Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2019]

Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder liebhat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen, da rief sie alle sieben herbei und sprach: »Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, wenn er hereinkommt, so frißt er euch alle mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Pfoten werdet ihr ihn gleich erkennen.« Die Geißlein sagten: »Liebe Mutter, wir wollen uns schon in acht nehmen, Ihr könnt ohne Sorge fortgehen.« Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg.

Das ist wohl eines der bekanntesten Märchen und hat schon viele Kinder fasziniert. Die klassische Botschaft lautet, daß die Kinder die Tür nicht öffnen sollten, wenn sie allein zu Hause sind. Und hier spielen all unsere Ängste vor Betrügern, Einbrechern, Kindesentführern und ähnlichem eine große Rolle. Das Schutzschild für unsere Kinder sollte eine wohldosierte Angst vor dem Bösen sein, das hier in Form des wilden Wolfes versinnbildlicht wird, der kleine Kinder frißt. Dieser unberechenbare Wolf, über den es die wildesten Mythen gibt, steht damit im Gegensatz zu den niedlichen Geißlein unserer vertrauten Haustiere. Solche Ängste haben sicherlich in der Entwicklung unserer Kinder ihren nützlichen Platz bevor sich die Vernunft mit den nötigen Erfahrungen im Leben ausbildet. Die Gefahr besteht natürlich, daß man diese Ängste darüber hinaus noch bis ins Alter mit sich herumträgt, weil man es irgendwie verpaßt hat, diese Knoten zu lösen und auf eine tiefere Ebene vorzudringen. Das ging wohl auch früheren Generationen so, denn der Wolf wurde in Mitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert hartnäckig gejagt und mit der Zeit praktisch ausgerottet. Mittlerweile steht er unter strengem Naturschutz, aber die Angst vor dem Tier in den Köpfen der Menschen scheint ungebrochen zu sein.

Deshalb möchten wir nun versuchen, dieses Märchen etwas tiefer zu beleuchten, um vielleicht die äußere Symbolik des Wolfes zu durchdringen und den wahren Bösewicht zu finden, der damit gemeint ist. Auffällig ist zunächst die Mischung aus Tierfabel und Menschenwelt, denn eigentlich wohnen Ziegen im Stall und nicht in einem Haus mit Möbeln darin. Schon das läßt vermuten, daß die Tiere hier eine symbolische Rolle für animalische Wesen spielen, die in uns Menschen lebendig sind. Ähnliche Symbole finden wir auch in anderen Märchen, wie in Rotkäppchen oder Die sieben Raben. Und wenn wir nun versuchen, diese Tiersymbole in uns zu finden, so steht zunächst die Frage: Was gilt es in uns zu beschützen, und vor wem? Auch in uns finden wir eine Mutter, die sieben Kinder liebt, und denken an unser Ichbewußtsein, das die fünf Sinne mit dem Denken und der Vernunft liebt und natürlich beschützt. Und wenn sich unser Bewußtsein nach außen in die Welt richtet, also in den Wald geht, um Nahrung zu sammeln, dann geht es darum, die Tore unserer Sinne zu beschützen, daß sie nicht vom ‚Bösewicht‘ überwältigt werden. Jeder Sinn hat ein gewisses Sinnesbewußtsein, das darauf achten sollte, was wir sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen, denken und entscheiden. Und wer ist hier der ‚Bösewicht‘? Dazu wird gesagt: Man erkennt ihn an seinen unfreundlichen Worten und sündhaften Taten. So können wir annehmen, daß auch hier ähnlich wie der Wolf vom Rotkäppchen die unersättliche Sinnes-Begierde gemeint ist. Und wirklich, wenn uns diese Habgier einmal erfaßt hat, dann frißt sie uns mit Haut und Haaren auf, zuerst von außen und dann von innen. Damit wandelt sich unser Ichbewußtsein in ein gieriges Ego, das von Begierde, Haß und Illusion beherrscht wird. Und das erkennt man äußerlich an unseren Worten und Taten.

Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Haustür und rief: »Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.« Aber die Geißlein hörten an der rauhen Stimme, daß es der Wolf war. »Wir machen nicht auf!«, riefen sie: »Du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber deine Stimme ist rauh; du bist der Wolf.« Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide: Die aß er und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: »Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.« Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote in das Fenster gelegt, das sahen die Kinder und riefen: »Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du: du bist der Wolf.« Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: »Ich habe mich an den Fuß gestoßen, streich mir Teig darüber.« Und als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, so lief er zum Müller und sprach: »Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote.« Der Müller dachte: »Der Wolf will einen betrügen!«, und weigerte sich, aber der Wolf sprach: »Wenn du es nicht tust, so fresse ich dich.« Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, so sind die Menschen.

So klopft die Begierde immer wieder an unsere Tür und begehrt Einlaß, und das sogar mit List und Tücke, vor allem in unserer heutigen Welt, wo wir überall mit Werbung bombardiert werden. So lange unser Bewußtsein nicht zu Hause ist, sondern in der Welt umherwandert, ist die Gefahr besonders groß. Als Symbole werden hier vermutlich alte Hausheilmittel verwendet: Die Kreide für eine sanfte Stimme und der Brotteig gegen die Prellung. Zumindest hilft die Kreide gegen Sodbrennen und damit indirekt gegen eine rauhe Stimme, wenn nachts die Magensäure aufsteigt und den Kehlkopf reizt. Und der Sauerteig soll kühlend wirken. Symbolisch könnte es bedeuten, daß man sich künstlich um eine freundliche Stimme bemüht. Und der Händler, der ihm die Kreide zum Übertünchen der Stimme gibt, ist dann vermutlich unsere kleine Krämerseele, die für weltlichen Gewinn mit Freundlichkeit heuchelt und zu Hinterlist und Betrug neigt. Beim Bäcker denken wir an unseren Ehrgeiz, der mit Kreativität die Dinge gern so formt, wie wir sie haben möchten. Und der Müller erinnert an unsere Achtsamkeit, die in der Mühle des Lebens arbeiten sollte und in Form unseres Gewissens ein feines Gespür hat, daß vor der Illusion übermäßiger Begierde warnt. Doch wenn diese Achtsamkeit im Griff der Habgier ist, wird sie zur stolzen Eitelkeit, die unsere Taten gern mit dem Anschein der Tugend übertüncht und bekanntlich auch von Angst regiert wird. Damit kann der gierige Wolf sein Ziel erreichen:

Nun ging der Bösewicht zum drittenmal zu der Haustüre, klopfte an und sprach: »Macht mir auf, Kinder, euer liebes Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem von euch etwas aus dem Walde mitgebracht.« Die Geißleins riefen: »Zeig uns erst deine Pfote, damit wir wissen, daß du unser liebes Mütterchen bist.« Da legte er die Pfote ins Fenster, und als sie sahen, daß sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte, und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, das war der Wolf. Sie erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen: Eins nach dem andern schluckte er in seinen Rachen. Nur das jüngste in dem Uhrkasten, das fand er nicht. Als der Wolf seine Lust gebüßt hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen.

Wir lächeln vielleicht, aber praktisch ist es unvorstellbar schwer, sich gegen die tückische Begierde zu wehren. Und wenn sie einmal den Weg in unser Inneres gefunden hat, gibt es kein Halten mehr. Wie könnten sich die Sinne auch vor der Begierde verstecken? Das Gefühl flüchtet unter die harte Tischplatte, die vielleicht als Panzer dienen soll, der Geschmack in die Küche, wo gegessen wird, der Geruch in den Ofen, wo sonst der Duft von gekochtem Essen oder gebackenem Kuchen aufsteigt, das Gehör ins Bett, wo es unter dem dicken Kissen nichts mehr hören muß, das Auge in den Schrank, wo es dunkel ist, die Gedanken unter die Schüssel, worin gewöhnlich alle Wäsche gewaschen wird, und die Vernunft in den Uhrenkasten. Die Vernunft ist natürlich das jüngste Kind, weil sie auch in der menschlichen Entwicklung in uns zuletzt geboren wird. Die anderen Sinne sind einfach zu finden, das Gefühl unter dem Panzer, Geschmack und Geruch in der Küche, das Gehör unter dem Kissen, das Auge im dunklen Schrank, wo unsere schönen Kleider hängen, und die Gedanken unter der Waschschüssel, wo sie gern tätig sind und nebenbei viel Schaum schlagen. Hätte nun die Begierde auch die Vernunft verschluckt, dann wäre das Märchen hier sicherlich zu Ende gewesen. Denn wenn die Vernunft in uns stirbt, dann gibt es keine Hoffnung mehr auf ein zufriedenes und glückliches Leben.

Aber sie hat sich im Uhrenkasten versteckt. Was könnte das bedeuten? Dieser Kasten ist gewöhnlich der Resonanzraum für das Schlagwerk einer Uhr. Der Sinn ist heutzutage schwer zu verstehen, denn die Uhren läuteten früher nicht nur, um die Zeit zu verkünden, sondern auch, um die Menschen in die Gegenwart zu rufen. Deshalb gab es sogar in den Wohnungen viele Uhren mit Schlagwerk. Der Gong rüttelte die Menschen aus ihren Alltagssorgen und Tagträumen wach und erinnerte sie auch an die Gegenwart Gottes. Diese beständige Achtsamkeit könnte hier gemeint sein, welche die Vernunft vor der Begierde retten kann. Ähnliches finden wir auch in der indischen Tradition, wie zum Beispiel Dadaji berichtet: „Doch damit die Gegenwärtigkeit dieser Erkenntnis nicht verschwindet, mußte König Bharat den ganzen Tag lang daran erinnert werden. Er hatte dafür Diener, die aller fünfzehn Minuten eine Glocke läuteten und riefen: „Achtung, Achtung, bleib wach, oh Bharat!“ [Aptavani 1.8]“

Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Haustüre stand sperrweit auf: Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgend waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander beim Namen, aber niemand antwortete. Endlich, als sie an das jüngste kam, da rief eine feine Stimme: »Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten.« Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, daß der Wolf gekommen wäre und die andern alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken, wie sie über ihre armen Kinder geweint hat.

Auch wenn wir es heutzutage gern vermeiden wollen, aber irgendwann richten wir unser Bewußtsein wieder nach innen und erkennen das Chaos in unserem Geist, wo die Begierde gewütet hat. Die Sinne gehorchen uns nicht mehr, wenn wir sie rufen, weil sie nun unter der Herrschaft der Begierde und dem gierigen Ich-Ego stehen. Das ist eine ernste Sache, denn die Sinne sind unsere Fenster in die Welt. Wenn der Wolf seine schwarzen Pfoten auf diese Fenster legt und sie von der Begierde beherrscht und beschmiert werden, dann sehen wir bald nur noch das, was uns die Habgier darauf malt. So versinken wir in Illusion und verlieren jegliche Wahrhaftigkeit. Damit sind wir innerlich so gut wie tot und leben nur noch äußerlich. Und das ist wirklich ein großer Jammer, wenn es innerlich immer dunkler wird und schreckliche Depressionen drohen. Dann können wir nur noch hoffen, daß zumindest die Vernunft noch irgendwo versteckt ist und auf unseren Ruf antwortet.

Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum und schnarchte, daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und sah, daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. »Ach Gott,« dachte sie, »sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?« Da mußte das Geißlein nach Haus laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden gelitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter und hüpften wie ein Schneider, der Hochzeit hält. Die Alte aber sagte: »Jetzt geht und sucht Wackersteine, damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt.« Da schleppten die sieben Geißleins in aller Eile die Steine herbei und steckten sie ihm in den Bauch, so viel sie hineinbringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in aller Geschwindigkeit wieder zu, daß er nichts merkte und sich nicht einmal regte.

Nun wird es richtig spannend. Gibt es wirklich einen Weg, die unersättliche Begierde in uns zu besiegen und die Sinne wieder zu befreien? Und so lesen wir: Zuerst sollte man mit Hilfe der Vernunft die Begierde finden, am besten, wenn sie gerade schläft. Dann kann man sie beobachten und erkennt, daß sie unsere Sinne lebendig verschluckt hat. Nun holt die Vernunft die nötigen Mittel, damit das Bewußtsein die Sinne wieder befreien kann. Diese seltsame Operation erinnert an eine analytische Meditation, wo man mit geschickten Mitteln ein Problem seziert, zum Kern vordringt und alles wieder zum Ganzen zusammenfügt. Und wenn schließlich die Sinne mit dem Denken befreit sind, kann auch die wahre Liebe erwachen. Aber was geschieht nun mit dem tierischen Wesen? Man kann es offensichtlich nicht einfach töten und irgendwo liegenlassen. Wie auch das Rotkäppchen die Steine holen mußte, so sind es hier die sieben Sinne, welche die Steine heranschleppen und damit den Bauch des Wolfes füllen. Was sind das für Steine? Es müßte irgendetwas sein, wovon sich unsere Begierde nicht mehr ernähren kann und vergeht. Und weil sie sich gewöhnlich von vergänglichen Dingen ernährt, denken wir hier an etwas Unvergängliches und Ewiges, wofür der Stein als Symbol verwendet wird. Entsprechend wurde im Mittelalter viel vom „Stein der Weisen“ gesprochen, der als Summum Bonum (höchstes Ziel) und Allheilmittel das Unedle in etwas Edles sowie unser niederes Bewußtsein in ein höheres verwandeln kann, also auch das gierige Ich-Ego in ein reines Bewußtsein oder das sogenannte Höchste Selbst. Damit erinnert dieser Stein der Weisen an einen geistigen Prozeß der Erkenntnis, vielleicht sogar an die im Yoga übliche Selbsterkenntnis, über die wir zum Beispiel in der indischen Ashtavakra-Gita lesen:
„In der Welt der vielfältigen Geschöpfe, zwischen Brahma und dem kleinsten Grashalm, hat nur die Selbsterkenntnis die Kraft, dem Genuß und dem Leiden tiefgründig zu entsagen... Ohne "Ich" ist Befreiung. Wo das "Ich" wirkt, ist Bindung. Mit dieser Erkenntnis schwindet beides, das Begehren und das Hassen im Leben... Durch Selbsterkenntnis erreicht man Zufriedenheit, erreicht man Seligkeit, erreicht man das Höchste Sein.“

Diese mystische Erkenntnis des Selbst oder auch von Gott oder der Wahrheit geschieht nicht nur irgendwo im Denken oder der Vernunft, sondern erstreckt sich über alle Sinne auf unsere gesamte Wahrnehmung, unser gesamtes Wesen und unseren ganzen Kosmos. Damit ist es sicherlich kein Zufall, daß hier alle Sinne mithelfen müssen, um den „Stein der Weisen“ zu finden, der alles zu Gold bzw. ewiger Wahrheit macht. Dieses vollkommen reine Wesen aller Dinge, das die Welt im Innersten zusammenhält, dieses Wahre, Ewige und Unvergängliche, ist für unser gieriges Ego völlig unerträglich, weshalb es damit auch untergehen muß. Denn angesichts der Wahrheit kann keine Illusion bestehen.

So könnte auch das nebenbei erwähnte Abendbrot auf das biblische Abendmahl als letzte vergängliche Mahlzeit anspielen, und der Schneider mit seiner Hochzeit erinnert an einen wahrhaft armen Menschen und seine Vereinigung im Höchsten Selbst. Denn die Befreiung von der Begierde durch Selbsterkenntnis oder den „Stein der Weisen“ ist wirklich keine kleine Sache, die man so nebenbei im Leben erlangt. Sie mag sogar das Höchste sein, was der Mensch überhaupt erreichen kann, nämlich die Wahrheit zu finden und damit die große Erlösung von den Zwängen der Natur.

Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine, und weil ihm die Steine im Magen so großen Durst erregten, so wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Als er aber anfing zu gehen und sich hin und her zu bewegen, so stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und rappelten. Da rief er:

»Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?
Ich meinte, es wären sechs Geißelein, so sind’s lauter Wackerstein.«

Und als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren Steine hinein und er mußte jämmerlich ersaufen. Als die sieben Geißlein das sahen, da kamen sie herbeigelaufen, riefen laut »Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!« und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum.

Auch hier wird wieder die Gier des Wolfes angesprochen, dieser unersättliche Durst, den er am Brunnen der Welt zu stillen versucht. Das ist der leidvolle Weg eines gierigen Egos, das mit Begierde, Haß und Illusion alles in sich hineinstopft, ohne zu kauen und sinnvoll zu verdauen, weil seine inneren Sinne tot bzw. taub sind und auch die Vernunft kaum noch arbeitet. Dann werden Hunger und Durst immer größer, und wir werden nicht nur körperlich immer schwerer, sondern vor allem geistig. Und früher wußte man: Mit dieser großen Last kann natürlich niemand in den Himmel aufsteigen. Man wird hinabsinken in die niederen Welten bis in die Hölle, wo die versäumte Verdauung im Feuer des Leidens erzwungen wird. Das sind alles Symbole, die wir im Kleinen und Großen in uns selbst und draußen in der Welt erkennen und erfahren können.

Wenn schließlich die Begierde in uns besiegt ist, entsteht spontan eine große Freude, die man auch Glückseligkeit nennt. Und die befreiten Sinne tanzen unbeschwert und frei mit ihrer Mutter, dem reinen Bewußtsein, um den mystischen Brunnen, aus dem nun das berühmte Wasser des ewigen Lebens quellen könnte, das den Durst auf ewig stillt.


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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[Aptavani 1] Ambalal Muljibhai Patel, 1983, Deutsche Übersetzung unter www.pushpak.de
[2019] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de