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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2018]
Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: »Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.« Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm.
Dies ist ein wunderbares Märchen, das der Märchenkunst alle Ehre erweist. Besser kann man die verschiedenen Ebenen nicht verbinden und dabei die nötigen Widersprüche formen, um die tieferen Ebenen langsam aufzuschließen. Es beginnt mit dem Holzhacker und seiner Frau, die ihr einziges Kind nicht mehr ernähren konnten - ein dreijähriges Mädchen, das im Vergleich zu ihren schwer arbeitenden Eltern sicherlich nur einen geringen Anteil am ‚täglichen Brot‘ bedurfte. Doch der sorgenvolle Holzhacker gibt es einer anderen Mutter, die dem Kind einen sorgenlosen Himmel versprach. Auf der oberen Ebene, die dem Verstand der Kinder entspricht, ist das sicherlich ein gewisser Trost. Denn früher war es nichts Außergewöhnliches, daß bereits kleine Kinder an eine verwandte oder bekannte Pflegefamilie oder sogar in ein Kloster gegeben wurden. Das geschah nicht nur unter Armen sondern auch unter Reichen und sogar Fürsten. Diesbezüglich sollten wir uns bewußt sein, daß sich die Rolle unserer Kinder in Familie und Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten wesentlich verändert hat. Daß der Hausvater hier über das Schicksal des Kindes bestimmt, deutet auf eine wirklich längst vergangene Zeit hin. Im Christum übernahm zunehmend die Kirche das Recht, und heute ‚gehört‘ ein Kind mehr dem Staat und der Mutter als dem Vater.
Auf der tieferen Ebene dieser Geschichte treffen wir natürlich wieder auf geistige Symbolik. Zunächst der Holzhacker als männliches Wesen, der mit der symbolischen Axt in der Natur arbeitet, im großen Wald der Welt. Über die männliche und weibliche Polarität haben wir schon viel geschrieben. Aus dieser Polarität entsteht unsere Seele, die hier ein kleines Mädchen ist. Und am Morgen, wenn der Geist erwacht und alles im Licht erscheint, geht er hinaus in die Welt der Formen und vollbringt sein sorgenvolles Werk. Die weltliche Armut könnte hier auch die reine Armut bedeuten, das heißt die Freiheit von der Anhaftung an allen persönlichen Besitz. Nicht umsonst erscheint ihm diese wunderschöne Mutter, deren Krone das ganze Weltall mit dem endlosen Meer an Sternen ist. Sie stellt sich selbst als die heilige Mutter vor, die in ihrer vollkommenen Reinheit den Sohn Gottes geboren hat. Es ist wirklich eine große Vision, dieses ganze Universum als ein lebendiges Wesen zu sehen, in dem sich alles Leben entfaltet. Diese Vision erinnert uns an den mystischen Leib Gottes im Christentum oder auch den kosmischen Menschen im Hinduismus. Dort lesen wir zum Beispiel im Mahabharata: „Dieser Körper war die Wohnstätte der Veden (der Weisheit), und das Firmament mit all seinen Gestirnen und Konstellationen wurde zur Krone seines Kopfes. Die herrlichen Sonnenstrahlen wurden seine langen Haare, Ober- und Unterwelt seine beiden Ohren, die Erde seine Stirn... [MHB 12.348]“ So etwas muß unserem modernen, wissenschaftlichen Geist nicht widersprechen. Auch wir wissen, daß alles miteinander verbunden ist, die Ketten von Ursache und Wirkung das ganze Universum durchziehen und der Mensch nicht unabhängig vom Rest der Natur lebt. Und die eigene Seele diesem Großen und Ganzen anzuvertrauen, erscheint uns in diesem Märchen als ein Weg zur großen Glückseligkeit des Himmels.
Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau Maria zu sich und sprach: »Liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du aufschließen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.« Das Mädchen versprach, gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmelreichs: jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel, und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war die verbotene Tür allein noch übrig, da empfand es eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein: »Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen.« - »Ach nein,« sagten die Englein, »das wäre Sünde: die Jungfrau Maria hat’s verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden.« Da schwieg es still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es: »Nun bin ich ganz allein und könnte hineingucken, es weiß es ja niemand, wenn ich’s tue.« Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang die Türe auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb ein Weilchen stehen und betrachtete alles mit Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst, schlug die Türe heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte nicht ruhig werden: auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen und reiben, soviel es wollte.
Zwei Siebenjahreszyklen sind vergangen und das Kind tritt in den Zyklus der Jugend ein. Die kleine Seele wird nun geprüft und gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Und hier geht es um nichts Kleines, sondern um das ganze Himmelsreich. Für Kinder ist das natürlich sehr wichtig, und auf der oberen Ebene dieses Märchens könnte man an zwölf Türen mit Lehrern denken, die das Verständnis für die Welt vermitteln, um deren Glück und Herrlichkeit zu erfahren. Doch genau so wichtig ist es für Kinder, die gesetzten Grenzen einzuhalten, den Geboten der Eltern zu folgen und die weltlichen Gesetze zu beachten. Dazu ist es überaus wichtig, die innere Leidenschaft und Begierde beherrschen zu lernen, auch wenn die Neugier groß ist. Denn Kinder, die keine Grenzen kennen und beachten, werden ihren Eltern und sich selbst sicherlich nicht viel Gutes bringen. Soweit sollten Kinder ihren Eltern vertrauen, daß ihr Wort Gesetz ist. Das ist offensichtlich auch die Botschaft dieses Märchens für den Kindergeist, daß man sich durch Folgsamkeit jede Menge Leiden ersparen kann.
Auf der tieferen Ebene steht die christliche Symbolik. Zunächst erinnern wir uns an das Gebot Gottes im Paradies: „Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. [Bibel, 1.Mose 2.16]“ Die zwölf Apostel sind die weltlichen Verkünder des Glaubens, die als Heilige voller Herrlichkeit verehrt werden. Der 13. Apostel ist dann wohl Gott selbst, die Heilige Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist. Sich dieser Einheit zu nähern ist allerdings nicht einfach und erfordert eine gewisse Reinheit, die unsere Seele offensichtlich noch nicht besitzt. Denn diese göttliche Einheit droht natürlich alles egozentrisch Persönliche zu verschlingen, was uns gewöhnlich so lieb ist, und das Ego fühlt entsprechend die große Angst seines Todes im Herzen, in dieser Einheit alles Eigene zu verlieren und zu sterben. Und doch hat die Seele das übernatürlich Göttliche berührt, denn dieses Goldene und Wahre ist in uns allen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen und versuchen, es loszuwerden oder zumindest zu ignorieren.
Das Spiel von 12 und 13 kennen wir bereits aus anderen Märchen wie zum Beispiel Dornröschen. Auch hier hat die 13 eine Sonderstellung, deutet das Irrationale an, und man kann noch nicht einmal klar sagen, ob sie nun ein Glück oder Unglück für unsere kleine Seele war.
Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die Himmelsschlüssel wieder ab. Als es den Bund hinreichte, blickte ihm die Jungfrau in die Augen und sprach: »Hast du auch nicht die dreizehnte Tür geöffnet?« - »Nein,« antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte, wie es klopfte und klopfte, und merkte wohl, daß es ihr Gebot übertreten und die Türe aufgeschlossen hatte. Da sprach sie noch einmal: »Hast du es gewiß nicht getan?« - »Nein,« sagte das Mädchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den Finger, der von der Berührung des himmlischen Feuers golden geworden war, sah wohl, daß es gesündigt hatte, und sprach zum drittenmal: »Hast du es nicht getan?« - »Nein,« sagte das Mädchen zum drittenmal. Da sprach die Jungfrau Maria: »Du hast mir nicht gehorcht, und hast noch dazu gelogen, du bist nicht mehr würdig, im Himmel zu sein.«
Für den Kindergeist ist dies eine klare Botschaft. Das Mädchen hat das Gebot der Mutter übertreten und sie darüber hinaus noch dreimal belogen. Das verlangt natürlich nach Bestrafung. Und wie Gott Adam und Eva aus dem Paradies in eine leidvolle Welt geworfen hat, so wird auch hier die kleine Seele aus dem Himmel geworfen.
Wenn aber der Geist reift und tiefer zu denken beginnt, dann stellen sich plötzlich neue Fragen: Wie konnte die göttliche Mutter, die doch eigentlich allmächtig ist, in der Erziehung ihres Kindes so versagen? Waren die Lehren der 12 Apostel so wirkungslos? Was war eigentlich die Sünde daran, diese dreizehnte Tür zum Göttlichen zu öffnen? Warum hat sie die Neugier des Kindes absichtlich geweckt und ihr sogar den Schlüssel zu dieser Tür gegeben? Warum gibt man jemandem einen Schlüssel, den er nicht benutzen darf? Und warum belügt das eigentlich reine Mädchen ihre Mutter so hartnäckig wie ein unerzogenes Kind, nachdem es solange im Himmel leben und sogar das Göttliche berühren konnte?
Da versank das Mädchen in einen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis. Es wollte rufen, aber es konnte keinen Laut hervorbringen. Es sprang auf und wollte fortlaufen, aber wo es sich hinwendete, immer ward es von dichten Dornhecken zurückgehalten, die es nicht durchbrechen konnte. In der Einöde, in welche es eingeschlossen war, stand ein alter hohler Baum, das mußte seine Wohnung sein. Da kroch es hinein, wenn die Nacht kam, und schlief darin, und wenn es stürmte und regnete, fand es darin Schutz: aber es war ein jämmerliches Leben, und wenn es daran dachte, wie es im Himmel so schön gewesen war, und die Engel mit ihm gespielt hatten, so weinte es bitterlich. Wurzeln und Waldbeeren waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es die herabgefallenen Nüsse und Blätter und trug sie in die Höhle, die Nüsse waren im Winter seine Speise, und wenn Schnee und Eis kam, so kroch es wie ein armes Tierchen in die Blätter, daß es nicht fror. Nicht lange, so zerrissen seine Kleider und fiel ein Stück nach dem andern vom Leibe herab. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es ein Jahr nach dem andern und fühlte den Jammer und das Elend der Welt.
Das sollte eigentlich für jeden Kindergeist eine genügend schreckliche Strafe sein. Vor allem die Stummheit, das Ausgrenzen und Einsamsein. Die harten Entbehrungen in der wilden Natur treffen vielleicht mehr die älteren Kinder mit entsprechender Erfahrung.
Auf tiefere Ebene sehen wir hier das Absinken in die irdische Wildnis. Die Dornenhecken könnten die Zwänge symbolisieren, denen wir dort unterworfen sind, ohne daß die Seele daraus entfliehen kann. Für christliche Verhältnisse ist diese Geschichte ein gewagtes Spiel, denn man könnte meinen, die menschliche Seele fällt hier in das Tierreich und lebt wie ein Tier unter Tieren. Im Buddhismus und Hinduismus ist das eine geläufige Vorstellung, auch unter Tieren und sogar Pflanzen wiedergeboren zu werden, um dort das jammervolle Leiden zu erfahren, daß man durch seine eigenen Sünden angesammelt hat: „Wahrlich, oh Bharata, wer Sünde angesammelt hat, verliert seinen hohen Status als Mensch und muß seine Geburt in niederen Formen bis zu den Pflanzen nehmen. Wer immer nur seinen Begierden folgt, kann die Tugend und Gerechtigkeit nicht erkennen. Wer Sünde begeht, aber sich um Buße durch Gelübde und Entsagung bemüht, wird Glück und Leid erfahren, und mit großer Angst im Herzen leben müssen... [MHB 13.111]“ Aus diesen Zwängen kann man nur entkommen, wenn sich ein höherer Geist regt. Deswegen sprechen wir davon, daß es die höhere Vernunft ist, die einen Menschen vom Tier unterscheidet.
Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der König des Landes in dem Wald und verfolgte ein Reh, und weil es in das Gebüsch geflohen war, das den Waldplatz einschloß, stieg er vom Pferd, riß das Gestrüppe auseinander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er endlich hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunderschönes Mädchen sitzen, das saß da und war von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt. Er stand still und betrachtete es voll Erstaunen, dann redete er es an und sprach: »Wer bist du? Warum sitzest du hier in der Einöde?« Es gab aber keine Antwort, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König sprach weiter: »Willst du mit mir auf mein Schloß gehen?« Da nickte es nur ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd und ritt mit ihm heim, und als er auf das königliche Schloß kam, ließ er ihm schöne Kleider anziehen und gab ihm alles im Überfluß. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so war es doch schön und holdselig, daß er es von Herzen lieb gewann, und es dauerte nicht lange, da vermählte er sich mit ihm.
Der höhere Geist erscheint hier wieder als ein König, der auf der Jagd ist. Und auf dieser Suche zerschneidet er mit dem scharfen Schwert der Erkenntnis die dichte Dornenhecke, befreit die schöne Seele aus ihren Zwängen in der Natur und vereint sich mit ihr. Doch noch bleibt sie stumm und kann wie die Tiere kein menschliches Wort sprechen. Was sollte sie auch sagen? Wer sollte ihr auf Erden dieses Märchen glauben, daß sie aus dem Himmel gefallen ist? Solange unser Ego-Ich regiert, ist es sicherlich besser, daß wir über das Leben vor unserer Geburt nicht allzuviel wissen. Es ist bereits eine genügend große Last, sich mit den Dingen dieses Lebens persönlich zu identifizieren. Diese Unwissenheit liegt auch im Interesse unseres Egos, das sich gern als ein außergewöhnliches Individuum betrachtet, das es noch nie zuvor in dieser Welt gegeben hat und auch nie wieder geben wird. Klar, das ist ein seltsamer Anspruch...
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: »Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben: verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.« Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach: »Nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht,« und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus den Armen und verschwand damit. Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben, weil er sie so lieb hatte.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: »Willst du gestehen, daß du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses Neugeborne mit mir.« Da sprach die Königin wiederum: »Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet«, und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten bei Leibes- und Lebensstrafe, nicht mehr darüber zu sprechen.
Auf der oberen Ebene wird nun diese Geschichte immer absurder, und man fragt sich, ob das Mädchen wirklich so störrisch und dumm ist, für ihren Stolz die eigenen Kinder, ihre menschliche Sprache, ihre Ehre und ihr weltliches Glück zu opfern, obwohl sie doch schon im Himmel lebte, das Göttliche berühren konnte und in der Hölle der Wildnis große Reue empfunden hat, woran sie sich noch gut erinnern kann. So kommen wir wohl nicht umhin, auf eine noch tiefere Ebene zu gehen und uns größeren Fragen zu stellen. Geht es hier wirklich nur um das kleine Geständnis, die 13. Tür geöffnet zu haben? Jedes Ego würde doch angesichts des versprochenen Gewinns seinen Stolz von rechts nach links wenden und behaupten: „Ja, ich habe es getan!“ Wären wir nicht sogar stolz darauf, behaupten zu können: „Ich habe die Schlüssel des Himmels besessen, die Tür zu Gott geöffnet und ihn sogar persönlich berührt!“ Wäre das nicht ein wunderbarer Sieg für unser Ego, neben all den irdischen Dingen sogar das Göttliche gewonnen zu haben?
Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum drittenmal nachts die Jungfrau Maria und sprach: »Folge mir!« Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: »Ist dein Herz noch nicht erweicht? Wenn du eingestehst, daß du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurückgeben.« Aber die Königin antwortete zum drittenmal: »Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.« Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
Nun kommt noch die dritte Prüfung, und Maria nahm die junge Seele sogar an die Hand, führte sie in den Himmel und zeigte ihr die Kinder, wie sie göttergleich mit der Weltenkugel spielten. Ist das nicht eine wunderbar große und weite Sicht, die bereits auf eine hohe geistige Entwicklung hindeutet? Das ist sicherlich nicht der Weg eines verstockten Egos, und wir müssen hier wohl oder übel tiefer schauen. Ist es vielleicht immer noch die Angst vor der 13. Tür? Was verleugnet die Seele hier so vehement, daß sie immer wieder auf die Erde gebannt wird und so viel Entbehrung und Leiden ertragen muß?
Am andern Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut »Die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muß verurteilt werden!« und der König konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte: »Könnt ich nur noch vor meinem Tode gestehen, daß ich die Tür geöffnet habe.« Da kam ihr die Stimme, daß sie laut ausrief: »Ja, Maria, ich habe es getan!« Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: »Wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben.« und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben.
Schließlich wird die Seele sogar von der Welt verurteilt, und selbst der König kann ihr mit all seiner Vernunft nicht mehr helfen. Und ganz so unrecht hatte die Menge nicht. Trägt die Königin nicht die Schuld am Verschwinden ihrer Kinder? Oder sollten wir die göttliche Mutter dafür verantwortlich machen? Und was hätte es der Königin genützt, den Leuten das Märchen von der Jungfrau Maria zu erzählen?
Doch schließlich erreicht ihr Leiden einen Punkt, wo auch der letzte Rest von egozentrischem Stolz zerbricht und sich die große Todesangst im Herzen löst, so daß es wieder frei und beweglich wird. Das ist die große Gnade, die hinter jedem Leiden verborgen ist. Und damit sind wir schon am Happy-End angekommen:
Nun, die große Mutter hat sicherlich nicht in der Erziehung versagt, noch die Apostel in ihrer heilsamen Lehre. Auch das Öffnen der dreizehnten Tür und die Berührung der göttlichen Dreieinigkeit waren nicht die Ursache für all das Leiden der Seele. Jede Seele besitzt den mystischen ‚Schlüssel-Bund‘ zum Himmel und sogar das göttliche Gold der ewigen Wahrheit. Doch wir verleugnen es vehement, und das ist unsere große Sünde. Und der leidvolle Weg, den die Seele hier durch alle Bereiche der Natur gehen muß, ist sicherlich kein unnötiger Weg, für den man Mutter und Vater oder Gott und Göttin verantwortlich machen sollte. Und dieses ‚Ich habe es getan!‘, das hier am Ende dieses Märchens als Erlösungswort ausgerufen wird, das alle Feuerflammen löscht, das große Licht offenbart und das himmlische Leben auf die Erde herabholt, kann kein gewöhnlicher Egoismus mehr sein, der sich mit seinen persönlichen Taten identifiziert. Denn über das kleine Ego-Ich hinaus gibt es ein viel größeres Ich, das unser Ego mit gutem Grund vehement verleugnet. Davon spricht wohl unser Märchen auf einer sehr tiefen Ebene. Dieses große Ich, das auch das ‚Selbst‘ genannt wird, spielt wie die Kinder mit dieser Weltenkugel und erscheint auch in Gestalt der großen Mutter mit der Sternenkrone, der Apostel und der heiligen Dreieinigkeit. Man kann es auch die große, alldurchdringende Liebe nennen, die alle Sünde überwindet. Auch Jesus spricht in der Bibel von diesem großen Ich und sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater. [Bibel, Johannes 4.6]“
Damit könnte sich der Kreis dieses Märchens schließen und das Problem mit der 13. Tür erklären. Denn solange das kleine Ego-Ich noch lebendig ist und das große Ich verleugnet, sollte man diese Tür nicht aus Begierde öffnen. Sonst kann es leicht passieren, daß unser kleines Ego behauptet: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater.“ Dann würde sich das kleine Ego-Ich zur Gottheit erheben und nach dem Baum des ewigen Lebens greifen. Das hat natürlich katastrophale Folgen, die wir sicherlich alle gut kennen.
So erinnert uns dieses Märchen als Ganzes an den schweren Weg zur Erlösung, mit dem sich offensichtlich auch unsere Vorfahren hier in Europa intensiv beschäftigt haben. Daß auf diesem Weg unser geliebtes, kleines Ego sterben muß und dieser Prozeß nicht ohne Entbehrung und Leiden abläuft, ist eigentlich selbstverständlich. Wer alles erreichen will, muß auch alles geben. Das ist fair und gerecht. Und doch hegen wir gern die Hoffnung, mit der wehenden Fahne unseres Egos zusammen mit allem weltlichen Pomp wieder ins Paradies einzuziehen, und wenn nicht auf geistigem Wege, dann erzwingen wir es zumindest auf materiellen Wegen. Ob sich die Wächter mit dem flammenden Schwert betrügen oder mit Maschinenkraft zwingen lassen? Nun gut, man kann es versuchen...
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |