Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Prinz Schwan

Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Es war ein Mädchen mitten in einem großen Wald. Da kam ein Schwan auf sie zugegangen, der hatte einen Knäuel Garn und sprach zu ihr: „Ich bin kein Schwan, sondern ein verzauberter Prinz. Aber du kannst mich erlösen, wenn du den Knäuel Garn abwickelst, an dem ich fortfliege. Doch hüte dich, daß du den Faden nicht entzweibrichst, sonst komme ich nicht bis in mein Königreich, und werde nicht erlöst. Wickelst du aber den Knäuel ganz ab, dann bist du meine Braut.“

Der Schwan mit seinem weißen Kleid erinnert uns an einen reinen Geist, der in dieser Welt verzaubert bzw. verwünscht wurde und nun den tierhaften Körper eines Schwans tragen muß. Doch er ist sich jetzt seiner Verzauberung bewußt und sagt selbst: „Ich bin kein Schwan“, sondern ein Königssohn mit einem königlichen Geist, der eigentlich über die Welt herrschen und nicht von der Welt beherrscht und in einem engen Körper gefangen sein sollte. Hier können wir an die Vernunft denken, die als ein ganzheitliches Bewußtsein frei und unabhängig von allen Bindungen ist. Damit könnte man den Schwan auch am Ende seines irdischen Lebens sehen, der nun seine Seele bzw. den aufgewickelten Lebensfaden in die Hände der Natur gibt, die ihn abwickeln bzw. „entwickeln“ soll. Denn alles, was aufgewickelt wurde, muß natürlich auch wieder abgewickelt werden. Das ist das Karma-Gesetzt von Ursache und Wirkung. Und wenn dieser Faden als Fluß von Ursache und Wirkung nicht zerreißt, wenn es also im weitesten Sinne keine Trennung mehr gibt, dann werden beide erlöst, Geist und Natur, Körper und Seele wieder vereint und die mystische Hochzeit als ewige Ganzheit bzw. Gottheit gefeiert. So erhebt sich nun der Schwan aus dieser irdischen Welt in ein höheres Reich, nachdem er sich selbst im Spiegel der Wellen auf dem Meer des Bewußtseins erkannt hat.

Eine ähnliche Symbolik des Schwans, der über diese irdische Welt hinausschauen kann, finden wir von Sokrates schon vor über 2400 Jahren im Phaidon Kap. 35:
Als Eigentum Apollos, denk' ich, verstehen sich die Schwäne auf Wahrsagung, und da sie das Glück im Hades vorherwissen, so singen sie und freuen sich jenen Tag über mehr als in der vorhergegangenen Zeit. Ich aber glaube auch selbst wohl ein Dienstgenosse der Schwäne und demselben Gotte geweiht zu sein und in nicht geringerem Grade als sie die Seherkunst von meinem Herrn zu haben, und also auch nicht weniger freudig aus dem Leben zu scheiden.

Und Leonardo da Vinci schrieb dann in seiner Fabel „Der Schwan“ vor über 500 Jahren:
Der Schwan neigte den biegsamen Hals aufs Wasser und spiegelte sich lange. Da begriff er die Ursache seiner Müdigkeit und dieser Kälte, die seinen Körper wie mit Zangen griff und zittern machte wie im Winter: Mit absoluter Gewißheit wußte er, daß seine Stunde geschlagen hatte und daß er zum Sterben bereit sein mußte. Seine Federn waren noch weiß wie am ersten Tag seines Lebens. Er hatte Jahre und Jahreszeiten durchmessen, ohne sein unbeflecktes Kleid zu beschmutzen. Jetzt konnte er Abschied nehmen und sein Leben in Schönheit beschließen. Den schönen Hals hebend, steuerte er langsam, fast feierlich unter eine Trauerweide, wo er an heißen Tagen zu ruhen pflegte. Es war schon Abend. Der Sonnenuntergang verfärbte das Seewasser purpurn und violett. Und in dem großen Schweigen, das sich auf alles niedersenkte, begann der Schwan zu singen. Niemals zuvor hatte er Töne so voller Liebe für alle Natur, für die Schönheit des Himmels, des Wassers und der Erde gefunden. Sein süßester Gesang verschwebte in der Luft, kaum von Schwermut umflort, bis er sich leise, leise verlor, eins mit dem letzten Licht des Horizontes. „Es ist der Schwan“, sagten bewegt die Fische, die Vögel, alle Tiere des Waldes und der Wiesen, „es ist der Schwan, der stirbt.“

Über diesen „Schwanenkönig“ entstand dann auch 1980 das berühmte Lied von Karat:

Es neigte ein Schwanenkönig
seinen Hals auf das Wasser hinab.
Sein Gefieder war weiß wie am ersten Tag,
rein wie Sirenenton.
Und im Glitzern der Morgensonne
sieht er in den Spiegel der Wellen hinein,
und mit brechenden Augen weiß er:
Das wird sein Abschied sein…
Und es begann der Schwanenkönig
zu singen sein erstes Lied,
unter der Trauerweide,
wo er sein Leben geliebt.
Und er singt in den schönsten Tönen,
die man je auf Erden gehört,
von der Schönheit dieser Erde,
die ihn, unsterblich, betört…

So hat wohl auch unser Mädchen als unbefleckte Jungfrau bzw. reine Seele dieses erste und ursprüngliche Lied gehört, als der Schwan seine reine und unsterbliche Quelle wiedererkannt hatte. Und mit dem ewigen und ganzheitlichen Band der Seele soll ihm nun auch die Natur folgen, als die reine Seele:

Das Mädchen nahm den Knäuel, und der Schwan stieg auf in die Luft, und das Garn wickelte sich leichtlich ab. Sie wickelte und wickelte den ganzen Tag, und am Abend war schon das Ende des Fadens zu sehen, da blieb er unglücklicherweise an einem Dornstrauch hängen und brach ab.

Und es singt der Schwanenkönig
seinen ganzen letzten Tag,
bis sich die Abendsonne
still ins Dunkelrot flieht.
Lautlos die Trauerweide
senkt ihre Blätter wie Lanzen hinab.
Leiser und leiser die Töne,
bis das letzte Licht im Gesang verglüht…

Doch am Ende des Tages reißt der Faden ab, was natürlich eine Trennung bedeutet. Er bleibt vermutlich an den Dornen der leidvollen Gegensätze (wie „an den Lanzen der Trauerweide“) hängen. Einen ähnlichen Riß haben wir auch im letzten Märchen vom „Trommler“ kennengelernt, als er seine irdischen Eltern wieder küßte, obwohl er bereits weit gekommen war, den Glasberg bezwungen und die Hexe verbrannt hatte. Auch dort wurde die reine Seele der Natur traurig, und so bleibt sie nun auch hier betrübt im Leiden der äußerlichen Natur zurück, wo es nun wieder dunkel wird, nachdem der Gesang des Schwanenkönigs verklungen war:

Das Mädchen war sehr betrübt und weinte. Es wollte auch Nacht werden, der Wind ging so laut in dem Wald, daß ihr Angst wurde und sie anfing zu laufen, was sie nur konnte. Und als sie lange gelaufen war, sah sie ein kleines Licht, darauf eilte sie zu, und fand ein Haus und klopfte an. Ein altes Mütterchen kam heraus, das verwunderte sich, wie sie sah, daß ein Mädchen vor der Tür war: „Ei, mein Kind, wo kommst du so spät her?“ - „Gebt mir doch heute Nacht eine Herberg“, sprach sie, „ich habe mich in dem Wald verirrt. Auch ein wenig Brot zu essen.“ - „Das ist ein schweres Ding“, sagte die Alte, „ich gäbe dir‘s gern, aber mein Mann ist ein Menschenfresser, wenn der dich findet, so frißt er dich auf, da ist keine Gnade. Doch wenn du draußen bleibst, fressen dich die wilden Tiere. Ich will sehen, ob ich dir durchhelfen kann.“

So versucht nun die reine Seele der Natur mit der großen Kraft der Liebe in der geistigen Dunkelheit ihren reinen Geist wiederzufinden, und läuft und eilt, weil sie fürchtet, ihn verloren zu haben. Ähnlich heißt es im Hohelied der Bibel:
»Ziehe mich! So wollen wir dir nachlaufen, dem Geruche deiner Salben nach.« (Hohelied 1.3 nach Allioli)

Was ist das nun für ein Haus, wo die Seele im dunklen Wald ein kleines Licht sieht und Schutz und Nahrung sucht? Hier können wir zunächst an unseren Körper denken, der wie ein Haus im Wald der weltlichen Vorstellungen steht, welches im Inneren von den kleinen Lichtern unserer Gedanken erleuchtet wird. Die alte Mutter wäre dann die Natur selbst, welche die Seele als „mein Kind“ bezeichnet. Und der Menschenfresser wäre der Ego-Geist, der in diesem Haus wohnt, also ein Geist, der sich sozusagen von den Gegensätzen der „anderen Menschen“ ernährt und von dieser egozentrischen Trennung lebt. Hier hat es natürlich die reine Seele schwer, welche die Verbindung zum reinen Geist bzw. reinen Bewußtsein verloren hat, und muß nun in dieser Welt der wilden Tiere und Menschen befürchten, gefressen und sozusagen „einverleibt“ und verkörpert zu werden.

Da ließ sie das Mädchen herein und gab ihr ein wenig Brot zu essen, und versteckte sie dann unter das Bett. Der Menschenfresser aber kam allemal vor Mitternacht, wenn die Sonne ganz untergegangen ist, nach Hause, und ging morgens, ehe sie aufsteigt, wieder fort. Es dauerte nicht lang, so kam er herein: „Ich wittre, ich wittre Menschenfleisch!“, sprach er, und suchte in der Stube. Endlich griff er auch unter das Bett und zog das Mädchen hervor: „Das ist noch ein guter Bissen!“ Die Frau aber bat und bat, bis er versprach, die Nacht über es noch leben zu lassen und morgen erst zum Frühstück zu essen. Vor Sonnenaufgang aber weckte die Alte das Mädchen: „Eil dich, daß du fortkommst, eh mein Mann aufwacht! Da schenk ich dir ein goldenes Spinnrädchen, das halt in Ehren: Ich heiße Sonne.“

Es ist natürlich die große Mutter Natur, die alles ernährt und beschützt. Und wenn es in der äußerlichen Welt dunkel wird, dann kehrt der Ego-Verstand auch in das Innere seines Körperhauses zurück und sucht dort weiter nach Nahrung in Form von Gedanken, Träumen und Erinnerungen. Doch warum riecht hier die reine Seele nach Menschenfleisch? Sie ist natürlich die Grundlage der Verkörperung und damit auch des Menschenfleisches und liegt sozusagen „unter dem Bett“, wo sie vom Ego auch gefunden werden kann, um sie sich „einzuverleiben“ und aus der ganzheitlich reinen Seele eine persönlich abgetrennte Seele zu machen, die dann mit der Last von persönlichem Eigentum belastet und durch diese Illusion verunreinigt wird. Doch Mutter Natur hat natürlich ihre Mittel und Wege, damit sich der gierige Ego-Geist nicht alles aneignen kann, und zeigt ihm oft genug, wie schwach seine Macht über seinen vermeintlich eigenen Körper ist, vor allem mit der Vorstellung von Zeit: „Das kannst du morgen noch machen!“ So kann die reine Seele auch weiterhin ihre Freiheit nutzen und wird nicht im Körper völlig einverleibt und gefangen. Dazu bekommt sie von der großen Mutter ein „goldenes Spinnrädchen“, das an das Spinnen des Lebensfadens im Fluß von Ursache und Wirkung erinnert, und weil es golden ist, auch an die Wahrheit, die dahintersteht.

So offenbart sich nun Mutter Natur auch im ganzen Universum als Sonne, Mond und Sterne:

Das Mädchen ging fort und kam abends an ein Haus, da war alles, wie am vorigen Abend, und die zweite Alte gab ihr beim Abschied eine goldene Spindel und sprach: „Ich heiße Mond.“ Und am dritten Abend kam sie an ein drittes Haus, da schenkte ihr die Alte eine goldene Haspel und sagte: „Ich heiße Stern, und der Prinz Schwan, obgleich der Faden noch nicht ganz abgewickelt war, war doch schon so weit, daß er in sein Reich gelangen konnte. Dort ist er König und hat sich schon verheiratet, und wohnt in großer Herrlichkeit auf dem Glasberg. Du wirst heute Abend hinkommen, aber ein Drache und ein Löwe liegen davor und bewahren ihn. Darum nimm das Brot und den Speck und besänftige sie damit.“

So sucht nun die reine Seele in drei mystischen Häusern, deren Lichter uns vom weltlichen Himmel herabscheinen. Zuerst im Haus der Sonne, die über den Tag herrscht, dann im Haus des Mondes, der mit den wandernden Planeten über die Nacht herrscht, und schließlich auch im Haus der Fixsterne, die weit darüber ein Reich der Beständigkeit verkünden. Was für uns heute als ein praktisch toter Kosmos aus Materie erklärt wird, wurde natürlich früher viel geistiger und lebendiger betrachtet. So kann man hier auch drei Räume oder Bereiche des Bewußtseins sehen. Doch es wird beschrieben, daß dort überall noch der gierige Ego-Geist bzw. Verstand als ein Ichbewußtsein wohnt, das sich in einen Körper einschließt und darin die reine Seele „einverleiben“ will.

Beachtenswert ist auch, daß die reine Seele keinen Unterschied im Wesen dieser Häuser bzw. Körper erkennt, sondern sie geben sich selbst einen Namen, der ihrer äußerlichen Form entspricht. Und das ist richtig, denn im Grunde sind das alles nur äußerliche Formen desselben Bewußtseins, in dem seit Ewigkeit alle Formen bis zu den weitesten Grenzen des Erkennbaren erscheinen. Nur in diesem reinen Bewußtsein können sich Natur und Geist als Vater und Mutter in der ewigen Einheit des Großen und Ganzen wiederfinden. Und nur durch unseren egoistischen Verstand, der nach den äußerlichen Formen greift, daran anhaftet und sich ein persönliches Haus daraus baut, zerreißt dieses ganzheitliche Gewebe aus endlosen Fäden von Ursache und Wirkung, so daß Natur und Geist als eine Vielfalt von Objekten und Subjekten voneinander getrennt erscheinen und eine Welt der Gegensätze entstehen lassen.

Dementsprechend haben Sonne, Mond und Sterne natürlich auch alle ihren Anteil am Spinnen der Lebensfäden aller anderen Geschöpfe hier auf Erden, weil nun einmal alles mit allem zusammenhängt. Und die alten Mütter geben der Seele die entsprechenden Symbole in Form von Werkzeugen mit auf den Weg, die früher zum Spinnen und Verarbeiten der Fäden gebräuchlich waren, aus denen dann die äußerlichen Kleider für die Körper gestrickt und gewebt wurden.

Doch nur der Stern konnte soweit schauen, daß er der suchenden Seele berichten konnte, wohin sich der königliche Schwan erhoben hatte und nun über sein Reich als König herrscht. Können wir uns vorstellen, wie groß das Reich der Sterne mit ihrem Licht ist? Wir „wissen“ heute, daß schon das Licht unserer Sonne über 8 Minuten bis zur Erde benötigt, obwohl es in jeder Sekunde fast 300.000 km schafft. Der nächstliegende Stern wäre Proxima Centauri mit einer Entfernung von über 4 Lichtjahren. Unsere Galaxie der Milchstraße hat einen Radius von über 52.000 Lichtjahren. Und das ganze Reich der Sterne, das wir heute mit Milliarden von Galaxien kennen, ist über 90 Milliarden Lichtjahre groß. Dabei ist bereits ein Lichtjahr die unvorstellbar weite Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt, also über 9 Billionen Kilometer! Wow! Und das ist nur die materielle, sichtbare Welt, über die hinaus sich unser Bewußtsein noch viel weiter erheben kann. Denn dieses sichtbare Reich der Sterne ist kein gewöhnlicher Raum, der feste äußere Grenzen hat, sondern mehr ein relativer Bewußtseinsraum, wo der Beobachter immer im Mittelpunkt steht, egal bei welchem Stern er sich gerade befindet, also immer genau am Ort des Urknalls. Dazu kann man sich kleinere und größere Bewußtseinsräume vorstellen, vom kleinsten Elementarteilchen, über Atome, Moleküle, Zellen, Pflanzen, Tiere, Menschen, Planeten, Sonnensysteme und Galaxien, bis zum ganzen Universum und noch weit darüber hinaus.

In diesem Prozeß der Erhebung und Erweiterung des Bewußtseins begegnet uns nun der mystische Glasberg wieder, der bereits im letzten Märchen vom „Trommler“ eine große Rolle spielte. Und auch hier können wir im Gegensatz zu unserer grobstofflichen Welt an eine feinstoffliche Welt denken, wo die Materie durchsichtig wurde und ihr geistiges Wesen zunehmend offenbart. Man könnte auch von einer ersten Ebene des Himmels sprechen, wo die Welt immer höher und geistiger wird. Diesbezüglich kann man sich mehrere Ebenen des Himmels vorstellen, was wohl auch getan wurde, so daß wir heute noch vom „siebenten Himmel“ sprechen, aber die Bedeutung kennt kaum noch jemand. In den alten indischen Puranas findet man noch ähnliche Beschreibungen von sieben Lokas oder Welten, wie zum Beispiel im Vayu-Purana 2.39. Dementsprechend könnte man beim Glasberg an den Swarloka der Götter und Sterne denken. Doch auch dieses Reich wird noch von „Löwe und Drache“ bewacht.

Dieser mächtige Löwe, der durch Hunger zum Raubtier wird, und der feuerspeiende Drache, der die Jungfrau bzw. reine Seele bindet und fressen will, erinnern uns wieder an die drei Riesen aus dem „Trommler“, die den Wald vor dem Glasberg bewachen, also an Begierde und Haß, sowie auch an die Unwissenheit, weil sie eine Grenze bewachen und sogar „bewahren“ wollen, wo es in Wahrheit gar keine Grenze bzw. Trennung gibt. Diese Wächter als Begierde und Haß lassen sich kurzzeitig mit weltlicher bzw. körperlicher Nahrung sättigen, damit die reine Seele auch in dieses Reich auf den Glasberg kommen kann. So hat nun auch diese höhere Welt ihre Grenzen, und der Schwan ist sicherlich weit gekommen, aber die wahre Freiheit konnte er noch nicht erreichen. Wie auch, solange er noch von der reinen Seele getrennt wird?

So geschah es auch. Das Mädchen warf den Ungeheuern das Brot und den Speck in den Rachen, da ließen sie es durch, und sie kam bis an das Schloßtor, aber in das Schloß selber ließen sie die Wächter nicht hinein. Da setzte sie sich vor das Tor und fing an, auf ihrem goldenen Rädchen zu spinnen.

Die reine Seele einer reinen Natur kennt eigentlich gar keine Grenzen, doch nur, wo sie auch hereingelassen wird, kann sie bewußt erkannt werden. Ansonsten wartete sie sozusagen vor dem Tor unserer Sinne und Gedanken und spinnt die Lebensfäden mit den Werkzeugen von Mutter Natur, die aus „Gold“ bestehen, das heißt, aus der Wahrheit eines reinen Bewußtseins, das jede Form annehmen kann.

Der Schluß dieses Märchens gleicht nun im Prinzip dem letzten Teil vom „Trommler“, nur daß es nicht auf der Erde, sondern auf dem Glasberg spielt. Die zwischenzeitlich geheiratete Königin offenbart sich wiederum durch ihre Habgier nach den äußerlichen Formen, daß sie noch nicht die reine Seele ist. Und es geht nun darum, daß sich der König wieder an den Ursprung seines Lebensfadens erinnert, um Anfang und Ende zu vereinen, also die reine Seele mit dem reinen Geist, so daß Geist und Seele wieder ein reines ganzheitliches Bewußtsein sind, wo es keine Trennung mehr gibt.

Die Königin sah von oben zu, ihr gefiel das schöne Rädchen, und sie kam herunter und wollte es haben. Das Mädchen sagte, sie solle es haben, wenn sie erlauben wollte, daß sie eine Nacht neben dem Schlafzimmer des Königs zubrächte. Die Königin sagte es zu, und das Mädchen wurde hinaufgeführt. Was aber in der Stube gesprochen wurde, das konnte man alles in dem Schlafzimmer hören. Wie es nun Nacht wurde und der König im Bett lag, sang sie:

„Denkt der König Schwan
noch an seine versprochene Braut Julian’?
Die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,
durch Löwen und durch Drachen:
Will der König Schwan denn gar nicht erwachen?“

Der Name Juliane bedeutet auch „dem Jupiter geweiht“. Jupiter stand in der römischen Religion für die oberste Gottheit, entspricht in der griechischen Mythologie dem Himmelsvater Zeus und galt früher auch als göttliche Vernunft (z.B. bei Jacob Böhme, Signatura Rerum 10.8).

Aber der König hörte es nicht, denn die listige Königin hatte sich vor dem Mädchen gefürchtet und ihm einen Schlaftrunk gegeben.

Warum fürchtete sich die listige Königin vor der reinen Seele? Nun, was von der Trennung lebt, fürchtet die Ganzheit. So wird auch unser Egoismus niemals gern das Feld räumen, sondern alles tun, um unseren Geist zu betäuben und einzuschläfern, damit wir die Stimme der Wahrheit nicht hören können.

Da schlief er so fest, und hätte das Mädchen nicht gehört, auch wenn sie vor ihm gestanden wäre. Am Morgen war alles verloren, und sie mußte wieder vor das Tor. Da setzte sie sich hin und spann mit ihrer Spindel, die gefiel der Königin auch, und sie gab sie unter derselben Bedingung weg, daß sie eine Nacht neben des Königs Schlafzimmer zubringen dürfe. Da sang sie wieder:

„Denkt der König Schwan,
nicht an seine versprochene Braut Julian’?
Die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,
durch Löwen und durch Drachen:
Will der König Schwan denn gar nicht erwachen?“

Der König aber schlief wieder fest von einem Schlaftrunk, und das Mädchen hatte auch ihre Spindel verloren. Da setzte sie sich am dritten Morgen mit ihrer goldenen Haspel vor das Tor und haspelte. Die Königin wollte auch die Kostbarkeit haben und versprach dem Mädchen, sie sollte dafür noch eine Nacht neben dem Schlafzimmer bleiben. Sie hatte aber den Betrug gemerkt und bat den Diener des Königs, er möge diesem heute abend etwas anderes zu trinken geben. Da sang sie noch einmal:

„Denkt der König Schwan
nicht an seine versprochene Braut Julian’?
Die ist gegangen durch Sonne, Mond und Stern,
durch Löwen und durch Drachen:
Will der König Schwan, denn gar nicht erwachen?“

Da erwachte der König, als er ihre Stimme hörte, erkannte sie und fragte die Königin: „Wenn man einen Schlüssel verloren hat und ihn wiederfindet, behält man dann den alten oder den neugemachten?“ Die Königin sagte: „Ganz gewiß den alten.“ - „Nun, dann kannst du meine Gemahlin nicht länger sein, denn ich habe meine erste Braut wiedergefunden.“ Da mußte am anderen Morgen die Königin zu ihrem Vater wieder heimgehen, und der König vermählte sich mit seiner rechten Braut, und die lebten so lang vergnügt, bis sie gestorben sind.

Diese Königin war nun sicherlich nicht die reine Seele, die der Schwan suchte, als er sich aus der Welt erhob und den Knäul seiner Lebensgeschichte in die Hände der Natur übergab. Denn sie ist eine Seele, die nach Eigentum verlangt. Und was nach Eigentum verlangt, kann keine wahre Liebe sein, sondern Begierde und Egoismus. So hatte der Geist den ursprünglichen Schlüssel zu dem Schloß, in dem er wohnte, noch nicht gefunden. Und ohne diesen blieb er hier von einer Seele eingeschlossen und gefangen, die ihn einschlafen und träumen läßt. Doch die reine Seele findet immer ihren Weg, wenn wir wirklich bereit sind, ihr zuzuhören:

… Wenn ein Schwan singt, lauschen die Tiere.
Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.
Und sie neigen sich tief hinab, raunen sich leise zu:
Es ist ein Schwanenkönig, der in Liebe stirbt.

In „Liebe sterben“ heißt ewig leben, weil wahre Liebe keine Trennung kennt. Den traurigen Tod als schrecklichen Verlust und dunkles Ende kennen nur die „Tiere“, deren ganzheitliche Vernunft sich noch nicht entwickelt hat. Mögen auch wir diesen höchsten Gesang der Ganzheit bzw. Göttlichkeit hören und schweigend lauschen, dann „schwant“ uns vielleicht auch, daß wir von unserer „eigentümlichen Seele“ betrogen werden, und versuchen uns wieder zu erinnern, wo unser erster Ursprung ist, wo es keine Trennung gibt und wo „meine und deine Seele“ nur „eine Seele“ ist. Ähnlich heißt es auch im indischen Bhagavatam Purana:

So wurde der Schwan, der sich aus dem Manasa-See erhoben hatte, von seinem Freund wachgerüttelt und erkannte sein wahres Wesen. Damit erinnerte er sich an seinen ersten Ursprung, den er durch die Trennung vergessen hatte. Oh Prachinavarhis, diese Lehre habe ich dir auf symbolische Weise erteilt, weil der Höchste Herr und Schöpfer des Universums nur jenseits der Begriffe zu erkennen ist. (Bhagavatam 4.28)


Übrigens: Über das wundervolle Reich der Sterne, ihr helles Licht und die große Macht der Liebe, aber auch die Macht von Stolz, Neid, Gier und Haß mit Sternenhaar, Sternennebel, Mondsilber und Sternenstaub, gibt es in der ARD-Mediathek einen schönen Märchenfilm „Als ein Stern vom Himmel fiel“, den sich nicht nur Kinder anschauen sollten.


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[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 18. April 2024