Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Simeliberg

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]

Dieses Märchen, daß die Brüder Grimm gesammelt haben, hat große Ähnlichkeit mit der Geschichte „Ali Baba und die vierzig Räuber“ aus der Sammlung „Tausendundeiner Nacht“. Doch sie stammt nicht aus dem arabischen Original, sondern wurde von Antoine Galland, dem ersten europäischen Übersetzer, dieser Sammlung hinzugefügt. Angeblich hat er sie 1709 in Paris von einem syrischen Märchenerzähler gehört. Welche Geschichte nun von wem abstammt, ist schwer zu sagen. Das ganze Märchen scheint relativ modern zu sein, aber wir möchten es hier doch behandeln, um nach den schrecklichen Geschichten vom „Räuberbräutigam“ und dem „Armen Jungen im Grab“ das Wesen des Egos noch etwas tiefgründiger zu untersuchen.

Es waren zwei Brüder, einer war reich, der andere arm. Der Reiche aber gab dem Armen nichts, und er mußte sich vom Kornhandel kümmerlich ernähren. Da ging es ihm oft so schlecht, daß er für seine Frau und Kinder kein Brot hatte. Einmal fuhr er mit seinem Karren durch den Wald, da erblickte er zur Seite einen großen kahlen Berg, und weil er den noch nie gesehen hatte, hielt er still und betrachtete ihn mit Verwunderung. Wie er so stand, sah er zwölf wilde große Männer daherkommen: Weil er nun glaubte, das wären Räuber, schob er seinen Karren ins Gebüsch und stieg auf einen Baum und wartete, was da geschehen würde. Die zwölf Männer gingen aber vor den Berg und riefen: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf!« Alsbald tat sich der kahle Berg in der Mitte voneinander und die zwölfe gingen hinein, und wie sie drin waren, schloß er sich zu. Über eine kleine Weile aber tat er sich wieder auf, und die Männer kamen heraus und trugen schwere Säcke auf dem Rücken, und wie sie alle wieder am Tageslicht waren, sprachen sie: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu!« Da fuhr der Berg zusammen, es war kein Eingang mehr an ihm zu sehen, und die zwölfe gingen fort. Als sie ihm nun ganz aus den Augen waren, stieg der Arme vom Baum herunter und war neugierig, was wohl im Berge Heimliches verborgen wäre. Also ging er davor und sprach »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf!«, und der Berg tat sich auch vor ihm auf. Da trat er hinein, und der ganze Berg war eine Höhle voll Silber und Gold, und hinten lagen große Haufen Perlen und blitzende Edelsteine, wie Korn aufgeschüttet. Der Arme wußte gar nicht, was er anfangen sollte, und ob er sich etwas von den Schätzen nehmen dürfte. Endlich füllte er sich die Taschen mit Gold, die Perlen und Edelsteine aber ließ er liegen. Als er wieder herauskam, sprach er gleichfalls: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu!« Da schloß sich der Berg, und er fuhr mit seinem Karren nach Haus.

Das Märchen beginnt mit zwei Brüdern, die offenbar zwei verschiedene Entwicklungsstufen des Egos darstellen, ein Armer und ein Reicher. Wie der Reiche zu seinem Reichtum kam, bleibt hier offen. In der „Ali Baba“-Version aus der Sammlung „Tausendundeiner Nacht“ spricht man von einem reichen Erbe. Nun erfährt der Arme durch Zufall oder auch Schicksal von einer geheimen Höhle und bekommt sogar den Schlüssel dazu. Das Märchen sagt: „Wie er so stand, sah er zwölf wilde große Männer daherkommen: Weil er nun glaubte, das wären Räuber...“ Und ja, sein Verdacht bestätigte sich soweit, weil sie aus der Höhle schwere Säcke herausschleppten. Bei Ali Baba waren es interessanterweise Räuber, welche den Reichtum vor allem in die Höhle hineintrugen. So könnte man fast glauben, daß dieses Märchen vom Simeliberg eine Fortsetzung der Geschichte von Ali Baba ist und davon handelt, wie die reichgefüllte Räuberhöhle von seinen Nachkommen nach und nach ausgeräumt wird. Das kommt uns natürlich bekannt vor. Auch wir haben irgendwann der Natur das Wissen abgelauscht, wie wir an die Bodenschätze der Erde gelangen. Hier geht es nicht nur um Edelmetalle und Edelsteine sondern vor allem um fossile Brennstoffe wie Kohle, Gas und Öl, die seit vielen Millionen Jahren in der Erde lagern und nun in wenigen Jahrhunderten in gigantischen Ausmaßen abgebaut bzw. ausgeraubt und von uns verbrannt werden.

Damit sind wir gleich bei der großen Frage, was sind eigentlich Räuber? Woher kommt dieser seltsame Eigentumsanspruch, daß alles von dieser Erde uns Menschen gehört? Und nicht einmal allen Menschen, sondern jeder nimmt sich, was er gerade greifen und verteidigen kann. Wie kommt der Mensch dazu, ein Stück Erde sein Eigentum zu nennen und einfach einen Zaun darum zu ziehen? Baff - das gehört jetzt mir...

Auch unser armer Kornhändler beschaffte sich den Zugang, aber zweifelt zunächst, ob er sich hier etwas nehmen sollte. Diese Frage ist wirklich heikel. Er weiß genau, daß ihm dieser Reichtum nicht gehört. Er nimmt aber auch an, daß er von Räubern stammt, denen dieser Reichtum auch nicht gehört. Darf man Räuber berauben? Der Arme meint: ja und füllt sich die Taschen. Warum denkt er nicht darüber nach, die Räuber einem Gericht auszuliefern? Macht er sich damit selbst zum Räuber? Und warum verschließt er die Höhle wieder? Aber zunächst scheint die Sache gut weiterzugehen:

Nun brauchte er nicht mehr zu sorgen und konnte mit seinem Golde für Frau und Kind Brot und auch Wein dazu kaufen, lebte fröhlich und redlich, gab den Armen und tat jedermann Gutes. Als aber das Geld zu Ende war, ging er zu seinem Bruder, lieh einen Scheffel und holte sich von neuem; doch rührte er von den großen Schätzen nichts an. Wie er sich zum dritten Mal etwas holen wollte, borgte er bei seinem Bruder abermals den Scheffel. Der Reiche aber war schon lange neidisch über sein Vermögen und den schönen Haushalt, den er sich eingerichtet hatte, und konnte nicht begreifen, woher der Reichtum käme, und was sein Bruder mit dem Scheffel anfinge. Da dachte er eine List aus und bestrich den Boden mit Pech, und wie er das Maß zurückbekam, so war ein Goldstück daran hängengeblieben. Alsbald ging er zu seinem Bruder und fragte ihn: »Was hast du mit dem Scheffel gemessen?« »Korn und Gerste,« sagte der andere. Da zeigte er ihm das Goldstück und drohte ihm, wenn er nicht die Wahrheit sagte, so wollt er ihn beim Gericht verklagen. Er erzählte ihm nun alles, wie es zugegangen war.

Nun, zumindest blieb er einigermaßen vernünftig, kaufte Brot und Wein, lebte fröhlich und redlich, gab den Armen und tat jedermann Gutes. Als aber das Geld zu Ende war, ging er zu seinem Bruder, lieh einen Scheffel und holte sich von neuem... Das klingt seltsam. Kann man mit Geld die Armut beseitigen? Kann man mit Geld jedermann Gutes tun? Das sind schwere Fragen. Wieviel Reichtum hätte der Reiche seinem armen Bruder geben sollen, damit er nicht mehr arm ist? Auch wir beginnen heute zu begreifen, daß es nicht ausreicht, jede Menge Geld in die sogenannten „Entwicklungsländer“ zu pumpen. Wir verstehen auch langsam, daß die üblichen Fördermittel für unsere Wirtschaft mehr den Betrug und die Gier anstatt eine nachhaltige Kreativität fördern. Denn praktisch ging das Geld des Armen nach kurzer Zeit zu Ende. Warum? Das Märchen sagt: Er war ein Kornhändler ohne Maß. Den Scheffel holte er sich von seinem reichen Bruder, und mit diesem Maß ist es natürlich nie genug. Mit einem solchen Maß, das man auch „Unmäßigkeit“ nennt, kann man die Armut niemals überwinden.

Warum hat der Arme mit der „Starthilfe“ mehrerer Taschen Gold nicht etwas Lebendiges, Nachhaltiges und Fruchtbares geschaffen, das von selbst gedeiht? Deutet nicht das ganze Märchen darauf hin, daß Reichtum fruchtbar sein sollte? Zu jeder Gelegenheit werden Körner und Getreide erwähnt. Bei Ali Baba heißt es sogar: „Sesam, öffne dich!“ Und Semsi bzw. Simsim ist das arabische Wort für Sesam. Sesam wird nachweislich schon viele tausend Jahre als Nahrungs- und Heilmittel vor allem in Arabien, China und Indien verwendet. Man schreibt ihm große Energie zu, die sich im Körper entfaltet und die Gesundheit fördert. Darüber hinaus wird Sesam auch vor allem in Indien für viele Rituale verwendet, um zum Beispiel das Tor zu den Ahnen zu öffnen. So geht es sicherlich auch in diesem Märchen bei dem Spruch „Sesam öffne dich!“ um lebendigen Samen, der sich öffnen und gedeihen kann. Doch der Arme schafft es nicht, daß sein Reichtum fruchtbar und nachhaltig gedeiht. Auch das ist ein Kennzeichen für Räuber: Sie brauchen immer mehr, und es ist nie genug. So geht er nun ein zweites und ein drittes Mal mit dem Scheffel des Reichen und holt immer mehr. Daß dies nicht gut gehen kann, wenn er das Maß des Reichen benutzt, sollte eigentlich klar sein.

Und was holt den Armen schließlich ein? Die Furcht vor dem Gericht, denn er hat kein reines Gewissen mehr. Damit verstrickt er sich in die Welt, wird erpreßbar und muß sein Geheimnis verraten. Das ist nichts Außergewöhnliches. Auch unsere Wissenschaftler verraten die Geheimnisse der Natur für viel Geld und Ruhm an die unersättlichen Reichen.

Der Reiche aber ließ gleich einen Wagen anspannen, fuhr hinaus, wollte die Gelegenheit besser benutzen und ganz andere Schätze mitbringen. Wie er vor den Berg kam, rief er: »Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf!« Der Berg tat sich auf, und er ging hinein. Da lagen die Reichtümer alle vor ihm und er wußte lange nicht, wozu er am ersten greifen sollte, endlich lud er Edelsteine auf, soviel er tragen konnte. Er wollte seine Last hinausbringen, weil aber Herz und Sinn ganz voll von den Schätzen waren, hatte er darüber den Namen des Berges vergessen und rief: »Berg Simeli, Berg Simeli, tu dich auf!« Aber das war der rechte Name nicht, und der Berg regte sich nicht und blieb verschlossen. Da ward ihm angst, aber je länger er nachsann, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken, und halfen ihm alle Schätze nichts mehr. Am Abend tat sich der Berg auf und die zwölf Räuber kamen herein, und als sie ihn sahen, lachten sie und riefen: »Vogel, haben wir dich endlich, meinst du, wir hätten’s nicht gemerkt, daß du zweimal hereingekommen bist, aber wir konnten dich nicht fangen, zum dritten Mal sollst du nicht wieder heraus.« Da rief er: »Ich war’s nicht, mein Bruder war’s!« Aber er mochte bitten um sein Leben und sagen, was er wollte, sie schlugen ihm das Haupt ab.

Und damit endet das Märchen der Gebrüder Grimm vom Simeliberg. Naja, was hier passiert, wenn der Reiche mit noch weniger Vernunft diesen Weg geht, brauchen wir nicht weiter zu erklären. Je mehr Gier, desto weniger Vernunft. Und je weniger Vernunft, desto mehr Gier. Und aus diesem Teufelskreis des Wahns kommt er nicht wieder heraus. Schließlich erscheinen zwölf Räuber und rauben ihm alles, was er besitzt, nämlich Kopf und Leben. Wer sind diese zwölf Räuber? Die Zahl erinnert an die Stunden der Uhr oder die Monate des Jahres. Vielleicht ist damit auch die Zeit gemeint, die alles Angehäufte wieder zerstreut und alles Geschaffene zerstört. Wer sich aus diesem materiellen Berg, der auch an unseren Körper erinnert, nicht erheben kann, der wird am Ende natürlich auf diese Räuber treffen und alles verlieren. Der Reiche stirbt und der Arme lebt. Ein Happy-End? Seine letzten Worte waren: »Ich war’s nicht, mein Bruder war’s!« Ja, auch der Arme ist wohl von diesem Vorwurf nicht frei. Zumindest wird ihm zweimal Raub vorgeworfen, als er mit dem Scheffel des Reichen das Gold geholt hat. Das erste Mal hätten sie ihm vielleicht vergeben. Aber nun muß auch er den Tod fürchten, denn es ist nur eine Frage „der Zeit“, daß die Räuber den Räuber ergreifen.

Die Geschichte von Ali Baba aus der Sammlung von „Tausendundeiner Nacht“ geht nicht wesentlich besser aus. Hier spielen noch zwei relativ gierige Ehefrauen mit und eine klug berechnende, aber auch brutale Sklavin, die keine Lügen scheut und 38 Räuber ermordet, um ihren ahnungslosen Herrn Ali Baba zu beschützen. Diese Dame verheiratete er dann an seinen Sohn, und übergab ihm schließlich auch das Geheimnis der Höhle.

Im Ganzen möchte man meinen, auch die Geschichte von Ali Baba stammt aus einer Zeit der Anarchie, denn weder ein König noch ein höheres Gericht spielt eine entscheidende Rolle. Im Gegenteil, jeder will König sein und viel Reichtum genießen. Alle Mittel sind erlaubt. Der zweifelhafte Raub zieht Lügen, Selbstjustiz und Morde nach sich. Am Ende müssen die Kinder von Ali Baba mit diesem Geheimnis und 38 Leichen im Garten leben. Aber es heißt zum Abschluß der Geschichte, daß sie „ihr Glück in weiser Mäßigung genossen, in hohem Glanze und geschmückt mit den höchsten Ehrenstellen der Stadt.“ Naja, in dieser Hinsicht ist es offenbar ein modernes Märchen, das die Hoffnung moderner Menschen zum Ausdruck bringt.

So möchten wir nun versuchen, ob wir auf einer geistigen Ebene noch eine tiefere Botschaft entdecken können:

Das Prinzip des „Ich-Bewußtseins“, das uns hier auf unterschiedliche Weise in den beiden Brüdern begegnet, war schon den ältesten Kulturen wohlbekannt. Wir finden es in der Bibel, als Adam und Eva beim Zischeln der Schlange nach dem Apfel griffen, sich als Personen erkannten und aus dem Paradies geworfen wurden. Auch in den uralten indischen Philosophien steht dieses Prinzip des Ichbewußtseins über der ganzen natürlichen Schöpfung und verkörpert sich sogar im Schöpfergott Brahma. Dieses Ichbewußtsein ist ein Prinzip der Trennung und Abgrenzung, daß wir überall in der Natur beobachten können. Man sieht es bei den Tieren, die ihr Revier beanspruchen, in den Körpern der Lebewesen, die sich verteidigen und von anderen ernähren, in den lebenden Zellen, die eine äußere Membran bilden und sich selbst organisieren, und wenn man will, bis zu den kleinsten Atomen, die sich durch ihre Hüllen abgrenzen und strukturieren. Aus diesem Prinzip der Abgrenzung entstehen alle unsere Namen und Formen. Dieses Ichbewußtsein ist damit ein Grundprinzip der ganzen Natur und somit auch jedem Lebewesen angeboren. Und wie alles in der Natur, unterliegt auch dieses Prinzip einer Entwicklung, die wir an jedem Kind beobachten können, wenn sich das Ichbewußtsein zum Ego einer Persönlichkeit bildet bzw. einbildet. Dafür gibt es viele Abstufungen, ja nachdem, wie weit sich dieses Prinzip verhärtet, vom selbstlosen und freundlichen Wohltäter bis zum selbstsüchtigen und gewalttätigen Tyrannen mit einem Herz aus Stein.

Und was macht so einen Menschen zum Räuber? Man sagt gewöhnlich: Wenn er sich willentlich nimmt, was ihm nicht gegeben wird. Vielleicht sollten wir uns einmal bewußt werden, daß wir alles, was wir besitzen, von der Natur empfangen. Wahrlich, sie gibt uns wirklich alles. Doch je mehr sich aus dem angeborenen Ichbewußtsein das gierige Ego zur engen Körperlichkeit entwickelt, um so gieriger, unersättlicher und gewaltsamer greifen wir nach den Gaben der Natur. Das macht uns zu Räubern, die nur noch nehmen wollen. Es entsteht ein seltsamer Begriff von persönlichem Eigentum und Reichtum. Und hier könnte man viel über das Symbol des Scheffels nachdenken, das Maß, mit dem wir unseren Reichtum bemessen. Damals war schon ein Scheffel sehr vermessen, später kamen die „Millionäre“ und heute sprechen wir von „Milliardären“. In Bälde kommen die „Billiardäre“, die als supereiche Super-Egos die Weltwirtschaft und Weltpolitik beherrschen werden. Die große Frage ist: Wieviel braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Und welche Rolle spielt das Maß von Geld und Reichtum?

Wir glauben heute fest daran, daß uns der Reichtum frei machen kann. Doch praktisch sind wir in eine Welt des Reichtums eingeschlossen, vielleicht sogar schon gefangen und versklavt, und haben offenbar den Zauberspruch vergessen, mit dem unser Reichtum zum Guten gedeiht und nachhaltig lebendig bleibt. Wir denken nicht mehr an Semsi bzw. Sesam als fruchtbaren Samen für das Leben. Wir haben wie der Reiche im Märchen nur noch Simeli bzw. Simili im Kopf, und damit öffnet sich dem Reichen der Berg nicht. Denn Simili bedeutet auf Lateinisch „ähnlich“ und meint die bekannten Similisteine, womit wertvolle Edelsteine durch geschliffenes Glas imitiert werden. Und sicherlich ist es kein Zufall, daß die Gebrüder Grimm das Märchen „Similiberg“ genannt haben. Leben wir vielleicht in einem solchem „Similiberg“, in einem Glasberg oder Glassarg einer virtuellen Scheinwelt, wie es so viele Märchen beschreiben? Wir imitieren ein reiches Leben mit scheinbaren Maßen wie den „Geld-Scheinen“ oder virtuellen Zahlen auf virtuellen Konten. Soll das wirklich der wahre Reichtum des Lebens sein?

Unser moderner Reichtum besteht vor allem aus totem Eigentum, ein lebloser Reichtum, der unfruchtbar bleibt und nicht von selbst gedeiht. Wir haben das natürliche Gleichgewicht von „leben und leben lassen“ verloren. Das ist der Hauptgrund, warum wir immer mehr brauchen, immer mehr Energie und immer mehr Rohstoffe. Unser Ichbewußtsein entwickelt sich zum Eigentümer materieller Körperlichkeit und nicht zur geistigen Freiheit. Deshalb wächst der gierige Egoismus, und deshalb heißt unser Märchen „Simeliberg“, weil wir aus diesem materiellen Simili-Wahn der Körperlichkeit nicht mehr entkommen können und darin unseren Kopf verlieren, der uns die geistige Freiheit gewähren könnte.

Aus den alten Kulturen wissen wir, daß über dem Ichbewußtsein noch ein höheres Prinzip existiert, die universale Intelligenz mit der ganzheitlichen Vernunft oder auch göttlichem Bewußtsein. Diese ganzheitliche Vernunft galt früher als der wahre Reichtum des Menschen, wonach er streben sollte. Das war das große Ziel, wovon die alten Überlieferungen berichten. Zu diesem freien und offenen Geist sollte das Ichbewußtsein entwickelt werden und nicht zur engen und eingeschlossenen Körperlichkeit in toter Materie. „Sesam, öffne dich!“ Ein lebendiges Gedeihen, ein Leben und leben lassen. „Berg Semsi, tu dich auf!“ Wir selbst sollen uns öffnen und nicht immer weiter verschließen. Öffne dein Herz und gib deinen inneren Reichtum! Nicht nur das geprägte Gold, auch die schönen Edelsteine und Perlen. Unser Ichbewußtsein sollte weit werden und nicht in einem engen Körper eingeschlossen als raffgieriges Super-Ego leben. Es geht nicht darum, immer mehr weltliche Reichtümer zu „scheffeln“ und sich einem zweifelhaften Maß des Reichtums unterzuordnen.

Unser globales Problem heißt: „Berg Semsi, tu dich zu!“ Das schließt unser Herz, und damit werden wir zu egoistischen Räubern, die toten Reichtum scheffeln. Nicht umsonst wird betont, daß sich der Berg von selbst schließt, wenn man hinein geht, aber nicht, wenn man herauskommt. Die Räuber haben die Höhle verschlossen, weil sie den Reichtum für sich besitzen wollten. Und der Arme? Vielleicht ist das die tiefere Botschaft des Märchens. Und von diesem weiten, freien und offenen Ichbewußtsein, das sich nicht verschließt, spricht vermutlich auch die Bibel, wenn Jesus in seiner berühmten „Berg-Predigt“ sagt:

Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind. [Bibel, Matthäus 5.14]

Wir sind ein Teil der Natur und haben hier sicherlich eine Aufgabe zu erfüllen. Und Vielleicht sind die Augen aller Lebewesen auf uns Menschen als Krone der Schöpfung gerichtet. Sie fragen sich: Werden sie es schaffen? Werden sie diese Erleuchtung finden, das tierhafte Ego überwinden und die Natur erlösen? Darum war die Geburt als Mensch früher etwas sehr Wertvolles. Heute muß man sich schon schämen, als Mensch geboren zu sein, wenn man sieht, wie wir mit der Natur und ihren reichen Gaben umgehen. Aber der Witz des Jahrhunderts meint:

Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine: Du siehst aber schlecht aus! Sagt der andere: Ja, ich habe Homosapiens. Ach, sagt der erste, mach dir nichts draus, das geht vorbei.

Vielleicht sollten wir alle darüber nachdenken, diesem modernen Märchen vom Similiberg der „Geld-Schein-Welt“ noch ein gutes Ende zu geben. Unser Vorschlag wäre:

Als der Arme erfuhr, daß sein reicher Bruder aus der Höhle nicht zurückgekehrt war, fürchtete er sich sehr vor den Räubern und ging nie wieder dorthin. Er starb als armer Mann, und auf dem Sterbebett erzählte er die ganze Geschichte seinem Sohn. Sobald der Vater begraben war, ging der Sohn mutig zur Höhle, öffnete sie und trat voller Erwartungen hinein. Doch ach, die Höhle war völlig leer, nur an der kahlen Felswand konnte er in sonderbaren Buchstaben einen Spruch lesen:

Wer nichts besitzt, kann nichts verlieren.
Wo nichts verschlossen ist, kann niemand einbrechen.
Wo nichts zu stehlen ist, gibt es keine Diebe.
Wo nichts zu rauben ist, gibt es keine Räuber.
Wo nichts zu töten ist, gibt es keine Mörder.

Und darunter lag ein seltsames Gefäß auf dem Boden. Es war der Scheffel des Reichen, dem die Räuber den Boden ausgeschlagen hatten. Was nützt ein solches Maß? Er ließ es zurück, verließ die Höhle und schloß sie nie wieder. Noch viele Menschen konnten diesen Spruch lesen, bis er irgendwann verblaßte. Und der Sohn zog durch die Welt und wurde ein berühmter Märchenerzähler. Manchmal erzählte er auch vom Simeliberg, und wenn er nicht gestorben ist, so erzählt er noch heute...



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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[2020] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. Oktober 2020