Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Des Kaisers neue Kleider (Mahnmal 2020)

Märchentext von Hans Christian Andersen [1837]
Interpretation durch Wissenschaft und Politik 2020

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um das Theater und liebte es nicht, spazieren zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagt, er ist im Rat, so sagte man hier immer: »Der Kaiser ist in der Garderobe!«

In der großen Stadt, in welcher er wohnte, ging es sehr munter zu. An jedem Tage kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie den schönsten Stoff, den man sich denken könne, zu weben verständen. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Stoff genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.

»Das wären ja prächtige Kleider,« dachte der Kaiser; »wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, und ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, der Stoff muß sogleich für mich gewebt werden!« Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

»Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Stoff sind!« dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, daß der, welcher dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft der Stoff habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.

»Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden,« dachte der Kaiser; »er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!«

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. »Gott behüte uns!« dachte der alte Minister und riß die Augen auf. »Ich kann ja nichts erblicken!« Aber das sagte er nicht.

Beide Betrüger baten ihn näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl und der arme, alte Minister fuhr fort die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. »Herr Gott,« dachte er, »sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne den Stoff nicht sehen!«

»Nun, Sie sagen nichts dazu?« fragte der eine von den Webern.

»O, es ist niedlich, ganz allerliebst!« antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. »Dieses Muster und diese Farben! - Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!«

»Nun, das freut uns!« sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.

Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob der Stoff bald fertig sei. Es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er sah und sah; weil aber außer dem Webstuhle nichts da war, so konnte er nichts sehen.

»Ist das nicht ein hübsches Stück Stoff?« fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, welches gar nicht da war.

»Dumm bin ich nicht,« dachte der Mann; »es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muß man sich nicht merken lassen!« Daher lobte er den Stoff, welchen er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. »Ja, es ist ganz allerliebst!« sagte er zum Kaiser.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Stoff. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter welchen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.

»Ja, ist das nicht prächtig?« sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. »Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?« und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die andern den Stoff wohl sehen könnten.

»Was!« dachte der Kaiser; »ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.« - »O, es ist sehr hübsch,« sagte er; »es hat meinen allerhöchsten Beifall!« und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl, denn er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus, als alle die andern, aber sie sagten gleichwie der Kaiser: »O, das ist hübsch!« und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei der großen Prozession, die bevorstand, zu tragen. »Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!« ging es von Mund zu Mund, man schien allerseits innig erfreut darüber, und der Kaiser verlieh den Betrügern den Titel: Kaiserliche Hofweber.

Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten über sechzehn Lichter angezündet. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie den Stoff aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: »Sieh, nun sind die Kleider fertig!«

Des Kaisers neue Kleider

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: »Seht, hier sind die Beinkleider! Hier ist der Rock! Hier der Mantel!« und so weiter. »Es ist so leicht wie Spinnenwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit davon!«

»Ja!« sagten alle Beamte, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts.

»Belieben Eure kaiserliche Majestät jetzt Ihre Kleider abzulegen,« sagten die Betrüger, »so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!«

Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzögen, welche fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.

»Ei, wie gut sie kleiden! Wie herrlich sie sitzen!« sagten alle. »Welches Muster! Welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!«

»Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welche über Eure Majestät getragen werden soll!« meldete der Oberzeremonienmeister.

»Seht, ich bin ja fertig!« sagte der Kaiser. »Sitzt es nicht gut?« und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine kostbaren Kleider recht betrachte.

Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: »Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!« Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht als diese.

»Aber er hat ja gar nichts an!« rief endlich ein kleines Kind. »Herr Gott, hört die Stimme der Unschuld!« sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. »Aber er hat ja gar nichts an!« rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: »Nun muß ich die Prozession aushalten.« Und so hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.


GELD-MACHT-BLIND - Mahnmal 2020

Sehr geehrte Leser, wir möchten Sie bitten, dieses denkwürdige Märchen, das vor fast 200 Jahren niedergeschrieben wurde, zuerst als Ganzes zu lesen und eine Weile auf sich wirken zu lassen, bevor Sie sich unsere nachfolgende Interpretation anschauen. Dieses Märchen wird gegenwärtig in der Welt und den öffentlichen Medien tausendfach interpretiert, und wir könnten es auch „Des Kaisers neue Medien, Gelder oder Zahlen“ nennen. Angesichts der bedenklichen Rolle vieler Wissenschaftler und Politiker und dem Wahnsinn, der gegenwärtig herrscht, machen wir den Vorschlag, dieses Märchen zum „Mahnmal 2020“ aufzurichten, zusammen mit drei Begriffen, die nun offenbar unsere ganze Welt regieren: GELD-MACHT-BLIND


Des Kaisers neue Kleider (Medien, Gelder und Zahlen)

Märchentext von Hans Christian Andersen [1837]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]

Nun, wer dieses Märchen gelesen hat, wird die große Frage erkennen: „Wie kann man etwas sehen, das gar nicht da ist?“

Wenn wir uns gegenwärtig (Mai 2020) in der Welt umschauen, finden wir zunehmend sogenannte „Verschwörungstheoretiker“, nach deren Ansichten man dieses Märchen wie folgt interpretieren müßte:

Der Kaiser symbolisiert eine Schar selbstsüchtiger Politiker, die es lieben, sich in der Öffentlichkeit zu verherrlichen, und sich nur am Rande um die eigentlichen Probleme des Volkes kümmern. Die beiden Betrüger symbolisieren ihre fachlichen Berater, z.B. bestimmte Wissenschaftler, die eine besondere Gunst erlangt haben und nun ein unsichtbares Angstprodukt verkaufen, das aus Gedankenketten gewoben wird. Damit wollen sie viel Geld und Ruhm verdienen und ihre Institute über lange Zeit mit gigantischen Fördermitteln versorgen, und wer an dieses Wahngebilde nicht glaubt, gilt als unsozial und gefährlich für alle Mitbürger. Dazu gibt es wiederum viele Minister, Berater und Medien, die zwar den Betrug sehen, aber aus Angst um ihren Job und ihre amtlichen Privilegien mitspielen. Die große Volks-Parade wird durchgezogen, und das Volk ist zunächst davon begeistert, bis ein Kind ruft: „Da ist doch gar nichts!“ Das Kind symbolisiert einige wenige Mediziner, die man durchaus als Kinder auf der politischen Bühne bezeichnen kann, denn sie leben noch in einer praktischen Welt und folgen einfach ihren Erfahrungen, die durch langjährige Arbeit mit Patienten und ihren Krankheiten entstanden sind. Deshalb können sie die Theatershow auf der politischen Bühne gar nicht verstehen und melden sich erstaunt zu Wort. Ihr Aufruf schlägt eine große Welle durch das ganze Volk, und am Ende des Märchens heißt es: Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: »Nun muß ich die Prozession aushalten.« Und so hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

Nun soll es hier nicht unsere Aufgabe sein, auf das uferlose Meer der sogenannten „Fakten“ hinauszurudern, das gegenwärtig so stürmisch ist, und mit den Wellen zu kämpfen, wie Don Quijote gegen die Windmühlen. Wir möchten lieber etwas unter die Oberfläche tauchen und untersuchen, was eigentlich die Ursachen für dieses Märchen sind, das wir heute erleben. Denn die Wurzeln des Übels liegen sicherlich viel tiefer und haben sich lange Zeit in Wissenschaft und Politik entwickelt und verankert. Was wir hier erfahren, ist nur die Spitze vom Eisberg. Wenn wir also wirklich etwas ändern wollen, sollten wir die Ursachen erkennen und daran arbeiten. Also beginnen wir noch einmal von vorn:

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um das Theater und liebte es nicht, spazieren zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagt, er ist im Rat, so sagte man hier immer: »Der Kaiser ist in der Garderobe!«

In der großen Stadt, in welcher er wohnte, ging es sehr munter zu. An jedem Tage kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie den schönsten Stoff, den man sich denken könne, zu weben verständen. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Stoff genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, daß sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.

»Das wären ja prächtige Kleider,« dachte der Kaiser; »wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, und ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, der Stoff muß sogleich für mich gewebt werden!« Er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle. Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

Das ist bereits sehr denkwürdig, denn gerade heute gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, mit denen sich Herrscher und Politiker in der Öffentlichkeit darstellen können, wie die modernen Medien von Fernsehen, Rundfunk und Internet, so daß man von „Des Kaisers neue Medien“ sprechen könnte. Und daß sie vor lauter Darstellung ihr eigentliches Amt vergessen, ist auch nichts Außergewöhnliches. Der dafür benutzte „Stoff“ ist vor allem „Information“. Damit bekleiden sich die modernen Herrscher, und zur Zeit weben die Medien an bedenklichen Feindbildern, mit denen die Natur zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt wird und gleichzeitig auch alle Menschen, die eine andere Meinung vertreten. Nun, wer sich die Natur zum Feind macht, macht sich das Leben zum Feind. Und wer sich Andersdenkende zum Feind macht, macht sich zum blinden Diktator einer schrecklichen Monokultur. Eigentlich sollten wir aus der Geschichte und besonders aus den letzten beiden Weltkriegen gelernt haben, was aus Feindbildern entstehen kann, die sich in den Köpfen vieler Menschen festfressen...

Man könnte auch über die Illusion des Geldes nachdenken, also „Des Kaisers neue Gelder“. Auch dieser Wahn spukt in den Köpfen der Menschen. Zur letzten Wirtschaftskrise fragte man: „Wo ist denn das ganze Geld hin?“ Und einige Kinder fragten zurück: „War es überhaupt da?“ Zu diesem Thema gibt es einen sehr denkwürdigen Artikel von Christoph Pfluger mit dem Titel „Geld aus Nichts macht arm“. Auch gegenwärtig laufen die Gelddruckmaschinen für das „Papiergespenst der Gulden“ auf Hochtouren, und viel einfacher wäre es, wenn es nur noch elektronisches Geld gäbe. So wird unsere Welt offenbar von drei Begriffen regiert: GELD-MACHT-BLIND

Geld aus Nichts macht arm - Mit freundlicher Genehmigung von Christoph Pfluger.

Für diese seltsame Illusion liefert die Wissenschaft eine sehr wichtige Grundlage, die wir hier etwas näher betrachten möchten, nämlich die Gläubigkeit an Zahlen und Statistiken, das heißt „Des Kaisers neue Zahlen“. Wer glaubt heute nicht an Zahlen? Daß 1 viel weniger als 100 ist, weiß doch jeder. Zahlen und Mathematik wurden zum Bollwerk der modernen Wissenschaft gegen den mittelalterlichen Aberglauben, aber leider oft auch gegen die menschliche Vernunft. Denken wir nur an die vielen Studien mit jahrelangen Meßreihen, die vielleicht irgendwann in Zukunft feststellen, welchen großen Schaden die vielen Tonnen Gifte auf Feldern, in Lebensmitteln, im Grundwasser und im ganzen ökologischen Gleichgewicht der Natur anrichten. Warum hören wir nicht einfach auf die innere Stimme der Vernunft, die deutlich sagt, daß man nichts übertreiben sollte (Ne quid nimis). Dann wüßten wir, daß der massenhaft übertriebene Einsatz von Antibiotika in die Krise führt, immer mehr Medikamente nicht gesünder machen und extensive Massenproduktion der Umwelt und dem Klima schadet. Warum muß die Land- und Viehwirtschaft immer mehr produzieren, wenn wir doch den größten Teil wegwerfen und der Rest immer noch ausreicht, so daß Fettleibigkeit zur Volkskrankheit wurde? Wenn man mit einer Mark vernünftig leben kann, wozu hundert?

Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins, und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten. [Faust I]

Im Land der Lügen - Warum Zahlen uns täuschen können | ARD-Reportage

Warum glauben wir so blind an Zahlen? Die Wissenschaft spricht sogar von „natürlichen Zahlen“. Was ist daran natürlich? Es gibt wohl nichts Abstrakteres und Lebloseres. Die Mathematik sagt, man darf nur gleiche Dinge bzw. homogene Objekte addieren, also nicht Äpfel und Birnen, es sei denn man abstrahiert sie z.B. zu Früchten. Um echte Äpfel zu addieren, müßte man voraussetzen, daß alle Äpfel gleich sind. Doch wo findet man in der Natur wirklich gleiche Äpfel? Sie unterscheiden sich immer irgendwie. Kann man überhaupt irgendwo in der Natur zwei völlig identische Objekte finden, die man wahrhaft addieren könnte? Erfahrungsgemäß nicht, denn so etwas schafft nur der wissenschaftliche Geist durch Abstraktion, in dem man nur gedanklich eingeschränkte Merkmale betrachtet. Das mag in manchen Dingen nützlich sein, doch diese Abstraktion wurde zur allumfassenden Wahrheit erhoben, wie auch die Statistiken, mit denen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft arbeiten. Und wer nicht daran glaubt, der gilt auch heute noch als „dumm und für sein Amt unfähig“. Solche Menschen braucht weder die Wirtschaft noch die Wissenschaft, denn sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „nicht zu gebrauchen“. Auf sie kann man nicht „zählen“, und mit ihnen kann man nicht „rechnen“. Das heißt: Sie sind wenig manipulierbar.

So finden wir die Rolle der heutigen Wissenschaft mittlerweile sehr bedenklich, denn sie wird immer mehr zu einem mißbrauchten Werkzeug für Politik und Wirtschaft und propagiert zu diesem Zweck immer noch ein materialistisch-egozentrisches Weltbild, das im Prinzip den Anschauungen der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts entspricht (siehe Daumesdick). Doch dieses Weltbild ist seit den Entdeckungen der Quantenphysik nicht mehr haltbar (siehe Manifest für eine post-materialistische Wissenschaft). Das bestätigt auch der zunehmende Fanatismus, mit dem das sterbende Weltbild gegen jede andere Meinung verteidigt wird. Die Situation gleicht der mittelalterlichen Inquisition, und wer damals als Ketzer oder Häretiker verklagt wurde, wird heute als Esoteriker oder Verschwörungstheoretiker verrufen. Der Karren steckt tief im Dreck, und die Schlammschlacht läuft. Wir glauben nicht, daß man auf diese Weise mit dem bisherigen Weltbild unsere aktuellen Probleme von Gesundheit, Klima, Natur und Umwelt wirklich lösen kann. Wenn die Jugend heute verzweifelt auf die Straße geht und fordert „Hört auf die Wissenschaftler!“, muß man sicherlich auch fragen, inwieweit die Wissenschaft für diese katastrophale Entwicklung verantwortlich war und ob man hier nicht „den Bock zum Gärtner“ macht.

So könnte man dieses Märchen zunächst aus gesellschaftlicher Sicht betrachten und über die Rolle der Betrüger nachdenken, und besonders über den letzten Satz: „... sie verlangten die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.“

Doch noch viel interessanter ist die psychologische Ebene mit der Frage nach den Ursachen: Wie entsteht diese trügerische Illusion in einem Menschen? Das Märchen sagt:

»Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Stoff sind!« dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, daß der, welcher dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft der Stoff habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.

»Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden,« dachte der Kaiser; »er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er!«

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. »Gott behüte uns!« dachte der alte Minister und riß die Augen auf. »Ich kann ja nichts erblicken!« Aber das sagte er nicht.

Beide Betrüger baten ihn näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl und der arme, alte Minister fuhr fort die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. »Herr Gott,« dachte er, »sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne den Stoff nicht sehen!«

»Nun, Sie sagen nichts dazu?« fragte der eine von den Webern.

»O, es ist niedlich, ganz allerliebst!« antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. »Dieses Muster und diese Farben! - Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!«

»Nun, das freut uns!« sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.

„der Kaiser dachte... er hat Verstand... sah durch seine Brille... Muster und Farben...“ Wenn man diesen Text achtsam liest, findet man schnell einen Bezug auf die Gedankenfabrik, die in jedem Menschen arbeitet. Dazu benutzen wir zunächst die fünf Sinne, um in die Welt zu schauen. Und wie wir alle wissen, sind diese bereits sehr trügerisch. Doch noch trügerischer ist unser Denken als Funktion des Verstandes, der die Sinneseindrücke durch die Brille der angesammelten Erfahrungen betrachtet und in bestimmte Muster zergliedert und abstrahiert. Die Brille wirkt wie eine Lupe, womit man nur einen kleinen Teil des ganzen Bildes scharf sehen kann, und der Rest verschwimmt und wird ausgeblendet.

Zwar ist's mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst wär so, das Zweite so,
Und drum das Dritt und Vierte so;
Und wenn das Erst und Zweit nicht wär,
Das Dritt und Viert wär nimmermehr.
Das preisen die Schüler allerorten,
Sind aber keine Weber geworden. [Faust I]

Dieses Verweben der Gedanken erzeugt den „Stoff“, an den wir gewöhnlich glauben, und der uns so real und materiell vorkommt. Sie „sind aber keine Weber geworden“, das heißt, der Mensch beherrscht nicht das Gewebe, sondern das Gewebe beherrscht ihn. Und wer von diesem Gewebe der Gedanken beherrscht wird und sich darin verstrickt, wird von Illusion beherrscht. Zu dieser Illusion gehört vor allem die Vorstellung von „Ich“ und „Mein“, und daraus entsteht die leidenschaftliche Begierde, und so heißt es: „Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen, und steckten alles in ihre eigenen Taschen.“

Ähnlich sagt auch Eckhart Tolle in seinem Buch „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ bezüglich unserer heutigen Welt:
Der Philosoph Descartes glaubte, er habe die fundamentalste Wahrheit gefunden, als er seine berühmte Aussage machte: "Ich denke, also bin ich." In Wirklichkeit hat er damit den grundlegendsten Irrtum ausgedrückt... Identifikation mit deinem Verstand erschafft einen dunklen Schleier von Konzepten, Bezeichnungen, Vorstellungen, Wörtern, Urteilen und Definitionen, der jede wahre Beziehung behindert... Denken ist zu einer Krankheit geworden. Krankheit entsteht, wenn Dinge aus dem Gleichgewicht geraten... Der Verstand ist ein hervorragendes Instrument, wenn er richtig benutzt wird. Bei falschem Gebrauch kann er allerdings sehr destruktiv werden. Genauer gesagt ist es nicht so, daß du deinen Verstand falsch gebrauchst - du gebrauchst ihn normalerweise überhaupt nicht. Er gebraucht dich. Das ist die Krankheit. Du hältst dich für deinen Verstand. Das ist die Wahnidee. Das Instrument hat die Macht über dich gewonnen.

Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob der Stoff bald fertig sei. Es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er sah und sah; weil aber außer dem Webstuhle nichts da war, so konnte er nichts sehen.

»Ist das nicht ein hübsches Stück Stoff?« fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, welches gar nicht da war.

»Dumm bin ich nicht,« dachte der Mann; »es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muß man sich nicht merken lassen!« Daher lobte er den Stoff, welchen er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. »Ja, es ist ganz allerliebst!« sagte er zum Kaiser.

Nun, jeder Mensch weiß, wie trügerisch Gedanken sein können. Doch wer könnte entscheiden was Wahr und Falsch ist? Hier begegnet uns wohl die größte Herausforderung im Leben. Kinder können ihre Eltern fragen, Schüler ihre Lehrer, Arbeiter die Wissenschaftler und Bürger die Politiker. Doch wer weiß noch guten Rat? Denn wenn man so um sich schaut, wird immer deutlicher, daß man sich kaum noch auf sogenannte „Fakten“ verlassen kann. Jeder „Fakt“ ist im Grunde eine Frage des Glaubens an Gedanken, und auf dieser Ebene kann es nur relative Wahrheit geben, auf die man sich niemals blind verlassen darf, oder wie Herman Hesse schrieb: „Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr!“ Was nun? Nun geht es darum, an sich selbst zu arbeiten und über dem gedanklichen Verstand eine höhere geistige Ebene zu entwickeln, die man Vernunft oder universale Intelligenz nennt. Universal, weil sie nicht mehr auf das kleine „Ich“ oder engstirnige, gierige Gedanken beschränkt ist. Was der Verstand zergliedert bzw. „unterscheidet“ und als „Fakten“ betrachtet, das kann die Vernunft schlichten bzw. „entscheiden“, wie auch ein guter Richter im Sinne der Wahrheit entscheidet. In diesem Sinne sollte die Vernunft in uns Kaiser sein und die Gedanken die Staatsmänner bzw. Minister, deren Aufgabe es ist, dem Kaiser bei seinen „Entscheidungen“ zu helfen. Wenn aber der Kaiser korrupt und blind ist und sich betrügen läßt, was für „Entscheidungen“ sollte man erwarten? Dann versinkt der ganze Staat in Lug und Trug.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Stoff. Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter welchen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner waren, die schon früher dagewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.

»Ja, ist das nicht prächtig?« sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. »Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?« und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die andern den Stoff wohl sehen könnten.

»Was!« dachte der Kaiser; »ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.« - »O, es ist sehr hübsch,« sagte er; »es hat meinen allerhöchsten Beifall!« und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl, denn er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus, als alle die andern, aber sie sagten gleichwie der Kaiser: »O, das ist hübsch!« und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei der großen Prozession, die bevorstand, zu tragen. »Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!« ging es von Mund zu Mund, man schien allerseits innig erfreut darüber, und der Kaiser verlieh den Betrügern den Titel: Kaiserliche Hofweber.

Das traurige Problem ist, daß die Marktwirtschaft, in der wir leben, praktisch keinerlei Interesse hat, daß die Bürger eine höhere Vernunft entwickeln, um zwischen Wahr und Falsch entscheiden zu können. Denn damit würde das Machtmonopol der Werbung und öffentlichen Medien schwinden, und die Menschen wären viel weniger manipulierbar. Deshalb geschieht eher das Gegenteil: Durch die Wissenschaft wird vor allem der gedankliche Verstand gefördert und nicht die Vernunft. Diese Entwicklung kann man viele Jahrhunderte zurückverfolgen, und man erkennt sie vor allem daran: Je mehr die Vernunft schwindet, um so mehr Schaden richtete der Mensch im Organismus der Natur an, denn die ganzheitliche Sicht geht verloren, der Egoismus wächst und verfolgt nur kurzsichtige und eigennützige Ziele, die langfristig schädlich sind. Das geht soweit, daß heute kaum noch jemand weiß, was eigentlich Vernunft ist. Es gehört auch nicht mehr zur Ausbildung in der Schule, und der Begriff wird sogar zunehmend wie ein Schimpfwort gebraucht. Unternehmensberater fragen ernsthaft: „Wie oft hat es Dich im Leben weitergebracht, wenn Du vernünftig warst?“ Es lebe der Egoismus!

Aber gut, das ist sicherlich ein endloses Thema. Wir möchten hier noch etwas auf die geistige Ebene dieses Märchens eingehen. Der Kern solcher symbolischen Geschichten ist schon uralt. Eine ähnliche Symbolik findet man bereits in alten indischen Schriften, wie zum Beispiel im Mahabharata Epos:

Der Körper wird mit einer Stadt verglichen. Die Vernunft ist ihr König, und das im Körper wohnende Denken gleicht einem Minister, der die Angelegenheiten vor den König bringt, welcher sie entscheiden sollte. Die Sinnesorgane sind die vom Denken angestellten Bürger (um dem König zu dienen). Um die Bürger zu hegen, treibt sie das Denken mit Sinnesobjekten beständig zur Tätigkeit an. Dafür benutzt es zwei fragwürdige Gesellen, die man Leidenschaft und Unwissenheit (Rajas und Tamas) nennt. Von den Früchten dieser Tätigkeit leben alle Einwohner zusammen mit den Herren der Stadt, aber auch die fragwürdigen Gesellen erstarken damit in ihrer hinterlistigen Macht. Dadurch sinkt die Vernunft, die bis dahin König war, auf die gleiche Stufe wie das Denken (indem sie unter den Einfluß von Leidenschaft und Unwissenheit kommt). Ist die Vernunft schwach, verlieren die Sinne ihre Klarheit und das Denken seine Zuverlässigkeit, wie auch die Minister korrupt und die Bürger unsicher werden, wenn der König keine Kraft hat. [MHB 12.254]

Auch hier werden zwei Betrüger beschrieben, und es wird klar gesagt, daß man diese Betrüger nicht so sehr in der äußeren Welt suchen sollte, sondern im eigenen Innern. Wenn die alten indischen Texte von „Unwissenheit“ sprechen, dann meinen sie interessanterweise die sogenannte Gelehrtheit, das gedankliche Wissen, das immer fragwürdig bleibt. Das haben die Menschen bereits vor vielen Tausenden Jahren erkannt, daß man sich auf die fünf Sinne und Gedanken nicht verlassen kann. Diese Erfahrungen sind gut und nützlich in dieser Welt, aber sie sind vor allem Abstraktionen, die immer nur einen kleinen Teil des Ganzen erfassen. Am Ende geht es um eine höhere Ebene der Erkenntnis, über der sinnlich-gedanklichen Ebene. Schon die alten Inder wußten, daß die Materie, die uns so fest erscheint, nur eine sinnlich-gedankliche Abstraktion ist, wie auch die moderne Physik eigentlich weiß, daß Materie nur aus Energie oder sogar nur aus Information besteht. Und aus dieser Sicht werden wir ständig von den Sinnen und Gedanken betrogen, bis sich die Vernunft über den Verstand erheben kann und dem Betrug Einhalt gebietet.

Bis dahin umhüllt sich das Ego mit einem stofflichen Körper und glaubt an den Stoff, der so schön und besonders macht. Und dafür arbeiten wir oft ein ganzes Leben lang:

Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten über sechszehn Lichter angezündet. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie den Stoff aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: »Sieh, nun sind die Kleider fertig!«

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: »Seht, hier sind die Beinkleider! Hier ist der Rock! Hier der Mantel!« und so weiter. »Es ist so leicht wie Spinnenwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit davon!«

»Ja!« sagten alle Beamte, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts.

»Belieben Eure kaiserliche Majestät jetzt Ihre Kleider abzulegen,« sagten die Betrüger, »so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!«

Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzögen, welche fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.

»Ei, wie gut sie kleiden! Wie herrlich sie sitzen!« sagten alle. »Welches Muster! Welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!«

»Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welche über Eure Majestät getragen werden soll!« meldete der Oberzeremonienmeister.

»Seht, ich bin ja fertig!« sagte der Kaiser. »Sitzt es nicht gut?« und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine kostbaren Kleider recht betrachte.

Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: »Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!« Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht als diese.

»Aber er hat ja gar nichts an!« rief endlich ein kleines Kind. »Herr Gott, hört die Stimme der Unschuld!« sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

Wer ist der Vater? Darin könnte man die höhere Vernunft sehen, das heißt, ein reines Bewußtsein, das die Stimme der Unschuld hören kann. Und was ist die Unschuld eines Kindes? Ein Kind ist noch nicht durch die Schule des Verstandes gegangen und wird nur wenig von gedanklichen Abstraktionen beherrscht. Es weiß noch nichts vom abstrakten Wert des Geldes, von Wertpapieren, Besitzurkunden und Personalausweisen. Die gedanklichen Abstraktionen wie auch unser Wertesystem werden erst im Laufe des Lebens ausgebildet, wie zum Beispiel viele Kinder im folgenden Bild die beiden rötlichen Kreise noch gleich groß erkennen, aber Erwachsene gewöhnlich durch die äußere Relation getäuscht werden:

So heißt es in der Bibel nicht umsonst: „Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Matthäus 18.3)“ Hier steht nicht, daß der Mensch wie ein Kind bleiben und seinen Verstand nicht ausbilden soll. Das ist schon richtig. Aber danach soll er wieder umkehren und wie ein Kind werden. Und damit ist sicherlich auch gemeint, den Prozeß der gedanklichen Abstraktion wieder umzukehren und eine ganzheitliche und direkte Sicht zu entwickeln, die nicht durch die Brille der Gedanken verzerrt und zerteilt wird. Dazu kann der Mensch den Verstand mit all seinem angesammelten Wissen in Vernunft und Weisheit verwandeln. Das wäre der wahre Reichtum der Menschen. So befreit er sich von den Fesseln der Gedanken, legt die schwere Last der weltlichen Sorgen ab, von denen die meisten selbstgemacht sind, und kann sprichwörtlich in Leichtigkeit zum Himmel aufsteigen. Das Leben wird leicht und freundlich, denn die größte Abstraktion, die sich ein Mensch im Laufe seines Lebens einbildet, ist die Person mit „Ich“ und „Mein“. Der Begriff „Person“ stammt nicht umsonst vom lateinischen Wort „Persona“ ab, das ursprünglich die Maske eines Schauspielers bezeichnete. Und so heißt es auch in der Bibel weiter: „Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“

»Aber er hat ja gar nichts an!« rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: »Nun muß ich die Prozession aushalten.« Und so hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

Wer die Weisheit in sich entwickelt, der macht die Vernunft zum Kaiser, und wenn der Kaiser vernünftig ist, werden auch die Minister und das ganze Volk vernünftig, das heißt unsere Sinne, Gedanken und alles angesammelte Wissen. Dann kann man den gedanklichen Verstand als nützliches Werkzeug benutzen, ohne davon beherrscht oder überwältigt zu werden.

Und was spricht dagegen? Zwei große, redegewandte Betrüger, nämlich der Egoismus und die Gedanken, die Feindbilder malen können, wo keine Feinde sind, und etwas sehen können, wo nichts ist. Damit bleibt der Kaiser blind und kann keine Vernunft entwickeln. Dann wird die Illusion des Egos zunehmend die Herrschaft ergreifen, und die Minister bzw. Gedanken werden diesem Wahn dienen und Dinge sehen, die gar nicht da sind. Und was im Inneren der Menschen geschieht, geschieht natürlich auch in der äußeren Welt, wie man heute gut beobachten kann. So wäre es sicherlich heilsam, wenn wir nicht nur den Verstand mit immer mehr Wissen als „Wissenschaft“ entwickeln, sondern auch die Vernunft mit der Weisheit, die uns wesentlich mehr Segen im Leben bringen kann als alles Geld der Welt.


Zum Abschluß möchten wir noch Eckhart Tolle vorstellen, den wir oben zitiert haben. Er ist wohl einer der Glücklichen, der es tiefgründig geschafft hat, die beiden Betrüger von Ego und Gedanken zu besiegen und das Bewußtsein auf eine höhere Ebene der Vernunft zu erheben, die er auch „die Stille“ nennt, weil hier der Lärm der Gedanken verstummt.


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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1837] Andersen, Hans Christian, Sämtliche Märchen, Leipzig um 1900
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[Faust I] Johann Wolfgang von Goethe, Faust Teil 1, Eine Tragödie, Tübingen 1808.
[MHB] Das Mahabharata, www.mahabharata.pushpak.de
[2020] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 15. Mai 2020