Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der alte Großvater und der Enkel

Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]

Es war einmal ein alter Mann, der konnte kaum noch gehen, seine Knie zitterten, er hörte und sah nicht mehr viel, und hatte auch keine Zähne mehr. Wenn er nun bei Tisch saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, und noch dazu nicht einmal satt. Da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er aber sagte nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, und daraus mußte er nun essen. Wie sie da nun so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“ fragte der Vater. „Ei, antwortete das Kind, ich mache ein Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich einmal groß bin.“ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen schließlich an zu weinen, holten sogleich den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen und sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.

Ein wirklich trauriges Märchen, über das man allerdings viel nachdenken kann, vor allem in dieser verrückten Zeit, in der sich eine zunehmende Spaltung durch unsere Gesellschaft, unsere Familien und die eigenen Köpfe zieht. Auch wir versuchen, Alter, Krankheit und Tod aus unserem Leben zu verbannen und hinter irgendwelchen Mauern zu verstecken, damit sie uns nicht stören. Auf diese Weise wächst ein bedrohlicher Egoismus, der sogar mit gesetzlichen Maßnahmen massiv gefördert wird. Was ist Egoismus? Ein Bewußtsein der Spaltung und Trennung durch die Vorstellung von „Ich“ und „Mein“. Diese gedankliche Trennung wird durch soziale Distanzierung verstärkt, um die Gräben zwischen den Menschen zu vertiefen. Oder durch das Versteckspiel hinter einer Maske, um sich sicher zu fühlen. Oder mit massiver Einschränkung der kulturellen Vielfalt und Ausrichtung auf einseitig informierende Medien. Oder wenn man in allen anderen Menschen potentielle Feinde sieht, sogar die ganze Natur zum Feind erklärt, schrecklichste Existenzängste schürt, das vernünftige Hinterfragen und Nachdenken verbietet und gemeinste Denunziation betreibt, um andere für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen.

So soll nun auch das diesjährige Weihnachtsfest unter diesem dunklen Schatten stehen. Die Alten werden zur gefährlichen Risikogruppe erklärt und aus der familiären Gemeinschaft verbannt. Warum? Weil wir panische Angst vor Krankheit, Alter und Tod haben, kurzgesagt: Angst vor der natürlichen Vergänglichkeit. Diese Vergänglichkeit soll aus unserem Leben verbannt werden, aus unserer Gesellschaft, unserer Familie und aus den Köpfen. Auch wir ekeln uns davor und wollen nicht, daß die Vergänglichkeit unseren irdischen Besitz zerbricht, wie der alte Großvater das irdene Schüsselchen. Dafür vertrauen wir einer Politik und Wissenschaft, die uns verspricht, das Problem mit viel Geld, Chemie und Technik zu lösen und die Vergänglichkeit endgültig zu besiegen. Dazu wollen wir uns auch gern belügen und glauben an das Versprechen von unvergänglichem Reichtum, unvergänglichem Wachstum, unvergänglicher Gesundheit und unvergänglichem Besitz unvergänglicher Personen.

Ist das überhaupt möglich? Ja und Nein! Entscheidend ist der Weg. Nach Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit sucht die Menschheit schon seit ältesten Zeiten. Alle überlieferten Religionen kennen dieses Thema. Auch die Wissenschaft hat sich damit beschäftigt und lange über ein Perpetuum Mobile nachgedacht, um schließlich festzustellen, daß es so etwas nicht geben kann. Warum nicht? Jedes System, das ein Außen hat, verliert nach außen hin Energie, und dieses Verlieren ist nichts anderes als Vergänglichkeit. So stellt sich die Frage: Gibt es ein System, das kein Außen hat? Ja, das Universum, wenn darin Alles enthalten ist. Und dieses „Alles“ bzw. „All-Es“ war schon immer der große Schlüssel zur Unvergänglichkeit und damit auch zur Unsterblichkeit. Denn in diesem Ganzen kann nichts verlorengehen, nur die Formen wandeln sich. Wohin sollte es auch verlorengehen, oder woher sollte etwas kommen, wenn es kein Außerhalb gibt? Doch was steht dem Erkennen von diesem „Ein und Alles“ entgegen? Es ist vor allem unser trennendes Ichbewußtsein, diese eingebildete „Ich-Blase“, die sich vom Ganzen absondern will. Für diese „Ich-Blase“ wird es immer ein körperliches Außerhalb geben, und damit kann das Ego niemals ein Perpetuum Mobile sein, und jeder körperliche Besitz muß wieder vergehen. Das ist die körperliche Vergänglichkeit im ewigen Kreislauf des Entstehens und Vergehens in einer sich stets wandelnden Vielfalt der Formen. Jeder Teil ist vergänglich, nur das Ganze ist ewig. Warum wollen wir also nur ein Teil sein und nicht das Ganze? Warum will sich unser Bewußtsein nur auf diesen vergänglichen Körper beschränken?

Denn so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und Werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf einer dunklen Erde.
(Johann Wolfgang von Goethe)

So endet nun unser Märchen mit einer wunderbaren Botschaft von einem Kind, das noch nicht so sehr in den gewöhnlichen Kategorien der Erwachsenen denkt, sondern spontan eine Lösung präsentiert, die an den Kreislauf des Lebens erinnert und den Eltern vor Augen führt, daß auch ihre Körper vergänglich sind. Von dieser einfältigen Botschaft werden sie zutiefst erschüttert und berührt, ihr oberflächlicher Verstand wird durchbrochen, die ganzheitliche Vernunft erwacht und damit auch ein erweitertes Bewußtsein, das sich nicht mehr auf den eigenen Körper beschränkt, so daß sich die ganze Familie wieder an einem Tisch vereint und die Vergänglichkeit als ein wesentliches Prinzip der Natur akzeptieren kann. Wunderbar! Nun beginnt das Licht der reinen Liebe und des wahren Mitgefühls zu erstrahlen, das Ziel aller großen Religionen, das durch eine ganzheitliche Vernunft und Weisheit erreichbar ist.

Heutzutage könnte es allerdings passieren, daß die Eltern ihr Kind dafür zutiefst hassen, wenn es ihnen klarmacht, daß sie persönlich altern und sterben werden. Ja, nicht nur wegen eines symbolisch-verbalen Angriffs, sie könnten sogar Angst haben, durch ihr eigenes Kind von einer gefährlichen Krankheit angesteckt zu werden, und sie könnten ihr Kind dafür hassen, wenn es die Alltagsmaske vom Gesicht nimmt und die Eltern oder Großeltern umarmen oder vielleicht sogar küssen will. Wie weit kann uns der Egoismus noch treiben, bis auch uns die Tränen fließen und dieser Wahn zerbricht?

Vielleicht sollten auch wir einmal tiefer darüber nachdenken, warum es die körperliche Vergänglichkeit in der Natur gibt. Vielleicht haben Alter und Krankheit einen tieferen Sinn, so daß sich Lebewesen gegenseitig nicht nur befruchten sondern auch anstecken sollten, denn im Grunde sind wir alle ein ganzer Organismus. Und damit dieser ganze Organismus funktionieren und sich stabilisieren kann, braucht es die Vielfalt der Formen, wie Kinder, Erwachsene und Alte, Gewinn und Verlust, Entstehen und Vergehen, Erkranken und Heilen, Glück und Leid. Diese Vielfalt stärkt unser Immunsystem nicht nur körperlich sondern auch gesellschaftlich. Fehlt die Vielfalt, erkrankt das ganze System der Natur, der Menschheit und der Gesellschaftsordnung, und aus vereinzelten Erkrankungen werden pandemische Seuchen und zunehmende Volkskrankheiten, wie wir es heute überall in der Welt beobachten können. Für eine stabile Gesundheit braucht man die natürliche Vielfalt. Begrenzte Formen, wie die moderne Monokultur in Gesellschaft, Medizin und Natur, die Uniformen und der Marsch im Gleichschritt oder die Diktatur bestimmter Meinungen und Ansichten sind nur die eigennützigen Wünsche wachsender Super-Egos. Doch gerade dieses Ich-Bewußtsein bindet uns an die Vergänglichkeit und damit an Alter, Krankheit und Tod.

Über diesen Egoismus hinaus führt der Weg zur Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit mit einem Bewußtsein, das das „Eine in Allem“ erkennen kann, sozusagen die „Einheit in der Vielfalt“. Das „All“ wäre dann die grenzenlose Vielfalt der Formen, und das „Eine“ die geistige Einheit in der Seele. Nur so kann man von einem grenzenlos freien Geist sprechen, der alle möglichen Formen annehmen kann. Warum verstehen wir das nicht? Die Natur braucht die Vielfalt der Formen, und der Geist die Einheit der Seele. So sprechen die Naturschützer von der Artenvielfalt, und die Religionen von der Erkenntnis der wahren Seele. Dann wäre alles gut, und die Erde könnte ein Paradies sein, in dem sich die eine Seele in allen Formen erkennt und liebt. Geist und Natur, Seele und Körper könnten in Harmonie leben, und wir könnten zufrieden sein, ohne Streit, Begierde, Haß und Illusion.

Nur das Ego strebt dummerweise nach dem Gegenteil, nämlich nach vielfältig getrennten Seelen und einheitlich körperlichen Formen, die seinen Idealen entsprechen. Es strebt nach der Vielfalt egoistischer Einzelseelen und der Monokultur in der äußeren Natur, wo nur das überleben darf, was das Ego als angenehm betrachtet. Entsprechend ist dieses Streben immer auch mit viel Gewalt verbunden, sei es die Chemie- und Maschinengewalt in der Vieh- und Landwirtschaft, die Militär- und Polizeigewalt in Uniformen und Gleichschritt, die Propagandagewalt der Mode- und Medienindustrie, die Gewalt von politischer Zensur und Inquisition oder auch die fanatischen Dogmen der Religionen und Wissenschaften. Diesen egoistischen Widerstand gegen das vielfältige Wesen der Natur sowie gegen die ganzheitliche Weisheit und Vernunft des wahren Mitgefühls und der reinen Liebe nannte man früher teuflisch oder dämonisch. Und der böse Teufel war der Egoismus selbst, der sich von den guten Engeln abgetrennt hatte. Und wer diesem Weg der geistigen Trennung von der Ganzheit folgte, verließ des harmonische Paradies und ging den Weg ins höllische Leiden. Denn die Wirklichkeit kennt kein größeres Leiden als die Trennung...

Warum wünschen wir uns also keinen ganzheitlich vollkommenen Geist? Für einen vollkommenen Geist wären auch alle Formen vollkommen. Dagegen kann ein unvollkommener Geist mit keiner Form lange zufrieden sein. Aber dummerweise sucht unser Geist seine Vollkommenheit in den äußeren Formen und nicht in sich selbst. Diese Suche in sich selbst kann wohl erst beginnen, wenn man sich der Vergänglichkeit der Formen bewußt wird, und zu diesem Bewußtsein drängen uns hilfreich das Alter, die Krankheit und sogar der Tod. Hier kann man den wahren Wert der Vergänglichkeit erkennen, vor der sich die jungen Leute im Märchen so sehr ekelten, daß ihr alter Vater kaum noch der Nahrung in der billigsten Schüssel wert war. In Wahrheit sollten wir dem Alter dankbar sein, denn hier winkt der wohl größte Gewinn im Leben, die berühmte Weisheit des Alters, wenn die körperlichen Formen brüchig werden und durch die Risse ein ganz neues Licht erscheint, das Bewußtsein der allumfassenden Liebe und Weisheit.

Damit wünschen wir ein lichtvolles Weihnachtfest im Kreise der ganzen Familie! Möge dieses ewige Licht in uns allen erstrahlen, das tief in der Seele scheint und die vergängliche Dunkelheit besiegen kann. Mögen wir die Angst besiegen und uns erheben:

»BESONDERE HELDEN - BESIEGE DIE ANGST - STEHE AUF UND TUE WAS!«
Oder lieber ein heldenhaftes Schlafschaf wie im offiziellen Werbevideo der Bundesregierung?


Der Kreislauf des Lebens

Wir möchten zum Abschluß noch einige Gedanken über den Kreislauf des Lebens anfügen, den wir bezüglich des Kindes erwähnten, als es im Märchen mit seinem Gleichnis die drei Generationen wieder an einem Tisch vereinen und den Ekel vor der Vergänglichkeit überwinden konnte. Die Menschen beobachten schon seit ältesten Zeiten, wie sich in der Natur alles in Wellen bewegt und scheinbar im Kreis dreht, wie das Kreisen der Tage und Nächte, der Jahreszeiten oder der Sterne am Himmel. Und wie die Sonne morgens im Osten aufgeht, bis zum Mittag aufsteigt und abends im Westen wieder untergeht, so werden auch unsere Körper irgendwann in der Zeit geboren, wachsen und entstehen zu ihrer vollen Größe, und danach schwinden und vergehen die Kräfte und Sinne wieder, bis der Körper irgendwann untergeht und stirbt. Und wie sich die Menschen früher gefragt haben, wo die Sonne im Osten herkommt und wohin sie im Westen verschwindet und wie sie wieder im Osten auftauchen kann, so fragte man sich damals auch, wie der Mensch zur Geburt entsteht, wohin er im Tode geht und wie er wieder zur Geburt zurückkehren kann. Nun, heute wissen wir, daß die Erde nicht flach ist, sondern als Kugel um die Sonne kreist, so daß die Sonne nur scheinbar auf und untergeht. Dagegen glauben viele Menschen immer noch, daß das Leben „flach“ ist und nur von der Geburt bis zum Tod existiert. Eine Rückkehr vom Tod zur Geburt sei unmöglich, als würde jeden Morgen im Osten eine neue Sonne aufgehen.

Es klingt wie eine Parodie des Schicksals, daß gerade die moderne Wissenschaft, die früher so vehement gegen allen Aberglauben in natürlichen Dingen gekämpft hat, heute in geistigen Dingen einen ähnlichen Aberglauben verteidigt. Und wie damals die christlich-politische Kirche alle Mittel bis zur Inquisition und schrecklichsten Glaubenskriegen eingesetzt hat, so aggressiv kämpft heute die moderne Wissenschaft im Interesse von Wirtschaft und Politik gegen jede geistige Weltsicht um die Dogmen eines materialistischen Weltbildes. Doch so mutig früher ein Galileo war, so wollen auch wir heute mutig sein und behaupten: »Das Leben dreht sich doch im Kreis! Nein, das Leben ist nicht flach!«

Versuchen wir, darüber nachzudenken: Wie entsteht ein Kreis? Der einfachste Kreis entsteht mathematisch aus zwei Wellen. Die eine nennt man Sinus, was lateinisch „Krümmung“ bedeutet, und darin kann man in der ersten Hälfte das körperliche Entstehen und Vergehen erkennen, denn die Welle steigt an, erreicht ein Maximum und fällt danach wieder ab. Die andere Welle nennt man Cosinus, und das heißt lateinisch „Complementi Sinus“, also ein „Vervollständigen oder Ausfüllen“ des Sinus. In dieser Welle können wir die Dimension der geistigen Entwicklung bzw. Abwicklung des Lebens sehen, denn die erste Hälfte des Cosinus beginnt auf einem Maximum und fällt bzw. wickelt sich dann immer weiter ab, bis am Ende des körperlichen Lebens ein Minimum erreicht wird, wie der Benzintank in einem Auto immer leerer wird, bis das Auto stehenbleibt. In der Mitte des körperlichen Lebens, wenn also der materielle Körper die meiste Kraft hat, fällt diese Welle am schnellsten, wie auch das Benzin im Tank, wenn das Auto am kraftvollsten fährt. So gleicht die geistige Entwicklung einem stetigen Aus- bzw. Abwickeln von etwas, das sich zuvor aufgewickelt haben muß, wie auch das Auto erst fahren kann, wenn der Tank gefüllt wurde. Entsprechend findet man auch in einigen alten Märchen das Gleichnis von einem Lebensfaden, der sich in dieser „Entwicklung“ wie von einer Spule abwickelt. Und damit wächst auch die „Weisheit und Vernunft des Alters“, soweit die „Verwicklung“ mit der äußeren materiellen Welt schwindet und die körperliche Anhaftung abnimmt. Früher sprach man hier von einem geistigen Prozeß der Ablösung, Erlösung oder Befreiung.

Kreislauf des Lebens / Rad des Lebens

Interessanterweise haben wir bisher nur von einem Halbkreis gesprochen, sozusagen die obere Hälfte des Kreises, ähnlich einem Berg, auf dessen Gipfel man in der Mitte des Lebens steht. Gäbe es nur diesen Halbkreis, wäre es wirklich ein Leben wie auf einer flachen Erde, wo jeden Morgen eine neue Sonne aufgeht und am Abend wieder unter. Doch wir wissen ja, daß es die gleiche Sonne ist, die nur scheinbar auf- und untergeht. Und so fragen wir uns: Wo ist die zweite Hälfte des Kreises? Nun, wie die Sonne am Tag auf dieser Seite der Erde scheint, und während der Nacht auf der anderen Seite, so sprach man früher auch von der diesseitigen und jenseitigen Welt oder kurz gesagt, vom Diesseits und Jenseits. Dann wäre der obere Halbkreis des Lebens das Diesseits und der untere das Jenseits. Und wenn der eine im Licht des Bewußtseins erstrahlt, liegt jeweils der andere in Dunkelheit. Deshalb kann man ihn nicht sehen, wie man zum Beispiel die Fruchtkörper der Pilze im Wald sehen kann, aber das Lebewesen selbst im Dunkeln der Erde verborgen lebt. Und gerade das macht uns die Sache so schwer.

Wir können nur daran glauben oder zumindest theoretisch darüber nachdenken. Aus mathematischer Sicht erscheint uns hier bezüglich der beiden Wellen im Jenseits eine Art Spiegelwelt, in der alles auf dem Kopf steht. Man könnte auch von einer materiellen und einer geistigen Welt sprechen. Aus Sicht der materiellen Welt liegt die geistige im Dunkeln, und aus Sicht der geistigen Welt ist die materielle voller Dunkelheit und Schatten. Denken wir zum Beispiel an die uralten Vorstellungen, wie die Welt der Ahnen, die ewigen Jagdgründe, die Welt der Geister, Kobolde und Elfen, das Totenreich, die Unterwelt oder Himmel und Hölle. Offenbar kann man nur in Gleichnissen von dieser jenseitigen Welt sprechen. Bezüglich der körperlichen Sinuswelle könnte man sich dann einen negativen, nichtmateriellen, feinstofflichen, ätherischen oder auch geistigen Körper vorstellen. Und bezüglich der Cosinuswelle eine umgekehrte geistige Entwicklung, was sozusagen im Diesseits abläuft bzw. abgewickelt wird, das wird im Jenseits aufgebaut und aufgewickelt.

Als ein beispielhaftes Gleichnis könnte man an einen Programmierer denken, der in der jenseitigen bzw. geistigen Welt ein Programm aufbaut, das in der diesseitigen bzw. materiellen Welt abläuft, ähnlich dem erwähnten Lebensfaden, der aufgewickelt und abgewickelt wird. Dieser Vergleich ist nicht weit hergeholt, denn wir sprechen heutzutage oft vom Programm der Gene, der Programmierung von Fähigkeiten oder der Umprogrammierung von unliebsamen Neigungen. Und es gibt viele Wissenschaftler, die der Meinung sind, daß unser ganzes Leben durch Naturgesetze vorprogrammiert wurde, und damit alles vorbestimmt und berechenbar ist. Auch das klingt plausibel, denn wir können uns im Leben nur in einem begrenzten Rahmen für dies oder das entscheiden, wie es auch in gewöhnlichen Computerprogrammen nur bestimmte Entscheidungsmöglichkeiten gibt, die entsprechend eingebaut wurden. Damit würde dieser Kreis des Lebens dem üblichen Entwicklungszyklus eines Computerprogramms gleichen. Nach bestimmten Wünschen wird ein Programm entworfen und programmiert. Dann wird es in einem praktischen Erfahrungsprozeß solange gestartet, bedient, geprüft, beendet und entsprechend den gesammelten Erfahrungen umprogrammiert, bis der Programmierer und Anwender damit zufrieden ist. Und das kann erfahrungsgemäß sehr lange dauern...

Auf diese Weise könnte man zunächst in vereinfachter Form über den Kreislauf des Lebens nachdenken. Praktisch braucht man natürlich neben den zwei hypothetischen Wellen zumindest noch eine dritte Dimension, sonst würde sich dieser Kreislauf ewig drehen und relativ sinnlos erscheinen. Mit der dritten Welle wird dann vielleicht aus dem Kreis eine leichte Spirale, wie auch die Sonne jeden Tag an einer etwas anderen Stelle aufgeht. Doch praktisch gibt es in der Natur unzählige Wellen unterschiedlichster Längen, die sich zu vielen großen und kleinen Kreisläufen des Lebens überlagern und verweben, um die grenzenlose Vielfalt der Formen zu ermöglichen. Denken wir nur an den täglichen Zyklus von Schlafen und Wachen, den wöchentlichen Arbeitszyklus, den Zyklus der Jahreszeiten, die Zyklen der Gesellschaftsordnungen und Erdzeitalter, oder auch die Zyklen des Entstehens und Vergehens ganzer Sterne, Galaxien und des Kosmos selbst. In alten Traditionen ging man sogar noch weiter und sprach vom Lebenszyklus eines Schöpfergottes, wie man zum Beispiel in den indischen Puranas über Brahma lesen kann. So läßt auch Goethe in [Faust I] den Geist der Erde sprechen:

In Lebensfluten, im Tatensturm
Walle ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Abschließend steht nun noch die große Frage: Was dreht sich eigentlich in diesem Kreislauf des Lebens? Dreht sich der Geist um die Natur, oder die Natur um den Geist? Dreht sich die Seele um den Körper, oder der Körper um die Seele? Auch hier hat die moderne Wissenschaft herausgefunden, daß sich die Erde um die Sonne dreht, auch wenn es unseren Augen anders erscheint. Doch wenn es um Geist und Natur geht, dann sind viele Wissenschaftler immer noch der festen Überzeugung, daß die Natur im Mittelpunkt steht und unsere Gedanken um die Natur kreisen. Man sieht also, wie schwer die Illusion zu besiegen ist...

Doch dieses Problem ist überaus interessant, denn damit kommen wir auch zu der großen Frage nach der Wiedergeburt. Was wird in diesem Kreislauf des Lebens wiedergeboren? Der Körper oder die Seele? Nun, wer die Einheit der Seele erkannt hat, sieht die Seele vermutlich als ungestalteten bzw. unprogrammierten Geist im Zentrum ruhen und die Vielfalt der gestalteten bzw. programmierten Körper um diese eine Seele kreisen. Auf diese Weise läßt sich die Frage nach der Seelenwanderung von Körper zu Körper auf einfache Weise lösen, die überaus kompliziert wird, sobald man von getrennten Seelen ausgeht. Damit schließt sich auch unser Kreis zur Frage nach der Unvergänglichkeit des Lebens, und am Ende bleibt das „Ein und Alles“ in Ewigkeit, Amen.


.....
Das Dietmarsische Lügenmärchen - (Thema: Lügen, Gedanken und Vernunft)
Der Räuberbräutigam - (Thema: tote Seele, geistiger Mord)
Der arme Junge im Grab - (Thema: Erziehung, Ego, Angst und Vernunft)
Der Simeliberg - (Thema: Ego, Räuber und Simeli-Reichtum)
Der starke Hans - (Thema: Ego, Räuber und höchster Gewinn)
Der alte Großvater und der Enkel (Thema: soziale Spaltung, ekelhafte Vergänglichkeit)
Allerleirauh - (Thema: kranker Geist, gequälte Seele, sterbende Natur und Heilung)
Der Ursprung der Geschichten - (Thema: materielle und geistige Welt)
Der Okerlo „Ichmensch“ - (Thema: Seele, Körper und Ego)
Hans Dumm - (Thema: Wünsche verwirklichen)
Der Trommler - (Thema: Verstand und Erlösungsweg)
... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812
[Faust I] Johann Wolfgang von Goethe, Faust Teil 1, Eine Tragödie, Tübingen 1808.
[2020] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. Dezember 2020