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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]
Es war einmal ein armer Hirtenjunge, dem waren Vater und Mutter gestorben, und er war von der Obrigkeit einem reichen Mann in das Haus gegeben, der sollte ihn ernähren und erziehen. Der Mann aber und seine Frau hatten ein böses Herz, waren bei allem Reichtum geizig und mißgünstig, und ärgerten sich, wenn jemand einen Bissen von ihrem Brot in den Mund steckte. Der arme Junge mochte tun, was er wollte, er erhielt wenig zu essen, aber desto mehr Schläge.
Wir möchten zuerst versuchen, dieses Märchen aus psychologischer und sozialer Sicht zu betrachten und danach im zweiten Teil auf die tiefergelegene geistige bzw. spirituelle Ebene eingehen. So beginnt das Märchen mit dem Problem der Stiefeltern, das man in vielen Märchen findet. Es sind also nicht die leiblichen Eltern, und viele biologische Mechanismen, die sonst automatisch wirken, können sich hier nicht entfalten. Solche Mechanismen sind in der Natur nötig und sozusagen in den Genen programmiert, sonst würde sich kein Tier um die pflegebedürftigen Kinder kümmern. Denken wir nur an die Vögel, mit welcher Hingabe sie ihre Eier ausbrüten und die Jungtiere füttern. Diese natürliche Bindung gibt es bei Stiefeltern zunächst nicht, so daß die allgemeinen Probleme der Kindererziehung hier besonders deutlich werden und vermutlich auch deshalb gern für lehrreiche Geschichten dienen. Auch im Tierreich nimmt nicht jede Mutter fremde Kinder an. Nun möchte man meinen, für vernunftbegabte Menschen sollte das kein Problem sein, aber selbst heute noch gibt es in Stieffamilien nachweislich mehr seelische, körperliche und sexuelle Gewalt als bei Kindern, die mit ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Interessanterweise scheint heutzutage auch der Stiefvater ein größeres Problem zu sein als die Stiefmutter, die sonst üblicherweise in den Märchen thematisiert wird. Entsprechend könnte die vorliegende Geschichte zu den jüngeren Märchen gehören.
Eines Tages sollte er die Glucke mit ihren Küchlein hüten. Sie verlief sich aber mit ihren Jungen durch einen Heckenzaun: Gleich schoß der Habicht herab und entführte sie durch die Lüfte. Der Junge schrie aus Leibeskräften: »Dieb, Dieb, Spitzbub.« Aber was half das? Der Habicht brachte seinen Raub nicht wieder zurück. Der Mann hörte den Lärm, lief herbei, und als er vernahm, daß seine Henne weg war, so geriet er in Wut und gab dem Jungen eine solche Tracht Schläge, daß er sich ein paar Tage lang nicht regen konnte. Nun mußte er die Küchlein ohne die Henne hüten, aber da war die Not noch größer, das eine lief dahin, das andere dorthin. Da meinte er es klug zu machen, wenn er sie alle zusammen an eine Schnur bände, weil ihm dann der Habicht keins wegstehlen könnte. Aber weit gefehlt. Nach ein paar Tagen, als er von dem Herumlaufen und vom Hunger ermüdet einschlief, kam der Raubvogel und packte eins von den Küchlein, und da die andern daran festhingen, so trug er sie alle mit fort, setzte sich auf einen Baum und schluckte sie hinunter. Der Bauer kam eben nach Haus, und als er das Unglück sah, erboste er sich und schlug den Jungen so unbarmherzig, daß er mehrere Tage im Bette liegen mußte.
Nun, das Bauernleben war früher prinzipiell ein sehr hartes und arbeitsreiches Leben, auch wenn der Bauer zu einigem Reichtum gekommen war. Es gab wenig Zeit für langwierige Erklärungen in der Erziehung, und eine gewisse körperliche Härte war sicherlich nötig, um die Kinder auf ihr Bauernleben vorzubereiten. Die strenge Erziehung mit der Rute ist allerdings heutzutage ein heikles Thema, doch früher hieß es:
„Wer die Rute schont, der mißachtet sein Kind.“
Das heißt umgekehrt: Wer sein Kind achtet, der sollte es auch streng erziehen. Gemeint war sicher nicht, daß die Eltern ihre Wut am Kinde mit körperlicher oder seelischer Gewalt auslassen sollen. Doch wichtig war, daß das Kind einerseits so erzogen wird, daß es die Eltern und Älteren achtet und sich ihnen unterordnet, denn die sichern mit ihrer Kraft und Erfahrung das Überleben der ganzen Familie. Fühlen sich Kinder, die noch keine Vernunft entwickeln konnten, als den Eltern überlegen, dann werden es kleine oder auch große Tyrannen, deren Herrschaft feindlich für die ganze Familie ist. Und andererseits - wie der Spruch sagt - war es ebenso wichtig, das Kind zu achten, also Versorgung, Lob und auch Strafe angemessen zu gestalten, aus Liebe zum Kind und zur ganzen Familie, ansonsten werden die Eltern zu Tyrannen. Das gilt vermutlich auch für den Bauern in unserem Märchen, denn offenbar fehlt es an der väterlichen Achtung vor dem Kind. Und aus gleichem Grund scheint auch die Mutterliebe zu fehlen, weil das Kind nicht genug zu Essen und Trinken bekommt.
Weshalb Erziehung? Früher hörte man oft: „Was für ein unerzogenes Kind!“ Damit meinte man gewöhnlich ein Kind, das sich in der Gesellschaft nicht einfügen konnte und nicht wußte, wie es sich angemessen verhalten soll. Das ist wohl auch der Sinn und Zweck der Erziehung, damit das Kind in der Familie und der Gesellschaft vernünftig leben und überleben kann. Praktisch geht es allen Pflanzen und Tieren ähnlich, die sich an ihre Umgebung anpassen müssen und von der Natur und ihren Eltern entsprechend geführt werden. Doch heutzutage hört man oft, daß Kinder antiautoritär oder besser gar nicht erzogen werden sollten. Individualität geht über alles, und dann müssen sich eben Familie und Gesellschaft an das Kind anpassen. Das geht nur selten gut, denn ungezügelte Kinder werden schnell zu ungezügelten Egos, die es dann im Leben entsprechend schwer haben. Und es kann passieren, daß sie später ihre Eltern vorwurfsvoll tadeln: „Warum habt ihr mich nicht zu einem vernünftigen Menschen erzogen?“ - Damit steht die Frage: Haben Kinder ein Recht auf Erziehung, und die Eltern die Pflicht dazu?
Heute will kaum noch jemand so ein hartes Bauerleben führen, geschweige denn, eine harte Erziehung ertragen. Doch ähnliches können noch unsere Eltern aus ihrer Kindheit berichten, wie zum Beispiel der Vater von Undine:
Ich war das siebte von zehn Kindern auf einem Bauernhof mit Feld, Kühen, Schweinen und Geflügel. Die Familie war eine der ärmsten im Dorf. Die Eltern haben von früh bis spät gearbeitet, die Mutter auf dem Hof und im Haus mit Kind und Kegel, der Vater früh und abends im Stall und am Wochenende auf dem Feld, und tagsüber hatte er eine Stellung, denn einiges Geld mußte verdient werden, man kann ja nicht alles selbst herstellen. Ihr könnt euch vorstellen, wie das Hand in Hand gehen mußte, damit die Familie ernährt und mit dem Nötigsten versorgt werden konnte. Ohne Wasch- oder Spülmaschine, alles in Feld und Garten wurde selbst gezogen, geerntet, verarbeitet und - natürlich ohne Gefriertruhe - für den Winter haltbar gemacht. Alles, was an Kleidung gestrickt werden konnte, wurde auch selbst gemacht. Urlaub oder Wochenende gab es nicht, nur der Sonntag wurde etwas ruhiger angegangen und lediglich das Vieh versorgt und Essen gekocht. Die älteren Kinder haben fleißig mitgearbeitet und auf die jüngeren aufgepaßt, und die haben auch schon zeitig mitmachen müssen, was sie eben konnten, vor allem, als der Vater und die älteren Brüder im Krieg eingezogen wurden.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es sogar ein paar Tage, an dem ich mit meiner jüngeren Schwester im Alter von ca. 10 und 8 Jahren allein auf dem Hof war. Die Älteren waren entweder noch im Krieg oder als Deutsche in Ungarn inhaftiert worden, auch die Mutter. Und so mußten wir beiden Kinder die verbliebenen Tiere versorgen: Gras mähen, Kartoffeln und Rüben schneiden fürs Futter, Ausmisten, Wasser aus dem Brunnen schöpfen und tränken… Und eigentlich wäre in Feld und Garten auch einiges zu tun gewesen… Wir hatten das noch nie allein gemacht, und ich erinnere mich an sehr schwere Tage. Einerseits war es körperlich sehr anstrengend, doch noch mehr wog die Angst, etwas falsch zu machen. Denn wenn die Tiere krank würden oder starben, dann müßte die Familie hungern.
Trotz allem war im allgemeinen Zeit für Schule und Spiel - nur mit einigen strengen Auflagen, die auch sehr konsequent verfolgt wurden. Z.B. hatte die Mutter große Angst, wenn wir Kinder in der kalten Jahreszeit die Schuhe und Socken naß machten und eine Erkältung drohte. Als ich als Bub das erste Mal mit nassen Socken heimkam, weil ich eben nicht mit Spielen aufhören und heimkommen wollte, da wurde noch kurz ermahnt und gescholten. Doch ab dem zweiten Mal setzte es Prügel. Weder Mutter noch Vater hatten Zeit oder Nerven, mit ihren Kindern lange zu diskutieren. Und da die Jungs desöfteren mal über die Stränge schlugen, gab es eben auch öfter mal ordentlich Schläge. Die Ohrfeigen waren nicht so schlimm, aber manchmal tat es auch richtig weh, und es gab Tränen. Doch wenn die Tracht Prügel vorbei war, nahm die Mutter ihr Kind in den Arm, tröstete es, daß nun die Strafe vorbei und überstanden wäre, und ermahnte es noch einmal kurz, daraus zu lernen und den Unsinn ab jetzt zu unterlassen. Dann war alles wieder vergessen und lieb, wo eben noch Angst und Ärger war.
Heute kann ich sagen, daß ich meistens wußte, wofür ich die Hiebe oder Schelte bekam, doch manchmal lernte ich die Lektion auch erst hinterher, beim zweiten oder dritten Mal. Ich habe meine Eltern nicht gehaßt, hatte eher großen Respekt vor ihnen. Ich bewunderte vor allem meine Mutter, was sie alles geleistet und wie sie in einem sowieso schon harten Leben noch alle Schicksalsschläge bewältigt hatte. Trotzdem habe ich mich entschlossen, meine eigenen Kinder zwar mit Konsequenz, aber nicht mit Schlägen zu erziehen...
Nun, ein hartes Leben fordert offenbar eine harte Erziehung. Ähnlich geschieht es in unserem Märchen, wo leider die nötige Liebe und vor allem die Vernunft fehlte. Dabei war die im Märchen skizzierte Erziehungsmethode gar nicht so schlecht, denn hier hat das Bauernleben einige Vorteile, wie zum Beispiel die Nähe zu den Tieren. Für die Kinder war es sicherlich eine sehr lehrreiche Aufgabe, sich nicht nur um lebloses Spielzeug zu kümmern, sondern um lebendige Tiere. Zum einen konnten sie damit das natürliche Wesen der Tiere schon frühzeitig kennenlernen, und zum anderen mußten sie sich als Hirten gegen die Tiere behaupten, ihre Achtsamkeit trainieren und lernen, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen oder einzuschlafen. Gleichzeitig lernt man auch die respektvolle Achtung vor dem Leben und der Natur, eines der wichtigsten Dinge in der Erziehung. Und schon hier war die Verantwortung der Kinder relativ hoch, denn die Tiere gehörten natürlich zur Existenzgrundlage der ganzen Bauernfamilie. Doch unser Junge hatte von Anfang an wenig Glück damit, und die Natur schien gegen ihn zu arbeiten. Zuerst starben seine Eltern, und dann führte ihn das Schicksal zu so geizigen und egoistischen Stiefeltern, wo er Hunger leiden und seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht entwickeln konnte.
Wem soll man die Schuld dafür geben? Dem Bauern, der das Kind schlägt, weil er ähnlich gewaltsam erzogen wurde? Der Bäuerin, weil sie dem Kind nicht genug Essen und Trinken gibt, weil sie zum Geiz erzogen wurde? Der Obrigkeit, die das Kind in die Obhut dieser kinderlosen Eltern gab? Dem Staat, der die Bauern zu harter Arbeit verpflichtet? Oder dem Kind, das die Liebe der Stiefeltern nicht gewinnen konnte?
Als er wieder auf den Beinen war, sprach der Bauer zu ihm: »Du bist mir zu dumm, ich kann dich zum Hüter nicht brauchen, du sollst als Bote gehen.« Da schickte er ihn zum Richter, dem er einen Korb voll Trauben bringen sollte, und gab ihm noch einen Brief mit. Unterwegs plagte Hunger und Durst den armen Jungen so heftig, daß er zwei von den Trauben aß. Er brachte dem Richter den Korb, als dieser aber den Brief gelesen und die Trauben gezählt hatte, so sagte er: »Es fehlen zwei Stück.« Der Junge gestand ganz ehrlich, daß er, von Hunger und Durst getrieben, die fehlenden verzehrt habe. Der Richter schrieb einen Brief an den Bauer und verlangte (bzw. bestellte) noch einmal soviel Trauben. Auch diese mußte der Junge mit einem Brief hintragen. Als ihn wieder so gewaltig hungerte und durstete, so konnte er sich nicht anders helfen, er verzehrte abermals zwei Trauben. Doch nahm er vorher den Brief aus dem Korb, legte ihn unter einen Stein und setzte sich darauf, damit der Brief nicht zusehen und ihn verraten könnte. Der Richter aber stellte ihn doch der fehlenden Stücke wegen zur Rede. »Ach,« sagte der Junge, »wie habt Ihr das erfahren? Der Brief konnte es nicht wissen, denn ich hatte ihn zuvor unter einen Stein gelegt.« Der Richter mußte über die Einfalt lachen, und schickte dem Mann einen Brief, worin er ihn ermahnte, den armen Jungen besser zu halten und es ihm an Speis und Trank nicht fehlen zu lassen; auch möchte er ihn lehren, was recht und unrecht sei.
Ein weiterer Schritt in der Kindererziehung besteht darin, auch außerhalb der Familie verschiedene Aufgaben zu übernehmen. Damit lernt man das Dienen, sich selbst zu beherrschen und zunehmend Verantwortung zu tragen, während die Eltern schrittweise prüfen, wie weit sie sich auf ihr Kind verlassen können. Auf diese Weise entwickelt sich nach der Achtung vor dem Leben und der Natur auch die respektvolle Achtung vor der Gesellschaft und ihren sozialen Gesetzen. Dazu wird der Junge mit einem Korb verführerischer Trauben als Bote zu einem Richter geschickt, der den Botengang kontrollieren soll. Der Richter wurde hier im Märchen sicherlich nicht zufällig gewählt, denn gerade er ist im Staat verantwortlich, die angemessenen Strafen zu verhängen, wenn gesellschaftliche Gesetze verletzt werden, und auch hier wird selbstverständlich mit körperlicher und seelischer Gewalt gearbeitet, und die Angst vor entsprechender Strafe ist ein normales Mittel, um die respektvolle Achtung der staatlichen Gesetze zu fordern.
Doch auch hier führen wieder Hunger und Durst dazu, daß der Junge in seiner Aufgabe scheitert, obwohl ihm der Bauer noch eine zweite Chance gibt. Dabei muß man natürlich fragen, welches Kind angesichts eines Korbes voll saftiger und süßer Trauben keinen Hunger und Durst bekommt? Es gesteht auch ganz ehrlich seine Tat ein, und im Text wird noch ein reiner und von Gedanken unverdorbener Kindergeist beschrieben, der noch nicht nach Lüge greift, um sein Ego zu behaupten und zu rechtfertigen. Entsprechend lebt der Junge noch in einer wunderbar natürlichen Welt, wo alles belebt ist, sogar die Briefe. Und sicherlich lacht ihn der Richter dafür nicht aus. Er weiß, daß der Junge mit diesem Geist noch keine Strafe verdient, lächelt wie ein gütiger Vater und ermahnt den Bauern, den Jungen besser zu belehren, wie man sich beherrschen und was man tun und lassen sollte, und indirekt auch die Bäuerin, ihn besser zu ernähren, damit er nicht hungrig und durstig nach Dingen greift, nach denen er nicht greifen sollte. Das versucht nun der Bauer auf seine Art, und zwar so, wie er vermutlich selbst erzogen wurde:
»Ich will dir den Unterschied schon zeigen,« sagte der harte Mann; »willst du aber essen, so mußt du auch arbeiten, und tust du etwas Unrechtes, so sollst du durch Schläge hinlänglich belehrt werden.« Am folgenden Tag stellte er ihn an eine schwere Arbeit. Er sollte ein paar Bund Stroh zum Futter für die Pferde schneiden; dabei drohte der Mann: »in fünf Stunden,« sprach er, »bin ich wieder zurück, wenn dann das Stroh nicht zu Häcksel geschnitten ist, so schlage ich dich so lange, bis du kein Glied mehr regen kannst.« Der Bauer ging mit seiner Frau, dem Knecht und der Magd auf den Jahrmarkt und ließ dem Jungen nichts zurück als ein kleines Stück Brot. Der Junge stellte sich an den Strohstuhl und fing an, aus allen Leibeskräften zu arbeiten. Da ihm dabei heiß ward, so zog er sein Röcklein aus und warfs auf das Stroh. In der Angst, nicht fertig zu werden, schnitt er immerzu, und in seinem Eifer zerschnitt er unvermerkt mit dem Stroh auch sein Röcklein. Zu spät ward er das Unglück gewahr, das sich nicht wieder gutmachen ließ. »Ach,« rief er, »jetzt ist es aus mit mir. Der böse Mann hat mir nicht umsonst gedroht, kommt er zurück und sieht, was ich getan habe, so schlägt er mich tot. Lieber will ich mir selbst das Leben nehmen.«
Ein weiterer Entwicklungsschritt besteht nun darin, das Kind mehr und mehr an die schwereren Arbeiten der Bauern heranzuführen. Damit lernt man die respektvolle Achtung vor der mühevollen Arbeit. Gehorsam, Dienen und Fleiß waren die Grundlagen der alten Tugenden. Und der Junge versucht wirklich sein Bestes, die Aufgabe zu lösen, aber übertreibt seinen Ehrgeiz, wie auch der Bauer seine gewaltsame Erziehung übertrieben hat. Dazu kommt noch die seelische Gewalt durch das Ausgrenzen aus der Familie, die sich mittlerweile auf dem Jahrmarkt vergnügt. Das Ausgrenzen ist vermutlich die schlimmste seelische Strafe für ein Kind. Auf diese Weise entstehen natürlich ein enormer Druck und eine große Angst.
Angst ist ein weites Thema und spielt sicherlich eine wichtige Rolle in der natürlichen Entwicklung. Sie tritt in vielfältigsten Formen auf, wie Vorsicht, Furcht, Flucht, Streß, Unruhe oder Unzufriedenheit, aber auch als Aggression, Haß, Begierde und Neid. Sie steht sogar als Antrieb hinter der gewöhnlichen Liebe und Anerkennung, soweit man Angst hat, sie zu verlieren und nicht mehr geliebt oder anerkannt zu werden. Diese natürliche Angst wird man in der Kindererziehung nicht vermeiden können. Im Gegenteil, gerade überbehütete Kinder haben viel Angst: „In einem überbehüteten Elternhaus wird einem Kind jegliche schmerzliche Erfahrung verwehrt. So lernt es nicht, mit solchen Erfahrungen umzugehen und diese positiv zu bewältigen. Oft liegt der Überbehütung der Kinder die Angst der Eltern zugrunde. Diese Eltern haben häufig ebenfalls eine ängstliche Erziehung erlebt. So übertragen sich ihre Ängste auf ihre Kinder. (medizinfo.de)“
Welche Aufgabe hat die Angst? Angst gehört zu den menschlichen Grundgefühlen und hat die evolutionäre Aufgabe, das Leben zu beschützen. Eine gesunde Angst sorgt dafür, daß wir uns nicht leichtfertig in Gefahr bringen, Situationen kritisch prüfen und vernünftig reagieren können. Die Angst beherrscht den Menschen, bis er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen. Die Angst ist eine Medizin, die uns geistig und körperlich zügeln und gesund erhalten soll. Doch wie bei jeder Medizin, kommt es auch bei der Angst auf die richtige Dosierung an. Zu wenig hilft nicht, und zu viel schadet. So kann auch die Angst zum Gift werden, schreckliche Krankheiten verursachen und wie im Märchen sogar zum Tod führen.
„Selbstmord aus Angst vor dem Tod“ Der Begriff „Selbstmord“ ist eigentlich irreführend. Man stirbt hier nicht von selbst, wie im natürlichen Tod. Hier agiert das Ego bzw. Ich, das irgendwann der Meinung ist, seinen Körper töten zu müssen, weil er zum unerträglichen Feind geworden ist, so daß es aktiv den Tod herbeiführt. Mit dem Gedankenkonstrukt „Ich bin das Opfer“ fühlt sich das Ego bedroht, verliert jedes vernünftige Maß und wird aus Angst vor einem gedanklichen Feindbild zum Gewalttäter - gegen sich selbst oder auch andere. Solche gedanklichen Feinde nennt man auch Gespenster, die uns im Kopf herumgeistern. Diese Vorstellung scheint ganz im Gegensatz zu dem reinen und unverdorbenen Kindergeist aus der letzten Szene beim Richter zu stehen. Plötzlich existiert ein starkes Ego, das sich offenbar in kürzester Zeit aus der Angst vor Gewalt und dem Ausgrenzen aus der Familie genährt und verfestigt hat. Entsprechend ist der Satz im Märchen formuliert: „Kommt Er zurück und sieht, was Ich getan habe, so schlägt Er Mich tot.“ Wo ist hier die Achtung vor dem Leben, dem Kind und dem Vater geblieben? Die Versöhnung zwischen Vater und Sohn scheint dem „Ich“ unmöglich, es sieht keinen Sinn mehr im Leben, und der Tod ist unausweichlich. Die einzige Frage ist nur noch: Auf welche Weise?
Der Junge hatte einmal gehört, wie die Bäuerin sprach: »Unter dem Bett habe ich einen Topf mit Gift stehen.« Sie hatte es aber nur gesagt, um die Nascher zurückzuhalten, denn es war Honig darin. Der Junge kroch unter das Bett, holte den Topf hervor und aß ihn ganz aus. »Ich weiß nicht,« sprach er, »die Leute sagen, der Tod sei bitter, mir schmeckt er süß. Kein Wunder, daß die Bäuerin sich so oft den Tod wünscht.«
Kinder und die Gier nach Süßigkeiten ist eine wohlbekannte Herausforderung in der Erziehung. Die Bäuerin hat sich mit einer Lüge beholfen, und heute noch wird in den Medien propagiert: „Zucker ist Gift für den Köper!“ Auch hier ist sicherlich wieder die Dosierung entscheidend, und das Gift liegt vor allem in der geistigen Sucht, die damit verbunden ist, wenn der Mensch nicht lernt, seine Begierde zu zügeln. Klar, mit einer Lüge kann man sich hier helfen, und die daraus entstehende Angst vor Krankheit und Tod kann die Begierde einige Zeit beherrschen. Besser wäre natürlich, wenn die Vernunft diese Aufgabe durch Einsicht übernimmt, denn jede Lüge kann unerwartet platzen und ins Gegenteil kippen. So geschieht es auch, und der Junge glaubt nun an einen süßen Tod. Man sieht: Wie die Angst, so kann auch die Lüge kein Problem an der Wurzel lösen. Lügen sind wie jene Medikamente, die für einige Zeit die Wirkung unterdrücken, ohne die Ursachen zu heilen. Und nebenbei gesagt, war wohl auch die Bäuerin in ihrem geizigen Leben nicht besonders glücklich, wenn sie sich so oft den Tod wünschte...
Er setzte sich auf ein Stühlchen und war gefaßt zu sterben. Aber statt daß er schwächer werden sollte, fühlte er sich von der nahrhaften Speise gestärkt. »Es muß kein Gift gewesen sein,« sagte er, »aber der Bauer hat einmal gesagt, in seinem Kleiderkasten läge ein Fläschchen mit Fliegengift, das wird wohl das wahre Gift sein und mir den Tod bringen.« Es war aber kein Fliegengift, sondern Ungarwein. Der Junge holte die Flasche heraus und trank sie aus. »Auch dieser Tod schmeckt süß,« sagte er, doch als bald hernach der Wein anfing ihm ins Gehirn zu steigen und ihn zu betäuben, so meinte er, sein Ende nahte sich heran. »Ich fühle, daß ich sterben muß,« sprach er, »ich will hinaus auf den Kirchhof gehen und ein Grab suchen.« Er taumelte fort, erreichte den Kirchhof und legte sich in ein frisch geöffnetes Grab. Die Sinne verschwanden ihm immer mehr. In der Nähe stand ein Wirtshaus, wo eine Hochzeit gefeiert wurde: als er die Musik hörte, deuchte er sich schon im Paradies zu sein, bis er endlich alle Besinnung verlor. Der arme Junge erwachte nicht wieder, die Glut des heißen Weines und der kalte Tau der Nacht nahmen ihm das Leben, und er verblieb in dem Grab, in das er sich selbst gelegt hatte.
Noch einmal trifft den Jungen die Lüge der Eltern, und diesmal wird klar beschrieben, wie die Medizin zum tödlichen Gift wird. Freiwillig legt er sich in sein Grab, versinkt in der Hoffnung auf das Paradies in einen Rausch und erfriert in der Nacht. Die übermäßige Angst hat ihn in den Wahn und in den Tod getrieben. Hier liegt die Gefahr, wenn die Angst die Herrschaft übernimmt, ohne daß die nötige Vernunft entwickelt wird. Denn es geht im Leben natürlich nicht darum, die Angst zu entwickeln, sondern die Vernunft.
Als der Bauer die Nachricht von dem Tod des Jungen erhielt, erschrak er und fürchtete, vor das Gericht geführt zu werden: ja die Angst faßte ihn so gewaltig, daß er ohnmächtig zur Erde sank. Die Frau, die mit einer Pfanne voll Schmalz am Herde stand, lief herzu, um ihm Beistand zu leisten. Aber das Feuer schlug in die Pfanne, ergriff das ganze Haus, und nach wenigen Stunden lag es schon in Asche. Die Jahre, die sie noch zu leben hatten, brachten sie, von Gewissensbissen geplagt, in Armut und Elend zu.
Nun, wer Angst sät, wird Angst ernten! Aus sozialer Sicht muß man sagen: Das System der Bauernfamilie brach zusammen und platzte wie eine Seifenblase, denn es fehlte natürlich an Wahrhaftigkeit und der dafür nötigen Vernunft. So bricht die Angst schließlich in ein zerstörendes Feuer aus, das zuerst innerlich und dann auch äußerlich alles verbrennt. Die „Fettlebe“ im reichen Wohlstand, die von der Schmalz-Pfanne symbolisiert wird, geht weder körperlich noch gesellschaftlich lange gut, denn sie fördert das Ego und damit Angst und Lüge. Wie Angst und Lüge als Paar zusammen gehören, so gehören auch Vernunft und Wahrheit zusammen. Und wie die Lüge durch Wahrheit endet, so kann man auch die Angst durch Vernunft beenden. Ein Happy-End? Ja, wenn man aus diesem Märchen lernen könnte.
Ähnliches erleben wir gegenwärtig in unserer Gesellschaft, wie es sogar im öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk in einem Kurzbeitrag heißt: „Das Diktat der Angst - eine Zerreißprobe für die Gesellschaft“ Auch wir begehen gerade einen gesellschaftlichen Selbstmord aus Angst vor dem Tod und die Wohlstandblase droht zu platzen. Wo soll das hinführen? Bereits im Januar dieses Jahres (2020) veröffentlichte der Liedermacher Heinz-Rudolf Kunze das prophetische Lied „Die Zeit ist reif“ und kündigt uns „ein riesiges Erwachen“ an:
Ich hab' nie gesagt, daß es einfach ist, daß es mühelos passiert,
Keine Medizin, kein Patentrezept helfen, wo die Angst regiert,
Tief in uns drin, und wir wissen, wohin sowas führt...
Die Zeit ist reif für ein riesiges Erwachen,
Und ein Silberstreif soll den Menschen Hoffnung machen,
Laßt euch nie mehr mit Gespenstern ein! - Es muß anders sein! ...
Nur so weiter geht es nicht, das ist Menschenrecht und Pflicht,
Eure Kinder schau’n euch fragend an, zwingt euch daß zusammenpaßt,
was ihr ihnen hinterlaßt, eine Welt in der man leben kann...
Viele vernünftige Menschen haben alles getan, um uns zu warnen. Doch trotz aller Warnungen haben wir uns auf ein großes Gespenst eingelassen, werden von großer Angst regiert, und der große Stein rollt unaufhaltsam den Berg hinab. Können wir ihn noch aufhalten und zum Guten erwachen? Oder wird das riesige Erwachen ein böses Erwachen?
Man muß wirklich sagen, dieses Märchen hat es in sich und ist ein Knochen, auf dem man lange kauen kann. Wir haben es getan, und so möchten wir nun versuchen, die ganze Geschichte noch einmal aus symbolischer Sicht auf geistiger bzw. spiritueller Ebene zu interpretieren.
Es war einmal ein armer Hirtenjunge, dem waren Vater und Mutter gestorben, und er war von der Obrigkeit einem reichen Mann in das Haus gegeben, der sollte ihn ernähren und erziehen. Der Mann aber und seine Frau hatten ein böses Herz, waren bei allem Reichtum geizig und mißgünstig, und ärgerten sich, wenn jemand einen Bissen von ihrem Brot in den Mund steckte. Der arme Junge mochte tun, was er wollte, er erhielt wenig zu essen, aber desto mehr Schläge.
Ein armer Hirtenjunge: Der Hirte ist wohl eines der ältesten spirituellen Symbole, das man bereits im Alten Testament findet, und auch Jesus sagt im Neuen Testament: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für seine Schafe... [Joh 10.12]“ Bereits in den altindischen Geschichten findet man Krishna als armen Hirtenjungen und Verkörperung Gottes auf Erden. Und man stellt auch hier die Fragen: „Warum wollte die Gottheit, die das Rad von Geburt und Tod für alle Geschöpfe dreht und den unfehlbaren Diskus hält, ein Mensch werden? Warum kommt Vishnu, der alle Mächtigen in der Welt beschützt, als Hirtenjunge auf die Erde herab? Warum wurde Vishnu, der mit den subtilen Elementen eins ist und die grobstofflichen Elemente hervorbringt, von einer sterblichen Frau empfangen? (Harivamsha Purana 1.40)“ Nun, der Hirte benutzt seinen Hirtenstab, um die Tiere zu zügeln, damit sie nicht auf Abwege geraten und sich in der Welt verlieren. Und symbolisch geht es hier natürlich um das innere Tier, wie das „verlorene Schaf“ als Symbol für die Unwissenheit oder die „giftige Schlange“ als Symbol für den Egoismus. „Dafür habe ich diese Geburt als Hirtenjunge angenommen und lebe unter den Hirten, um die Übelgesinnten zu zügeln, die auf Abwegen gehen. Dafür sollte ich spielend wie ein Kind diesen Baum (der Erkenntnis bzw. des Lebens) erklimmen, in den See (ins Meer der Welt) springen und den Schlangenkönig (das Ego) besiegen. [Harivamsha Purana 2.11]“ Das Kind selbst kann man als Symbol der Seele bezüglich ihrer körperlichen Entstehung und geistigen Entwicklung betrachten. Und weil es sich hier um einen Jungen handelt, geht es mehr um die geistige Entwicklung zur Vernunft.
Vater und Mutter waren gestorben: Kennen wir unseren wahren Ursprung? Es gibt wohl nichts, was der Mensch in dieser Welt so sehr sucht, als seinen eigenen Ursprung. Selbst härteste Materialisten investieren viel Kraft und Geld, um die Erde umzugraben und nach allen Spuren ihrer Vergangenheit zu suchen. Andere suchen angestrengt in den Genen und fragen sich, aus welchen Molekülen der Mensch entstanden ist. Manche erforschen leidenschaftlich ihre Stammbäume und stellen irgendwann verzweifelt fest, daß man theoretisch schon nach 30 Generationen mehr als eine Milliarde Vorfahren hat. Bevor das materialistische Weltbild entstand, hat man nicht so sehr in der Materie nach den Ursprüngen gesucht, sondern in einer geistigen Welt, in einer Seele oder einem Gott, von dem alles abstammt. Doch heute sind wir vor allem Kinder sterblicher Eltern, und wurden durch Zufall in einer bestimmten Familie geboren. Dieser Zufall, oder „was uns zufällt“, galt früher als Schicksal, das durch eine Ordnung, oder wie es im Märchen heißt, von einer „Obrigkeit“ durch die Gesetze von Ursache und Wirkung bestimmt wurde, die sich vor allem auf eine geistige Welt bezogen.
Der reiche Mann bzw. Bauer ist aus geistiger Sicht derjenige, der die Samen auf dem Feld des Bewußtseins sät und die Früchte erntet. Das ist ein übliches Symbol für das Ichbewußtsein bzw. Ego, das nach den Früchten seiner Taten greift und damit eine Lebensgeschichte aus persönlichem Reichtum und Wissen ansammelt, was man in Indien „Karma“ nennt. Aus christlicher Sicht würde man hier von Verdienst und Sünde sprechen, die sogar von Generation zu Generation vererbt werden können.
Ein böses Herz: Viele Menschen würden sich heutzutage wünschen, in einer materiell reichen Familie geboren zu werden. Doch wo viel Licht scheint, ist auch viel Schatten, und Geld macht nicht glücklich. Das „Herz“ ist der lebendige Kern oder das innere Wesen, und der Begriff „böse“ stammt nach dem Duden auch von „stolz und aufgeblasen“ ab. So hat das böse Herz eine enge Verbindung zum bereits erwähnten Ichbewußtsein in Gestalt des Bauern, also einem egoistischen Geist, der sich gedanklich von der Ganzheit trennt, als unabhängiges Wesen „wahrnimmt“ und entsprechend parteilich handelt, wie sich auch der christliche Teufel von den himmlischen Engeln getrennt hatte und entsprechend böse wurde. Aus dieser Form der Unwissenheit entstehen Neid, Geiz, Haß, Begierde und natürlich viel Ärger und Zorn. Das sind auch die üblichen Schattenseiten einer reichen Familie. Nicht umsonst heißt es in der Bibel: Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Doch irgendwie kann bzw. will das unser gedankliches „Ich“ nicht verstehen. Dafür ist wohl diese ganze Welt nötig, um aus dieser Erfahrung praktisch zu lernen. Oder etwas strenger gesagt: Wer nicht hören will, muß fühlen:
Eines Tages sollte er die Glucke mit ihren Küchlein hüten. Sie verlief sich aber mit ihren Jungen durch einen Heckenzaun: Gleich schoß der Habicht herab und entführte sie durch die Lüfte. Der Junge schrie aus Leibeskräften: »Dieb, Dieb, Spitzbub.« Aber was half das? Der Habicht brachte seinen Raub nicht wieder zurück. Der Mann hörte den Lärm, lief herbei, und als er vernahm, daß seine Henne weg war, so geriet er in Wut und gab dem Jungen eine solche Tracht Schläge, daß er sich ein paar Tage lang nicht regen konnte. Nun mußte er die Küchlein ohne die Henne hüten, aber da war die Not noch größer, das eine lief dahin, das andere dorthin. Da meinte er es klug zu machen, wenn er sie alle zusammen an eine Schnur bände, weil ihm dann der Habicht keins wegstehlen könnte. Aber weit gefehlt. Nach ein paar Tagen, als er von dem Herumlaufen und vom Hunger ermüdet einschlief, kam der Raubvogel und packte eins von den Küchlein, und da die andern daran festhingen, so trug er sie alle mit fort, setzte sich auf einen Baum und schluckte sie hinunter. Der Bauer kam eben nach Haus, und als er das Unglück sah, erboste er sich und schlug den Jungen so unbarmherzig, daß er mehrere Tage im Bette liegen mußte.
Nun, über Kindererziehung kann man endlos streiten. Es gibt allerdings ein Sprichwort, das sagt: „Es hat wenig Sinn, Kinder erziehen zu wollen, sie machen uns doch alles nach.“ Das Beste ist natürlich, ein gutes Vorbild zu sein. Doch wie die Eltern gewöhnlich noch selbst mit sich kämpfen, um ihre Begierden und Leidenschaften zu beherrschen, so erwacht das Ego auch im Kind und braucht eine Zügelung, was selten ohne Gewalt möglich ist. Vor allem in reichen adligen Familien war eine strenge Erziehung Normalität. Denn wer es in der Kindheit nicht lernt, sich selbst zu beherrschen, lernt es auch im Alter nicht. Ohne Selbstbeherrschung kann man vielleicht in einer natürlichen Umgebung noch sinnvoll leben, wo die Natur enge Grenzen setzt und für strenge Zügelung sorgt. Doch in einer Umgebung, in der der materielle Reichtum alle natürlichen Grenzen sprengt, geht man schnell verloren.
Muß es die Rute sein? Man kann sicherlich diskutieren, wie weit man körperliche Gewalt mit seelischer Gewalt ersetzen kann, und was langfristig größeren Nutzen bringt oder größere Schäden verursacht. Man kann es einem Kind wohl tausendmal verbieten, an den heißen Ofen zu greifen, doch mit einer schmerzlichen Körpererfahrung klärt sich dieses Problem normalerweise ganz von selbst. Beide Arten von Gewalt können dem Kind helfen oder auch schaden. Schädlich wird es auf jeden Fall, wenn die Eltern beginnen, ihren persönlichen Zorn am Kind auszulassen, wie der Bauer in unserem Märchen. Das geschieht vor allem, wenn es auch die Eltern in ihrer Kindheit nicht gelernt haben, sich zu beherrschen. So kann sich ein Defizit in der Erziehung über viele Generationen vererben, denn auch die Eltern wurden von ihren Eltern erzogen und sind sozusagen nur für die Hälfte ihres Charakters verantwortlich.
Angst? Ein großes Thema ist die Rolle der Angst als eine besondere Form der Gewalt in der Erziehung bzw. Beziehung. Aus der Sicht der geistigen Entwicklung könnte man sagen: Die Angst ist der natürliche Führer des Verstandes, bis die Vernunft entwickelt ist. Die Angst setzt die nötigen Grenzen, bis die Vernunft uns befreit. Die Angst zügelt das herrschende Ichbewußtsein, bis die Vernunft die Herrschaft übernimmt. Wir wissen ja, zu welch schrecklichen Taten ein ungezügeltes Ego fähig ist. Und mit Vernunft meinen wir nicht die moderne, gedankenbasierte Vernunft, sondern die klassische Vernunft einer ganzheitlichen Intelligenz, oder wie es im Duden heißt: „Eine geistige Fähigkeit des Menschen, Einsichten zu gewinnen, sich ein Urteil zu bilden, die Zusammenhänge und die Ordnung des Wahrgenommenen zu erkennen und sich in seinem Handeln danach zu richten.“ Doch darauf kommen wir später noch zurück.
Was ist der Weg zur Vernunft? Ein Märchen wäre nicht viel wert, wenn es nur die äußeren Probleme anspricht, ohne auf einer tieferen Ebene den Lösungsweg anzudeuten. So wollen wir im folgenden versuchen, mit der verwendeten Symbolik des Märchens über die Entwicklung der Vernunft in Form des Jungen nachzudenken. Im ersten Schritt auf dem Weg zur Vernunft finden wir die Symbolik des Hirten wieder, und wie er sich darin üben sollte, die tierische Natur kennenzulernen und zu beherrschen. In der gackernden Henne und den zusammengebundenen Küken können wir sehen, wie das Kind beginnt, die Werkzeuge des Körpers, der Sinne und Gedanken zu beherrschen und die Zusammenhänge zu erfassen. Im Habicht erscheint der Tod, der alles Lebendige bedroht, bzw. die Vergänglichkeit, die alles Entstandene angreift. Der Hunger symbolisiert die natürliche Kraft, die Mensch und Tier antreibt, in der Welt tätig zu werden. Auch die nötige Achtsamkeit wird angesprochen und nicht zuletzt der Schmerz als Lehrmeister. So zeigt sich hier, wie der Mensch von der Natur zu einem langen Lernprozeß herausgefordert wird, der in diesem Fall von den Eltern des Kindes nicht konstruktiv unterstützt wird. Aufgrund des Egoismus ihrer verhärteten Herzen geben sie dem Kind nicht den nötigen Raum zum Lernen. Das geschieht oft bei Eltern, die erst spät ein Kind bekommen, wenn sich ihr Geist schon in engen Bahnen verfestigt hat.
Aus geistiger Sicht ist es das Ichbewußtsein, das der Vernunft keinen Raum zur Entwicklung gibt, und sie am liebsten totschlagen will, weil sie nicht nach seinen Vorstellungen wirkt. Warum? Das Märchen spricht vom Geiz, also Begierde und Haß, womit eine Ich-Blase entsteht, oder modern gesagt, eine Ego-Bubble. Dieses gedankliche Konstrukt nennen wir eine „Person“, abgeleitet von lateinisch „Persona“, was die Maske eines Schauspielers bedeutet. Diese Ich-Blase, die wir hier symbolisch im Bauern finden, denkt: „Wenn Ich mich beschütze, kann Ich überleben!“ So versucht sich diese Blase auch mit Gewalt zu verteidigen, und das nicht nur gegen andere Ich-Blasen, sondern auch gegen die höhere Vernunft.
Das ist ein typischer Ego-Effekt, den wir auch gegenwärtig in der Gesellschaft deutlich beobachten können. Zu den üblichen Gartenzäunen und Mauern kommen nun noch Masken- und Abstandspflicht dazu, womit sich das Ego beschützen will und denkt, daß es durch diese Abtrennung überleben kann. Gleichzeitig sieht man auch, wie jede vernünftige Stimme, die an eine ganzheitliche Sicht erinnert, zum Feind erklärt, als Idiot betrachtet und am liebsten totgeprügelt wird. Denn klar, für das Ego ist die Vernunft als Hüter unbrauchbar. Wofür könnte man sie sonst gebrauchen? Vielleicht könnte man mit der Vernunft ein Geschäft machen?
Als er wieder auf den Beinen war, sprach der Bauer zu ihm: »Du bist mir zu dumm, ich kann dich zum Hüter nicht brauchen, du sollst als Bote gehen.« Da schickte er ihn zum Richter, dem er einen Korb voll Trauben bringen sollte, und gab ihm noch einen Brief mit. Unterwegs plagte Hunger und Durst den armen Jungen so heftig, daß er zwei von den Trauben aß. Er brachte dem Richter den Korb, als dieser aber den Brief gelesen und die Trauben gezählt hatte, so sagte er: »Es fehlen zwei Stück.« Der Junge gestand ganz ehrlich, daß er, von Hunger und Durst getrieben, die fehlenden verzehrt habe. Der Richter schrieb einen Brief an den Bauer und verlangte (bzw. bestellte) noch einmal soviel Trauben. Auch diese mußte der Junge mit einem Brief hintragen. Als ihn wieder so gewaltig hungerte und durstete, so konnte er sich nicht anders helfen, er verzehrte abermals zwei Trauben. Doch nahm er vorher den Brief aus dem Korb, legte ihn unter einen Stein und setzte sich darauf, damit der Brief nicht zusehen und ihn verraten könnte. Der Richter aber stellte ihn doch der fehlenden Stücke wegen zur Rede. »Ach,« sagte der Junge, »wie habt Ihr das erfahren? Der Brief konnte es nicht wissen, denn ich hatte ihn zuvor unter einen Stein gelegt.«
Der Korb mit Trauben und Brief ist als Ganzes ein denkwürdiges Symbol für die Verbindung von drei Prinzipien. Der Korb ist ein Geflecht aus Zweigen. Zweige sind etwas, was sich verzweigt und teilt, und so erinnern sie an das Geflecht der gegensätzlichen Gedanken, die nach den Früchten in Form der Trauben greifen und mit dem Wissen in Form des Briefes verbunden sind. So verkörpert sich aus dem Geflecht der Gedanken und dem Ichbewußtsein zusammen mit der Lebensgeschichte und den angesammelten Früchten bzw. Karma ein Mensch, der wie der Korb scheinbar als ein getrenntes Objekt existiert. Erst auf der Ebene des Selbstbewußtseins mit der Vernunft verschwindet diese ichhafte Trennung, und die ganzheitliche Seele wird bewußt.
So wird nun der nächste Schritt auf dem Weg zur Vernunft mit genialer Symbolik skizziert. Die Trauben sind die süßen Früchte, nach denen wir gern im Leben mit Hilfe der Gedanken greifen. Doch gerade das Greifen nach und das Anhaften an den Früchten des Handelns gilt als ein Haupthindernis zur Entwicklung der freien Vernunft und ist eine wesentliche Eigenschaft des Egos. Aus diesem Grund opferte man früher symbolisch die Früchte in einem Gottestempel, um die persönliche Anhaftung an die Früchte der Taten aufzugeben und alle Früchte der Gottheit zu widmen. Auf diese Weise kann ein ganzheitliches Bewußtsein im Handeln entstehen, und das ist der Weg zur Vernunft und das Ende für Neid, Geiz, Begierde und Haß. So könnte man die Symbolik mit den Trauben betrachten, die zum Richter gebracht werden.
Der Richter ist ein vorzügliches Symbol für die höhere Vernunft. Erinnern wir uns an die Pyramide, die wir aus der Sicht eines ganzheitlich beseelten Weltbildes im „Dietmarsischen Lügenmärchen“ vorgestellt haben:
Betrachtet man die Entstehung des menschlichen Bewußtseins entsprechend dieser Pyramide, kann man von folgenden vier bzw. fünf Bewußtseinsstufen sprechen:
1) Vernunft: Selbstbewußtsein - Weisheit & Einsicht - Richter
2) Denken: Ichbewußtsein - Gedankenstreit - Anwälte
3) Sinne: Sinnesbewußtsein - Wahrnehmung - Zeugen
4) lebendige Materie: Körperbewußtsein - Handlungen - Gerichtsdiener
5) tote Materie: Maschinenbewußtsein - Mechanisierung - Strafvollzug
Damit gleicht das menschliche Bewußtsein symbolisch einem Gerichtsprozeß, der bis zum Strafvollzug in einem Gefängnis gehen kann, wo sich das Bewußtsein völlig der toten Materie in Form von Maschinen unterordnen muß und zu einem Maschinenbewußtsein wird, wie es in unserer mechanisierten Welt zunehmend geschieht. Dazu führen die Gerichtsdiener die Aufträge der Anwälte und Richter aus und repräsentieren sozusagen das Körperbewußtsein mit unseren Taten in der Welt. Die Zeugen stützen sich mit der Wahrnehmung auf das Sinnesbewußtsein, wodurch unsere sogenannten „Fakten“ entstehen, also subjektiv wahrgenommene Tatsachen oder Ereignisse, auch wenn wir heute gern von objektiven Fakten sprechen. Die Anwälte vertreten mit den Gedanken die persönlichen Interessen des Ichbewußtseins und streiten sich gewöhnlich, ohne eine endgültige Lösung zu finden. Nur die Richter können diesen Streit der Anwälte beenden, mit Selbstbewußtsein durch unabhängige Vernunft entscheiden und ein wahrhaftes Urteil fällen. Also: Die Richter „entscheiden“, die Anwälte „unterscheiden“, die Zeugen dienen der „Wahrnehmung“, die Gerichtsdiener dem „tätigen Handeln“ und der Strafvollzug „vollzieht die leidvolle Freiheitsstrafe“ mit dem großen Ziel der Entwicklung bzw. Rückkehr des Bewußtseins zur Vernunft, wie es in der obigen Pyramide erkennbar ist. Entsprechend wirkt das Leid in unserer Welt, auf die Sinne und Diener ist wenig Verlaß, und die Gedanken streiten sich gern. Doch die Richter sollten unabhängig sein, die Zusammenhänge und Hintergründe erfassen und mit Weisheit bzw. ganzheitlichem Wissen zu einer Entscheidung im ganzheitlichen Sinne fähig sein, um den Streit der Gedanken zu beenden.
Mit dieser Symbolik wird noch ein anderer wichtiger Aspekt deutlich, denn die Gefängniswärter, Gerichtsdiener, Zeugen, Anwälte und Richter sind im Grunde alles Menschen mit gleichen Fähigkeiten, die nur unterschiedliche Rollen in der Welt spielen und sich damit identifizieren. Das Gleiche gilt für die verschiedenen Arten des Bewußtseins, die im Grunde nur reines Bewußtsein sind, das verschiedene Eigenschaften in der Welt annimmt. Deshalb ist das Bewußtsein fähig, sich im Prozeß der Entstehung und Entwicklung zu wandeln und verschiedene Namen und Formen anzunehmen.
Besonders interessant ist hier der Unterschied zwischen Ichbewußtsein und Selbstbewußtsein, der in der deutschen Sprachentwicklung fast vollständig verlorengegangen ist oder bewußt ausgelöscht wurde. Das gleiche gilt für die Begriffe Verstand und Vernunft. Wir sprechen zwar noch von einem unerschütterlichen Selbstbewußtsein, aber meinen damit gewöhnlich ein unerschütterliches Ego, das keine ängstlichen Gefühle mehr an sich heranläßt. Doch das Ego kann wegen der illusionären Trennung durch gegensätzliche Gedanken wie „Mein“ und „Dein“ im Grunde niemals von Angst frei sein. Diese Freiheit kann nur das Selbstbewußtsein mit der höheren Vernunft gewähren, wenn man sich dem ganzheitlichen Selbst bzw. der ganzheitlichen Seele bewußt wird. Es ist also ein wesentlicher Unterschied, ob etwas vom „Ich“ gemacht wird oder von „Selbst“ entsteht.
Die ganzheitliche Seele, die in allen Wesen lebt, wird ebenfalls mit genialer Symbolik im Märchen angesprochen, und zwar in der kindlichen Vorstellung, daß der Brief im Korb nicht nur ein toter Informationsträger ist, sondern ein lebendiges Wesen, das als Zeuge auftritt und dem Richter etwas „berichtet“. Und soweit dieser Richter nicht an das trennende Ichbewußtsein gebunden ist, soweit kennt auch das Selbstbewußtsein keine Grenzen und wird zu einem ganzheitlichen Bewußtsein, das man reine Seele, reinen Geist oder auch Gottheit nennen kann. Soweit kann die Entwicklung der höheren Vernunft gehen, indem man Schritt für Schritt die Anhaftung und Abhängigkeit an das Körperbewußtsein, Sinnesbewußtsein und Ichbewußtsein auflöst, bis das reine Selbstbewußtsein übrigbleibt und die wahrhafte Vernunft die Herrschaft übernimmt. Im Yoga spricht man hier auch von Selbstverwirklichung, Selbstfindung oder Selbstbeherrschung. Auch diese Begriffe wurden mit dem materialistischen Weltbild mehr und mehr auf das Ego bezogen, denn mit dieser Weltsicht kann es weder ein ganzheitliches Selbst noch eine ganzheitliche Vernunft oder Intelligenz geben.
Über dieses Thema könnte man noch endlos schreiben, doch das wurde bereits zur Genüge in den Überlieferungen der alten Religionen und Philosophen getan. Es lohnt sich daraus zu lernen. Denn was empfiehlt der Richter bzw. die Vernunft:
Der Richter mußte über die Einfalt lachen, und schickte dem Mann einen Brief, worin er ihn ermahnte, den armen Jungen besser zu halten und es ihm an Speis und Trank nicht fehlen zu lassen; auch möchte er ihn lehren, was recht und unrecht sei.
Hier ist sicherlich kein überhebliches oder stolzes Lachen gemeint, sondern das Lächeln eines gütigen Vaters über die Einfalt des Kindes, diese Einfalt, von der auch Jesus sprach: „Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Matthäus 18.3)“ Er sagt allerdings nicht, daß wir wie Kinder bleiben und uns nicht entwickeln sollen. Es gibt eine Aufgabe im Leben zu erfüllen, und dazu wird auch der Bauer vom Richter ermahnt. Diese Ermahnung durch den Richter bzw. die Vernunft ist wichtig, denn man sollte nie vergessen, daß Kindererziehung vor allem auch Selbsterziehung ist. Damit wird die Kindererziehung ein wesentlicher Teil der menschlichen Entwicklung und sollte eigentlich nicht einer weltlichen Karriere zum Opfer fallen oder an irgendwelche Institutionen oder andere Leute delegiert werden. Wer sich mit der Entwicklung seiner Kinder auseinandersetzt, lernt sich selbst kennen und verarbeitet seine eigene Kindheit auf viel bewußtere Weise, als es dem Kind je möglich war. Auch das gehört zur Entwicklung der höheren Vernunft.
Und wozu ermahnt der Richter? An Speis und Trank soll es nicht fehlen. Das kann man zunächst körperlich sehen, aber im tieferen Sinne geht es auch um geistige Nahrung, die für die Entwicklung überaus wichtig ist: Zuerst die Wissenschaft für den Verstand und dann die Verdauung des Wissens zu einem ganzheitlichen Wissen, der „Weisheit“ bzw. Vernunft. Und dazu gehört natürlich, daß man „lernt was recht und unrecht sei“. Zuerst lernt man mit Gedanken, die Gegensätze zu unterscheiden, und später lernt man mit Vernunft, darüber zu entscheiden und ihr wahres ganzheitliches Wesen zu erkennen, denn Plus und Minus gehören nun einmal zusammen und sind im Grunde eine Einheit.
„Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. [1. Moses 2.16]“ Nun, der Mensch hat nicht auf Gott bzw. die Vernunft gehört, sondern auf die zischelnde Schlange des Ichbewußtseins und nach den Früchten von diesem Baum des gegensätzlichen Wissens gegriffen und davon gegessen. Hier sind wohl die unterscheidenden Gedanken gemeint, die aus der Sicht der persönlichen Interessen des Ichbewußtseins die Sinneswahrnehmungen in gut und böse bzw. angenehm und unangenehm unterscheiden. Und damit war es mit dem Paradies vorbei, die ganzheitliche Vollkommenheit verschwand und plötzlich gab es Mein und Dein, Glück und Leid, Leben und Tod, und der Ernst des Lebens begann:
»Ich will dir den Unterschied schon zeigen,« sagte der harte Mann; »willst du aber essen, so mußt du auch arbeiten, und tust du etwas Unrechtes, so sollst du durch Schläge hinlänglich belehrt werden.«
Im Prinzip ist das nicht falsch. Ohne Fleiß kein Preis! So sprach auch Gott zu Adam, als er aus dem Paradies verbannt wurde: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen... (1. Moses 3.19)“ Und es stimmt auch, daß man das rechte und unrechte bzw. heilsame und unheilsame Handeln praktisch an den Wirkungen unterscheiden kann. Das eine bringt Glück und Freude und das andere Leid und schmerzliche Schläge. Das sind die harten Gesetze, die in der Natur wirken und die Wesen auf ihrem Weg führen und belehren. Auch aus diesem Grund sprach Buddha: „Leben ist Leiden.“ Aber kein sinnloses Leiden, denn jedes Leiden ist auch Lehre, soweit man bereit ist, daraus zu lernen.
Doch diese harten Gesetze der Natur sind nur die halbe Wahrheit, auch wenn heute viele moderne Wissenschaftler darin die ganze Wahrheit sehen und glauben, daß der Mensch von den Naturgesetzen vollständig beherrscht wird. Aus geistiger Sicht herrschen diese Gesetze vor allem auf der Ebene des Ichbewußtseins und werden in unserem Märchen von einem „harten Mann“ vertreten, der ein „böses Herz“ hat, wie oben erklärt wurde. Das heißt, er lebt auf der Ebene des Ichbewußtseins, und so fehlt es an der Vernunft und damit auch an der Liebe zum Kind, das offenbar nicht seinen Vorstellungen entspricht und den erwarteten Nutzen für das Ego bringt. Und damit kommen wir zum nächsten Schritt auf dem Weg zur Vernunft, und das ist die Fähigkeit zur Verhältnismäßigkeit, um unvernünftige Übertreibung zu vermeiden, die sich in Extremismus, Fanatismus, Ausbeutung und Gewalt zeigt, wenn die verwendeten Mittel nicht mehr verhältnismäßig zum Nutzen sind:
Am folgenden Tag stellte er ihn an eine schwere Arbeit. Er sollte ein paar Bund Stroh zum Futter für die Pferde schneiden; dabei drohte der Mann: »in fünf Stunden,« sprach er, »bin ich wieder zurück, wenn dann das Stroh nicht zu Häcksel geschnitten ist, so schlage ich dich so lange, bis du kein Glied mehr regen kannst.« Der Bauer ging mit seiner Frau, dem Knecht und der Magd auf den Jahrmarkt und ließ dem Jungen nichts zurück als ein kleines Stück Brot. Der Junge stellte sich an den Strohstuhl und fing an, aus allen Leibeskräften zu arbeiten. Da ihm dabei heiß ward, so zog er sein Röcklein aus und warfs auf das Stroh. In der Angst, nicht fertig zu werden, schnitt er immerzu, und in seinem Eifer zerschnitt er unvermerkt mit dem Stroh auch sein Röcklein. Zu spät ward er das Unglück gewahr, das sich nicht wieder gutmachen ließ. »Ach,« rief er, »jetzt ist es aus mit mir. Der böse Mann hat mir nicht umsonst gedroht, kommt er zurück und sieht, was ich getan habe, so schlägt er mich tot. Lieber will ich mir selbst das Leben nehmen.«
Das Pferd als Zug- und Arbeitstier gleicht dem Ochsen, den wir in anderen Märchen bereits beschrieben haben. Aus symbolischer Sicht ist es der Wille, der uns zieht und antreibt im Leben. Das Stroh ist das Gold der Bauern und sozusagen der vermeintliche Besitz des Ichbewußtseins, das aber innerlich hohl ist und auch zur Ernährung kaum taugt. Das Röcklein erinnert an die körperliche Hülle, die wir tragen und die hier durch Übertreibung Schaden nimmt. Der Bauer mit Frau, Knecht und Magd erinnert an das Ichbewußtsein, das sich als männlicher Geist mit der weiblichen Natur und den Sinnes- und Handlungsorganen in dieser Welt vergnügen will, wie auf einem Jahrmarkt. Zurückgelassen wird die Vernunft in Form des Jungen, die verdrängt, ausgehungert und sogar gehaßt wird, weil sie dem Ichbewußtsein nicht dienlich erscheint.
Dazu wird eine besonders harte Form von seelischer Gewalt beschrieben, womit das Kind aus der Familie ausgegrenzt wird und durch Gewalt und Angst traumatisiert wird. Doch auch das Kind gibt sich der Übertreibung hin und schadet sich im übertriebenen Eifer selbst, so daß es am Ende verzweifelt und erneut das große Ziel verfehlt, nämlich die Vernunft, zwischen Recht und Unrecht bzw. heilsam und unheilsam im Handeln entscheiden zu können. Damit geht praktisch der Sinn des Lebens verloren. Die Angst wird übermächtig, Ich und Körper werden zu Todfeinden, das Ich fühlt sich vom Körper tödlich bedroht und sieht keinen anderen Ausweg, als den Körper zu töten, der eine Quelle unerträglichen Leids geworden ist.
Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Wie gesagt, die gedanklichen Probleme lassen sich auf der Ebene des Ichbewußtseins, wo die Angst regiert, niemals grundsätzlich lösen. Aus jedem scheinbar gelöstem Problem entstehen wieder neue Probleme. Und so ist auch der Selbstmord keine grundsätzliche Lösung, sofern hier das Ich zum Täter wird und man eigentlich von einem Körpermord sprechen müßte. Aus geistiger Sicht ist das klar, denn der Körper mit den Sinnen, mit denen sich das Ichbewußtsein identifiziert, ist nicht die Quelle des Leidens, sondern das Ichbewußtsein selbst. So führt der Mord des Körpers nicht zur Lösung, sondern zur Verstärkung des Ichbewußtseins und damit auch der Ängste. Entsprechend galt Selbstmord früher nicht als Erlösung sondern als große Sünde und ein Weg in die Hölle. Denn was im Höllenfeuer brennt und leidet, das ist vor allem das Ichbewußtsein in seiner wesenhaften Verbindung mit der Angst. Oder wie das alte Sprichwort sagt: „Eigenwölle brennt in der Hölle!“ - Aus materialistischer Sicht kann man natürlich sagen: Ohne Körper kann es auch kein Bewußtsein, also auch kein Ichbewußtsein geben. Das wäre das Ende allen Leidens. So erscheint es aus dieser Sicht auch selbstverständlich, daß man versucht, durch das körperliche Töten anderer Lebewesen mit Waffen, Gift und Gewalt alle Probleme zu lösen. Doch aus irgendwelchen Gründen wollen auch Materialisten leben und fühlen irgendwie, daß der Tod des eigenen Körpers nicht die Lösung aller Probleme ist.
Übertreibung? Es ist sicherlich kein Zufall, daß in unserer materialistisch orientierten Gesellschaft die Übertreibung eines der größten Probleme ist und das Motto gilt: Viel hilft viel! Wenn Nahrung gut ist, muß mehr Nahrung besser sein. Wenn Geld nützlich ist, muß mehr Geld noch nützlicher sein. Wenn Hygiene gesund ist, muß mehr Hygiene jede Krankheit verhindern. Wenn Medikamente heilen, müssen mehr Medikamente alles heilen. Wenn Technik hilfreich ist, muß mehr Technik alle Probleme lösen. Wenn Gewalt zielführend ist, läßt sich mit mehr Gewalt jedes Ziel erreichen. In diesem Wahn der Superegos haben wir das Gleichgewicht der Natur gefährlich gestört und arbeiten gegenwärtig sogar daran, unsere eigene Gesellschaft zu zerstören. Und das einzige Mittel, daß Politiker und Wissenschaftler diesem Wahn entgegensetzen können, ist offenbar die Herrschaft der Angst: Schockprognosen, Panikpropaganda, Psychoterror, Virushysterie, Mobbing, Geldstrafen, Berührungs-, Existenz-, Krankheits- und Todesängste, aber kaum jemand spricht von Vernunft, zumindest nicht im höheren Sinne. Viele Jahre lang wurde verhältnismäßige Hygiene gepredigt, und Desinfektionsmittel im Haushalt waren schädlich. Doch nun regiert die Angst, alles wird gnadenlos desinfiziert, und viele hunderte Tonnen Desinfektionsmittel werden panisch in die Umwelt gespritzt, die natürlich irgendwo im Grundwasser landen. Man sieht: Wo Angst regiert, kann es keine vernünftigen Entscheidungen geben. Das untermauert unserer These, daß ein materialistisches Weltbild prinzipiell unfähig ist, eine ganzheitliche Vernunft zu entwickeln, so daß Menschen sich selbst beherrschen, vernünftig entscheiden und heilsam handeln können.
Der Junge hatte einmal gehört, wie die Bäuerin sprach: »Unter dem Bett habe ich einen Topf mit Gift stehen.« Sie hatte es aber nur gesagt, um die Nascher zurückzuhalten, denn es war Honig darin. Der Junge kroch unter das Bett, holte den Topf hervor und aß ihn ganz aus. »Ich weiß nicht,« sprach er, »die Leute sagen, der Tod sei bitter, mir schmeckt er süß. Kein Wunder, daß die Bäuerin sich so oft den Tod wünscht.«
So wurden nun schon drei Schritte auf dem Entwicklungsweg zur Vernunft in der Symbolik des Märchens skizziert: Beherrschung der Gedanken, die Nichtanhaftung an den Früchten des Handelns und die Verhältnismäßigkeit ohne Übertreibung in irgendein Extrem. Auch der Buddha sprach von einem „mittleren Weg“, um alle Extreme zu vermeiden, aber auch von einem weiteren Schritt, und zwar die Erkenntnis des wahren Wesens aller Dinge. So wie das Kind in diesem Märchen beschrieben wird, hat es ein überaus festes Vertrauen in die Wahrheit seiner Eltern. Er zweifelt nicht daran, was sie tun und sagen. Doch wir wissen, die vermeintlich reichen Bauern sind nicht seine wahren Eltern, und weil sie selbst keine Vernunft entwickelt haben, können sie auch das Kind nicht auf den Weg zur Vernunft führen. Ähnlich geht es wohl auch unseren „reichen“ Politikern und Wissenschaftlern, die im Materialismus gebunden keine wahre Vernunft entwickeln können, weil sich der Materialismus auf einer objektiven Welt aus Materie gründet. Und das ist kein kleines Problem, denn ohne Vernunft werden wir sicherlich nicht die wachsenden Probleme von Umwelt und Gesellschaft lösen können. Daß die Objektivität der Materie eine Illusion ist, behaupten nicht nur die alten Religionen. Auch die moderne Quantenphysik spricht davon, daß sich die Materie immer weiter in Wellen, Kräfte und Energie verflüchtigt, je tiefer man sie untersucht, und ihre Erscheinung am Ende sogar vom Betrachter abhängig ist. Die Dinge sind also nicht so, wie sie äußerlich erscheinen. Doch selbst diese wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse konnten den Wahn des Materialismus nicht aufhalten und wurden kurzerhand in eine hintere Ecke der Physik geschoben, wo sie zwar theoretisch gelehrt werden, aber keinen praktischen Einfluß auf unser philosophisches Verständnis der Welt haben dürfen.
Nun gut, es gibt immer noch eine Chance. Haben sie gemerkt, daß unser Junge bisher immer zwei Chancen hatte, um seine Aufgaben zu meistern? Nur als er sich in seiner Angst aus Übertreibung für den Tod entschieden hatte, kam keine zweite. Dafür erscheint sogar auf dem Weg ins Grab noch eine weitere Chance:
Er setzte sich auf ein Stühlchen und war gefaßt zu sterben. Aber statt daß er schwächer werden sollte, fühlte er sich von der nahrhaften Speise gestärkt. »Es muß kein Gift gewesen sein,« sagte er, »aber der Bauer hat einmal gesagt, in seinem Kleiderkasten läge ein Fläschchen mit Fliegengift, das wird wohl das wahre Gift sein und mir den Tod bringen.« Es war aber kein Fliegengift, sondern Ungarwein. Der Junge holte die Flasche heraus und trank sie aus. »Auch dieser Tod schmeckt süß,« sagte er, doch als bald hernach der Wein anfing ihm ins Gehirn zu steigen und ihn zu betäuben, so meinte er, sein Ende nahte sich heran. »Ich fühle, daß ich sterben muß,« sprach er, »ich will hinaus auf den Kirchhof gehen und ein Grab suchen.« Er taumelte fort, erreichte den Kirchhof und legte sich in ein frisch geöffnetes Grab. Die Sinne verschwanden ihm immer mehr. In der Nähe stand ein Wirtshaus, wo eine Hochzeit gefeiert wurde: als er die Musik hörte, deuchte er sich schon im Paradies zu sein, bis er endlich alle Besinnung verlor.
Nun liest man, wie Medizin zum Gift wird und sogar zum Tod führt. Der Wein war schon immer ein mächtiges Symbol. Zum einen wird er aus den süßen Früchten gewonnen, über die wir oben bereits gesprochen haben, zum anderen wirkt er intensiv auf den Geist, kann Ängste beruhigen, das Bewußtsein erweitern, aber durch Übertreibung auch berauschen, betäuben und zur Sucht führen. Bekannt ist auch der Götterwein, der Nektar der Unsterblichkeit, oder das Blut von Jesus, als das Wesen des ewigen Lebens. Nehmen wir den Wein als Symbol des Lebens, dann kann man bezüglich der Lüge von Bäuerin und Bauer sagen: Solange Illusion und Lüge bzw. Unwissenheit mit dem Leben verbunden sind, herrschen die weltlichen Gegensätze wie Glück und Leid, Genuß und Schmerz oder Leben und Tod. Durch diese Gegensätze wird das Bewußtsein von Illusion gebunden, die sich wunderbar in dem Satz ausdrückt: »Auch dieser Tod schmeckt süß.« Denn wenn der Tod süß und das Leben bitter wird, so daß der Tod besser als das Leben erscheint, dann ist man sicherlich tief in Illusion gefallen.
Der Tod ist ein seltsamer Begriff. Wikipedia spricht vom „Ende des Lebens“ und sagte auch: „Die genaue Grenze zwischen Leben und Tod ist schwer zu definieren. Je weiter man von der Grenzzone zwischen beidem entfernt ist, desto klarer scheint der Unterschied zwischen Leben und Tod, je näher man an der Grenze ist, desto unschärfer wird sie.“ Intuitiv suchen die Menschen schon immer einen Weg, den Tod zu überwinden und das ewige Leben zu finden. Früher suchte man vor allem auf geistiger Ebene eine Lösung, heute auf körperlicher bzw. materieller Ebene. Nun, wenn es keine eindeutige Grenze zwischen Leben und Tod gibt, und alles nur eine Frage der Definition ist, warum definieren wir nicht alles als Leben? Dann wäre dieses ganze Universum ein riesiger lebendiger Organismus. Ist also das ewige Leben nur eine Frage des Bewußtseins?
Nun, dem Jungen schwindet das Bewußtsein, und er legt sich in ein Grab. Daneben gibt es ein Wirtshaus, wo eine Hochzeit gefeiert wird. Das Grab erinnert an den Fall des Bewußtseins in die materielle Welt, wo es immer weiter eingeschränkt wird und die geistige Beweglichkeit schwindet. Das Wirtshaus erinnert an unsere Welt, die uns ernährt, und in der wir uns vergnügen wollen. Die große Hochzeit zwischen den weltlichen Gegensätzen wie Männlich und Weiblich, Seele und Körper oder Geist und Natur ist in vielen alten Märchen das große Happy-End, doch hier erinnert sie mehr an den Rausch des Weines im Wirtshaus, und so bleibt wohl auch das Paradies nur ein Traum.
Das Paradies spielt in vielen alten Religionen eine wichtige Rolle. Manche stellen es sich im Himmel vor, andere auf der Erde. Vom Begriff her ist es das Jenseits dieser Welt, in der „Ich“ lebe. Das heißt also: Dort wo das „Ich“ wirkt und tätig wird, ist das Paradies nicht. Ähnlich werden auch in den Geschichten der altindischen Puranas auf der Erde paradiesische Gärten um den Berg Meru herum beschrieben, sowie auch viele Länder mit zumindest paradiesischen Zuständen (siehe z.B. Vayu-Purana 1.42). Nur dort, wo die Inder wohnten, gab es kein Paradies. Doch gerade das war die große Herausforderung und auch Chance im Leben. So heißt es:
Indien ist das Land der Taten, wodurch die Menschen zum Himmel oder sogar zur Erlösung gelangen können. Wahrlich, in diesem Land kann man den Himmel erreichen oder die Befreiung von den Fesseln der Existenz, die so schwer zu erreichen ist, während andere in das Tierreich oder sogar in die Hölle sinken. Von hier gehen die Menschen ihre Wege zur Befreiung oder in die Regionen von Himmel, Luft, Erde oder Unterwelt. Denn es gibt für menschliche Wesen keinen besseren Ort für Taten im Universum... Und Indien ist das beste Land, weil es das Land der Taten ist, während die anderen Orte vor allem dem Vergnügen dienen. Es geschieht nur nach vielen tausenden Geburten und der Ansammlung von großem Verdienst, daß ein Wesen irgendwann in Indien als Mensch geboren wird. (Vishnu-Purana 2.3)
Und damals war kaum ein Inder auf die Idee gekommen, das Land körperlich zu verlassen und einfach ins Paradies zu wandern. Denn sie wußten, dort wo das „Ich“ hingeht, verschwindet das Paradies. Das „Ich“ kommt also niemals ins Paradies, und für diese Schranke steht vermutlich auch das Symbol des Engels in der biblischen Geschichte, der mit dem Flammenschwert den Weg ins Paradies zum Baum des ewigen Lebens bewacht.
Der arme Junge erwachte nicht wieder, die Glut des heißen Weines und der kalte Tau der Nacht nahmen ihm das Leben, und er verblieb in dem Grab, in das er sich selbst gelegt hatte.
Ein trauriges Ende! Aus geistiger Sicht erinnern wir uns daran, den Jungen als Symbol für die lebendige Seele und vor allem für die lebendige Vernunft zu betrachten, die sich ja eigentlich zum Höheren entwickeln sollte, und hier, vom weltlichen Wein berauscht, sich selbst in das Grab der Erde bzw. Materie legt und zu Tode erstarrt. So wird aus lebendigem Geist tote Materie. Das Bewußtsein verhärtet sich vom Selbstbewußtsein über das Ichbewußtsein und Sinnesbewußtsein bis zum Körperbewußtsein. So hat man sich früher die Entstehung der materiellen Welt aus reinem Geist vorgestellt. Und so spricht auch die Bibel „Am Anfang war das Wort“, und ähnliches findet man noch viel ausführlicher in den altindischen Puranas, wie z.B. im Vayu-Purana 1.4. Aus dieser Sicht legt sich der Geist selbst in sein Grab, verliert seine lebendige Freiheit und erstarrt im Tod. Auch die moderne Wissenschaft beschreibt die Entwicklung des Universums in einem Prozeß der Materialisierung von reiner Energie aus dem Nichts bzw. Ungestalteten. Manche Wissenschaftler sprechen auch von Information als Grundlage, um den „esoterischen“ Begriff „Geist“ zu vermeiden. Doch auch Information bedeutet nichts anders, als durch Wissen bestimmte Formen zu bilden und zu gestalten.
Als der Bauer die Nachricht von dem Tod des Jungen erhielt, erschrak er und fürchtete, vor das Gericht geführt zu werden: ja die Angst faßte ihn so gewaltig, daß er ohnmächtig zur Erde sank. Die Frau, die mit einer Pfanne voll Schmalz am Herde stand, lief herzu, um ihm Beistand zu leisten. Aber das Feuer schlug in die Pfanne, ergriff das ganze Haus, und nach wenigen Stunden lag es schon in Asche. Die Jahre, die sie noch zu leben hatten, brachten sie, von Gewissensbissen geplagt, in Armut und Elend zu.
Nun, was man sät, das muß man ernten. Das ist das altindische Karma-Gesetz. Und wer Angst sät, muß auch Angst ernten. Entsprechend endet das Märchen mit einer sehr tiefgründigen Symbolik, die wir hier nur grob andeuten können: Aus geistiger Sicht beginnt das Ichbewußtsein zu erwachen und wird sich langsam der getöteten Vernunft und der ganzen Sünde bewußt, die es angesammelt hat. Gleichzeitig wird klar, daß die Gesetze von Ursache und Wirkung unausweichlich sind und alles vor den großen Richter kommt, die universale Intelligenz, die das Gewissen bzw. Mitwissen zum Zeugen hat, also das universale Bewußtsein im Sinne von: Gott sieht alles! Das ist sozusagen der letzte Schritt auf dem Weg zur Vernunft, wenn sich das Ichbewußtsein zum Selbstbewußtsein entwickelt. Und „entwickeln“ bedeutet hier nicht irgendein Anhäufen, sondern ein Auflösen, bei dem die Natur mit dem Feuer zu Hilfe kommt. Diese Symbolik findet man auch im christlichen Fegefeuer, als ein Feuer der Reinigung. Der Schmalz in der Pfanne erinnert an das angesammelte Karma und das Haus an den materiellen Körper, die verbrannt werden. Kein Weiser behauptet ernsthaft, daß der Prozeß der Auflösung des Egos eine angenehme Erfahrung ist. Hier stirbt das Ich, und das Selbst wird geboren bzw. verwirklicht. Je nach Entwicklungsstand ist das ein langer innerer Kampf, der sich das ganze Leben lang hinziehen kann und die größten Opfer fordert, die man sich vorstellen kann. Denn die Ich-Sucht ist um ein vielfaches größer als jegliche andere Sucht nach Sinnesbegierden, Alkohol oder Drogen. Dazu skizziert dieses Märchen sechs Schritte zur Vernunft:
1) Beherrschung der Gedanken, Selbstkontrolle
2) Handeln ohne Anhaftung an die Früchte, Selbstlosigkeit
4) verhältnismäßiges Handeln ohne Übertreibung, Selbstbeherrschung
5) Wahrhaftigkeit ohne Lüge, Selbsterkenntnis
6) Wandel vom Ichbewußtsein zum Selbstbewußtsein, Selbstverwirklichung
Solche großartigen Wege gingen früher die Mönche und Yogis durch Armut und Elend hindurch zum großen Happy-End im Paradies. Hier erblüht die menschliche Vernunft zur ganzheitlichen Liebe und zum ewigen Leben. Das sind die Früchte vom berühmten Baum des Lebens, wofür es sich wirklich lohnt zu leben. Und die überlieferten Märchen bezeugen auf wunderbare Weise, daß dieses Wissen nicht nur einer geistigen Elite bekannt sondern auch im Volk lebendig war.
Eckhard Tolle verwendet für die Ansammlung unserer Leiden im Leben den Begriff des „Schmerzkörpers“, zu dem auch alle unsere Ängste gehören:
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• Die Kristallkugel / Vom Schloß der goldenen Sonne - (Thema: Egoismus, das innere Tier besiegen)
• Des Kaisers neue Kleider - (Thema: Mahnmal 2020 - GELD-MACHT-BLIND)
• Rattenkönig Birlibi - (Thema: Geld, Feindschaft, Sucht und Armut)
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• Der Räuberbräutigam - (Thema: tote Seele, geistiger Mord)
• Der arme Junge im Grab (Thema: Erziehung, Ego, Angst und Vernunft)
• Der Simeliberg - (Thema: Ego, Räuber und Simeli-Reichtum)
• Der starke Hans - (Thema: Ego, Räuber und höchster Gewinn)
• Der alte Großvater und der Enkel - (Thema: soziale Spaltung, ekelhafte Vergänglichkeit)
• Allerleirauh - (Thema: kranker Geist, gequälte Seele, sterbende Natur und Heilung)
• Der Ursprung der Geschichten - (Thema: materielle und geistige Welt)
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857 |