!« - »O,« antwortete der Lange, »das ist noch gar nichts, wenn ich meine Gliedmaßen erst recht ausstrecke, bin ich noch dreitausendmal so lang, und bin größer als der höchste Berg auf Erden. Ich will Euch gerne dienen, wenn Ihr mich annehmen wollt.« - »Komm mit,« sprach der Königssohn, »ich kann dich brauchen.« Sie zogen weiter und fanden einen am Weg sitzen, der hatte die Augen zugebunden. Sprach der Königssohn zu ihm: »Hast du blöde Augen, daß du nicht in das Licht sehen kannst?« - »Nein,« antwortete der Mann, »ich darf die Binde nicht abnehmen, denn was ich mit meinen Augen ansehe, das springt auseinander, so gewaltig ist mein Blick. Kann Euch das nützen, so will ich Euch gern dienen.« - »Komm mit,« antwortete der Königssohn, »ich kann dich brauchen.« Sie zogen weiter und fanden einen Mann, der lag mitten im heißen Sonnenschein und zitterte und fror am ganzen Leibe, so daß ihm kein Glied stillstand. »Wie kannst du frieren?« sprach der Königssohn, »Und die Sonne scheint so warm.« - »Ach,« antwortete der Mann, »meine Natur ist ganz anderer Art, je heißer es ist, desto mehr frier ich, und der Frost dringt mir durch alle Knochen: Und je kälter es ist, desto heißer wird mir: Mitten im Eis kann ich’s vor Hitze und mitten im Feuer vor Kälte nicht aushalten.« - »Du bist ein wunderlicher Kerl,« sprach der Königssohn, »aber wenn du mir dienen willst, so komm mit.« Nun zogen sie weiter und sahen einen Mann stehen, der machte einen langen Hals, schaute sich um und schaute über alle Berge hinaus. Sprach der Königssohn: »Wonach siehst du so eifrig?« Der Mann antwortete: »Ich habe so helle Augen, daß ich über alle Wälder und Felder, Täler und Berge hinaus und durch die ganze Welt sehen kann.« Der Königssohn sprach: »Willst du, so komm mit mir, denn so einer fehlte mir noch.«
Was auf der Erzählebene unseren Kindern so lustig und erstaunlich klingt, ruft natürlich förmlich nach einer tieferen geistigen Betrachtung. Wer sich mit Yoga beschäftigt hat, wird diese Diener vermutlich wiedererkennen. Zumindest werden im indischen Yoga-System bereits im Mahabharata ähnliche Fähigkeiten erwähnt, nämlich die acht Siddhis [MHB 12.317]. Nun war der Erzähler dieses Märchens sicherlich kein indischer Yogi, aber offensichtlich hat es auch hier in Europa Menschen mit solch tiefen Einsichten gegeben, welche ähnliche Erfahrungen nur mit anderen Begriffen beschrieben haben.
Praktisch kann jeder Mensch diese außergewöhnlichen oder sogar übernatürlichen Diener bzw. Fähigkeiten in seinem Inneren finden, soweit man dazu bereit ist. Die hier benutze Symbolik ist eng mit den bekannten Körperfunktionen verbunden. Das heißt: Der Dicke erinnert an eine grenzenlose Verdauung, wobei es nicht nur um materielle Nahrung geht, sondern vor allem auch um geistige Dinge, die oft noch viel schwerer zu ‚verdauen‘ sind. Denken wir an schreckliche Erinnerungen, Traumata oder auch einfache Beleidigungen, die wir oft lebenslang mit uns herumtragen. Und noch schwerer sind die gewöhnlichen Illusionen, die wir so sehr lieben. Der nächste Diener betrifft das Hören, das sich bis hin zur Hellhörigkeit entwickeln kann, so daß uns sehr subtile Dinge bewußt werden, die anderen Menschen verborgen bleiben. Der Lange erinnert an unsere Gedanken, die in einem Moment das ganze Universum durchwandern und große Tiefen erreichen können, soweit sie nicht eingemauert sind. Der vernichtende Blick erinnert an eine Sicht, die alles durchdringen und damit jede äußere Form auflösen kann. Damit sollte man natürlich sehr vorsichtig umgehen. Der Frostige ist vermutlich die Kraft, unsere Gefühle zu beherrschen, so daß wir sie sogar bewußt ins Gegenteil verwandeln können, nicht nur Hitze in Kälte oder Kälte in Hitze sondern auch Haß in Liebe oder Feinde in Freunde, was uns natürlich eine große Freiheit schafft. Zum Schluß kommt noch das Auge der Hell- oder Weitsicht, das alles erkennen und uns sicherlich ein guter Diener auf dem geistigen Weg sein wird. Denn ohne Weitsicht tuen wir oft Dinge, die zwar gut gemeint sind, sich aber langfristig ins Gegenteil verwandeln.
So betrachtet bekommt diese Ulkgeschichte voll seltsamer Symbole bereits eine tiefere Dimension. Es könnten also die außergewöhnlichen Fähigkeiten gemeint sein, die man auf dem geistigen Weg durch entsprechende Übung und Verdienste finden kann. Diese Fähigkeiten findet man natürlich mehr auf geistiger Ebene als auf körperlicher, so daß man auch von feinstofflichen Fähigkeiten spricht. Zumindest ist es ein normaler Effekt von Meditation, Stille und Gebet, daß die gewöhnlichen Sinne immer empfindlicher werden und Dinge wahrnehmen können, die anderen verborgen bleiben. Nun sind wir gespannt, wie diese besonderen Fähigkeiten verwendet werden:
Nun zog der Königssohn mit seinen sechs Dienern in die Stadt ein, wo die alte Königin lebte. Er sagte nicht, wer er wäre, aber er sprach: »Wollt Ihr mir Eure schöne Tochter geben, so will ich vollbringen, was Ihr mir auferlegt.« Die Zauberin freute sich, daß ein so schöner Jüngling wieder in ihre Netze fiel, und sprach: »Dreimal will ich dir einen Bund aufgeben, lösest du ihn jedesmal, so sollst du der Herr und Gemahl meiner Tochter werden.« - »Was soll das erste sein?« fragte er. »Daß du mir einen Ring herbeibringst, den ich ins Rote Meer habe fallenlassen.« Da ging der Königssohn heim zu seinen Dienern und sprach: »Der erste Bund ist nicht leicht, ein Ring soll aus dem Roten Meer geholt werden, nun schafft Rat.« Da sprach der mit den hellen Augen: »Ich will sehen, wo er liegt!« schaute in das Meer hinab und sagte: »Dort hängt er an einem spitzen Stein.« Der Lange trug sie hin und sprach: »Ich wollte ihn wohl herausholen, wenn ich ihn nur sehen könnte.« - »Wenn’s weiter nichts ist,« rief der Dicke, legte sich nieder und hielt seinen Mund ans Wasser: Da fielen die Wellen hinein wie in einen Abgrund, und er trank das ganze Meer aus, daß es trocken ward wie eine Wiese. Der Lange bückte sich ein wenig und holte den Ring mit der Hand heraus. Da ward der Königssohn froh, als er den Ring hatte, und brachte ihn der Alten. Sie erstaunte und sprach: »Ja, es ist der rechte Ring: Den ersten Bund hast du glücklich gelöst, aber nun kommt der zweite. Siehst du, dort auf der Wiese vor meinem Schlosse, da weiden dreihundert fette Ochsen, die mußt du mit Haut und Haar, Knochen und Hörnern verzehren: und unten im Keller liegen dreihundert Fässer Wein, die mußt du dazu austrinken; und bleibt von den Ochsen ein Haar und von dem Wein ein Tröpfchen übrig, so ist mir dein Leben verfallen.« Sprach der Königssohn: »Darf ich mir keine Gäste dazu laden? Ohne Gesellschaft schmeckt keine Mahlzeit.« Die Alte lachte boshaft und antwortete: »Einen darfst du dir dazu laden, damit du Gesellschaft hast, aber weiter keinen.«
Man sagt, diese Welt ist ein Rätsel, und wer es löst, der gewinnt die Unsterblichkeit. Das ist die große Herausforderung von Mutter Natur. Natürlich können wir diese Aufgaben auch oberflächlich verstehen, daß wir die materiellen Schätze aus den Tiefen des Meeres und der Erde holen sollen, welche die Natur dort versteckt hat, oder uns zu Leistungssportlern im Essen und Trinken entwickeln müssen. Betrachten wir es aber auf tieferer Ebene, so erinnert uns die erste Aufgabe vielleicht daran, die Einheit im Meer der Welt zu finden, die hier wieder als Ring symbolisiert wird. Dieses Meer ist rot wie die Liebe und die Leidenschaft. Die hohen Gedanken tragen uns und können die Einheit finden, wenn wir die oberflächlichen Gestaltungen und Ansichten, die wie Wellen auf dem Meer tanzen, verdauen, überwinden und durchdringen. Die zweite Aufgabe könnte sich auf den Karma-Berg beziehen, den wir mit Gedanken, Worten und Taten angesammelt haben und den es auf dem geistigen Weg der Reinigung zu verzehren und vor allem zu verdauen gilt. Auch hier geht es um fette Ochsen im Sinne unseres Egos und um jede Menge Wein im Sinne der Illusion und des Rausches.
Da ging der Königssohn zu seinen Dienern und sprach zu dem Dicken: »Du sollst heute mein Gast sein und dich einmal satt essen.« Da tat sich der Dicke voneinander und aß die dreihundert Ochsen, daß kein Haar übrigblieb, und fragte, ob weiter nichts als das Frühstück da wäre: Den Wein aber trank er gleich aus den Fässern, ohne daß er ein Glas nötig hatte, und trank den letzten Tropfen vom Nagel herunter. Als die Mahlzeit zu Ende war, ging der Königssohn zur Alten und sagte ihr, der zweite Bund wäre gelöst. Sie verwunderte sich und sprach: »So weit hat’s noch keiner gebracht, aber es ist noch ein Bund übrig,« und dachte »Du sollst mir nicht entgehen und wirst deinen Kopf nicht oben behalten.« »Heut abend,« sprach sie, »bring ich meine Tochter zu dir in deine Kammer, und du sollst sie mit deinem Arm umschlingen: und wenn ihr da beisammen sitzt, so hüte dich, daß du nicht einschläfst! Ich komme Schlag zwölf Uhr, und ist sie dann nicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.« Der Königssohn dachte: »Der Bund ist leicht, ich will wohl meine Augen offen behalten,« doch rief er seine Diener, erzählte ihnen, wie die Alte gesagt hatte, und sprach: »Wer weiß, was für eine List dahinter steckt, Vorsicht ist gut, haltet Wache und sorgt, daß die Jungfrau nicht wieder aus meiner Kammer kommt.« Als die Nacht einbrach, kam die Alte mit ihrer Tochter und führte sie in die Arme des Königssohns, und dann schlang sich der Lange um sie beide in einen Kreis, und der Dicke stellte sich vor die Türe, also daß keine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie beide, und die Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchs Fenster auf ihr Angesicht, daß er ihre wunderbare Schönheit sehen konnte. Er tat nichts als sie anschauen, war voll Freude und Liebe, und es kam keine Müdigkeit in seine Augen. Das dauerte bis elf Uhr, da warf die Alte einen Zauber über alle, daß sie einschliefen, und in dem Augenblick war auch die Jungfrau entrückt.
Die dritte Aufgabe erinnert an den perfekten Liebhaber, der nie müde wird. Doch wer es je versucht hat, weiß wahrscheinlich, daß man in der Natur kein unvergängliches Glück finden kann. Deswegen wollen wir auch hier lieber die geistige Ebene betrachten, und diese erinnert uns an die Selbsterkenntnis bezüglich der großen Frage: „Wer bin ich?“ Wer sich in Meditation übt, wird bald verstehen, was hier im Märchen auf romantisch-amüsante Weise beschrieben wird und daß es wirklich nicht so einfach ist, wie es der Königssohn zuerst vermutet. Im Gegenteil, es ist natürlich die schwerste der drei Aufgaben. Sicherlich braucht man schon viel Verdienst, damit uns Mutter Natur die Sicht auf unsere reine Seele in der Meditation wenigstens für ein paar Augenblicke gewährt. Dafür ist große Achtsamkeit gefordert, aber gewöhnlich schlafen wir schon nach kurzer Zeit ein oder wandern mit den Gedanken in die Welt hinaus. Dann ist es schon mal gut, wenn der Mond scheint und in diesem klaren Licht des Geistes die Schönheit unserer reinen Seele sichtbar wird. Aber die zauberhafte Illusion der Natur, die in Indien auch Maya genannt wird, ist schwer zu überwinden und überwältigt hier auch unseren Königssohn, obwohl er sicherlich schon sehr weit gekommen war.
Diese Aufgabe, das Bewußtsein wach zu halten, erinnert uns auch an ein Gleichnis in der Bibel, wo es um jeweils fünf Jungfrauen geht, die für unsere fünf Sinne stehen könnten, die mehr oder weniger Verdienst für das Licht des wachen Bewußtseins besitzen. Denn ohne dieses „Öl“ sitzt man im Dunkeln: „Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen Öl in ihren Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; geht aus ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die Klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen...“
Nun schliefen sie hart bis ein Viertel vor zwölf, da war der Zauber kraftlos, und sie erwachten alle wieder. »O Jammer und Unglück,« rief der Königssohn, »nun bin ich verloren!« Die treuen Diener fingen auch an zu klagen, aber der Horcher sprach: »Seid still, ich will horchen.« Da horchte er einen Augenblick und dann sprach er: »Sie sitzt in einem Felsen dreihundert Stunden von hier, und bejammert ihr Schicksal. Du allein kannst helfen, Langer, wenn du dich aufrichtest, so bist du mit ein paar Schritten dort.« - »Ja,« antwortete der Lange, »aber der mit den scharfen Augen muß mitgehen, damit wir den Felsen wegschaffen.« Da huckte der Lange den mit verbundenen Augen auf, und im Augenblick, wie man eine Hand umwendet, waren sie vor dem verwünschten Felsen. Alsbald nahm der Lange dem andern die Binde von den Augen, der sich nur umschaute, so zersprang der Felsen in tausend Stücke. Da nahm der Lange die Jungfrau auf den Arm, trug sie in einem Nu zurück, holte ebenso schnell auch noch seinen Kameraden, und eh es zwölfe schlug, saßen sie alle wieder wie vorher und waren munter und guter Dinge. Als es zwölf schlug, kam die alte Zauberin herbeigeschlichen, machte ein höhnisches Gesicht, als wollte sie sagen: »Nun ist er mein!« und glaubte, ihre Tochter säße dreihundert Stunden weit im Felsen. Als sie aber ihre Tochter in den Armen des Königssohns erblickte, erschrak sie und sprach: »Da ist einer, der kann mehr als ich!« Aber sie durfte nichts einwenden und mußte ihm die Jungfrau zusagen. Da sprach sie ihr ins Ohr: »Schande für dich, daß du gemeinem Volk gehorchen sollst und dir einen Gemahl nicht nach deinem Gefallen wählen darfst.«
Auch unser Königssohn besaß offensichtlich genügend Verdienst, daß seine Diener die Macht hatten, die reine Seele erneut zu finden, die wieder weit in den Tiefen der Welt unter den Bergen der Illusion verschwunden war. Darüber hinaus konnten sie sogar alle Hindernisse aus dem Weg räumen und sie ins Bewußtsein zurückzuholen. Man erkennt hier, welche Macht Achtsamkeit und Gedanken haben können. Und so gewinnt der Geist die reine Seele. Aber die Natur hat ihre eigenen Vorstellungen von Freiheit. So einfach läßt sie sich nicht gewinnen:
Da ward das stolze Herz der Jungfrau mit Zorn erfüllt und sann auf Rache. Sie ließ am andern Morgen dreihundert Malter Holz zusammenfahren und sprach zu dem Königssohn, die drei Bünde wären gelöst, sie würde aber nicht eher seine Gemahlin werden, bis einer bereit wäre, sich mitten in das Holz zu setzen und das Feuer auszuhalten. Sie dachte, keiner seiner Diener würde sich für ihn verbrennen, und aus Liebe zu ihr würde er selber sich hineinsetzen, und dann wäre sie frei. Die Diener aber sprachen »Wir haben alle etwas getan, nur der Frostige noch nicht, der muß auch daran!«, setzten ihn mitten auf den Holzstoß und steckten ihn an. Da begann das Feuer zu brennen und brannte drei Tage, bis alles Holz verzehrt war, und als die Flammen sich legten, stand der Frostige mitten in der Asche, zitterte wie Espenlaub und sprach: »Einen solchen Frost habe ich meine Lebtage nicht ausgehalten, und wenn er länger gedauert hätte, so wäre ich erstarrt.«
Es heißt, auf dem Yoga-Weg warten kurz vor dem Ziel große Gefahren. Eine Gefahr ist der stolze Jubel über den Sieg, der ein Feuer der Leidenschaft entfachen kann. Dafür ist es sicherlich gut, die Gefühle zu beherrschen und den leidenschaftlichen Stolz in kühle Gelassenheit zu verwandeln. Dann muß man wohl einfach nur sitzen und warten.
Nun war keine Aussicht mehr zu finden, die schöne Jungfrau mußte den unbekannten Jüngling zum Gemahl nehmen. Als sie aber nach der Kirche fuhren, sprach die Alte »Ich kann die Schande nicht ertragen.«, und schickte ihr Kriegsvolk nach, das sollte alles niedermachen, was ihm vorkäme, und ihr die Tochter zurückbringen. Der Horcher aber hatte die Ohren gespitzt und die heimlichen Reden der Alten vernommen. »Was fangen wir an?« sprach er zu dem Dicken, aber der wußte Rat, spie einmal oder zweimal hinter dem Wagen einen Teil von dem Meereswasser aus, das er getrunken hatte, da entstand ein großer See, worin die Kriegsvölker steckenblieben und ertranken. Als die Zauberin das vernahm, schickte sie ihre geharnischten Reiter, aber der Horcher hörte das Rasseln ihrer Rüstung und band dem einen die Augen auf, der guckte die Feinde ein bißchen scharf an, da sprangen sie auseinander wie Glas. Nun fuhren sie ungestört weiter, und als die beiden in der Kirche eingesegnet waren, nahmen die sechs Diener ihren Abschied und sprachen zu ihrem Herrn: »Eure Wünsche sind erfüllt, Ihr habt uns nicht mehr nötig, wir wollen weiterziehen und unser Glück versuchen.«
Wer das geschafft hat und seine Achtsamkeit bewahrt, kann auch alle anderen Angriffe der weltlichen Dämonen mit dem Wasser des Lebens, an das man sich erinnert, und mit der Einsicht, die alle Gegensätze auflöst, abwehren. Dieses Wasser, das der Dicke aus dem Meer der Welt getrunken, verdaut und für den geistigen Weg verwandelt hat, ist ein wunderbares Symbol. Ähnliches finden wir auch im indischen Epos Mahabharata, als der Heilige Agastya das Meer austrank, um den Göttern in ihrem Kampf gegen die Dämonen zum Sieg zu verhelfen [MHB 3.105].
Die zweite Gefahr ist, daß der Yogi an den übernatürlichen Fähigkeiten, die ihm bisher so gut gedient haben, festhält und anhaftet. Auch diese muß man zur rechten Zeit loslassen können. Das ist sehr wichtig auf dem geistigen Weg. Deshalb warnen gute Lehrer davor, sich auf dem geistigen Weg allzu große Hoffnungen auf übernatürliche Fähigkeiten zu machen, damit man nicht an den eigenen egoistischen Erwartungen wieder scheitern muß. Denn nicht jeder Mensch bedarf solcher Fähigkeiten, doch wenn sie zur rechten Zeit erscheinen, dann sollte man sie vernünftig verwenden, niemals damit prahlen, und wenn ihr Dienst getan ist, sie wieder loslassen. Das ist der Weg.
Eine halbe Stunde vor dem Schloß war ein Dorf, vor dem hütete ein Schweinehirt seine Herde. Wie sie dahin kamen, sprach er zu seiner Frau: »Weißt du auch recht, wer ich bin? Ich bin kein Königssohn, sondern ein Schweinehirt, und der mit der Herde dort, das ist mein Vater. Wir zwei müssen auch daran und ihm hüten helfen.« Dann stieg er mit ihr in das Wirtshaus ab, und sagte heimlich zu den Wirtsleuten, in der Nacht sollten sie ihr die königlichen Kleider wegnehmen. Wie sie nun am Morgen aufwachte, hatte sie nichts anzutun, und die Wirtin gab ihr einen alten Rock und ein Paar alte wollene Strümpfe, dabei tat sie noch, als wär’s ein großes Geschenk, und sprach: »Wenn nicht Euer Mann wäre, hätt ich’s Euch gar nicht gegeben.« Da glaubte sie, er wäre wirklich ein Schweinehirt, und hütete mit ihm die Herde und dachte: »Ich habe es verdient mit meinem Übermut und Stolz.« Das dauerte acht Tage, da konnte sie es nicht mehr aushalten, denn die Füße waren ihr wund geworden.
Da kamen ein paar Leute und fragten, ob sie wüßte, wer ihr Mann wäre. »Ja,« antwortete sie, »er ist ein Schweinehirt, und ist eben ausgegangen, mit Bändern und Schnüren einen kleinen Handel zu treiben.« Sie sprachen aber »Kommt einmal mit, wir wollen Euch zu ihm hinführen.« und brachten sie ins Schloß hinauf. Und wie sie in den Saal kam, stand da ihr Mann in königlichen Kleidern. Sie erkannte ihn aber nicht, bis er ihr um den Hals fiel, sie küßte und sprach: »Ich habe so viel für dich gelitten, da hast du auch für mich leiden sollen.« Nun ward erst die Hochzeit gefeiert, und der’s erzählt hat, wollte, er wäre auch dabeigewesen.
Die letzte große Aufgabe ist die Demut, um auch die letzten Reste von persönlichem Stolz, Dünkel und Übermut unserer Natur zu überwinden, die uns gewöhnlich an den Zauber der Illusion binden. Mit dieser Demut erschien der Königssohn bereits im Schloß der Königin und vermied es bedächtig, mit seiner Königswürde zu prahlen. Nun wird auch die junge Braut als unsere weibliche Hälfte geprüft und besteht diese schwere Prüfung. Erst jetzt kann die große mystische Hochzeit im Schloß des Vaters in wahrer Liebe gefeiert werden. Das große Ziel ist erreicht und die Gegensätze in der Wahrheit vereint.
Damit erinnert uns die Symbolik des ganzen Märchens auch an die berühmte Hochzeit in Kanaan: „Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen. Und da es an Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben nicht Wein. Jesus spricht zu ihr: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter spricht zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut. Es waren aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesetzt nach der Weise der jüdischen Reinigung, und ging in je einen zwei oder drei Maß. Jesus spricht zu ihnen: Füllet die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan. Und er spricht zu ihnen: Schöpfet nun und bringet's dem Speisemeister! Und sie brachten's. Als aber der Speisemeister kostete den Wein, der Wasser gewesen war, und wußte nicht, woher er kam (die Diener aber wußten's, die das Wasser geschöpft hatten), ruft der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: Jedermann gibt zum ersten guten Wein, und wenn sie trunken geworden sind, alsdann den geringeren; du hast den guten Wein bisher behalten. [Bibel, Johannes 2.2]“
Auch hier finden wir die große mystische Hochzeit, die Mutter, die den Geist herausfordert, der den Tod nicht fürchtet, die Diener und die fünf Sinne mit dem Denken als sechs Wasserkrüge für die Reinigung, die Veredlung des weltlichen Wassers in reinen Wein bis zum Nektar der Unsterblichkeit, die Vernunft als Speisemeister und schließlich die große Erkenntnis. Das ist der große Weg, der auch in unserem Märchen skizziert wird. In diesem Sinne wäre es wirklich zu wünschen, daß auch wir bei dieser großen Hochzeit dabei sein können...
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |