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Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]
Es war ein König, der lebte mit seiner Tochter, die sein einziges Kind war, vergnügt. Auf einmal aber brachte die Prinzessin ein Kind zur Welt, und niemand wußte, wer der Vater war. Der König wußte lange nicht, was er anfangen sollte, am Ende befahl er, die Prinzessin solle mit dem Kind in die Kirche gehen, da sollte ihm eine Zitrone in die Hand gegeben werden, und wem es die reiche, solle der Vater des Kindes und Gemahl der Prinzessin sein. Das geschah nun, doch war der Befehl gegeben, daß niemand als schöne Leute in die Kirche sollten eingelassen werden.
Nun, offenbar war auch damals der Glaube an eine „jungfräuliche Empfängnis“ nicht allzusehr verbreitet, obwohl gerade diese Möglichkeit später im Jahre 1854 als Dogma im Sinne der göttlichen Allmacht in der katholischen Kirche verkündet wurde. Auch in unserem Märchen gilt die Kirche als ein heiliger Ort, wo die Wahrheit offenbart wird, doch am liebsten natürlich eine Wahrheit, die den gewünschten Vorstellungen entspricht. So wünschte sich der König einen schönen und klugen Schwiegersohn, und die Prinzessin einen solchen Mann. Die Zitrone erinnert neben dem goldenen Reichsapfel für den Königsnachfolger auch an den „sauren Apfel“, in den der Vater beißen sollte, der sich offenbar nicht zu seiner Vaterschaft bekennen wollte. Obwohl sich doch viele an diese begehrte Position wünschten und deshalb in die Kirche strömten.
Es war aber in der Stadt ein kleiner, schiefer und buckeliger Bursche, der nicht recht klug war, und darum der Hans Dumm hieß, der drängte sich ungesehen zwischen den anderen auch in die Kirche, und wie das Kind die Zitrone austeilen sollte, so reichte es sie dem Hans Dumm. Die Prinzessin war erschrocken, der König war so aufgebracht, daß er sie und das Kind mit dem Hans Dumm in eine Tonne stecken und aufs Meer setzen ließ.
Das Ergebnis entsprach offensichtlich weder den Wünschen der Prinzessin noch des Königs. Und doch war es eine Entscheidung, die in der heiligen Kirche getroffen wurde. Der König glaubte daran, aber die äußere Form konnte er nicht akzeptieren und versuchte sie schnell wieder loszuwerden. So wollen wir gern unsere ungeliebten Probleme in eine dunkle Tonne stecken, fest verschließen und ins Meer des Bewußtseins werfen, wo sie untergehen und nie wieder ans Licht kommen sollen. Das nennt dann der Psychologe ein verdrängtes Problem im Unterbewußtsein.
Die Tonne schwamm bald fort, und wie sie allein auf dem Meer waren, klagte die Prinzessin und sagte: „Du garstiger, buckeliger, naseweiser Bub, bist an meinem Unglück schuld! Was hast du dich in die Kirche gedrängt? Das Kind ging dich nichts an.“ - „O ja“, sagte Hans Dumm, „das ging mich wohl etwas an, denn ich habe es einmal gewünscht, daß du ein Kind bekämst, und was ich wünsche, das trifft ein.“ - „Wenn das wahr ist, so wünsch uns doch, was zu essen hierher.“ - „Das kann ich auch“, sagte Hans Dumm, wünschte sich aber eine Schüssel recht voll Kartoffeln. Die Prinzessin hätte gern etwas Besseres gehabt, aber weil sie so hungrig war, half sie ihm die Kartoffeln essen. Nachdem sie satt waren, sagte Hans Dumm: „Nun will ich uns ein schönes Schiff wünschen!“ Und kaum hatte er das gesagt, so saßen sie in einem prächtigen Schiff, darin war alles zum Überfluß, was man nur verlangen konnte. Der Steuermann fuhr grad ans Land, und als sie ausstiegen, sagte Hans Dumm: „Nun soll ein Schloß dort stehen!“ Da stand ein prächtiges Schloß, und Diener in Goldkleidern kamen und führten die Prinzessin und das Kind hinein. Und als sie mitten in dem Saal waren, sagte Hans Dumm: „Nun wünsch ich, daß ich ein junger und kluger Prinz werde!“ Da verlor sich sein Buckel, und er war schön und gerad und freundlich, und er gefiel der Prinzessin gut und wurde ihr Gemahl.
Wir haben bereits im letzten Märchen vom Okerlo darüber nachgedacht, ob und wie das Bewußtsein als wirkender Geist die Macht hat, seine Wünsche zu verwirklichen. Interessanterweise pflegen wir zwar heute noch die Gewohnheit, zu besonderen Anlässen anderen Gutes zu wünschen. Aber glauben wir wirklich noch an die geistige Kraft unserer Wünsche? Oder ist es nur noch eine nette Gewohnheit in einer „aufgeklärten“ materiellen Welt, die ausschließlich von physikalischen Naturgesetzen regiert wird? Denn unsere moderne Naturwissenschaft hat eine höchst erstaunliche Leistung vollbracht. Sie hat uns mit der großen Kraft des Geistes eine theoretisch geistlose Welt geschaffen, und wer in der Naturwissenschaft noch den Begriff „Geist“ erwähnt, wird gebissen und verjagt. Deshalb versuchen wir nun unsere Probleme, die geistig mit Vernunft gelöst werden müßten, körperlich mit dem Verstand zu lösen, also mit Technik und Chemie aus Bildung und Gelehrtheit. Woher kommt das? Mal angenommen, Wünsche könnten wirklich wahr werden, dann könnte natürlich auch diese geistlose Welt ein starker Wunsch vieler Menschen gewesen sein, der in Erfüllung gegangen ist. Und in einer entsprechenden Welt leben wir jetzt, vermeintlich sicher geborgen in einem dichten Netz physikalischer und dogmatischer Gesetze. So ist nun alles festgefügt und zugebaut, so daß die geistige Kraft der Wünsche keinen Raum mehr findet und nur noch ein altes Märchen ist. Ist das möglich?
Denn warum hatte gerade „Hans Dumm“ diese Macht in einer Art und Weise, die sich heute kaum noch jemand vorstellen kann? Vielleicht liegt es gerade an unseren „Vorstellungen“, sozusagen am gedanklichen Verstand, der sich in jede Richtung immer mehr Vorstellungen vor sich hinstellt, bis seine Sicht so zugemauert ist, daß er gar nichts anderes mehr sehen kann, außer seinen eigenen Vorstellungen. Und das ist dann die „objektive Welt“ der klugen und gebildeten Menschen, in der wir leben. So wünscht sich schließlich auch Hans Dumm so eine schöne äußere Welt, die der Prinzessin gefällt, und scheinbar auch ihm selbst. Beachtenswert ist, daß danach von seiner spontanen Wunschkraft nicht mehr gesprochen wird, denn nun übernimmt die Prinzessin die Geschichte:
So lebten sie lange Zeit vergnügt. Da ritt einmal der alte König aus, verirrte sich und kam zu dem Schloß. Er verwunderte sich darüber, weil er es noch nie gesehen hatte, und kehrte ein. Die Prinzessin erkannte gleich ihren Vater, er aber erkannte sie nicht, er dachte auch, sie sei schon längst im Meer ertrunken. Sie bewirtete ihn prächtig, und als er wieder nach Hause wollte, steckte sie ihm heimlich einen goldenen Becher in die Tasche. Nachdem er aber fortgeritten war, schickte sie ein paar Reiter nach, die mußten ihn anhalten und untersuchen, ob er den goldenen Becher nicht gestohlen. Und wie sie ihn in seiner Tasche fanden, brachten sie ihn mit zurück. Er schwur der Prinzessin, er habe ihn nicht gestohlen, und wisse nicht, wie er in seine Tasche gekommen sei. „Darum“, sagte sie, „muß man sich hüten, jemand gleich für schuldig zu halten“, und gab sich als seine Tochter zu erkennen. Da freute sich der König, und sie lebten vergnügt zusammen, und nach seinem Tod, wurde Hans Dumm König.
Damit können wir nun den „alten König“ auch als Symbol für den gedanklichen Verstand betrachten, der seine unliebsamen Probleme gern in dunkle Tonnen sperrt, um sie im Unterbewußtsein untergehenzulassen. Doch woraus bestehen diese Probleme? Nach der Symbolik dieses Märchens werden in dieser Tonne Vater, Mutter und Kind eingesperrt, also zeugender Geist, gebärende Natur und weltliche Wirkung, die auf diese Weise nicht ertrinken und vergehen, sondern auch weiterhin die weltliche Wirklichkeit gestalten.
Vater-Mutter-Kind
Geist-Natur-Wirkung
Eine Wirklichkeit, die der gedankliche Verstand als König nur oberflächlich sieht und deshalb das wahre innere Wesen nicht erkennen kann. Dazu würde auch der goldene Becher als Symbol für die gewünschten und begehrten Dinge dieser äußerlichen Welt passen, die das Denken mehr oder weniger bewußt be- und ergreift, um sie festzuhalten. Und wenn unsere Wünsche nicht erfüllt werden, dann müssen wir dafür jemanden oder etwas für „schuldig halten“, wie es im Märchen heißt.
Doch wenn sich schließlich der kurzsichtige Verstand einer weitsichtigeren Vernunft voller Weisheit öffnet und die Mauern seiner gedanklichen Vorstellungen durchschauen kann, dann könnte daraus auch ein „neuer König“ der ganzheitlichen Vernunft werden. Und mit dieser Vernunft geht schließlich auch unser Märchen gut aus: Man erkennt sich gegenseitig wieder, wer man in Wahrheit ist, und lebt „vergnügt“ zusammen, was im ursprünglichen Sinne „heiter und zufrieden“ bedeutet. So wünschen wir „Hans Dumm“ von ganzem Herzen, daß er zum König „Johannes der Weise“ in einer glücklichen Welt wurde, wie er sie sich wünschte.
Mögen wir also achtsam mit unseren Wünschen umgehen, damit wir uns in dieser undurchsichtigen und oberflächlichen Welt nicht noch völlig verwünschen!
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[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812 |