Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Ursprung der Geschichten

Geschichte der Senaca-Indianer [Seneca-Indianer]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2021]

In einem Dorf der Seneca-Indianer lebte vor langer Zeit ein Junge, dessen Vater und Mutter gestorben waren, als er erst ein paar Wochen alt gewesen war. Um den kleinen Jungen kümmerte sich eine Frau, die seine Eltern gekannt hatte. Sie gab ihm einen Namen, der „Waisenjunge“ bedeutete. Der Junge war ein gesunder kleiner Kerl. Und als er alt genug war, gab ihm seine Ziehmutter einen Bogen und einige Pfeile und sprach: »Nun ist es Zeit, daß du lernst zu jagen. Geh morgen in den Wald und töte alle wilden Vögel, die du finden kannst.«

Dann nahm die Frau einen Maiskolben, kratzte die Körner ab und röstete sie in der heißen Asche. Am nächsten Morgen gab sie dem Jungen etwas von dem Mais, rollte ihn in ein Stück Wildleder und sagte ihm: »Nimm das mit, denn du wirst den ganzen Tag fort sein und hungrig werden.«

Der Junge brach auf und fand bald viel Wild. Als er auf dem Heimweg war, trug er eine ganze Schnur voll erlegter Vögel über der Schulter. Am nächsten Morgen, als er frühstückte, sprach seine Ziehmutter zu ihm: »Du mußt dich tüchtig anstrengen auf der Jagd, denn wenn du ein guter Jäger wirst, wird es dir immer gut gehen.«

Jeden Tag ging nun der Junge fort, und immer trug er das Päckchen mit dem gerösteten Mais bei sich. Jeden Tag brachte er mehr Jagdbeute heim. Und am neunten Tag schoß er so viele Vögel, daß er sie nur mit Mühe schleppen konnte. Seine Mutter machte daraus Bündel von drei oder vier Vögeln und verteilte diese unter die Nachbarn als Geschenke.

Auch am zehnten Tag brach der Junge auf wie gewöhnlich. Er wagte sich tiefer in den Wald hinein als jemals zuvor. Gegen Mittag löste sich die Sehne, mit der die Federn an seinem Pfeil befestigt waren. Er sah sich nach einer Stelle um, an der er sich niedersetzen konnte, während er die Sehne abwickelte und neu befestigte. Da bemerkte er eine kleine Lichtung, in deren Mitte sich ein hoher, glatter und oben abgeflachter runder Stein befand. Er ging zu dem Stein hin, kletterte hinauf und setzte sich dort nieder. Er wickelte die Sehne ab und steckte sie in den Mund, um sie weich zu kauen. Aber als er sie dann wieder um die Pfeilfedern wickeln wollte, hörte er eine Stimme nahe neben sich fragen: »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

Der Junge sah auf und erwartete, er werde da einen Mann sehen. Er sah aber niemanden. Er schaute hinter den Stein. Niemand. Er schaute vor den Stein. Nichts. Er machte sich daran, die Federn zu befestigen. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« fragte eine Stimme neben ihm. Der Junge sah sich überall um, und wiederum sah er niemanden. Da entschloß er sich, aufzupassen und herauszufinden, wer ihn da an der Nase herumführte. Er hielt in seiner Arbeit inne, und als die Stimme abermals fragte: »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« stellte er fest, daß sie aus dem Stein kam. Da fragte er: »Was ist das? Was bedeutet das: Geschichten erzählen?«

»Das bedeutet zu erzählen, von dem, was lange Zeit zurückliegt. Wenn du mir die Vögel gibst, erzähle ich dir Geschichten.«

»Die Vögel kannst du haben«, antwortete der Junge. Und sofort begann der Stein zu erzählen, was vor langer Zeit geschehen war. Und kaum hatte er eine Geschichte beendet, da fing er auch schon wieder mit der nächsten an. Der Junge saß mit gesenktem Kopf da und hörte zu. Gegen Abend sagte der Stein: »Jetzt wollen wir uns ausruhen. Komm morgen wieder. Wenn sich jemand wundern sollte, daß du keine Vögel geschossen hast, sag einfach, du hättest wohl schon zu viele getötet, sie seien selten geworden und du hättest einen langen Weg gehen müssen.«

Am nächsten Morgen brach der Junge wieder mit Pfeil und Bogen und einem kleinen Päckchen mit geröstetem Mais auf, aber er vergaß völlig, daß er hätte Vögel jagen sollen. Er dachte nur an die Geschichten, die ihm der Stein erzählt hatte. Nur wenn er im Vorrübergehen einen Vogel sah, schoß er ihn, ging jedoch eilig weiter zu der Stelle, an der der Stein stand. Als er dort ankam, legte er die Vögel auf den Stein und rief: »Ich bin da! Hier sind die Vögel. Jetzt will ich aber Geschichten hören.«

Der Stein erzählte Geschichte um Geschichte. Gegen Abend sagte er: »Jetzt wollen wir uns mal ausruhen bis morgen.«

Auf dem Heimweg sah sich der Junge nach Vögeln um, aber es war zu spät geworden, und er fand nur wenige. An diesem Abend erzählte die Mutter den Nachbarn, daß der Junge am Anfang immer viele Vögel von der Jagd mit heimgebracht habe. »Aber nun«, fuhr sie fort, »bringt er nur fünf oder sechs, nachdem er bis in die Nacht hinein im Wald umhergeirrt ist. Das kommt mir seltsam vor. Entweder wirft er seine Beute fort, oder er gibt sie irgendeinem Tier. Vielleicht ist er auch nur faul und jagt überhaupt nicht.«

Sie warb einen andern Jungen an, der folgte dem Knaben, ohne daß der es merkte. Der Waisenjunge schoß eine ganze Menge Vögel, dann aber, als der Vormittag etwa zur Hälfte um war, brach er plötzlich nach Osten hin auf und rannte so schnell wie er nur irgend konnte. Der Junge folgte ihm, bis sie an den großen runden Stein kamen, auf den sich der Knabe hinsetzte. Der Junge, den die Mutter angeworben hatte, kroch näher. Er hörte, wie jemand redete. Als er nicht erkennen konnte, mit wem der Waisenjunge da sprach, ging er zu ihm hin und fragte: »Was machst du denn hier?« »Geschichten hören.« »Was für Geschichten denn?« »Geschichten, die von Dingen erzählen, die längst vergangen sind. Lege deine Vögel auf den Stein und sag „Ich bin gekommen, um Geschichten zu hören!“« Der Junge tat, wie ihm geheißen, und augenblicklich begann der Stein zu reden. Der Junge hörte zu, bis die Sonne unterging. Dann sagte der Stein: »Jetzt wollen wir ausruhen. Komme morgen wieder.« Auf dem Heimweg schoß der Waisenjunge noch drei oder vier Vögel.

Als sich nun die Ziehmutter bei dem Jungen erkundigte, warum ihr Sohn so wenig Vögel geschossen habe, sagte der: »Ich folgte ihm eine Weile, dann redete ich mit ihm, und danach jagten wir zusammen, bis es Zeit war heimzukehren. Wir konnten einfach nicht so viele Vögel finden.« Am nächsten Morgen sagte der ältere Junge: »Ich gehe mit dem Waisenjungen auf die Jagd. Es macht Spaß.« Die beiden brachen zusammen auf. Bis der Vormittag zur Hälfte um war, hatte jeder der beiden Jungen eine Schnur Vögel. Sie liefen zu der Stelle und legten die Vögel auf den Stein und sagten: »Wir sind gekommen. Hier sind die Vögel. Erzähl uns Geschichten.«

Sie saßen auf dem Stein und hörten den Geschichten zu bis spät am Nachmittag. Dann sagte der Stein wieder: »Jetzt wollen wir uns ausruhen bis morgen.« Auf dem Heimweg schossen die Jungen jeden Vogel, den sie finden konnten, aber es war spät, und sie fanden nicht viele. Mehrere Tage vergingen auf diese Weise. Dann warb die Ziehmutter zwei Männer an, um sie zu verfolgen. Am nächsten Morgen, als die Jungen einige Vögel erlegt hatten, rannten sie zu dem Stein. Die Männer folgten ihnen und verbargen sich hinter den Bäumen. Sie sahen, wie die Jungen ihre Beute auf den großen runden Stein legten und hörten, wie jemand zu erzählen anfing und redete.

»Komm«, sagte der eine zum anderen, »wir wollen mal hingehen und ausfindig machen, mit wem die Jungen da sprechen.«

Sie liefen zu dem Stein und fragten: »Was macht ihr da, Jungen?« Die Jungen erschraken, aber der Waisenjunge sagte: »Ihr müßt versprechen, daß ihr das keinem Menschen verratet.« Sie versprachen es, und der Waisenjunge sagte: »Springt herauf und setzt euch hier auf den Stein.« Als die Männer sich auf den Stein gesetzt hatten, sagte der Junge: »Fahr fort mit der Geschichte, wir hören zu.« Die vier setzten sich, senkten die Köpfe, und der Stein fuhr fort, Geschichten zu erzählen. Als es fast dunkel war, sagte der Stein: »Morgen müssen alle Leute aus eurem Dorf herkommen und meinen Geschichten zuhören. Alle sollen etwas zu essen mitbringen. Dann müßt ihr hier das Buschwerk beseitigen, damit die Leute auf dem Erdboden sitzen können.« In dieser Nacht erzählte der Waisenjunge dem Häuptling alles über den geschichtenerzählenden Stein und teilte ihm mit, was der ihm aufgetragen hatte. Der Häuptling schickte einen Läufer mit der Botschaft zu jeder Familie im Dorf.

Zeitig am nächsten Morgen folgten alle Einwohner des Dorfes dem Waisenjungen. Als sie an den Stein kamen, legte jeder hin, was er an Eßbarem mitgebracht hatte. Das Unterholz wurde geschlagen, und alle setzten sich. Als alles still war, sagte der Stein: »Jetzt will ich euch Geschichten von dem erzählen, was vor langer Zeit geschehen ist. Es gab eine Welt vor dieser Welt. Die Dinge, über die ich berichte, spielten sich in jener Vorwelt ab. Einige von euch werden jedes Wort, das ich sage, im Gedächtnis behalten, andere werden einen Teil der Worte im Gedächtnis behalten, und einige werden alles vergessen. Ich denke, das wird der Weg sein, und jeder soll sein Bestes tun. Später sollt ihr dann diese Geschichten untereinander erzählen. Jetzt aber hört mir zu.«

Jedermann senkte den Kopf und hörte jedes Wort, das der Stein sagte. Als die Sonne fast untergegangen war, sagte der Stein: »Nun ist's genug. Kommt morgen wieder und bringt Fleisch und Brot.«

Am nächsten Morgen versammelten sich die Leute wieder um den Stein. Sie sahen, daß das Brot und Fleisch, das sie am Tag zuvor zurückgelassen hatten, fort war. Sie legten wiederum Brot und Fleisch auf den Stein, setzten sich im Kreis hin und warteten. Als alles ruhig war, begann der Stein zu erzählen. Wieder hörten sie Geschichten, bis die Sonne fast untergegangen war. Dann sagte der Stein: »Kommt morgen wieder. Morgen will ich die Geschichten von dem, was lange zuvor geschah, zu Ende erzählen.« Früh am Morgen versammelten sich die Leute wieder, und als es ganz still war, fing der Stein an zu erzählen. Spät am Nachmittag aber sprach er: »Jetzt bin ich fertig. Ihr müßt nun diese Geschichten am Leben erhalten, solange diese Welt besteht, erzählt sie euren Kindern und euren Enkelkindern, Generation um Generation. Es wird welche geben, die sie sich besser merken können als andere. Wenn ihr zu einem Mann oder einer Frau geht und eine von diesen Geschichten hören wollt, dann bringt dem Erzähler etwas zu essen mit, Brot oder Fleisch oder was ihr eben habt. Ich weiß, so ist dies auch schon in der Vorwelt geschehen, und davon habe ich euch berichtet. Wenn ihr euch besucht, dann erzählt euch diese Dinge, so behaltet ihr die Geschichten für immer im Gedächtnis. Ich habe meinen Teil getan.«

Und so ist es gewesen. Aus einem Stein kam all das Wissen der Seneca-Indianer über die vergangene Welt.

Mit diesem Märchen möchten wir einmal Europa verlassen und über den großen Ozean nach Amerika zu den Geschichten der Indianer schauen. Erstaunlicherweise finden wir hier schon zu Beginn große Ähnlichkeiten mit unserer europäischen Märchensymbolik. Denn auch hier gibt es ein Kind, das seine wahren Eltern verloren hat und nun von einer Ziehmutter aufgezogen wird. Das erinnert uns wieder an die wahre Natur, die wir verloren haben, so daß wir nun in einer materiellen Natur leben müssen, die eigentlich nicht unsere wahre Mutter ist. Diese materielle Natur zwingt uns, nach äußerlichen Dingen zu jagen und sogar zu töten, um den eigenen Körper zu ernähren. So wird auch das Kind von seiner Ziehmutter in den Wald geschickt, um Vögel zu schießen, gerade die Wesen, die sich von der Erde in die Lüfte erheben können und gern als Symbol für die lebendige Seele gebraucht werden, die sogar den Himmel erreichen kann.

So wächst das Kind in dieser irdischen Welt auf, ohne seinen wahren Vater und seine wahre Mutter zu kennen. Aber die Geschichte meint, daß die Ziehmutter, also die materielle Natur, die beiden kennt. Nun, was ist das für eine Natur oder Welt, die wir nicht mehr kennen, aber eigentlich unser wahrer Ursprung ist? Die Indianer sprachen von den „ewigen Jagdgründen“ der Ahnen, von denen wir nur eine „Ahnung“ haben können, weil wir mit unseren gewöhnlichen Sinnen und Gedanken nur in dieser materiellen Welt auf die Jagd gehen, wie auch das Waisenkind in dieser Geschichte. Diesbezüglich könnte man vielleicht unsere Welt die „vergänglichen Jagdgründe“ nennen. Und so gäbe es eine ewige Welt mit einem ewigen Leben, und eine vergängliche Welt mit vergänglichem Leben. Die ewige Welt wäre eine geistige Welt, und die vergängliche Welt eine materielle. Die geistige Welt wäre dann unser wahrer Ursprung, wo unsere wahren Eltern leben, sozusagen die Ur-Ahnen, und die materielle Welt gleicht einer Ziehmutter, wie sie in der Geschichte beschrieben wird.

Doch wie hängen diese beiden Welten zusammen? Hierin liegt die wunderbare Botschaft dieses Märchens. Die materiellen Dinge dieser Welt erzählen uns die Geschichten ihrer Vergangenheit. Und wir selbst verkörpern diese Geschichten und leben diese Geschichten, um daraus zu lernen und entsprechend die Zukunft zu gestalten. Wer zuhören kann, kann diese Geschichten sogar von Steinen hören. Das würde bedeuten, daß es in und hinter unserer materiellen Welt eine geistige Welt geben muß, in der diese Geschichten aufbewahrt werden, wie ein großer Speicher an Informationen. Und aus diesem Speicher entsteht unsere äußere materielle Welt. Und alles, was in dieser Welt geschieht, wird auch dort wieder gespeichert und geht nicht verloren. Das erinnert uns an die uralte Vorstellung von Gott, der allwissend ist, weil er alle Informationen speichert, und allmächtig ist, weil aus diesen Informationen alles entsteht.

Schüler: Wer predigt die Weisheit des Buddha?
Nanyang: Mauern und Steine.
Schüler: Wie können die uns etwas lehren? Sie leben und fühlen doch nicht.
Nanyang: Das besagt nicht, daß niemand sie hört.
Schüler: Wer hört sie denn?
Nanyang: Alle Weisen hören sie.
(Zen-Buddhismus)

Und warum leben wir in dieser materiellen Welt bei unserer „Ziehmutter“ der materiellen Natur? Wohin „zieht“ uns dieser Mutter? Wohin entwickeln wir uns? Nun, für die Indianer schien es selbstverständlich gewesen zu sein, daß die materielle Welt ein Zugang zur geistigen Welt sein kann. Dafür wurden die Ahnen in einer geistigen Welt verehrt, und die Menschen wußten, wohin sie nach dem Tod gehen. Und sie wußten auch, daß ihre Taten in dieser Welt in einem viel größeren Rahmen wirken, als wir es heute glauben. Damit hatten sie sicherlich auch einen Grund, aufrichtig und ehrlich zu handeln, und das Ziel des Lebens war nicht nur auf diese begrenzte und vergängliche materielle Welt gerichtet, sondern vor allem auf eine geistige Welt zum ewigen Leben.

Dazu wird ein weiteres großes Thema angesprochen, die Frage nach dem Opfern von Tieren und Pflanzen. Viele Menschen haben heutzutage kein Problem damit, wenn Millionen Schweine und Hühner sterben müssen, weil wir so gern Grillpartys feiern und üppig essen. Doch wenn in einem Tempel Tiere für einen Gott geopfert werden, sind sie empört, ganz zu schweigen von den Opfern für einen unsichtbaren Naturgeist, der in einem Stein wohnt, wie es in dieser Geschichte beschrieben wird. Nun, das ist verständlich, denn mit dem Begehren unseres Körpers sind wir eng verbunden, aber die Verbindung zur geistigen Welt haben wir verloren. Und so haben auch viele alte Rituale ihren Sinn verloren und wurden lange Zeit nur noch äußerlich und sinnentleert durchgeführt. Ohne diese Verbindung zur geistigen Welt sollte man wirklich keine Tiere opfern, aber auch keine Pflanzen und gleich gar keine Samen und Früchte, also nicht einmal ein Stück Brot. Und was wir dann essen, das essen wir nur noch aus egoistischen Gründen, und dafür töte ich andere Wesen, weil ich leben will. Das ist das Ergebnis unserer modernen Weltanschauung, mit der wir in einer materiellen Welt des Todes leben und nur überleben können, wenn wir andere Wesen töten.

Und was empfiehlt uns diese Geschichte? Wir sollen dafür sorgen, daß die Geschichten lebendig bleiben und gelebt werden. Dann wird auch unsere ganze Welt lebendig und lebt. Das geschah früher durch das Erzählen in der Gemeinschaft, so daß die Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben werden konnten. Damit waren die Menschen fähig, aus der Vergangenheit zu lernen und sich entsprechend zu entwickeln, weil die Geschichten in ihnen lebendig waren. Dieses Lernen galt als Sinn des Lebens in dieser Welt. Vom Aufschreiben der Geschichten wird interessanterweise nicht gesprochen, obwohl unsere moderne Wissenschaft behauptet, daß die Erfindung und Verwendung der Schrift eine Stufe der menschlichen Höherentwicklung war. Oder war es ein Schritt der Degeneration, als die menschliche Fähigkeit der Erinnerung verkümmerte und tote Buchstaben glaubwürdiger erschienen, als lebendige Erinnerung? Vielleicht mußte die Schrift erfunden werden, weil die Menschen ihren Kontakt zur lebendigen geistigen Welt verloren hatten und zunehmend in einer toten materiellen Welt lebten. Denn seitdem ernähren wir uns von totem Wissen aus toten Büchern. Ja, sogar die Bibel ist für viele nur noch ein Geschichtsbuch über geschichtlich vergangene Ereignisse, totes Wissen, an das man glauben oder nicht glauben kann.

Und was tun wir hier? Schreiben wir nicht auch über die Bedeutung von Märchen ganz viele tote Buchstaben? Nun, das ist wohl so. Als die Märchen in Europa am Sterben waren, gab es fleißige Menschen wie die Gebrüder Grimm, welche die Reste, an die sich die Menschen noch erinnern konnten, aufschrieben. Und als wir vor einigen Jahren erschrocken feststellten, wie weltlich profan heutzutage die Märchen verfilmt und von der Wissenschaft interpretiert wurden, haben wir uns herausgefordert gefühlt, die vergessenen geistigen Hintergründe zu untersuchen und einige Gedanken niederzuschreiben. Ja, wir sind uns bewußt, daß damit die alten Märchen nicht wieder lebendig werden, zumindest nicht so, wie sie einst von selbst gelebt haben. Das ist traurig, doch vielleicht können wir wenigstens einen einigermaßen würdigen Grabstein setzen, sozusagen als Erinnerung an eine wunderbare Welt, die wir durch unsere Art des Lebens verloren haben.

Und irgendwann könnte wieder ein junger Mensch in der Natur auf einem solchen Stein sitzen und die Geschichte der modernen Menschen anhören, wie sie damals vor langer Zeit ihre geistige Welt verloren hatten, ihre wahren Eltern nicht mehr kannten und ihren Ursprung in toter Materie suchten. Sie durchwühlten die Erde und untersuchten mit Pinsel, Pinzette und Mikroskop jedes Staubkörnchen, um ihre vergangene Geschichte irgendwo in alten Tonscherben und Knochen zu finden. Ja, sie gruben sogar nach dem Schiff des biblischen Noah, suchten die Steintafeln der Bundeslade oder wühlten im Waldboden nach den Resten des Pfefferkuchenhauses der alten Hexe. Sie suchten Totes, und sie fanden Totes, denn sie wußten nichts mehr von der geistigen Welt. Jede geistige Ahnung galt als Dummheit, und engstirnige Wissenschaft regierte ihre Gedanken. Entsprechend lebten sie in einer toten Welt mit stetig zunehmender Angst um ihr vergängliches Leben und ihren vergänglichen Besitz. Sie wunderten sich zwar, warum sie immer ängstlicher wurden, je mehr sie ihr Vertrauen auf vergängliche Dinge setzten, aber glaubten, sie müßten nur noch fester darauf vertrauen. So wurden sie materiell immer reicher und geistig immer ärmer. Auf allen Ebenen der Gesellschaft wuchs der Egoismus und damit die Gier nach Geld und Macht. Sie nahmen sich gegenseitig die Luft zum Leben, zerstörten ihre Umwelt und isolierten sich mit wachsender Angst voreinander und voneinander, weil sie überall nur noch todbringende Feinde sahen. Sie verloren jegliches Vertrauen in die lebendige Kraft von Geist und Natur, und vertrauten statt dessen auf tote Chemikalien und Maschinen. Sie machten sich die lebendige Natur zum tödlichen Feind und führten in ihrer Unwissenheit einen globalen Weltkrieg gegen die Mutter Natur, weil sie den wahren Ursprung ihrer Geschichte und sich selbst nicht mehr kannten. Und der junge Mensch hörte auch vom Stein, daß sie diesen Krieg nicht gewinnen konnten, und sich wie alle übermächtigen und überheblichen Kulturen am Ende in einer großen Katastrophe selbst zerstörten. Das war ein dunkles Zeitalter...

Danach werden unwahrhafte und ungerechte Könige mit viel Gewalt und wenig Güte die Herrschaft übernehmen und ihren Geist verbreiten, indem sie riesige Reichtümer verschwenden und der Lust frönen. Diese Könige werden nicht ordnungsgemäß gekrönt, werden alle Fehler des dunklen Kali-Zeitalters haben und übelgesinnte Taten begehen. Während dieser letzten Zeit des Kali-Yugas werden diese Könige den Genuß der irdischen Herrschaft suchen und nicht zurückschrecken, auch Frauen und Kinder zu töten und sich gegenseitig zu zerstören. Die Stämme und Reiche dieser Könige werden schnell wachsen und ebenso schnell vergehen. Sie werden ohne wahre Tugend, wahre Liebe und wahren Reichtum sein. Alle gewöhnlichen Menschen, die mit ihnen in Kontakt kommen, werden bald den Gewohnheiten der gottlosen Barbaren folgen und alle heiligen Traditionen mißachten. Die Könige werden stolz und verlogen sein und ihre Untertanen ruinieren. Unter ihrer Herrschaft werden die Frauen dominieren, und alle Menschen werden immer schwächer an Kraft und Weisheit. Ihre Lebenszeit schwindet, und wenn der Tiefpunkt erreicht ist, werden auch die herrschenden Könige von der allmächtigen Zeit überwältigt und untergehen. Dann wird Kalki erscheinen und alle Barbaren, Gottlosen und Ungerechten vernichten. Selbst der Begriff „König“ wird dann am Ende des Kali-Zeitalters verschwinden. Nur wenige Menschen werden hilf- und kraftlos überleben, denn das Dharma der Tugend und Gerechtigkeit wurde von der Zeit zerstört. Niemand wird sie noch beschützen und beruhigen können. Es wird am Nötigsten zum Leben fehlen, und sie werden von Krankheiten und Sorgen gequält und von Dürre und Krieg überwältigt. Ihr Leben wird völlig trostlos sein. Sie werden ihre Fähigkeiten und Berufe aufgeben, ihre Dörfer und Städte verlassen und in den Wäldern Zuflucht suchen... [Vayu-Purana 2.37]

Nur wenige Menschen überleben diese Zeit, hier und dort auf der Erde verstreut. Wenn sie in Gruppen zusammenkommen, tritt ihr Wesen hervor, und sie hassen und verletzen sich gegenseitig. Es herrscht Anarchie als Ergebnis des dunklen Kali-Zeitalters, und voller Zweifel und innerer Spannung werden die Untertanen überall von Angst regiert. Höchst gequält und erschöpft versuchen sie, ihr selbstsüchtiges Leben zu retten, verlassen Frau, Kinder und Haus, werden immer unglücklicher und sterben. Weil in ihnen das Dharma entsprechend der heiligen Gebote erloschen ist, töten sich die Menschen ohne jede Rücksicht auf Tugend, Zuneigung, Freundschaft oder Scham. Ihre Lebenszeit schwindet auf 25 Jahre mit zwergenhaften Körpern. Ihre Sinne sind verwirrt, und ihr Geist entmutigt. Unter dem Druck langanhaltender Dürre geben sie jede Landwirtschaft auf, versinken im Unglück, verlassen ihre Familien, Dörfer und Länder und leben an den Grenzen. Sie suchen Zuflucht an Flüssen, Meeren, Quellen und Bergen. Sie erhalten sich erbärmlich mit Wurzeln, Früchten, Wasser und Fleisch und leben in großem Elend. Sie tragen Bastkleidung und Hirschfelle, haben weder Ehefrau noch Familie und fallen aus jeder Kastenordnung und Lebensweise. Sie mißachten jede Ordnung und stürzen in grenzenloses Leiden. Nur sehr wenige überleben, und diese werden von Alter, Krankheit und Hunger gequält. Und in ihrem unerträglichen Leiden werden sie bald völlig gleichgültig gegenüber ihrer weltlichen Existenz.

Doch in ihrer größten Verzweiflung und Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren Welt beginnen sie, nach innen zu schauen. Und während sie nach innen schauen, erreichen sie einen Zustand des Gleichmutes. Vom Gleichmut werden sie erleuchtet, durch Erleuchtung erkennen sie das Göttliche und werden fromm. Und sobald die Personen, die das Ende des dunklen Kali-Zeitalters überlebt haben, diese Erleuchtung erreichen, verwandelt sich das Zeitalter an einem einzigen Tag. Sobald ihr Geist entzaubert wurde, beginnt durch die Macht des unvermeidlichen Schicksals wieder das goldene Krita-Zeitalter... [Vayu-Purana 1.58]

Diese Geschichten aus dem Vayu-Purana über das dunkle Kali-Zeitalter haben indische Yogis bereits vor vielen tausend Jahren gehört, als sie auf dem Stein saßen und der Stimme der Natur lauschten. Sie sind uns überliefert, und nun liegt es an uns, unsere Zukunft zu gestalten. Denn wir leben nicht nur die Geschichte unserer Vergangenheit, sondern gestalten durch unser Denken und Handeln auch aktiv die Geschichte der Zukunft. Dieser Verantwortung sollten wir uns bewußt werden. Mögen wir wieder friedlich in und mit der Natur leben und die geistige Welt entdecken! Mögen wir die Vielfalt der Natur fördern und eine ganzheitlich heilsame Vernunft entwickeln! Mögen wir Mäßigung üben und jede Übertreibung vermeiden! Möge der egoistische Wahn vergehen, und mögen wieder Weisheit und Mitgefühl regieren! OM


Werdet wie die Kinder, sonst könnt ihr weder die Stimme hören noch die Geschichten verstehen. Nur so läßt sich die Angst besiegen...


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Der Räuberbräutigam - (Thema: tote Seele, geistiger Mord)
Der arme Junge im Grab - (Thema: Erziehung, Ego, Angst und Vernunft)
Der Simeliberg - (Thema: Ego, Räuber und Simeli-Reichtum)
Der starke Hans - (Thema: Ego, Räuber und höchster Gewinn)
Der alte Großvater und der Enkel - (Thema: soziale Spaltung, ekelhafte Vergänglichkeit)
Allerleirauh - (Thema: kranker Geist, gequälte Seele, sterbende Natur und Heilung)
Der Ursprung der Geschichten (Thema: materielle und geistige Welt)
Der Okerlo „Ichmensch“ - (Thema: Seele, Körper und Ego)
Hans Dumm - (Thema: Wünsche verwirklichen)
Der Trommler - (Thema: Verstand und Erlösungsweg)
Prinz Schwan - (Thema: Seele, Geist und Erlösung)

[Seneca-Indianer] Indianermärchen aus Kanada, Fischer, 1990 / The Origin of Stories, Jeremiah Curtin, Indian Myth, New York 1923 / Inspiriert von Anke Ilona Nikoleit
[Vayu-Purana] www.pushpak.de/vayu, Undine & Jens, 2019
[2021] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. Februar 2021