Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Okerlo („Ichmensch“)

Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2023]

Eine Königin setzte ihr Kind in einer goldenen Wiege aufs Meer und ließ es fortschwimmen. Es ging aber nicht unter, sondern schwamm zu einer Insel, da wohnten lauter Menschenfresser. Wie nun so die Wiege geschwommen kam, stand gerade die Frau des Menschenfressers am Ufer, und als sie das Kind sah, welches ein wunderschönes Mädchen war, beschloß sie, es groß zu ziehen für ihren Sohn, der sollte es einmal zur Frau haben. Doch hatte sie große Not damit, daß sie es sorgfältig vor ihrem Mann, dem alten Okerlo versteckte, denn hätte er es zu Gesicht bekommen, so wäre es mit Haut und Haar aufgefressen worden.

Hier haben wir nun wieder ein Märchen, das im Ganzen kurz und knackig ist und doch voll tiefster Symbolik steckt. So wollen wir versuchen, über eine mögliche Deutung nachzudenken, um vielleicht zur weiteren Meditation anzuregen: Die Königin erinnert uns hier an die höchste Seele oder auch an die reine Natur und ewige Mutter, die alles gebiert. Und ihr Kind wäre dann die menschliche Seele, die als eine wogende Welle des Bewußtseins auf dem Meer des Lebens geboren und in einer goldenen Wiege bzw. Woge ausgesetzt wurde, das heißt, vom Gold der Wahrheit getragen und bewegt, vom reinen Bewußtsein. Als ewiges Bewußtsein kann die Seele auf diesem Meer natürlich niemals „untergehen“, sonst wäre es keine Wahrheit, aber sie kommt aus der Ewigkeit zu einer Insel der Vergänglichkeit, zu einem abgetrennten und engbegrenzten Bewußtsein, das sich als menschliches Ego bzw. „Ichmensch“ verkörpert. Durch die Trennung von „Ich“ und „Andere“ entsteht diese kleine Insel, und damit wird der Ichmensch auch zu einem „Menschenfresser“ als Okerlo oder Oger bzw. Unhold, denn er ernährt sich praktisch von den „Anderen“ im Spiel der Gegensätze und könnte ohne sie gar nicht existieren. Die Frau bzw. Seele des Okerlo findet nun in sich selbst am Ufer vom Meer des Lebens bzw. der Ursachen eine viel schönere Seele als das gierige und unersättliche Ichbewußtsein, nämlich ein reineres Bewußtsein, aber muß es vor dem Ichmensch verbergen, denn auf dieser geistigen Ebene des gierigen Ichbewußtseins gibt es nur den begrifflichen Verstand, der alles Geistige „mit Haut und Haar“ in die Körperlichkeit auffressen bzw. „einverleiben“ will, wie auch unsere moderne Naturwissenschaft mit dem begrifflichen Verstand alles Geistige bzw. Spirituelle aufgefressen und in die materielle Körperlichkeit einverleibt hat. Und wie sich nun die reine Seele vor diesem gefräßigen Ichmenschen verbirgt und schließlich auch rettet, davon erzählt dieses Märchen.

Als nun das Mädchen groß geworden war, sollte es mit dem jungen Okerlo verheiratet werden. Es mochte ihn aber gar nicht leiden und weinte den ganzen Tag. Wie es so einmal am Ufer saß, da kam ein junger schöner Prinz geschwommen, der gefiel ihm, und es gefiel ihm auch, und sie versprachen sich miteinander. Indem aber kam die alte Menschenfresserin, die wurde gewaltig bös, daß sie den Prinzen bei der Braut ihres Sohnes fand, und kriegte ihn gleich zu packen: „Wart nun, du sollst zu meines Sohnes Hochzeit gebraten werden!“

Diese reine Seele, die nun „groß geworden“ und offenbar zu einem größeren Bewußtsein als dem begrenzten Ichbewußtsein gewachsen war, wollte und konnte sich natürlich nicht mit der egoistischen Körperlichkeit eines heranwachsenden Okerlo bzw. Ichmenschen als Menschenfresser verheiraten. Dazu fand sie am Ufer vom Meer des Lebens bzw. der Ursachen oder Möglichkeiten (siehe z.B. auch „Wie das Bewußtsein Wirklichkeit schaltet" von Dr. Ulrich Warnke) eine andere Körperlichkeit, die mehr mit der Weisheit einer höheren Vernunft zu vereinbaren war als mit dem Egoismus des begrifflichen Verstandes. Das gefällt natürlich dem gierigen Ichbewußtsein nicht, das die schöne menschliche Seele mit dem Ichmenschen verheiraten will, und mit dieser Hochzeit soll die Verkörperung der höheren Vernunft getötet und aufgefressen werden. Nun, auch das kennen wir aus unserer modernen Welt der Ichmenschen, in der es die Vernunft so schwer hat, daß kaum noch jemand weißt, was eigentlich „Vernunft“ bedeutet. Oder wie es bereits Goethe in [Faust I] ausdrückte:

Ein wenig besser würd‘ er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt's Vernunft und braucht's allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.

Der junge Prinz, das Mädchen und die drei Kinder des Okerlo schliefen aber alle in einer Stube zusammen. Wie es nun Nacht wurde, kriegte der alte Okerlo Lust nach Menschenfleisch und sagte: „Frau, ich habe nicht Lust bis zur Hochzeit zu warten, gib mir den Prinzen nur gleich her!“ Das Mädchen aber hörte alles durch die Wand, stand geschwind auf, nahm dem einen Kind des Okerlo die goldene Krone ab, die es auf dem Haupte trug, und setzte sie dem Prinzen auf. Die alte Menschenfresserin kam gegangen, und weil es dunkel war, so fühlte sie an den Häuptern, und das, welches keine Krone trug, brachte sie dem Mann, der es augenblicklich aufaß.

So schläft nun die menschliche Seele mit verschiedenen geistigen Kräften zur Verkörperung in einem Raum des Bewußtseins im Traum der Welt und hat zwei Wege, um sich zu verkörpern. Entweder sie heiratet mit reiner Liebe die ganzheitliche Vernunft der Weisheit auf dem Weg zur Ewigkeit oder mit eigennütziger Liebe den Prinzen des Okerlo, den engbegrenzten begrifflichen Verstand der Unwissenheit mit seinen beiden Geschwistern auf dem Weg in die Vergänglichkeit. Die beiden Okerlo- Geschwister erinnern uns hier an Begierde und Haß, denn die drei geistigen Kräfte von Begierde, Haß und Unwissenheit sind allgemein die treibenden Kräfte zur Verkörperung des Ichbewußtseins in dieser vergänglichen Welt, wie man sie auch im Zentrum vom buddhistischen Rad des Lebens finden kann. Und ebendiese Begierde des alten Ichmenschen drängt nun in dieser „Nacht“ der Unwissenheit zu einer Entscheidung, so daß die vernünftige Seele handelt und die goldene Krone der Vernunft aufsetzt. Entsprechend greift das alte Ichbewußtsein wieder nach dem begrifflichen Verstand der Unwissenheit, denn das ist die Nahrung für die Verkörperung ihres „Mannes“, des Okerlo bzw. Ichmenschen.

Indessen wurde dem Mädchen himmelangst, und es dachte: „Bricht der Tag an, so kommt alles heraus, und es wird uns schlimm gehen.“ Da stand es heimlich auf und holte einen Meilenstiefel, eine Wünschelrute und einen Kuchen mit einer Bohne, die auf alles Antwort gab.

Die „Angst um den Himmel“ ist hier sicherlich angebracht und vernünftig, denn es ist nun damit zu rechnen, daß das Ichbewußtsein seine Täuschung bzw. Unwissenheit erkennt und nach der Vernunft greifen will. Aber nicht, um vernünftig zu werden, sondern um die Vernunft aufzufressen und dem begrifflichen Verstand „einzuverleiben“, weil sich das Ichbewußtsein weder zur Vernunft erheben kann noch will. Denn das Ichbewußtsein ist ein trennendes Bewußtsein als begrifflicher Verstand, während die Vernunft ein ganzheitliches Bewußtsein bzw. ein Gewahrsein der Wahrheit ist. So kann der Verstand die Vernunft „auffressen“, und deshalb kennt heutzutage auf der Insel der Ichmenschen auch kaum noch jemand den wesentlichen Unterschied zwischen Verstand und Vernunft und gleich gar nicht zwischen Ich und Selbst. So muß nun die reine Seele als eine Welle des Bewußtseins auf dem Meer der Möglichkeiten mit der Vernunft als ihrer Kraft zur Verkörperung vor dem begrenzten und gefräßigen Ichbewußtsein fliehen, das auf seiner persönlich verkörperten Insel lebt. Dazu wird sich das Bewußtsein seiner natürlichen Fähigkeiten und größten Mächte bewußt: Die Meilenstiefel als Macht der Beweglichkeit, die Wünschelrute als Macht der Verwandlung und die Bohne im Kuchen als Macht der Allwissenheit, die dem Bewußtsein als Nahrung dient.

Nun ging sie mit dem Prinzen fort. Sie hatten den Meilenstiefel an, und mit jedem Schritt machten sie eine Meile. Zuweilen fragten sie die Bohne: „Bohne, bist du auch da?“ „Ja“, sagte die Bohne, „da bin ich, beeilt euch aber, denn die alte Menschenfresserin kommt im andern Meilenstiefel nach, der dortgeblieben ist!“

Das heißt, das Ichbewußtsein besitzt im Wesentlichen die gleiche Macht zur Beweglichkeit wie das ganzheitliche Bewußtsein der Seele, aber in der Macht der Verwandlung und Allwissenheit ist es sehr begrenzt, nämlich durch die Anhaftung an eigenwillige Formen aufgrund seiner Unwissenheit. Der Spruch „Bohne, bist du da?“, der sich nun mit der Antwort „Ja, ich bin da!“ im Laufe des Märchens wie ein Mantra wiederholt, ist ein wunderbarer Zugang zum reinen „Dasein“ eines tiefen Bewußtseins als intuitive Quelle des Lebens, wie auch die Bohne als Samen eine Quelle des Lebens darstellt. Sich an dieses reine Bewußtsein bzw. Gewahrsein im Grunde zu erinnern, durchbricht die Begrenzungen von Ichbewußtsein und begrifflichem Verstand zu einem ganzheitlichen Bewußtsein einer höheren Vernunft. Dann verläßt das „Ich bin“ die engbegrenzte Person in Zeit und Raum und erinnert uns an das, was auch Christus in der Bibel meint, wenn er sagt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich. (Joh. 8.58)“ Oder: „Ihr seid von untenher, ich bin von obenher. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. (Joh. 8.23)“ Oder: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. (Joh. 14.6)“ Und diesen mystischen Weg des Christusbewußtseins oder der ganzheitlichen Vernunft können wir nun auch im Märchen wiederfinden:

Da nahm das Mädchen die Wünschelrute und verwandelte sich in einen Schwan und den Prinzen in einen Teich, worauf der Schwan schwimmt. Die Menschenfresserin kam und lockte den Schwan ans Ufer, allein es gelang ihr nicht, und verdrießlich ging sie heim.

Hat das Bewußtsein als wirkender Geist die Macht, sich nach Wunsch in äußere Dinge zu verwandeln? An dieser Frage scheiden sich heute die „Geister“ und vor allem die Wissenschaftler, denn diese Vorstellung rüttelt schwer am Fundament des modernen Materialismus. Doch früher wußten die Menschen, daß es die Macht des Bewußtseins ist, sich sozusagen selbst zu spiegeln und damit zu verkörpern, so daß Subjekt und Objekt entstehen, nämlich einerseits ein geistiges Schwan-Wesen und anderseits ein materieller Schwan-Körper mit seiner natürlichen Umgebung des Teiches, die sich wie in einem Spiegel gegenüberstehen. Und damit verbirgt sich die geistige Seele in den äußeren Formen, so daß das Ichbewußtsein mit dem begrifflichen Verstand die Seele als reine Welle des Bewußtseins in der Verkörperung nicht mehr erkennen kann. Denn nun erscheint ein äußerliches Objekt, das der gierig-ichhafte Verstand ergreifen will und verdrießlich wird, wenn er es nicht schafft, weil er sich nicht mehr selbst darin erkennen kann. Und mit diesem Verdruß der Unwissenheit zieht er sich wieder auf seine engbegrenzte Insel des Ichbewußtseins zurück.

Das Mädchen und der Prinz setzten ihren Weg fort: „Bohne, bist du da?“ „Ja“, sprach die Bohne, „hier bin ich, aber die alte Frau kommt schon wieder, der Menschenfresser hat ihr gesagt, warum sie sich habe anführen lassen.“ Da nahm das Mädchen den Stab und verwandelte sich und den Prinzen in eine Staubwolke, wodurch die Frau Okerlo nicht dringen kann, also kehrte sie unverrichteter Sache wieder um, und die anderen setzten ihren Weg fort.

Aber so leicht kann das Ichbewußtsein nicht aufgeben, denn die Suche nach seinem Ursprung liegt im Wesen des Bewußtseins selbst, und gerade die Verkörperung drängt uns immer wieder zum Suchen wie in einer Spiegelwelt. Nun verwandelt sich das Bewußtsein in das Wesen des Windes und in den Staub der Erde. Und auch durch diese dunkle Wolke kann der begriffliche Verstand nicht hindurchschauen, erkennt nur das Äußerliche und nicht das Wesentliche, das Körperliche und nicht das Geistige. Entsprechend diente der Wind früher auch als Symbol des wirkenden Geistes, wie wir auch in der Bibel finden: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. (Joh. 3.8)“ Nun, die Okerlos waren wohl noch nicht aus dem Geist, sondern aus dem Fleisch geboren, denn: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. (Joh. 3.6)

„Bohne, bist du da?“ „Ja, hier bin ich, aber ich sehe die Frau Okerlo noch einmal kommen, und gewaltige Schritte macht sie.“ Das Mädchen nahm zum dritten Mal den Wünschelstab und verwandelte sich in einen Rosenstock und den Prinzen in eine Biene, da kam die alte Menschenfresserin, erkannte sie in dieser Verwandlung nicht und ging wieder heim.

So muß wohl nun Frau Ichmensch mit ihrem eigenen Mann bzw. Körper als Menschenfresser, der sich von „Anderen“ ernährt, auf ihrer Ego-Insel bleiben, denn sie kann auch zum dritten Mal die reine Seele nicht erkennen und finden. Damit steht nun auch die große Frage: Warum flieht die reine Seele vor dem Ichbewußtsein und versteckt sich hinter den äußerlichen Formen der Verkörperung? Darin liegt offenbar ein Grundprinzip der Natur und auch ihr größter Segen: Die Wahrheit verbirgt sich in der Illusion, das Licht im Schatten, der Geist in der Materie, die Einheit in der Vielfalt und die Ewigkeit im Vergänglichen. So wird das Ichbewußtsein zur Ursache der Verkörperung, aber auch zur Suche nach der Wahrheit, denn alles Versteckte reizt das Bewußtsein zum Suchen. Wie es auch in der Bibel heißt: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. (Matth. 7.7)“ Das ist wohl der große Weg der menschlichen Vernunft, um unser wahres „Selbst“ wiederzufinden, nachdem wir uns in der Welt der Formen auf unseren Ego-Inseln im Meer des Lebens im illusionären „Ich“ verloren haben.

Allein nun konnten die zwei ihre menschliche Gestalt nicht wieder annehmen, weil das Mädchen das letzte Mal in der Angst den Zauberstab zu weit weggeworfen hatte.

Warum hat nun das Bewußtsein die Macht der Verwandlung zur menschlichen bzw. vernünftigen Gestaltung verloren? Vielleicht, weil plötzlich zwei getrennte Lebewesen entstanden sind, eine Pflanze und ein Tier. Ist damit der Zauberstab der Allmacht zerbrochen? Gibt es nun auch zwei getrennte Seelen? Oder haben Pflanzen und Tiere gar keine Seele, wie viele Vegetarier bezüglich ihrer Nahrung glauben, während andere bedenkenlos Tiere töten. Zumindest scheint mit dieser „zu weiten“ Trennung in zwei Lebewesen die Macht der Verwandlung und auch der Allwissenheit zerbrochen, denn auch die Bohne bzw. geistige Quelle wurde nun vergessen. Denn sobald das Bewußtsein die Ganzheit bzw. Gottheit verliert, verliert es seine Allwissenheit und Allmacht, hängt durch Unwissenheit in einer begrenzten Form fest und muß wie die Okerlos auf einer kleinen Ego-Insel wie in einer Blase des Ichbewußtseins leben.

Sie waren aber schon so weit gegangen, daß der Rosenstock in einem Garten stand, der der Mutter des Mädchens gehörte. Die Biene saß auf der Rose, und wer sie abbrechen wollte, den stach sie mit ihrem Stachel.

Wie weit muß man gehen, um in den Garten von Mutter Natur zu kommen, welcher der höchsten Seele gehört? Das ist wohl mehr eine geistige Reise, bis man sich bewußt wird, daß jede Verkörperung bzw. Verwandlung in diesem Garten der großen Mutter und Königin geschieht. Und wer hier nach der Rose greift und die schöne und begehrenswerte Blüte von ihrer Wurzel abbrechen will, das heißt, den Teil vom Ganzen, das Gute von Gott, den Geist von der Natur, das Objekt vom Subjekt, die Frucht vom Baum, das Ich von den Anderen oder den Körper von der Seele, der wird natürlich unter der Verkörperung leiden müssen und vom Stachel der „Anderen“ gestochen werden. Einerseits sticht die Biene, weil man ihr die Nahrung wegnimmt, und anderseits die Rose, weil man ihre Frucht abricht.

Einmal geschah es, daß die Königin selber in ihren Garten ging und die schöne Blume sah, worüber sie sich so verwunderte, daß sie sie abbrechen wollte. Aber Bienchen kam und stach sie so stark in die Hand, daß sie die Rose fahrenlassen mußte. Doch hatte sie diese schon ein wenig eingerissen. Da sah sie, daß Blut aus dem Stengel quoll und ließ eine Fee kommen, damit sie die Blume entzauberte.

Wer sich aus dem abgetrennten Ichbewußtsein befreien kann, wird die Ganzheit bzw. Gottheit auch in der Natur erkennen, wie sich die geistige Einheit des Bewußtseins in der Vielfalt der Formen verkörpert und wie die höchste Seele in dieser Vielfalt wie eine Königin lebt und durch Glück und Leid die praktischen Erfahrungen ermöglicht, so daß wir oft gestochen werden, wenn wir nach den schönen Blüten oder süßen Früchten greifen. Und gerade diese praktischen bzw. körperlichen Erfahrungen können dazu führen, im Blut bzw. Saft der Lebenskraft die eigene Tochter als menschliche Seele wiederzuerkennen und ihre Verkörperung mit Hilfe eines reinen Geistes zu entzaubern, das heißt, durch die Illusion der Unwissenheit hindurch das reine Bewußtsein zu erkennen, was man auch „Selbsterkenntnis“ nennt. Und man sagt, diese höchste Erkenntnis ist eine reine Freude und vollkommene Liebe:

Da erkannte die Königin ihre Tochter wieder, und war von Herzen froh und vergnügt. Es wurde aber eine große Hochzeit angestellt, eine Menge Gäste gebeten, die kamen in prächtigen Kleidern, tausend Lichter flimmerten im Saal, und es wurde gespielt und getanzt bis zum hellen Tag.

Damit steht auch am Ende dieses Märchens die berühmte mystische Hochzeit zwischen Seele und Körper oder auch Geist und Natur, die nun nicht mehr in einem vergänglichen Leben verbunden sind, sondern in einem ewigen Leben vollkommen vereint, so daß es auch kein trennendes Ichbewußtsein mehr geben kann, und damit der Tod verschwindet und ein ewiges Leben bleibt, ein reines „Dasein“. Denn Trennung bedeutet Tod, trennbare Verbindung bedeutet vergängliches Leben, und untrennbare Vereinigung bedeutet ewiges Leben. Das ist die heilige „Hochzeit“ bzw. die zeitlose Ewigkeit, wenn die Vielfalt der tausenden Lichter im Spiel und Tanz der Natur zu einem hellen Tag der Einheit im reinen Licht des göttlichen Bewußtseins wird.

Dann wirst du schließlich selbst in deinem Inneren als Bohne und Quelle des Lebens gefragt, das heißt, nicht als begrenztes Ichbewußtsein auf einer Insel, sondern als ganzheitliches Bewußtsein bzw. reines Gewahrsein:

„Bist du auch auf der Hochzeit gewesen?“ - „Ja wohl bin drauf gewesen:
Mein Kopfputz war von Butter, da kam ich in die Sonne und er ist mir abgeschmolzen;
Mein Kleid war von Spinnweb, da kam ich durch Dornen, die rissen es mir ab;
Meine Pantoffel waren von Glas, da trat ich auf einen Stein, da sprangen sie entzwei.“

Auf diese Hochzeit kommt kein Ichmensch, der als „Menschenfresser“ von „Anderen“ leben muß. Wie wir auch in dem biblischen Gleichnis von den fünf weisen und fünf törichten Jungfrauen wiederfinden (Matth. 25.1): Wer das Öl für das Licht des Bewußtseins von „Anderen“ borgen muß, der kommt nicht auf diese Hochzeit. Wer aber dem Ichbewußtsein auf seiner Insel erfolgreich entkommen konnte, der bekommt auf der Hochzeit diese mystische Antwort im Inneren und erreicht das große Ziel im Leben: Die illusionäre Ego-Krone schmilzt im Licht-Feuer des Heiligen Geistes. Das vom begrifflichen Verstand zusammengesponnene Körperkleid zerreißt an den Dornen des Leidens. Und die materielle Körperlichkeit, die durch die Welt wandert und so fest und verläßlich erschien, zerbricht am unvergänglichen Stein der Weisen, dem reinen Christusbewußtsein, das nun zum Fundament für „Ich bin da!“ im ewigen Leben wird.

Ein wunderbares Märchen!
Amen - Om



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[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[2023] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 18. Mai 2023