Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Fuchs und die Gänse

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Der Fuchs kam einmal auf eine Wiese, wo eine Herde schöner fetter Gänse saß, da lachte er und sprach: „Ich komme ja wie gerufen, ihr sitzt hübsch beisammen, so kann ich eine nach der andern auffressen.“ Die Gänse gackerten vor Schrecken, sprangen auf, fingen an zu jammern und kläglich um ihr Leben zu bitten. Der Fuchs aber wollte auf nichts hören und sprach: „Da ist keine Gnade, ihr müßt sterben!“ Endlich nahm sich eine das Herz und sagte: „Sollen wir armen Gänse doch einmal unser jung frisches Leben lassen, so erzeige uns die einzige Gnade und erlaube uns noch ein Gebet, damit wir nicht in unseren Sünden sterben. Hernach wollen wir uns auch in eine Reihe stellen, damit du dir immer die fetteste aussuchen kannst.“ „Ja“, sagte der Fuchs, „das ist billig, und ist eine fromme Bitte: Betet, ich will so lange warten.“ Also fing die erste ein recht langes Gebet an, immer „ga! ga!“, und weil sie gar nicht aufhören wollte, wartete die zweite nicht, bis die Reihe an sie kam, sondern fing auch an „ga! ga!“ Die dritte und vierte folgte ihr, und bald gackerten sie alle zusammen. (Und wenn sie ausgebetet haben, soll das Märchen weitererzählt werden. Sie beten aber alleweil noch immer fort.)

Bei diesem Märchen werden wohl die Kinder zuerst an dumme Tiere denken, und wir lächeln vielleicht über die Einfalt der Gänse und die Dummheit des Fuchses, der nun an sein Versprechen gebunden ist und warten muß, obwohl er nicht versteht, was die Gänse beten. Tiefer betrachtet, können wir aus geistiger Sicht bei den Gänsen wieder an unsere Sinne und Gedanken denken, die gern „vor Schreck gackern, jammern und klagen“. Der vermeintlich kluge Fuchs wäre dann unser begrifflicher Ego-Verstand, hungrig und begierig, der sich von den Sinnen und Gedanken ernähren will, aber sie damit auch tötet. Aus dieser Sicht paßt dieses kurze Märchen auch gut in unsere „Gänse-Reihe“, und wir wollen nun darüber nachdenken, wie man die Sinne und Gedanken vor ihrem Tod durch den begrifflichen Ego-Verstand retten kann, damit sie „jungfrisch lebendig“ bleiben und ihr „Ganzsein“ bewahrt wird.

Warum der tötet der Verstand? Nun, das deutet bereits das Wort „Verstand“ an, denn was im Fluß des Lebens stehenbleibt und sich nicht mehr bewegen kann, gilt als tot. Und auch das ist nur eine Vorstellung, wie alle unsere „Vorstellungen“, die wir vor und um uns herum aufstellen, so daß sie uns immer mehr die Weitsicht verstellen. Darum sollten wir auch im Märchen vom Trommler auf dem Glasberg diesen dunklen Wald der Vorstellungen abholzen, die Bäume fällen, ihr Holz kleinhacken und schließlich alles verbrennen. Nur dann kann das Bewußtsein wieder groß, weit und ganz werden.

„Seit ich dem Vogel einen Namen gegeben habe, sah ich nie wieder den Vogel.“

Und wie lassen sich unsere Sinne und Gedanken vor dem begrifflichen Verstand und seinem gierigen Hunger retten? Die Lösung, die unser Märchen anbietet, ist genial und einfach: Solange unsere Sinne und Gedanken zu Gott beten, also „nicht in Sünde sterben wollen“, das heißt, in Trennung von Gott, sondern auf das Ganzheitliche gerichtet sind, kann sie der begriffliche Verstand niemals ergreifen, weil das Ganze bzw. Göttliche keine Form hat, die ergriffen werden kann. Was lieben also die „Gänse“ mehr als ihr „Ganzsein“? Denn nur darin können sie als reinweiße Gänse frisch und lebendig bewahrt bleiben. Und das ist auch ihr ewiges Gebet in einem unendlichen Märchen.

Dennoch scheint es unser menschliches Schicksal zu sein, auch diesen begrifflichen Verstand in einer anfänglichen Phase des Lebens entwickeln zu müssen. So spinnen wir uns wie die gefräßige Raupe des Seidenspinners in unsere Vorstellungen ein, wie in einen dichten Kokon. Und gut wäre es, wenn wir darin nicht sterben, sondern uns verwandeln könnten, in einen leichten Schmetterling, der den Kokon durchbricht und nur noch vom Nektar der Blüten lebt, ohne die Pflanzen zu fressen. Dabei sollte man nicht denken, daß der Schmetterling um so sicherer ist, desto dicker und fester der Kokon wurde, sondern es wird immer schwerer, daraus zu entkommen, und viele verzichten deshalb ganz darauf.

Die Raupe und der Schmetterling
(Johann Gottfried Herder)

Freund, der Unterschied der Erdendinge
Scheinet groß und ist so oft geringe;
Alter und Gestalt und Raum und Zeit
Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.

Träg und matt auf abgezehrten Sträuchen
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen,
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.

Traurig schlich die Alternde zum Grabe:
»Ach, daß ich umsonst gelebet habe!
Sterbe kinderlos und wie gering!
Und da fliegt der schöne Schmetterling.«

Ängstig spann sie sich in ihre Hülle,
Schlief, und als der Mutter Lebensfülle
Sie erweckte, wähnte sie sich neu,
Wußte nicht, was sie gewesen sei.

Freund, ein Traumreich ist das Reich der Erden.
Was wir waren, was wir einst noch werden,
Niemand weiß es; glücklich sind wir blind;
Laß uns Eins nur wissen, was wir sind.

Ein symbolisches Gleichnis für so ein begriffliches „Verstandesgebäude“ können wir auch im berühmten Babel-Turm in der Bibel finden. Dieses Gebäude sollte den Himmel erreichen, aber endet schließlich in größter Verwirrung. Jacob Böhme schreibt dazu:
So versteht uns recht, was Babel und der Turm zu Babel andeuten: Die Stadt Babel ist der Ham-Mensch, der diese Stadt auf Erden baut. Der Turm ist sein eigenwillig erwählter Gott und Gottesdienst. Und alle Verstandes-Gelehrten aus der Schule dieser Welt sind die Baumeister dieses Turmes. Denn all jene, die sich ohne Gottes Geist zu Lehrern aufspielen und von Menschen dazu berufen werden, werden von der Welt her die Werkmeister an diesem Turm und Abgott, und niemand anders. Sie schnitzen allesamt nur Steine und Holz zu diesem Turm… So war nun der Turm ein Bild der finsteren Welt, weil die Menschen in der finsteren Ichheit Gott schauen wollten. Das deutet den irdischen Menschen an, der vor Gott wie dieser Turm steht und ein Bild göttlicher Beschaulichkeit nach Gut und Böse ist, gleich einem gemalten Leben. (Mysterium Magnum, Kap. 36)

Zum Thema Fuchs und Gänse darf natürlich auch das alte Kinderlied nicht fehlen:

Fuchs, du hast die Gans gestohlen
Gib sie wieder her, Gib sie wieder her,
Sonst wird dich der Jäger holen mit dem Schießgewehr…

Seine große, lange Flinte
Schießt auf dich den Schrot, Schießt auf dich den Schrot,
Daß dich färbt die rote Tinte und dann bist du tot…

Liebes Füchslein, lass dir raten,
Sei doch nur kein Dieb, Sei doch nur kein Dieb,
Nimm, du brauchst nicht Gänsebraten, mit der Maus vorlieb…

Und übersetzt würde es dann heißen: Verstand, du hast das Ganze gestohlen, gib es wieder her! Sonst wirst du ein getrenntes Wesen werden, das von der Zeit als Jäger mit der Schrotflinte eingeholt wird und im Geschosshagel der begrifflichen Vorstellungen schmerzlichen Verlust und Tod im eigenen Blut erleiden muß. Laß dir raten und sei dir lieber bewußt, daß du nur von kleinen, grauen Mäusen lebst. Die reinweiße Ganzheit wirst du als Verstand nie erfassen und begreifen!

Schließlich finden wir noch in den Anmerkungen zu diesem Märchen das alte Sprichwort: »Wenn der Wolf die Gänse beten lehrt, frißt er sie zum Lehrgeld.« (siehe auch Wander-Sprichwörter-Lexikon, Wolf 387, bereits 1497 erwähnt) Das verweist praktisch auf das Gegenteil, wenn die Sinne und Gedanken von der Begierde motiviert und gelehrt werden und entsprechend beten und bitten. Klar, dann werden sie auch Stück für Stück von der Begierde aufgefressen, und wie sich das anfühlt, hat wohl jeder schon erfahren. Damit zahlen wir das Lehrgeld und leben in der Zeit und Vergänglichkeit, während Gott in der Ewigkeit lebt, und das Gebet an ihn niemals endet, so daß auch dieses Märchen kein Ende finden wird, das unser Verstand jemals begreifen könnte, wie es im letzten Satz so schön heißt.


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Der Trommler - (Thema: Verstand und Erlösungsweg)
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 18. Mai 2024