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Märchentext der Gebrüder Grimm [1843]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]
Es war ein armer Bauersmann, der saß abends beim Herd und schürte das Feuer, und die Frau saß und spann. Da sprach er: »Wie ist’s so traurig, daß wir keine Kinder haben! Es ist so still bei uns, und in den andern Häusern ist’s so laut und lustig.« »Ja,« antwortete die Frau und seufzte: »Wenn’s nur ein einziges wäre, und wenn’s auch ganz klein wäre, nur Daumens groß, so wollte ich schon zufrieden sein; wir hätten’s doch von Herzen lieb.« Nun geschah es, daß die Frau kränklich ward und nach sieben Monaten ein Kind gebar, das zwar an allen Gliedern vollkommen, aber nicht länger als ein Daumen war. Da sprachen sie »Es ist, wie wir es gewünscht haben, und es soll unser liebes Kind sein,« und nannten es nach seiner Gestalt Daumesdick. Sie ließen’s nicht an Nahrung fehlen, aber das Kind ward nicht größer, sondern blieb, wie es in der ersten Stunde gewesen war; doch schaute es verständig aus den Augen und zeigte sich bald als ein kluges und behendes Ding, dem alles glückte, was es anfing.
Ein wunderbares Märchen, das sich offenbar mit der großen Frage beschäftigt, was eigentlich ein „Lebewesen“ oder das „Wesen des Lebens“ ist, das man früher auch als Seele bezeichnete. Der Vergleich der Seele mit einem kleinen Männlein von der Größe eines Daumens ist eine sehr alte Symbolik, die wir bereits mehrfach in den uralten indischen Schriften der Upanishaden finden, wie zum Beispiel:
Der Geist als innere Seele ist so groß (bzw. dick) wie ein Daumen und befindet sich im Herzen (bzw. Wesen) der Menschen. Man sollte ihn deutlich vom Körper unterscheiden, wie man die Fasern vom Munja-Gras trennt. Ihn sollte man als rein und unsterblich erkennen, wahrlich als rein und unsterblich. (Kathaka-Upanishad 6.17)
Über den Ursprung dieser Symbolik konnten wir aber auch dort nichts finden. Zumindest ist der Daumen ein entscheidender Teil der Hand, der zum Handeln notwendig ist. Darüber hinaus war der „Daumen“ früher eine gebräuchliche Grundmaßeinheit, die man später Zoll oder Inch nannte, wie wir heute auch „Meter“ als Grundeinheit für Längenmaße oder Kilogramm für Gewichte benutzen. Durch Teilung und Vervielfachung kann man damit den ganzen dynamischen Bereich der Längen und Gewichte beschreiben. In ähnlicher Weise wurde vielleicht auch der Begriff der Seele als eine wesentliche „Grundeinheit“ für jedes Lebewesen gebraucht. Diesbezüglich findet man in den altindischen Schriften auch die Valakhilyas als Däumlinge, die ihre Körper sozusagen auf das Wesentlichste, nämlich die Seele, reduziert haben und dafür die volle Kraft des Geistes besitzen:
Die Valakhilyas sind Asketen, die durch ihre Entsagung Vollkommenheit erreicht haben und in der Sonnenscheibe wohnen... Sie sind nicht größer als ein Daumen... Ihr einziger Wunsch ist die Entsagung, und durch ihr rechtschaffenes Verhalten erreichen sie höchste Verdienste. [MHB 13.141]
Über diese Seele, die auf mystische Weise den Körper lebendig macht, haben die Menschen in allen Kulturen schon viel nachgedacht. Offensichtlich befaßt sich auch dieses Märchen damit und beginnt mit der üblichen Dualität von Mann und Frau sowie drei Kräften, die zur Geburt der Seele führen. Die erste Kraft ist das Feuer, das der Mann schürt, sozusagen die nötige Energie, die wir auch heute als eine wesentliche Grundlage für Materie und Leben kennen. Die zweite Kraft ist das Spinnen der Frau, das Verzwirbeln von Fasern zu einem Faden. Auch diese Symbolik ist uralt und findet sich bereits in der nordischen Mystik in Gestalt der Nornen, welche die Schicksals- bzw. Lebensfäden am Fuße des Weltenbaums spinnen. Darüber hinaus kennen wir das Spinnen auch als das Verzwirbeln von Wissen zu endlos langen Gedankenketten, die man dann zu Stoff bzw. Vorstellungen aller Art verwebt. So besteht auch unser Lebensfaden vor allem aus Wissen, und sogar der modernen Physik wird langsam die Bedeutung von Information bewußt. Die dritte Kraft ist ein tiefverwurzelter Wunsch nach Schöpfung, Vielfalt und Gestaltung. Die gewaltigen Wirkungen können wir gerade in unserer modernen Zeit am besten studieren. Doch auch diesen Wunsch kennt der Mensch schon lange, und bereits in den Upanishaden wird er in ähnlicher Weise wie in diesem Märchen an den Anfang gesetzt:
Nur das Selbst (=Seele) war hier am Anfang, und es war allein. Es wünschte: »Möchte mir eine Gattin sein, dann würde ich mich fortpflanzen, dann würde mir Reichtum sein, dann würde ich Werke verrichten«. So war sein Wunsch. Trotz aller Wünsche möchte einer nicht mehr als das erreichen. Darum wünscht auch jetzt ein Lediger: »Möchte mir doch eine Gattin sein, dann würde ich mich fortpflanzen, dann würde mir Reichtum sein, dann würde ich Werke verrichten.« Solange einer jedes Einzelne von diesen Dingen nicht erlangt, hält er sich für unvollkommen... (Brihadaranyaka-Upanishad 4.17)
Welches Ziel er immer begehrt, nach welchem Wunsche er verlangt, all das erhebt sich aus seinem Willen. Er gewinnt es und wird groß. (Chandogya-Upanishad)
Damit finden wir drei erstaunliche Grundkräfte, nämlich Energie, Wissen und Willen, die im Mittelalter als die drei Seelenkräfte von Memoria, Intellectus und Voluntas (Erinnerung, Intelligenz und Wille) bekannt waren. Und damit geht auch der Wunsch in Erfüllung, und ein Kind wird geboren, das sozusagen die Mindestanforderungen der Mutter erfüllt und das Wesentliche eines Menschen verkörpert. Denn die Mutter erkrankt während der Schwangerschaft und bringt eine Frühgeburt zur Welt, ein kleiner Junge, dessen Körper sich nicht wie bei anderen Menschen entwickelt. Solche Vorstellungen waren damals möglich, weil das allgemeine Weltbild den Geist als Basis der Materie sah. So wuchs damals der Körper auf Basis des Geistes bzw. der Seele und nicht wie heute, der Geist auf Basis des Körpers. Ähnlich finden wir die Vorstellung vom Geist im Glas, die wir im gleichnamigen Märchen bereits untersucht haben, oder auch die mittelalterliche Vorstellung vom Homunkulus, wie er zum Beispiel in Goethes [Faust II] als ein Wesen beschrieben wird, das nach einem Körper sucht:
Es fragt um Rat und möchte gern entstehn.
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.
Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,
Doch wär' er gern zunächst verkörperlicht.
Der Bauer machte sich eines Tages fertig, in den Wald zu gehen und Holz zu fällen, da sprach er so vor sich hin: »Nun wollt ich, daß einer da wäre, der mir den Wagen nachbrächte.« »O Vater,« rief Daumesdick, »den Wagen will ich schon bringen, verlaßt Euch drauf, er soll zur bestimmten Zeit im Walde sein.« Da lachte der Mann und sprach: »Wie sollte das zugehen, du bist viel zu klein, um das Pferd mit dem Zügel zu leiten.« »Das tut nichts, Vater, wenn nur die Mutter anspannen will, ich setze mich dem Pferd ins Ohr und rufe ihm zu, wie es gehen soll.« »Nun,« antwortete der Vater, »einmal wollen wir’s versuchen.« Als die Stunde kam, spannte die Mutter an und setzte Daumesdick ins Ohr des Pferdes, und dann rief der Kleine, wie das Pferd gehen sollte: »Jüh und Joh! Hott und Har!« Da ging es ganz ordentlich als wie bei einem Meister, und der Wagen fuhr den rechten Weg nach dem Walde.
Hier wird wieder eine ähnliche Symbolik vom Wagen des Körpers, der mit Brennholz beladen wird, verwendet, wie wir bereits im Märchen vom Doktor Allwissend untersucht haben. Nur sind hier keine Ochsen angespannt, sondern ein Pferd, das durch den kleinen Mann im Ohr geführt wird. Symbolisch kann man hier wieder den Willen erkennen, den Mutter Natur an den Körperwagen anspannt, und der nun auf die Kommandos der Seele hört. Auf diese Weise wird unser Körper wie ein Wagen bewegt und mit Brennholz beladen, das wir im Leben mehr oder weniger ansammeln. Dazu gehört alles Persönliche, wie unsere Lebensgeschichte, unser Ego, unser Besitz und alle Verdienste und Sünden, was im Indischen „Karma“ heißt. Man kann sich also gut vorstellen, wie vollbeladen unser Körperwagen heutzutage ist. Und was machen wir nun damit?
Die Seele, wisse, ist der Wagenfahrer, der Körper der Wagen, die Vernunft der Wagenlenker und das Denken der Zügel.
Die Sinne nennt man die Rosse, die Sinnesobjekte ihr Ziel, die Seele, an Sinne und Gedanken gebunden, nennen die Weisen »den Genießer«.
Wer die rechte Vernunft nicht besitzt, das Denken nicht als Zügel verwendet, der hat, wie ein Wagenlenker schlechte Rosse, seine Sinne nicht in der Gewalt. (Kathaka-Upanishad 3.3)
Es trug sich zu, als er eben um eine Ecke bog und der Kleine »har, har!« rief, daß zwei fremde Männer daherkamen. »Mein,« sprach der eine, »was ist das? Da fährt ein Wagen, und ein Fuhrmann ruft dem Pferde zu, und ist doch nicht zu sehen.« »Das geht nicht mit rechten Dingen zu,« sagte der andere, »wir wollen dem Karren folgen und sehen, wo er anhält.« Der Wagen aber fuhr vollends in den Wald hinein und richtig zu dem Platze, wo das Holz gehauen ward. Als Daumesdick seinen Vater erblickte, rief er ihm zu: »Siehst du, Vater, da bin ich mit dem Wagen, nun hol mich runter.« Der Vater faßte das Pferd mit der Linken und holte mit der Rechten sein Söhnlein aus dem Ohr, das sich ganz lustig auf einen Strohhalm niedersetzte. Als die beiden fremden Männer den Daumesdick erblickten, wußten sie nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Da nahm der eine den andern beiseite und sprach: »Hör, der kleine Kerl könnte unser Glück machen, wenn wir ihn in einer großen Stadt für Geld sehen ließen: Wir wollen ihn kaufen!« Sie gingen zu dem Bauer und sprachen: »Verkauft uns den kleinen Mann, er soll’s gut bei uns haben.« »Nein,« antwortete der Vater, »es ist mein Herzblatt, und ist mir für alles Gold in der Welt nicht feil!« Daumesdick aber, als er von dem Handel gehört, war an den Rockfalten seines Vaters hinaufgekrochen, stellte sich ihm auf die Schulter und wisperte ihm ins Ohr: »Vater, gib mich nur hin, ich will schon wieder zurückkommen.« Da gab ihn der Vater für ein schönes Stück Geld den beiden Männern hin. »Wo willst du sitzen?« sprachen sie zu ihm. »Ach, setzt mich nur auf den Rand von eurem Hut, da kann ich auf und ab spazieren und die Gegend betrachten, und falle doch nicht herunter.« Sie taten ihm den Willen, und als Daumesdick Abschied von seinem Vater genommen hatte, machten sie sich mit ihm fort. So gingen sie, bis es dämmrig ward, da sprach der Kleine: »Hebt mich einmal herunter, es ist nötig.« »Bleib nur droben,« sprach der Mann, auf dessen Kopf er saß, »ich will mir nichts draus machen, die Vögel lassen mir auch manchmal was drauf fallen.« »Nein,« sprach Daumesdick, »ich weiß auch, was sich schickt: Hebt mich nur geschwind herab.« Der Mann nahm den Hut ab und setzte den Kleinen auf einen Acker am Weg, da sprang und kroch er ein wenig zwischen den Schollen hin und her, dann schlüpfte er plötzlich in ein Mausloch, das er sich ausgesucht hatte. »Guten Abend, ihr Herren, geht nur ohne mich heim (Version von 1819: ihr habt mich gehabt),« rief er ihnen zu, und lachte sie aus. Sie liefen herbei und stachen mit Stöcken in das Mausloch, aber das war vergebliche Mühe: Daumesdick kroch immer weiter zurück, und da es bald ganz dunkel ward, so mußten sie mit Ärger und mit leerem Beutel wieder heimwandern.
Nun, das große Problem ist, daß man die Seele selbst nicht sehen kann. Man kann sie nur indirekt über ihre Wirkungen erkennen, wie der kleine Mann im Ohr das Pferd lenkt. Das macht es vor allem für unser wissenschaftlich-objektives Denken sehr schwer, das nur sinnlich-greifbare Objekte als real anerkennen will. Und was macht die mit Karma beladene Seele? Sie läßt sich zunächst an die Welt verkaufen, und damit beginnt auch in diesem Märchen ihre abenteuerliche, aber symbolische Reise durch die Welt. Sie trennt sich damit von Vater und Mutter und versucht ihr Glück. Und jede Erfahrung in diesem Märchen ist offensichtlich mit einer Erkenntnis bzw. Botschaft verbunden. Die erste Botschaft könnte man so formulieren: Wer die Seele benutzen will, um etwas darzustellen, sich zu bereichern und damit äußerlich zu schmücken, der verliert sie im Materiellen und geht am Ende leer aus.
Wenn nun jemand etwas anderes als die Seele für wertvoll erklärt, von dem sagt man: „Verlieren wird er, was ihm wertvoll ist!" Er kann sicher sein, daß dies also geschehe. Darum soll man die Seele allein als wertvoll verehren. Wer die Seele allein als wertvoll verehrt, dessen Wertvolles ist nicht vergänglich. (Brihadaranyaka-Upanishad 1.4.8)
Als Daumesdick merkte, daß sie fort waren, kroch er aus dem unterirdischen Gang wieder hervor. »Es ist auf dem Acker in der Finsternis so gefährlich gehen,« sprach er, »wie leicht bricht einer Hals und Bein.« Zum Glück stieß er an ein leeres Schneckenhaus. »Gottlob,« sagte er, »da kann ich die Nacht sicher zubringen,« und setzte sich hinein.
Wenn es darum geht, unsere Seele bzw. unser Leben zu verlieren, besteht die größte Angst natürlich in der Vorstellung vom Tod, und wir befürchten, daß unser Bewußtsein in eine ewige Dunkelheit versinkt. Doch wie wir lesen, drängt es die Seele immer wieder ans Licht. Doch je heller und größer die materielle Welt wird, desto dunkler und kleiner wird die geistige Welt, und die Seele verkriecht sich aus Angst in einen Körper, der wie ein Schneckenhaus mit jeder Windung enger wird. Hier glaubt sie sich in einer geistig dunklen und engen Welt erst einmal sicher zu fühlen. Das ist vor allem heute ein großes Problem unserer verdrehten Weltsicht und vermutlich auch die Ursache für die zunehmende Volkskrankheit der Depression. Mittlerweile leiden bereits Millionen Menschen allein in Deutschland unter schweren Depressionen. Was erwartet man auch, wenn sich die Sinne nur noch auf äußere Dinge richten, das helle Licht nur in einer materiellen Welt gesucht wird und innerlich Dunkelheit und Müllberge wachsen. Offensichtlich gehören Umweltkatastrophe und Inweltkatastrophe eng zusammen. Und wie geht es in der geistigen Dunkelheit weiter?
Nicht lang, als er eben einschlafen wollte, so hörte er zwei Männer vorübergehen, davon sprach der eine: »Wie wir’s nur anfangen, um dem reichen Pfarrer sein Geld und sein Silber zu holen?« »Das könnt ich dir sagen,« rief Daumesdick dazwischen. »Was war das?« sprach der eine Dieb erschrocken, »ich hörte jemand sprechen.« Sie blieben stehen und horchten, da sprach Daumesdick wieder: »Nehmt mich mit, so will ich euch helfen.« »Wo bist du denn?« »Sucht nur auf der Erde und merkt, wo die Stimme herkommt,« antwortete er. Da fanden ihn endlich die Diebe und hoben ihn in die Höhe. »Du kleiner Wicht, was willst du uns helfen!?« sprachen sie. »Seht,« antwortete er, »ich krieche zwischen den Eisenstäben in die Kammer des Pfarrers und reiche euch heraus, was ihr haben wollt.« »Wohlan,« sagten sie, »wir wollen sehen, was du kannst.« Als sie bei dem Pfarrhaus kamen, kroch Daumesdick in die Kammer, schrie aber gleich aus Leibeskräften: »Wollt ihr alles haben, was hier ist?« Die Diebe erschraken und sagten: »So sprich doch leise, damit niemand aufwacht.« Aber Daumesdick tat, als hätte er sie nicht verstanden, und schrie von neuem: »Was wollt ihr? Wollt ihr alles haben, was hier ist?« Das hörte die Köchin, die in der Stube daran schlief, richtete sich im Bett auf und horchte. Die Diebe aber waren vor Schrecken ein Stück Wegs zurückgelaufen, endlich faßten sie wieder Mut und dachten: »Der kleine Kerl will uns necken.« Sie kamen zurück und flüsterten ihm zu: »Nun mach Ernst und reich uns etwas heraus.« Da schrie Daumesdick noch einmal, so laut er konnte: »Ich will euch ja alles geben, reicht nur die Hände herein.« Das hörte die horchende Magd ganz deutlich, sprang aus dem Bett und stolperte zur Tür herein. Die Diebe liefen fort und rannten, als wäre der wilde Jäger (1819: als wär Feuer) hinter ihnen.
Wenn die Seele im Dunkeln ist und das innere Licht der Weisheit fehlt, erscheinen zwei Diebe. Was sind Diebe? Sie greifen nach dem, was ihnen nicht gehört. Und warum zwei? Nur in der Welt der Gegensätze kann man etwas ergreifen. Und wer ist der Pfarrer? Eigentlich ein Geistlicher, der den geistigen Reichtum bewahren sollte. Kirche und Reichtum ist ein sehr heikles Thema, das leider ins Absurde übertrieben wurde und heutzutage kaum noch verständlich ist. Doch wir wollen positiv denken und sagen: Wo geistiger Reichtum ist, kann auch weltlicher Reichtum gedeihen. Nur haben es die Diebe vor allem auf den weltlichen Reichtum abgesehen, nicht auf den geistigen, und werden dafür auch von der Seele verraten. Das ist eine wunderbare Symbolik.
Die Seele ruft: „Wollt ihr alles haben!?“ Warum wollen wir im Leben etwas Besonderes sein, wenn wir doch alles sein könnten? Warum wollen wir nur einen kleinen Teil haben, wenn wir doch alles zusammen als ein Ganzes haben könnten? Hier begegnet uns wieder das berühmte Spiel der Polaritäten oder Gegensätze, das die Seele in unwissender Dunkelheit mittels Begierde und Haß ergreift. Deshalb spricht unser Märchen auch von zwei Dieben, und die Seele soll ihnen helfen, aber Stillschweigen bewahren, damit der Wächter des Reichtums nicht erwacht.
Wer beschützt den Reichtum? Die Natur selbst, hier in Gestalt einer Magd symbolisiert, die dem Geistlichen dient. Und was jagt die Diebe davon, wenn die Natur erwacht? Damals sprach man von Sünde, die uns durch das ganze Leben bis in die Hölle verfolgt, um bereinigt zu werden. Und es hieß, daß man diese Sünde nicht verschweigen kann, vielleicht noch im weltlichen Leben, aber nicht in der geistigen Welt, oder wie man früher sagte, vor Gott.
So könnte man die zweite Botschaft formulieren: Wer die Seele benutzen will, um sich den weltlichen Reichtum ohne den geistigen Reichtum anzueignen, den wird sie durch Sünde verraten. Kurzgesagt, das Problem unserer Zeit: Wir wollen reich aber nicht vernünftig und weise sein...
Fürwahr, nicht um des Reichtums willen ist der Reichtum lieb, sondern um der Seele willen ist der Reichtum lieb... Fürwahr, nicht um des Weltalls willen ist das Weltall lieb, sondern um der Seele willen ist das Weltall lieb. (Brihadaranyaka-Upanishad 4.5.6)
Die Magd aber, als sie nichts bemerken konnte, ging ein Licht anzünden. Wie sie damit herbeikam, machte sich Daumesdick, ohne daß er gesehen wurde, hinaus in die Scheune. Die Magd aber, nachdem sie alle Winkel durchgesucht und nichts gefunden hatte, legte sich endlich wieder zu Bett und glaubte, sie hätte mit offenen Augen und Ohren doch nur geträumt.
Wenn man über die Seele spricht, die man auch Psyche oder das Selbst nennt, sollten natürlich auch die Sinne erwähnt werden, sozusagen ihre Verbindung mit der Natur. Hier werden speziell nur die Augen und Ohren genannt, doch auch mit den anderen Sinnesorganen kann man die Seele wie auch die Diebe nicht auf direkte Weise erkennen. Denn es sind vor allem geistige Prinzipien, die man auf geistige Weise sehen, fühlen und sogar hören kann. Aus diesem Grund hat es unsere moderne Naturwissenschaft so schwer damit. Weil sich auf dieser subjektiven Ebene der Natur wenig messen und berechnen läßt, wird diese Ebene weitestgehend ignoriert und damit aus unserem modernen Weltbild ausgeschlossen. Und das zieht entsprechend weite Kreise. Denn wir alle hören zwar die Stimme der Seele, aber verbannen sie in das Reich des Aberglaubens, der Phantasie oder der Traumwelt. Damit geht vor allem die intuitive Vernunft verloren mit vielen Werten und Tugenden, die der Menschheit früher selbstverständlich waren. Und der Rest an Vernunft reicht dann nur soweit, wie man rechnen und mit den Sinnen greifen kann.
Daumesdick war in den Heuhälmchen herumgeklettert und hatte einen schönen Platz zum Schlafen gefunden: Da wollte er sich ausruhen, bis es Tag wäre, und dann zu seinen Eltern wieder heimgehen. Aber er mußte andere Dinge erfahren! Ja, es gibt viel Trübsal und Not auf der Welt! Die Magd stieg, als der Tag graute, schon aus dem Bett, um das Vieh zu füttern. Ihr erster Gang war in die Scheune, wo sie einen Arm voll Heu packte, und gerade dasjenige, worin der arme Daumesdick lag und schlief. Er schlief aber so fest, daß er nichts gewahr ward, und nicht eher aufwachte, als bis er in dem Maul der Kuh war, die ihn mit dem Heu aufgerafft hatte.
Was hier indirekt angesprochen wird, war früher vor allem im Christentum ein heikles Thema. Haben Tiere und Pflanzen eine Seele wie der Mensch? Fühlen sie auch Leid und Glück in der Welt wie der Mensch? So wird hier von Heu gesprochen, sozusagen getrocknetes Leben, in dem die Seele schläft. Eine wunderbare Symbolik! Die alten Kulturen wußten, daß alles in dieser Welt beseelt ist. Nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, auch die Berge, Seen, Flüsse und sogar die ganze Erde. Und auf diesem Weg kommt unsere Seele hier auch mit der Nahrung in den Körper einer Kuh:
»Ach Gott,« rief er, »wie bin ich in die Walkmühle geraten!« merkte aber bald, wo er war. Da hieß es aufpassen, daß er nicht zwischen die Zähne kam und zermalmt ward, und hernach mußte er doch mit in den Magen hinabrutschen. »In dem Stübchen sind die Fenster vergessen,« sprach er, »und scheint keine Sonne hinein: ein Licht wird auch nicht gebracht (1819: ein Licht wird auch nicht wohl zu haben sein).«
So kommt die Seele in die Walkmühle der Welt, in den Kreislauf von Geburt, Alter und Tod sowie zwischen die Zähne von Glück und Leid. Auf diese Weise kommt sie auch in das Innere eines Körpers, wo sie zunächst Dunkelheit erfahren muß und von den Sinnesorganen abhängig wird. Und wie entsteht so ein Körper? Aus Nahrung, vor allem von den Körpern anderer Lebewesen, die wir als getötet betrachten. Man sagt, heutzutage hat ein Mensch mit 80 Jahren durchschnittlich über 60.000 kg Nahrung verzehrt, davon 5.000 kg Kartoffeln und 7.000 kg Fleisch. In diesem Prozeß werden fast alle Atome des Körpers in durchschnittlich sieben Jahren vollständig ausgetauscht.
Aus Nahrung geboren sind die Geschöpfe,
Alle, wie sie auf Erden sind.
Durch Nahrung haben sie ihr Leben,
In diese gehn sie ein zuletzt.
(Taittiriya-Upanishad 2.2)
Überhaupt gefiel ihm das Quartier schlecht, und was das Schlimmste war, es kam immer mehr neues Heu zur Türe hinein, und der Platz ward immer enger. Da rief er endlich in der Angst, so laut er konnte: »Bringt mir kein frisch (1819: neu) Futter mehr, bringt mir kein frisch Futter mehr!« Die Magd melkte gerade die Kuh, und als sie sprechen hörte, ohne jemand zu sehen, und es dieselbe Stimme war, die sie auch in der Nacht gehört hatte, erschrak sie so, daß sie von ihrem Stühlchen herabglitschte und die Milch verschüttete. Sie lief in der größten Hast zu ihrem Herrn und rief: »Ach Gott, Herr Pfarrer, die Kuh hat geredet.« »Du bist verrückt,« antwortete der Pfarrer, ging aber doch selbst in den Stall und wollte nachsehen, was es da gäbe. Kaum aber hatte er den Fuß hineingesetzt, so rief Daumesdick aufs neue: »Bringt mir kein frisch Futter mehr, bringt mir kein frisch Futter mehr!« Da erschrak der Pfarrer selbst, meinte, es wäre ein böser Geist in die Kuh gefahren, und hieß sie töten.
Nun, wie fühlt sich die Seele in einem solchen Körper? Es gibt mittlerweile eine große Sammlung von Nahtoderfahrungen, wovon viele Menschen berichten, wie schrecklich es war, in den engen und dunklen Körper zurückkehren zu müssen. Das ist erstaunlich, denn auch unserer Seele gefiel es hier nicht gut. Und das Schlimmste war das viele Futter. Über die Wagenladung an Brennholz haben wir bereits gesprochen. Ähnliche Symbolik kann man auch im Heu sehen, das in Form von getrocknetem Gras auch getötetes Leben ist und als Nahrung benutzt wird. Auf geistiger Ebene gehören hier auch die vielen toten Begriffe, Bilder, Ansichten, Definitionen usw. dazu, die wir gerade heute in großen Mengen konsumieren. Und wir haben gewöhnlich nicht einmal die Zeit, die sich eine Kuh zum Wiederkäuen nimmt, um diese Futtermassen einigermaßen gut zu verdauen. Dann ruft vielleicht unsere Seele irgendwann: „Bringt mir kein neues Futter mehr!“ Wer diese Stimme plötzlich im eigenen Körper hört, könnte ähnlich erschrecken, wie die Magd beim Melken. Dann könnte man diese Stimme ersticken, oder vielleicht darüber nachdenken, etwas weniger durch die Welt zu jagen und dem Konsum zu dienen. Einfach mal zur Ruhe kommen, bewußte Entschleunigung... Wieviel braucht eigentlich ein Mensch zum Glücklichsein?
Wasser trinkend und Heu essend,
Ausgemolken und unfruchtbar!
Ach! Dieses Opfer hier,
Es führt in unglückliche Welten.
(Kathaka-Upanishad 1.3)
Die Reaktion des Pfarrers in unserem Märchen ist vermutlich doppeldeutig. Daß er diese menschliche Regung einer Kuh verteufeln und töten muß, entspricht zunächst der üblichen Dogmatik im Christentum nach dem Motto: „Was nicht sein kann, das nicht sein darf.“ Im alten Indien hätte sich vermutlich niemand über eine sprechende Kuh gewundert. Darüber hinaus ist es aber auch ein Urteilsspruch des „geistigen Vaters“ in der Natur, und so könnte man die dritte Botschaft formulieren: Wer die Seele benutzt, um sich von Totem zu ernähren, dem bringt sie auch den Tod.
Nun steht natürlich die große Frage: Wie kann man sich ernähren, ohne zu töten? Ohje, das ist mit unserer Weltanschauung schwer zu beantworten. Doch schon in der Bibel steht das Gebot „Du sollst nicht töten!“, das vermutlich eng mit dem zweiten Gebot zusammenhängt: „Du sollst dir kein totes Bild machen!“ Aber gerade darunter leidet unsere moderne Maschinenwelt am meisten, in der die Natur zu toter Materie degradiert wird.
Ihr alle, wie ihr da seid, faßt diese Seele auf, als wäre sie etwas von euch Getrenntes, und so eßt ihr die Nahrung. Wer aber diese daumengroße Seele als ein lebendiges Ganzes verehrt, der ißt die Nahrung in allen Welten, in allen Wesen, in allen Seelen. (Chandogya-Upanishad 5.18.1)
Sie ward geschlachtet, der Magen aber, worin Daumesdick steckte, auf den Mist geworfen. Daumesdick hatte große Mühe, sich hindurchzuarbeiten, doch brachte er’s so weit, daß er Platz bekam, aber als er eben sein Haupt herausstrecken wollte, kam ein neues Unglück. Ein hungriger Wolf lief heran und verschlang den ganzen Magen mit einem Schluck. Daumesdick verlor den Mut nicht, »Vielleicht,« dachte er, »läßt der Wolf mit sich reden,« und rief ihm aus dem Wanste zu: »Lieber Wolf, ich weiß dir einen herrlichen Fraß.« »Wo ist der zu holen?« sprach der Wolf. »In dem und dem Haus, da mußt du durch die Gosse hineinkriechen, und wirst Kuchen, Speck und Wurst finden, so viel du essen willst,« und beschrieb ihm genau seines Vaters Haus.
Und weiter geht es mit vorzüglichster Symbolik, die wir natürlich näher untersuchen möchten. Eigentlich hat eine Kuh vier Mägen. Der erste und größte wird Pansen genannt, wiegt bis zu 12 kg und wurde normalerweise nicht auf den Mist geworfen. So ist hier vielleicht einer der kleineren Mägen gemeint, der vermutliche aus stolzer Verachtung weggeworfen wurde, die oft mit wachsendem Wohlstand einhergeht. Zumindest wurde die Kuh gern als ein Symbol für den Wohlstand verwendet. Daß damit unsere Seele aus der Kuh in einen nimmersatten und gierigen Wolf gelangt, der sich mit Kuchen, Speck und Wurst locken läßt, ist sicherlich kein Zufall. Je mehr Wohlstand, desto mehr Begierde. Und das braucht man heutzutage niemandem mehr zu erklären, denn es läßt sich überall beobachten und erfahren. Doch wie die Seele den Hunger des Wolfes benutzt, um wieder nach Hause zu kommen und sich noch über ihn lustig macht, das ist nicht nur ein Knochen, auf dem man lange kauen kann, darüber kann man sich sogar den Kopf zerbrechen. Aber zunächst geht es mit großer Hoffnung voran:
Der Wolf ließ sich das nicht zweimal sagen, drängte sich in der Nacht zur Gosse hinein und fraß in der Vorratskammer nach Herzenslust. Als er sich gesättigt hatte, wollte er wieder fort, aber er war so dick geworden, daß er denselben Weg nicht wieder hinaus konnte. Darauf hatte Daumesdick gerechnet und fing nun an, in dem Leib des Wolfes einen gewaltigen Lärm zu machen, tobte und schrie, was er konnte. »Willst du stille sein,« sprach der Wolf, »du weckst die Leute auf.« »Ei was,« antwortete der Kleine, »du hast dich satt gefressen, ich will mich auch lustig machen,« und fing von neuem an, aus allen Kräften zu schreien. Davon erwachte endlich sein Vater und seine Mutter, liefen an die Kammer und schauten durch die Spalte hinein. Wie sie sahen, daß ein Wolf darin hauste, liefen sie davon, und der Mann holte eine Axt, und die Frau die Sense. »Bleib dahinten,« sprach der Mann, als sie in die Kammer traten, »wenn ich ihm einen Schlag gegeben habe, und er davon noch nicht tot ist, so mußt du auf ihn einhauen, und ihm den Leib zerschneiden.«
Daß die Begierde ein Weg ist, auf dem es irgendwann kein Zurück mehr gibt, ist uns normalerweise nicht bewußt. Aber denken wir an die hartnäckigen Probleme der Alkohol- und Drogensucht, dann macht es schon Sinn. Und daß dieser Weg für den gierigen Wolf nicht glücklich endet, sollte auch klar sein. Denn Vater und Mutter, worin wir wieder die herrschenden Prinzipien von Geist und Natur sehen können, werden ihn gebührend mit ihren jeweiligen Waffen empfangen. Der Vater führt die schon oft erwähnte Axt des Geistes, die wie das berühmte Schwert der Erkenntnis töten und lebendig machen kann. Damit sind im Prinzip unsere Gedanken gemeint, die endlos lebendige Bäume fällen, Brennholz spalten und ansammeln können. Sie können sich aber auch zur Vernunft erheben und den Baum der Illusion mit der unersättlichen Begierde an der Wurzel fällen. Die Natur führt die berühmte Sense des Todes, ein Sinnbild für die Vergänglichkeit aller körperlichen Dinge, womit sie sozusagen den Lebensfaden abschneidet, aber auch ein Symbol der Ernte für die Früchte, die man im Leben angesammelt hat. Das heißt hier, wenn Vater Geist mit der Vernunft die Begierde nicht erschlagen kann, dann wird es Mutter Natur durch körperliches Leiden versuchen. Das wußten die Menschen früher, und entsprechend stellte man sich die Qualen der Hölle vor, wo man für seine Sünden angemessen bestraft wurde. Und dazu gehörte unter anderem auch das Zerschneiden des Leibes:
Es gibt noch eine andere große Hölle, Nikrintana genannt. Dort, oh Vater, rollen große Räder wie Töpferscheiben. Darauf befestigt kreisen die Wesen unaufhörlich um ihre eigene Achse und werden von der Sohle bis zum Scheitel mit schrecklichen Schnüren zerschnitten, welche die Gesandten von Yama in ihren Händen halten. Doch diese, oh Erster der Zweifachgeborenen, gehen daran nicht zugrunde, denn ihre Körper, die in hunderte Scheiben zertrennt wurden, werden immer wieder neu gebildet. So werden die Sünder tausende Jahre zerschnitten, bis ihre Sünde abgewaschen ist. (Markandeya Purana Kapitel 12)
So könnte man hier die vierte Botschaft formulieren: Wer die Seele für gierige Zwecke benutzt, muß entsprechendes Leid erfahren. Dafür gibt es das höchst treffende deutsche Wort der „Leidenschaft“. Klar, im heutigen Zeitalter der modernen Medizin darf man niemandem mehr sagen, daß Leiden einen höheren Sinn hat und vielleicht sogar von unserer unersättlichen Begierde verursacht wird. Aber mal ehrlich: Ist der Mensch schon soweit, daß er ohne geistigen und körperlichen Leidensdruck vernünftig leben kann? Spüren wir nicht alle noch diese tierische Begierde in uns, diesen unersättlichen Hunger des Wolfes und diese schreckliche Unerfülltheit im Leben, womit wir uns selbst und vielen anderen Wesen auf dieser Erde so viel Leid schaffen? Kennen wir die Absicht von Mutter Natur? Wissen wir, warum wir leben? Hören wir die Stimme des geistigen Vaters?
Da hörte Daumesdick die Stimme seines Vaters und rief: »Lieber Vater, ich bin hier, ich stecke im Leibe des Wolfs.« Sprach der Vater voll Freuden »Gottlob, unser liebes Kind hat sich wiedergefunden!«, und hieß die Frau die Sense wegtun, damit Daumesdick nicht beschädigt würde. Danach holte er aus, und schlug dem Wolf einen Schlag auf den Kopf, daß er tot niederstürzte, dann suchten sie Messer und Schere, schnitten ihm den Leib auf und zogen den Kleinen (1819: ihr liebes Kind) wieder hervor.
Wow, nun geschieht etwas Unglaubliches. Man könnte es vielleicht so formulieren: Wenn wir uns bewußt werden, im Körper eines hungrigen Wolfes zu stecken, die Absicht der Natur erkennen und die Stimme des Vaters hören, dann jubelt der Geist und spricht zur Natur: „Lege Leid und Tod beiseite!“ Wunderbar! Dann zerschlägt der Geist den harten Ego-Kopf und befreit die Seele aus dem engen, dunklen und hungrigen Körper. So ähnlich stellte man sich früher die Befreiung vom Tod vor, womit die allgegenwärtige Angst endet, das Leben mit der Seele zu verlieren. Das war das große Ziel der Unsterblichkeit.
Wenn alle Leidenschaft schwindet,
Die nistet in des Menschen Herz,
Dann wird, wer sterblich, unsterblich,
Schon hier erlangt die Ewigkeit er.
(Kathaka-Upanishad 6.14)
»Ach,« sprach der Vater, »was haben wir für Sorge um dich ausgestanden!« »Ja, Vater, ich bin viel in der Welt herumgekommen; gottlob, daß ich wieder frische Luft schöpfe!« »Wo bist du denn überall gewesen?« »Ach, Vater, ich war in einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst: Nun bleib ich bei euch.« »Und wir verkaufen dich um alle Reichtümer der Welt nicht wieder,« sprachen die Eltern, herzten und küßten ihren lieben Daumesdick. Sie gaben ihm zu essen und trinken, und ließen ihm neue Kleider machen, denn die seinigen waren ihm auf der Reise verdorben.
Das Happy-End erinnert an die Rückkehr des verlorenen Sohnes, die als Gleichnis auch in der Bibel beschrieben wird. Und was hat die Seele auf ihrer langen Reise, die man auch Seelenwanderung nennen könnte, gelernt? Wir haben hier vier Botschaften erkannt:
1) Wer die Seele benutzt, um etwas Äußerliches darzustellen, der verliert sie im Materiellen und geht am Ende leer aus.
2) Wer die Seele benutzt, um sich den weltlichen Reichtum ohne den geistigen anzueignen, den wird sie verraten.
3) Wer die Seele benutzt, um sich von Totem zu ernähren, dem bringt sie auch den Tod.
4) Wer die Seele für gierige Zwecke benutzt, muß entsprechendes Leid erfahren, was man „Leidenschaft“ nennt.
Doch die größte Erkenntnis in diesem Märchen ist, daß sie sich nie wieder an die Welt verkaufen wird. Und wer hat gelernt? Die Seele oder die Eltern? Am Ende steht die berühmte Einheit von Geist, Natur und Seele, die sich in wahrer Liebe wieder vereint haben. - Nun könnte man ängstlich fragen: Ist damit das Leben zu Ende? Unser Märchen sagt: Nein, denn sie geben der Seele neue Nahrung und machen ihr neue Kleider, weil die alten Kleider verbraucht waren. So wie der Mensch abgetragene Kleider ablegt und neue anzieht, so stellte man sich auch die Seele vor, wie sie abgetragene Körper ablegt und neue anzieht.
Auf diese Weise konnte die Seele als „Lebewesen“ oder „Wesen des Lebens“ durch die Welt wandern. In der indischen Chandogya-Upanishad werden für diese „Seelenwanderung“ zwei prinzipielle Wege beschrieben. Interessanterweise wird auch hier erwähnt, wie die Seele über pflanzliche Nahrung in einen tierischen Körper kommen kann:
Die Weisen, die im Walde leben, den Glauben als Askese üben, die Verehrung als Askese üben, die gehen ein in die Flamme (des Leichenfeuers), aus der Flamme in den Tag, aus dem Tage in das Licht, aus dem Licht in die Sonne, aus der Sonne in den Mond und aus dem Mond in den Blitz: Von dort führt sie der reine Geist, der nicht wie ein Mensch ist, zum Brahman (dem Höchsten und Unvergänglichen). Das nennt man den Weg der Götter.
Hingegen jene, welche im Dorf leben, Tugend, Wohltätigkeit und Freigiebigkeit üben, die gehen ein in den Rauch (des Leichenfeuers), aus dem Rauch in die Nacht, aus der Nacht in die Dunkelheit, aus der Dunkelheit in die Ahnenwelt, aus der Ahnenwelt in den Raum und aus dem Raum in den Mond, wo sie zur Nahrung der Götter werden. Dort leben sie solange, bis (ihr Karma) erschöpft ist, und kehren auf dem gleichen Weg wieder zurück, wie sie gekommen: in den Raum, aus dem Raum in den Wind, aus dem Wind in den Rauch, aus dem Rauch in den Nebel, aus dem Nebel in die Wolke und aus der Wolke regnen sie herab. Dann werden sie hier als Reis und Gerste, Kräuter und Bäume, Sesam und Bohnen geboren. Daraus ist schwer zu entkommen. Denn nur, wenn sie einer als Speise verzehrt und als Samen (in einen Mutterleib) ergießt, kann er sich daraus weiter entwickeln. Die tugendhaft gelebt haben, erreichen eine gute Geburt als Mensch unter Geistlichen, Königen oder Bauern. Die jedoch sündhaft gelebt haben, gehen in die Mutterleiber von Hunden, Schweinen oder ausgestoßenen Menschen ein. (Das nennt man den Weg der Väter bzw. Ahnen).
Jenseits dieser beiden Wege gibt es noch die winzigen Lebewesen, die kaum geboren, schon wieder sterben müssen. Das wäre ein dritter Weg. Darum (durch dieses stirb und werde) wird diese Welt nicht voll. Deshalb sollte man sich zügeln (im Leben). Dazu gibt es den Vers:
Der Gold-Dieb und der Alkohol-Trinker, der Mörder der Geistlichen und der Schänder ihrer Lehrer, all diese und wer mit ihnen verkehrt, die werden fallen.
Wer jedoch die fünf Feuer kennt oder mit solchen verkehrt, wird von der Sünde nicht befleckt und bleibt tugendhaft in der Welt der Reinen.
(Chandogya-Upanishad 5.10)
Über dieses Wesen der Seele haben die Menschen früher mindestens soviel nachgedacht, wie wir heute über das liebe Geld. Und sicherlich ist davon nur ein Bruchteil in historischen Texten und unserem Alltagsdenken überliefert. Daß sich hier über die vielen Jahrtausende keine völlig eindeutige Vorstellung von der Seele herauskristallisiert hat, zeigt bereits, wie subtil dieses Problem ist. Natürlich gab es jede Menge ideologische Systeme, die den Anspruch auf Vollkommenheit hatten, aber die Grenzen waren oft sehr eng und wurden durch Dogmatik definiert. Wer es dann wagte, daran zu kratzen, wurde zum ideologischen Feind und mußte irgendwie getötet werden. Das Problem liegt natürlich in unserer Art zu denken, womit wir die Welt nur in Gegensätzen wahrnehmen können und entsprechende Unterscheidungen treffen müssen. Die wohl folgenschwerste Unterscheidung ist vermutlich die begriffliche Trennung zwischen Leben und Tod. Nicht einmal die modernste Medizin kann hier eine klare Linie finden. Doch auf dieser wackligen Grundlage steht unser ganzes Weltbild mit vielen weiteren Gegensätzen wie Geist und Materie, Seele und Körper, Mein und Dein, womit sich die Gedanken endlos im Kreis drehen können.
Doch wie erklärt man nun die Grundlage des Lebens ohne gegensätzliche Begriffe? Dazu suchte man früher Begriffe, die von Gegensätzen frei sein sollten, wie zum Beispiel „Gott“ oder „Universum“. Hier sollte die Denkmaschine einfach anhalten und sich nicht immer weiter im Kreis drehen. Entsprechend brauchte man auch keinen Namen für das Universum, weil es davon nur eins gab. Das gleiche sollte auch für Gott gelten. In der Bibel steht dafür das hebräische Wort JHWH, was man mit „Er ist“ übersetzen kann. Es ist also kein Name wie Paul oder Max, welcher der Unterscheidung dient. Aber auch hier will der Mensch keine vernünftigen Grenzen akzeptieren. Und wie man mittlerweile von Multi-Universen spricht, so streiten sich die Religionen über den Namen Gottes und wer den wahren Gott besitzt. Absurder geht es bald nicht! Mit diesem Wahn wurde der Begriff „Gott“ so negativ beladen, daß heute viele Menschen panisch davor zurückschrecken und sogleich an fanatische Sekten, Gewalt und Wahn denken. Man kann es ihnen nicht verübeln...
Aber gut, da wir nun bezüglich der Seele so viele Zitate aus den altindischen Upanishaden verwendet haben, möchten wir zum Abschuß noch etwas näher auf dieses altindische bzw. vedische Weltbild eingehen. Auch hier wird als Grundlage von allem etwas Formloses, Gestaltloses und Namenloses betrachtet. Man nennt es das Ungestaltete oder auch „Meer der Ursachen“. Man sagt: Die Wahrheit ist ohne Name und Form. Nur durch das erkennende Bewußtsein entstehen Namen und Formen. Und dieses ungestalte Meer der Ursachen, das ist die Seele, die sich in den Wellen verkörpert, die auf diesem Meer entstehen. Deshalb kann man die Seele nicht sehen oder messen. Und deshalb gibt es auch nur eine Seele, die sich in vielen Wellen verkörpert.
Der Lehrer sprach: „Hole mir dort von dem Feigenbaum eine Frucht.“ - „Hier ist sie, Ehrwürdiger.“ - „Spalte sie.“ - „Sie ist gespalten, Ehrwürdiger.“ - „Was siehst du darin?“ - „Ich sehe hier, oh Ehrwürdiger, ganz kleine Kerne.“ - „Spalte einen von ihnen.“ - „Er ist gespalten, Ehrwürdiger.“ - „Was siehst du darin?“ - „Gar nichts, oh Ehrwürdiger."
Da sprach er: „Die Feinheit, die du nicht wahrnimmst, oh Teurer, aus dieser Feinheit fürwahr ist dieser große Feigenbaum entstanden. Glaube, oh Teurer, was jene Feinheit ist, daraus besteht dieses ganze Weltall, das ist das Wahre, das ist die Seele, das bist du, oh Swetaketu!“ (Chandogya-Upanishad 6.12)
Das einfachste System, das wir diesbezüglich in den altindischen Schriften gefunden haben, besteht aus sieben Prinzipien, die ähnlich einer Matrjoschka jeweils ineinander enthalten sind. Das kann man schematisch in Form von Kreisen verdeutlichen:
ganzheitlich-beseeltes Weltbild (vedisches Weltbild)
Wir wollen nun versuchen, diese sieben natürlichen Prinzipien, die wir auch in anderen Märchen bereits erwähnt haben, mit eigenen Worten zu erklären, am Einfachsten in Form der üblichen Schöpfungsgeschichte: Das erste Prinzip, das aus dem ungestalteten Meer der Ursachen entsteht, ist die große bzw. universale Intelligenz. Das ist ungefähr das, was wir als höhere Vernunft betrachten, in der es keinen Ego-Wahn gibt. Man könnte vielleicht auch von reinem Bewußtsein oder ganzheitlichem Wissen sprechen, das alles im Universum vereint. Daraus entsteht das Ichbewußtsein, sozusagen das trennende oder gegensätzliche Wissen bzw., Denken, das sich vor allem durch Mein und Dein abgrenzt. Daraus entstehen dann die fünf großen Elemente, die im Prinzip alles umfassen, womit sich die klassische Physik beschäftigt. Weil diese Elemente alle von Intelligenz und Bewußtsein durchdrungen sind, ordnet man diesen Elementen auch die menschlichen Sinne zu. Als erstes entsteht (aus dem Ichbewußtsein) das Raumelement mit der räumlichen Trennung und alle den Feldern und Wellen, die sich im Raum ausbreiten können, sozusagen der „Klang der Welten“. Daraus entsteht das Windelement mit dem Prinzip der Bewegung, also auch „der Sturm der Gefühle“, die uns bewegen. Durch diese Bewegung entsteht die Wärme der Reibung und damit das Feuerelement mit dem Licht und der Sichtbarkeit, sozusagen „die Sicht der Dinge“. Daraus entsteht durch Abkühlung das fließende Wasserelement mit dem Geschmack, sozusagen das, was wir „Geschmack des Lebens“ nennen. Schließlich verdichtet sich das Wasser zum festen Erdelement in Form von Materie, und der Duft entsteht, sozusagen der „Duft der Vergänglichkeit“. Damit sind schließlich in der Erde alle sieben Prinzipien enthalten sowie alle Eigenschaften der Elemente. Man sieht in diesem Schema auch deutlich, daß man Geist und Materie nicht prinzipiell trennen kann. Und damit relativiert sich natürlich auch die Unterscheidung zwischen Leben oder Tod. (Quelle: Vayu-Purana 1.4 und 1.49, Vishnu Purana 2.7, Markandeya Purana 45 oder Shiva Purana 10.19)
Dieses Weltbild hat eine gewisse Genialität. Zum einen erkennt man hier die Grundsätzlichkeit der Seele, die sich in einer großen Erhabenheit ausdrückt, wie sie auch in unserem Märchen deutlich wird. Denn der Däumling wächst nicht, verstrickt sich nicht in die Welt, sammelt nichts an, und man kann noch nicht einmal behaupten, daß er auf seiner Wanderung selbst etwas lernt. Wie im Spiel sagt er: „Verkauft mich nur! Ich komme schon wieder zurück.“ Eine ähnliche Erhabenheit finden wir zum Beispiel in der Krishna-Gestalt der indischen Geschichten, der in der Welt spielt und seine Aufgabe erfüllt, ohne sich in die Welt zu verstricken. Also ganz anders, als das kleine, gierige und angstvolle Ego, das wir heute im Menschen kennen.
Zum anderen ist es mit diesem Weltbild auch kein Zufall, daß körperliche Lebewesen wie wir Menschen existieren, sondern eine ganz natürliche und folgerichtige Entwicklung. Denn Intelligenz, Ichbewußtsein und Sinnesbewußtsein sind hier wesentliche Eigenschaften jeder Materie, die also immer danach drängt, sich entsprechend den Bedingungen in sensiblen Organismen zu organisieren und zu verkörpern. Das bedeutet, das alles beseelt ist und auch wir immer mit dieser Seele, dem ungestalteten Meer der Ursachen, verbunden sind, woraus alles entsteht und wieder darin vergeht. Ähnlich wie die Wellen auf dem Meer immer mit dem Meer verbunden sind, aus dem Meer entstehen und wieder im Meer vergehen. Das hat natürliche einige Vorteile, denn damit läßt sich nicht nur die Entstehung des Lebens plausibel erklären sondern auch die geistigen Fähigkeiten, Vernunft, Denken, Erinnerung, Telepathie, Nahtoderfahrungen, Geister, Placebo-Effekte, Homöopathie und ähnliche praktische Erfahrungen. Mit diesem Weltbild mußte man auch keine Angst davor haben, im Nichts zu vergehen. Die Menschen waren immer mit dem Meer der Ursachen verbunden, und kein Wort, kein Gedanke und keine Tat ging verloren. Dafür haben sie darüber nachgedacht, was sie damit während des Lebens alles verursachen und ansammeln und wie sie aus diesem Kreislauf zwischen Geburt und Tod sowie Glück und Leid entkommen könnten. Entsprechend gab es verschiedene Wege zur Befreiung, über die wir heute kaum noch nachdenken.
Denn unser Weltbild hat sich diesbezüglich entscheidend verändert. Das Bewußtsein, das damals Grundlage war, ist nun irgendwie aus toter Materie entstanden, und keiner weiß so richtig, wie das zufällig passieren konnte. Und sogar die materielle Welt basiert auf einer Reihe von Fragezeichen, wovon die Wissenschaftler behaupten, daß kein Mensch wissen kann, woraus zum Beispiel der Raum, die Bewegung und all die Energie im Urknall entstanden sind. Das sieht schematisch ungefähr so aus:
materialistisch-egozentrisches Weltbild
Entsprechend leiden wir heute unter einer wachsenden Existenzangst, trotz allen materiellen Wohlstandes. Denn unser Bewußtsein basiert auf toter und vergänglicher Materie. Der Vorteil ist, wir brauchen nicht so viel über die Befreiung nachdenken, denn unser Bewußtsein endet sowieso in toter Materie. Entsprechend erklingt der Schlachtruf: „Man lebt nur einmal!“ Und was man in diesem Leben nicht ergreifen und genießen kann, wird man niemals mehr ergreifen und genießen können. Das bedeutet „Nach mir die Sintflut!“, denn was geht mich die Welt nach meinem Tod an? Was nützt uns also eine Seele, die innerlich zu uns spricht in einem toten Universum?
Zu diesem Thema gibt es noch ein ähnliches Märchen der Brüder Grimm mit dem Titel „Daumerlings Wanderschaft“. Hier klingt bereits an, daß wir die Stimme der Seele in unserer unruhigen und lauten Welt kaum noch hören. Das erkennt man schematisch sogar in dem neuen Weltbild, wo sich Bewußtsein und Gehör weit voneinander entfernt haben. So braucht man sich heute nicht wundern, wenn niemand die innere Stimme der Seele mehr hört, wenn es zum Beispiel heißt „Was lange hält, bringt kein Geld!“ oder „Giften ist besser als Pflügen!“. Vielleicht sollten wir angesichts der Naturkatastrophe „Mensch“ nicht so viel über technische oder bürokratische Lösungen nachdenken, sondern mehr über die Ursachen in unserem Weltbild, das die menschliche Basis zum Hören, Denken und Handeln ist und sich in den letzten Jahrhunderten immer mehr zum primitiven Materialismus gewandelt hat.
Dabei gibt es seit fast hundert Jahren eine wissenschaftliche Quantenmechanik, die mittlerweile tausendfach schlüssig nachgewiesen und bewiesen wurde, aber selbst unter Wissenschaftlern praktisch kaum einen Einfluß auf ihr Weltbild gewonnen hat. Die philosophischen Konsequenzen dieser Quantenmechanik werden weder in den Schulen noch im Studium gelehrt und auch in öffentlichen Medien kaum verbreitet. Eine klar bewiesene Erkenntnis wird im Leben einfach ignoriert. Sogar ein genialer Wissenschaftler wie Albert Einstein konnte die philosophischen Konsequenzen der Quantenmechanik sein Leben lang nie akzeptieren. Da fragt man sich besorgt: Um welche Interessen geht es eigentlich in der Wissenschaft?
Und das hat natürlich fatale Konsequenzen: Wir arbeiten heute mit den Technologien des 20. und 21. Jahrhunderts, aber nutzen sie mit der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. Das ist sicherlich ein wichtiger Grund, warum wir gegenwärtig geistig gar nicht fähig sind, diese mächtigen Technologien verantwortungsvoll zu benutzen. Wir wollen die Natur beherrschen, aber können uns selbst nicht beherrschen. Im Vergleich zu der wissenschaftlich-technischen Entwicklung sind wir in der geistigen Entwicklung auf Kindergarten-Niveau stehengeblieben und gleichen Kindern, die mit dem Feuer spielen. Trotz besseren Wissens halten wir uns blind am Materialismus des 19. Jahrhunderts fest, und das heißt sprichwörtlich: „Den Karren in den Dreck fahren.“
Aber es gibt immer noch Hoffnung. Auch unter renommierten Wissenschaftlern findet man mittlerweile Versuche, das materielle Weltbild wieder auf eine geistige Basis zu stellen. Erst 2014 gab es ein Manifest für eine post-materialistische Wissenschaft, womit sich weltweit eine ganze Reihe renommierter Wissenschaftler mutig gegen das materialistische Dogma der heutigen Wissenschaft stellten, das zu einem Leben in einer toten Natur führt. Man spricht mittlerweile auch von einem morphogenetischen, Matrix-, Informations- oder Psi-Feld und sogar von einem „Meer der Möglichkeiten“ im Rahmen einer Quantenphilosophie. Hier ahnt man langsam, daß das riesige Vakuum zwischen den winzigen Elementarteilchen nicht völlig leer ist, und daß es im Grunde gar keine „Teilchen“ gibt. Hans-Peter-Dürr, ein berühmter Physiker, der sich tiefgründig mit der modernen Quantenphysik beschäftigte, sagte sogar in einem Interview:
„Die Felder in der Quantenphysik sind nicht nur immateriell, sondern wirken in ganz andere, größere Räume hinein, die nichts mit unserem vertrauten dreidimensionalen Raum zu tun haben. Es ist ein reines Informationsfeld - wie eine Art Quantencode. Es hat nichts zu tun mit Masse und Energie. Dieses Informationsfeld ist nicht nur innerhalb von mir, sondern erstreckt sich über das gesamte Universum. Der Kosmos ist ein Ganzes, weil dieser Quantencode keine Begrenzung hat. Es gibt nur das Eine...
Die Wirklichkeit in der neuen Physik ist Potentialität, eine Welt der Kann-Möglichkeiten, sich auf verschiedene Art materiell-energetisch zu verkörpern. Deshalb möchte ich die Begriffe Teilchen oder Atom nicht mehr benutzen und sage statt dessen Wirks oder Passierchen. Ein Passierchen ist ein winzig kleiner Prozeß.“ (P.M. Magazin 05/2007)
Und damit befindet sich die Potentialität bzw. das Ungestaltete im Meer der Ursachen, aus dem die Wirks passieren, wieder ganz unten an der Basis einer neuen Physik mit einem Weltbild, das in vielerlei Hinsicht den alten indischen Überlieferungen gleicht. Oder wie es oben in der Chandogya-Upanishad hieß:
Glaube, oh Teurer, was jene Feinheit ist (die du nicht sehen kannst), daraus besteht dieses ganze Weltall, das ist das Wahre, das ist die Seele, das bist du!
Wir wagen es kaum zu glauben, aber vielleicht hat sogar die uralte Seele wieder eine moderne Chance?
Wenn Sie nun unseren Kommentar zu diesem wunderbaren Märchen gelesen haben, werden Sie vielleicht fragen: „Wer soll das begreifen?“ Dann sind Sie der Wahrheit sehr nah, denn die Seele ist mit gewöhnlichen Gedanken prinzipiell nicht zu begreifen, weil sie das ist, was begreift. Und so kann man eigentlich nur in Gleichnissen und Spiegelbildern von ihr sprechen. Das gleiche Problem gibt es übrigens in der modernen Quantenphysik. Auch diese kann man nur mit Gleichungen der Mathematik beschreiben oder eben mit Gleichnissen aus unseren Alltagserfahrungen. Aus dieser Notlage unserer begrifflichen Gedanken sind offenbar auch die uralt-überlieferten Märchen mit ihrer wunderbaren Symbolik entstanden, wie auch die Gleichnisse der Bibel, die vielen symbolischen Geschichten der alten indischen Puranas und viele andere mystische Erzählungen überall in der Welt, um etwas zu verdeutlichen, was eigentlich unerklärlich ist, weil das, was am Grunde unserer Welt ist - was die Welt im Innersten zusammenhält - eine ungestaltete Potentialität ist, ein Informationsfeld oder auch ein Meer der Ursachen bzw. Möglichkeiten. Aus diesem Grund versuchte auch der berühmte Physiker Hans-Peter-Dürr vor allem mit Bildern und Gleichnissen über die moderne Quantenphysik zu sprechen. Dazu möchten wir zum Abschluß auf einen wunderbaren Vortrag verweisen, den er im Jahre 2002 an der Universität Clausthal mit dem Titel „Wir erleben mehr als wir begreifen“ gehalten hat:
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• Fundevogel - (Thema: Weg zur Befreiung, geistige Werte)
• Doktor Allwissend - (Thema: Wissenschaft, Geist)
• Der Geist im Glas - (Thema: Das Wesen des Geistes, Schulsystem, Homöopathie)
• Die Erbsenprobe / Prinzessin auf der Erbse - (Thema: Natürliche Sensibilität)
• Die sieben Schwaben - (Thema: Corona-Hysterie, Das Wesen der Angst)
• Daumesdick / Däumling (Thema: Was ist die Seele? Stimmt unser Weltbild?)
• Die Kristallkugel / Vom Schloß der goldenen Sonne - (Thema: Egoismus, das innere Tier besiegen)
• Des Kaisers neue Kleider - (Thema: Mahnmal 2020 - GELD-MACHT-BLIND)
• Rattenkönig Birlibi - (Thema: Geld, Feindschaft, Sucht und Armut)
• Das Dietmarsische Lügenmärchen - (Thema: Lügen, Gedanken und Vernunft)
• Der Räuberbräutigam - (Thema: tote Seele, geistiger Mord)
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
[1843] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 5. Auflage, Göttingen 1843 |