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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2019]
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herrgott: »Dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen: bei ihm will ich übernachten.« Der Reiche, als er an seine Türe klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche. Der Herr antwortete: »Ich bitte um ein Nachtlager.« Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach: »Ich kann Euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht Euch anderswo ein Auskommen.« Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen.
Der Begriff „Gott“ ist wohl das geheimnisvollste Erbe, das wir von unseren Vorfahren übernommen haben. Viele sprechen davon, aber keiner kann sagen, was es eigentlich ist. Im Grunde geht es natürlich um die Wahrheit, die der Mensch über viele tausend Jahre in einem lebendigen Geist gesucht hat, um die Welt um sich herum zu erklären. Erst in den letzten Jahrhunderten begannen die modernen Menschen, die Wahrheit in toter Materie vor allem äußerlich zu suchen, und damit verschwand auch der lebendige Gottesbegriff mehr und mehr aus unserem Leben. Interessanterweise begann damit eine andere Entwicklung, die sich in unserer technischen Revolution verkörperte. Das ist sicherlich kein Zufall, denn unsere Weltanschauung ist natürlich eng mit unserem Denken und Handeln verbunden. Nun wollen wir hoffen, daß auch diese Entwicklung nur eine Runde auf der ewigen Spirale ist und bald auch die lebendigen Begriffe von ‚Geist‘ und ‚Gott‘ wieder einen gebührenden Platz in unserem Weltbild finden. Das mag auch mit dem ersten Satz gemeint sein, daß der liebe Gott früher noch lebendig unter den Menschen auf der Erde wandelte und noch nicht irgendwo weit weg gedacht wurde, in den Himmel verbannt oder ins Reich des Aberglaubens.
Die schöne Symbolik, daß Gott an unser Haus klopft, um hereingelassen zu werden, ist in den Märchen weitverbreitet. Sie deutet einerseits auf die heilige Gastfreundschaft hin, daß man in jedem Gast Gott sehen sollte, und anderseits auf unser eigenes Wesen, daß wir den Geist Gottes in uns hereinlassen sollten. Schon Meister Eckhart sprach dazu: „Denn darin liegt ein großes Übel, daß der Mensch sich Gott in die Ferne rückt; denn, ob der Mensch nun in der Ferne oder in der Nähe wandele: Gott geht nimmer in die Ferne, er bleibt beständig in der Nähe; und kann er nicht drinnen bleiben, so entfernt er sich doch nicht weiter als bis vor die Tür. [Eckhart S.78]“
Entsprechend lesen wir dann auch in diesem Märchen, wie sich unser materieller Reichtum mit der entsprechenden Anhaftung an die äußeren Dinge auf unsere Ansichten und Verhaltensweisen auswirkt, so daß viele Menschen auch heutzutage kaum etwas Geistiges an sich heranlassen und noch weniger in sich hinein. Erst wenn ihre materielle Welt durch Krankheit, Verlust oder andere Leiden unerträglich bedroht wird, kann sich eine Tür öffnen, um etwas Höheres hereinzulassen.
Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken und ging hinüber zu dem kleinen Haus. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte der Arme schon sein Türchen auf und bat den Wandersmann einzutreten. »Bleibt die Nacht über bei mir,« sagte er, »es ist schon finster, und heute könnt Ihr doch nicht weiterkommen.« Das gefiel dem lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich’s bequem machen und vorlieb nehmen, sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie von Herzen gerne. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein wenig Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott nieder und aß mit ihnen, und es schmeckte ihm die schlechte Kost gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei. Nachdem sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann und sprach: »Hör, lieber Mann, wir wollen uns heute nacht eine Streu machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen und ausruhen kann: Er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird einer müde.« - »Von Herzen gern,« antwortete er, »ich will’s ihm anbieten,« ging zu dem lieben Gott und bat ihn, wenn’s ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Lager nicht nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich tat und sich in ihr Bett legte: Sich selbst aber machten sie eine Streu auf die Erde. Am andern Morgen standen sie vor Tag schon auf und kochten dem Gast ein Frühstück, so gut sie es hatten. Als nun die Sonne durchs Fensterlein schien und der liebe Gott aufgestanden war, aß er wieder mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen.
Man sieht hier, daß es arme Menschen in manchen Dingen wesentlich einfacher haben. So sagt auch das Sprichwort: „Mit wenig zufrieden zu sein ist schwer, aber mit viel zufrieden zu sein, ist noch viel schwerer.“ Im praktischen Leben geht es hier natürlich vor allem um die geistige Armut, das heißt, nicht an persönlichem Besitz anzuhaften. Ansonsten könnte es sogar ein Bettelmönch schaffen, an seiner Bettelschale mehr anzuhaften als ein Großunternehmer an seiner Firma. So lesen wir hier vom großen Ideal der Armut, nämlich mit allen Wesen selbstloses Mitgefühl zu haben und bereitwillig alles Gewünschte hinzugeben. Wie schwer das im Leben vor allem in unserer materiell reichen Welt ist, hat jeder sicherlich schon selbst erfahren. Dann fragt man sich vielleicht: Sollte man dem Bettler etwas geben, obwohl man bereits ahnt, daß es nur Dummfang ist oder das Geld sofort in Alkohol fließt? Spendet man Hilfsorganisationen, die damit Millionen-Gewinne machen? Und ist Geld wirklich ein Allheilmittel, das langfristig Gutes bringt? Solche Fragen sind oft schwer zu beantworten, vor allem, solange man von der Spende noch einen besonderen Gewinn erwartet und eigentlich ein moralisches Geschäft daraus macht: Ich gebe Geld und bekomme dadurch ein gutes Gewissen. Ja, das ist wirklich nicht einfach und erinnert uns an den berühmten Spruch aus der Bibel: „Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich.“ Man könnte es vielleicht auch so übersetzen: „Gib mit Vernunft und Mitgefühl und nicht mit egoistischer Absicht!“
Hier kommt der Vater, das heißt der herrschende Geist ins Spiel, der gerade solche Gaben belohnt, die unser Ego schwächen oder zumindest nicht anwachsen lassen. Dazu gehört ein großes Vertrauen, denn sobald man einen persönlichen Gewinn erwartet, hat man in diesem Spiel schon verloren. So geschah es dem gierigen Reichen in unserem Märchen, der seinen Besitz festhalten wollte. Und nun lesen wir, was den demütigen Armen geschieht:
Als er in der Türe stand, kehrte er sich um und sprach: »Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen.« Da sagte der Arme: »Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit, und daß wir zwei, solang wir leben, gesund dabei bleiben und unser notdürftiges tägliches Brot haben; für’s dritte weiß ich mir nichts zu wünschen.« Der liebe Gott sprach: »Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?« - »O ja,« sagte der Mann, »wenn ich das auch noch erhalten kann, so wär mir’s wohl lieb.« Da erfüllte der Herr ihre Wünsche, verwandelte ihr altes Haus in ein neues, gab ihnen nochmals seinen Segen und zog weiter.
Die armen Leute erwarteten keinen Gewinn, und so werden ihnen drei Wünsche gewährt. Glaubt heutzutage noch jemand an solche Wünsche? Na, zumindest wünschen wir uns gegenseitig noch alles Gute zu Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten. Aber glauben wir noch an die wirkende Kraft der Gedanken? Gewöhnlich sind wir nur ein Spielball unserer Gedanken. Und so gehen manche Wünsche in Erfüllung und manche auch nicht.
Doch wir alle wissen aus alltäglicher Erfahrung: Die Kraft unserer Gedanken kann den Körper bewegen, gesund erhalten, aber auch krank machen. Dann spricht man von einer psychosomatischen Erkrankung. Doch wenn ein Patient in gleicher Weise mit Gedankenkraft seine Heilung versucht, dann gelingt es gewöhnlich nicht. Warum? Wir vergessen bei der Gedankenkraft oft das Wichtigste, und das ist das sogenannte Verdienst. Wenn die nötigen Ursachen nicht existieren, kann auch der härteste Wille keine Wirkung erzwingen. Hier herrscht das gleiche Gesetz von Ursache und Wirkung, wie es auch in der Physik erklärt wird. So hatten wohl die armen Leute in unserem Märchen das nötige Verdienst, um die drei Wünsche zu ihrem großen Glück gewährt zu bekommen. Und wie erreicht man dieses nötige Verdienst? In Indien spricht man vom sogenannten Karma, das wir im Leben durch Gedanken, Worte und Taten ansammeln. Praktisch sind es geistige Anlagen, ein Potential ähnlich einer Batterie, die man auflädt, damit sich unsere Wünsche erfüllen können. Dafür gehen wir heutzutage viele lange Jahre in die Schule und bemühen uns im Beruf. Auf diesem Weg werden vor allem Egoismus, Begierde und andere Leidenschaften aufgeladen, womit sich unsere vielen Wünsche nach materiellem Reichtum erfüllen lassen. Doch die alten Märchen sprechen noch von einer anderen Art des Verdienstes, den man auf dem Weg der altbekannten Tugenden von Demut, Zufriedenheit, Mitgefühl, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit erreichen kann. Zu dieser geistigen Verbindung zwischen Verdienst und Glück schreibt auch Goethe in [Faust II]:
Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.
So bildet sich auch der Reiche in unserem Märchen ein, etwas zu besitzen, das andere nicht besitzen. Nur diese Einbildung macht ihn reich. Und dazu schaut er durch das Fenster seiner Sinne auf den Armen, der ihm „gegenüber“ wohnt. Eine seltsame Freude, wovon sich unser Ego ernährt, die im Strom der Zeit schnell vergänglich ist.
Es war schon voller Tag, als der Reiche aufstand. Er legte sich ins Fenster und sah gegenüber ein neues reinliches Haus mit roten Ziegeln, wo sonst eine alte Hütte gestanden hatte. Da machte er große Augen, rief seine Frau herbei und sprach: »Sag mir, was ist geschehen? Gestern abend stand noch die alte elende Hütte, und heute steht da ein schönes neues Haus. Lauf hinüber und höre, wie das gekommen ist.« Die Frau ging und fragte den Armen aus: Er erzählte ihr: »Gestern abend kam ein Wanderer, der suchte Nachtherberge, und heute morgen beim Abschied hat er uns drei Wünsche gewährt, die ewige Seligkeit, Gesundheit in diesem Leben und das notdürftige tägliche Brot dazu, und zuletzt noch statt unserer alten Hütte ein schönes neues Haus.« Die Frau des Reichen lief eilig zurück und erzählte ihrem Manne, wie alles gekommen war. Der Mann sprach: »Ich möchte mich zerreißen und zerschlagen: Hätte ich das nur gewußt! Der Fremde ist zuvor hier gewesen und hat bei uns übernachten wollen, ich habe ihn aber abgewiesen.« - »Eil dich,« sprach die Frau, »und setze dich auf dein Pferd, so kannst du den Mann noch einholen, und dann mußt du dir auch drei Wünsche gewähren lassen.«
Verdienst und Glück bleiben in der Welt nicht verborgen. Und dafür hat uns Mutter Natur den Neid gegeben, damit wir auch danach streben und das gewinnen wollen, was wir an Gutem bei anderen sehen. Die große Frage ist aber: Mit welchen Mitteln? Auch hier nimmt uns die Natur in die Lehre und führt uns mit entsprechenden Erfahrungen. So versucht nun der Reiche, die drei Wünsche zu erzwingen. Kann das funktionieren? Kann man Gott zwingen? Ja und Nein. Das heißt, wenn man die nötigen Ursachen schafft, kann man sogar Gott zwingen.
Meister Eckhart sprach dazu: „Mir kam bisweilen der Gedanke, daß der Mensch in der Zeitlichkeit dahin zu kommen vermag, Gott zwingen zu können. Stünde ich hier oben und spräche zu einem: »Komm herauf !«, das wäre schwer (für ihn). Sagte ich aber: »Setze dich dort nieder!«, das wäre leicht. So tut‘s Gott. Wenn sich der Mensch demütigt, kann Gott in seiner eigenen Güte sich nicht enthalten, sich in den demütigen Menschen zu senken und zu gießen, und dem allergeringsten teilt er sich am allermeisten mit und gibt sich ihm völlig. Was Gott gibt, das ist sein Sein, und sein Sein ist seine Gutheit und seine Gutheit ist seine Liebe. [Eckhart S.259]“
Dieses Thema zieht sich auch durch viele alte indische Geschichten, und auch dort geht es vor allem um Buße und Askese, womit man sich alle Wünsche erfüllen kann. Ein interessantes Beispiel ist die Geschichte im Ramayana von Ravana, der härteste Askese übte und sogar seinen Körper opferte, um seinen großen Wunsch nach der Weltherrschaft zu erfüllen. Dabei opferte er vor allem seine Köpfe, von denen er mehrere hatte [Ramayana 7.10]. Wir würden sagen: Typischer Kopfmensch! Das ist eine höchst denkwürdige Symbolik. Denn das Gleiche versuchen wir heutzutage auf materiellem Gebiet. Natürlich funktioniert das, aber solange die geistige Grundlage nicht verläßlich ist, heißt es, daß all diese Wünsche auf Sand gebaut werden, wie die Weltherrschaft von Ravana.
Der Reiche befolgte den guten Rat, jagte mit seinem Pferd davon und holte den lieben Gott noch ein. Er redete fein und lieblich und bat, er möcht’s nicht übelnehmen, daß er nicht gleich wäre eingelassen worden, er hätte den Schlüssel zur Haustüre gesucht, derweil wäre er weggegangen: Wenn er des Weges zurückkäme, müßte er bei ihm einkehren. »Ja,« sprach der liebe Gott, »wenn ich einmal zurückkomme, will ich es tun.« Da fragte der Reiche, ob er nicht auch drei Wünsche tun dürfte wie sein Nachbar. Ja, sagte der liebe Gott, das dürfte er wohl, es wäre aber nicht gut für ihn, und er sollte sich lieber nichts wünschen. Der Reiche meinte, er wollte sich schon etwas aussuchen, das zu seinem Glück gereiche, wenn er nur wüßte, daß es erfüllt würde. Sprach der liebe Gott: »Reit heim, und drei Wünsche, die du tust, die sollen in Erfüllung gehen.«
So kommt es nun, daß Gott auch dem Reichen drei Wünsche gewährt, aber schon weiß, daß ihm das nötige Verdienst und die geistige Reinheit fehlen, damit ihm die Wünsche wirklich Glück bringen. Deshalb ist es manchmal wirklich besser, wenn unsere Wünsche unerfüllt bleiben, ähnlich wie bei kleinen Kindern, deren Vernunft noch nicht reif ist. Auch ihnen sollte man nicht jeden Wunsch erfüllen, sonst erzieht man sich kleine Nimmersatts, die dann immer größer werden. Davon gibt es sicherlich schon genug in unserer Welt, die mit viel rationalem Verstand aber wenig Vernunft das große Glück im Leben erzwingen wollen.
Nun hatte der Reiche, was er verlangte, ritt heimwärts und fing an nachzusinnen, was er sich wünschen sollte. Wie er sich so bedachte und die Zügel fallenließ, fing das Pferd an zu springen, so daß er immerfort in seinen Gedanken gestört wurde und sie gar nicht zusammenbringen konnte. Er klopfte ihm an den Hals und sagte: »Sei ruhig, Liese,« aber das Pferd machte aufs neue Männerchen. Da ward er zuletzt ärgerlich und rief ganz ungeduldig: »So wollt ich, daß du den Hals zerbrächst!« Wie er das Wort ausgesprochen hatte, plump, fiel er auf die Erde, und das Pferd lag tot und regte sich nicht mehr. Damit war der erste Wunsch erfüllt. Weil er aber von Natur geizig war, wollte er das Sattelzeug nicht im Stich lassen, schnitts ab, hing’s auf seinen Rücken, und mußte nun zu Fuß gehen. »Du hast noch zwei Wünsche übrig,« dachte er und tröstete sich damit. Wie er nun langsam durch den Sand dahinging und zu Mittag die Sonne heiß brannte, ward’s ihm so warm und verdrießlich zumut: Der Sattel drückte ihn auf den Rücken, auch war ihm noch immer nicht eingefallen, was er sich wünschen sollte. »Wenn ich mir auch alle Reiche und Schätze der Welt wünsche,« sprach er zu sich selbst: »So fällt mir hernach noch allerlei ein, dieses und jenes, das weiß ich im voraus. Ich will’s aber so einrichten, daß mir gar nichts mehr übrig zu wünschen bleibt.« Dann seufzte er und sprach: »Ja, wenn ich der bayerische Bauer wäre, der auch drei Wünsche frei hatte, der wußte sich zu helfen, der wünschte sich zuerst recht viel Bier, und zweitens so viel Bier, als er trinken könnte, und drittens noch ein Faß Bier dazu.« Manchmal meinte er, jetzt hätte er es gefunden, aber hernach schien’s ihm doch noch zu wenig. Da kam ihm so in die Gedanken, was es seine Frau jetzt gut hätte, die säße daheim in einer kühlen Stube und ließe sich’s wohl schmecken. Das ärgerte ihn ordentlich, und ohne daß er’s wußte, sprach er so hin: »Ich wollte, die säße daheim auf dem Sattel und könnte nicht herunter, statt daß ich ihn da auf meinem Rücken schleppe!« Und wie das letzte Wort aus seinem Munde kam, so war der Sattel von seinem Rücken verschwunden, und er merkte, daß sein zweiter Wunsch auch in Erfüllung gegangen war. Da ward ihm erst recht heiß, er fing an zu laufen und wollte sich daheim ganz einsam in seine Kammer hinsetzen und auf etwas Großes für den letzten Wunsch sinnen. Wie er aber ankommt und die Stubentür aufmacht, sitzt da seine Frau mittendrin auf dem Sattel und kann nicht herunter, jammert und schreit. Da sprach er: »Gib dich zufrieden, ich will dir alle Reichtümer der Welt herbeiwünschen, nur bleib da sitzen.« Sie schalt ihn aber einen Schafskopf und sprach: »Was helfen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich auf dem Sattel sitze? Du hast mich daraufgewünscht, du mußt mir auch wieder herunterhelfen.« Er mochte wollen oder nicht, er mußte den dritten Wunsch tun, daß sie vom Sattel ledig wäre und heruntersteigen könnte; und der Wunsch ward alsbald erfüllt. Also hatte er nichts davon als Ärger, Mühe, Scheltworte und ein verlornes Pferd: Die Armen aber lebten vergnügt, still und fromm bis an ihr seliges Ende.
Es wird nun sehr anschaulich beschrieben, wie sich die Gedanken des Reichen in die oberflächlichen Probleme der Welt verstricken und nicht zum Großen finden können, das uns wirklich reich und glücklich macht. Wer die Gedanken nicht zügeln kann, dem werden sie zum Feind. Dann verlieren wir unsere Vernunft, die uns leicht tragen könnte, wie der Mann sein Pferd verliert, und müssen mit dem schweren Ego auf dem Rücken mühsam zu Fuß gehen. Denn was nützt ein Sattel ohne Pferd? Was nützt der Wille ohne Verdienst oder das Denken ohne Vernunft?
Natürlich ist uns die Symbolik des Pferdes heutzutage kaum noch geläufig. An seine Stelle ist das Auto getreten, das nun zum Inbegriff der Freiheit wurde. Der Sattel ist für uns der bequeme Autositz mit Gurt und Airbag, der uns Sicherheit und Macht verspricht. So könnte der Sattel auch in diesem Märchen ein Symbol für unser Ego sein, das alles beherrschen und nach eigenem Willen kommandieren will, auch wenn wir nur noch ein totes Pferd reiten und die Verbindung zur Vernunft bzw. dem wahren Leben verlorenging. Dann wird es natürlich noch schwerer, das wirklich Große im Leben zu finden, denn unsere Gedanken verlieren sich immer wieder in weltliche Sorgen. So schimpft auch der Mann auf seine Frau, die zu Hause auf ihrem hohen Roß sitzt und ihn herumkommandiert, worin er den Grund seiner Quälerei erkennt. Auf diese Weise geht auch sein zweiter Wunsch daneben. Doch die Natur, unsere weibliche Seite, führt uns auch hier weiter und gibt klar zu verstehen: „Was nützen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich vom nimmersatten Ego nicht herunterkomme.“ Deswegen spricht sie zu ihrem Mann, dem Geist, der unsere männliche Seite symbolisiert: „Du hast mich hier raufgewünscht, nun bring mich auch wieder herunter!“ So könnte zumindest der dritte Wunsch mit der schmerzlichen Erfahrung für die zukünftige Entwicklung des Reichen heilsam wirken. So meint es die Natur doch immer auch gut mit uns, und vor allem in Leid und Verlust steckt die Gnade der Erfahrung, die uns lernen läßt. Die Armen hatten es offensichtlich bereits gelernt und sind auch im neuen Haus zufrieden und glücklich geblieben. Denn erst im Reichtum zeigt sich, wie wahrhaftig unsere Tugend ist.
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• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |