Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die Gänsemagd

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Nachdem wir im letzten Märchen den Weg zur goldenen Ganzheit aus männlicher Sicht des bezeugenden Geistes betrachtet haben, wollen wir uns nun wiederum der weiblichen Seite zuwenden, der reinen Seele einer gebärenden Natur. Diese wunderbare Ausgeglichenheit der verschiedenen Sichtweisen in den Märchen deutet bereits darauf hin, daß die Ganzheit von Geist und Natur schon lange bekannt ist, und es kommt nur darauf an, mit welcher Seite man sich auf dem Weg identifiziert und welche Rolle man spielt, um schließlich die wahre Einheit wiederzufinden, so daß auch die meisten Märchen mit einer glücklichen Hochzeit enden. Diesbezüglich könnte man wieder über Quelle und Alter unserer Märchen nachdenken, denn diese Ausgeglichenheit zwischen männlich und weiblich findet man im Christentum nur wenig, wo die Dreiheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist im Vordergrund steht, während man Mutter, Tochter und Weisheit nur im Hintergrund findet, wie zum Beispiel als Maria oder im Begriff der „Sophia“.

Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange Jahre gestorben, und sie hatte eine schöne Tochter. Wie die erwuchs, wurde sie weit über Feld an einen Königssohn versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollten und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte ihr die Alte gar viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was nur zu einem königlichen Brautschatz gehörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams überliefern sollte, und jede bekam ein Pferd zur Reise, aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen.

Wie es typisch für die alten Märchen ist, macht auch diese Geschichte auf praktischer Ebene nur für Kinderaugen Sinn, denn welche Königin würde ihre jungfräuliche Tochter allein mit einer Kammerjungfrau in ähnlichem Alter auf eine so lange Reise in ein völlig fremdes Reich schicken? So haben wir wieder allen Grund, nach der tieferen geistigen Bedeutung und Botschaft zu suchen. Da finden wir zuerst eine Königin, deren Mann gestorben war. Und Tod bedeutet Trennung, so daß sich bereits hier das Grundproblem der Trennung von König und Königin bzw. Geist und Natur andeutet, daß nun die jungfräuliche Tochter als reine Seele der Natur zu lösen hat. Dazu war sie einem Königssohn bzw. reinem Geist versprochen, der noch weit von ihr getrennt „über dem Feld“ dieser Welt in einem „fremden Reich“ lebte. Nun, diese Trennung ist wohl das Grundproblem, an dem wir heute immer noch leiden, und auch wir sind auf der Suche, um diese Unerfülltheit in der Trennung zwischen Mann und Frau bzw. Geist und Natur zu lösen. Und so ist es bereits eine großartige Vision, daß die „alte Königin“ als Große Mutter der Natur ihre geliebte Tochter als unsere reine Seele mit allem erdenklichen Reichtum als Brautschatz sozusagen „mutterseelenallein“ in die Welt schickt, um diese Trennung zu heilen und in der mystischen Hochzeit zu lösen.

Was bedeutet die „Kammerjungfrau“, die noch eine wichtige Rolle spielen wird? Wie die reine Seele weiter unten “Jungfrau Königin“ genannt wird, die über das ganze Königreich einer ganzheitlichen Natur herrschen soll, so herrscht dieser Teil der Seele sozusagen über die Kammer, in der die reine Seele lebt. Und so können wir hier an unsere egoistische Seele des Ichbewußtseins denken, die in einem Körper herrscht und im Grunde auch eine Form der reinen Seele ist, die auf der Reise durch diese Welt der äußerlichen Formen helfen und dienen soll. Es war also kein Zufall, daß uns Mutter Natur auch diesen Seelenanteil mit auf die lange Reise gegeben hat, um unsere reine Seele wieder mit unserem reinen Geist zu vereinen. Sie gibt uns sozusagen das Problem, das es zu lösen gilt, mit auf den Weg. Denn welchen Nutzen hätte sonst die lange Reise?

So erinnern uns auch die beiden Pferde an die bewegliche Körperlichkeit, auf der wir nun durch die Welt reiten und reisen. Doch während die reine Seele ein Pferd bzw. einen Körper hat, der lebendig zu ihr spricht und damit bereits ihr ganzheitliches Wesen andeutet, so reitet die egoistische Seele auf einem Körper, den sie zwar als ihr Eigentum betrachtet, aber der niemals wahrhaft eins mit ihr geworden ist. Wie wir auch heute noch den Körper mehr als eine materielle Maschine und weniger als ein geistiges Wesen betrachten. Über den Namen „Falada“ gibt es verschiedene Vermutungen. In den Anmerkungen der Gebrüder Grimm finden wir den Satz: „Besonders merkwürdig ist der Name Falada (die mittlere Silbe kurz), weil Rolands Pferd Valentich, Falerich oder Velentin heißt und daraus fast ein äußerlicher Zusammenhang mit dem kerlingischen Mythos erscheint.“ Andere weisen auf das portugiesische Wort „falada“ hin, was „gesprochene Sprache“ bedeutet. Damit wäre das sprechende Pferd ein geistiger Körper, der sich erinnern und seine Lebensgeschichte erzählen kann, was noch eine bedeutende Rolle in diesem Märchen spielen wird und vielleicht sogar ein Kerngedanke ist.

Hier merken wir bereits, daß dieses ganze Märchen weniger eine äußerliche Beziehungskiste darstellt, sondern mehr in unserem Inneren spielt, wo all die verschiedenen Gestalten in einem Menschen zu finden sind, um dort ihre Rollen zu spielen.

Wie nun die Abschiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit in ihre Finger, daß sie bluteten. Darauf hielt sie ein weißes Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab sie der Tochter und sprach: „Liebes Kind, verwahre sie wohl, sie werden dir unterwegs not tun.“

So begibt sich nun die Seele der Natur in die äußere Welt der Wirkungen, während die alte Mutter Natur in „ihre Schlafkammer“ geht, in ein Reich der Ruhe, Stille und des Friedens, das schließlich auch wieder zum Hochzeitsgemach von Geist und Natur werden soll. Diesen grundlegenden Raum der bewußten Stille oder Leerheit, aus dem alles entsteht, kann man auch in der Meditation erfahren, wenn die Gedanken und Sinne schweigen. Das ist im Grunde auch die „Wahrheit“, was war, bevor etwas wurde. Und von dort gibt sie der Seele noch ein letztes geheimnis- und bedeutungsvolles Geschenk von ihrem eigenen lebendigen Wesen mit auf den Weg: Das weiße Tuch erinnert uns an eine gewisse Reinheit der Natur als ein reines Bewußtsein, das alle Formen annehmen kann und mit gesponnenen Fäden alles miteinander verwebt. Das rote Blut der alten Mutter Natur erinnert an das ewige Leben und an die Farbe der Liebe, aber auch der Leidenschaft und des Leidens. Und die Dreizahl könnte wieder die üblichen drei Kräfte andeuten, über die wir in anderen Märchen schon viel geschrieben haben, und die überall in der Natur in verschiedensten Formen als Dreiecksbeziehungen wirken, um alles zu erschaffen, zu erhalten und wieder aufzulösen. All diese Prinzipien und Kräfte sind natürlich für die Seele der Natur sozusagen als Kraftquelle „unterwegs nötig“, auf ihrem Weg zur Einheit und Erlösung aus der Trennung.

Also nahmen beide voneinander betrübten Abschied: Das Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte sich aufs Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und sprach zu ihrer Kammerjungfer: „Steig ab, und schöpfe mir mit meinem Becher, den du für mich mitgenommen hast, Wasser aus dem Bach. Ich möchte gern einmal trinken.“ - „Wenn Ihr Durst habt“, sprach die Kammerjungfer, „so steigt selber ab, legt Euch ans Wasser und trinkt. Ich mag Eure Magd nicht sein.“ Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte sich über das Wasser im Bach und trank, und durfte nicht aus dem goldenen Becher trinken. Da sprach sie: „Ach Gott!“ Da antworteten die drei Blutstropfen: „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen.“ Aber die Königsbraut war demütig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferd.

So beginnt nun die Seele ihre große Reise und kommt zuerst an einen kleinen Bach, der noch nah an der Quelle ist und aus dem sie mit ihrem goldenen Becher trinken möchte. Warum hat die reine Seele Durst? Nun, sie ist vom reinen Geist getrennt, und so ist es wohl der Durst der Liebe zwischen Mann und Frau bzw. Geist und Natur. Darum dürstet sie nach dem Wasser des Lebens, das durch die Welt fließt, um ihren reinen Geist wiederzufinden. Doch ihre Kammerjungfrau will und kann ihr dieses Wasser nicht mit dem goldenen Becher der reinen Wahrheit schöpfen und geben, den ihr die Große Mutter mitgegeben hat. Dazu ist die egoistische Seele mit ihrem abgetrennten Ichbewußtsein nicht fähig. Könnte sie es tun, dann würde sie ihre Schuld begleichen und wäre wieder eins mit der reinen Seele. Das fließende Wasser des weltlichen Lebens aus dem Becher der Wahrheit würde sie sogleich zum wahren und reinen Geist führen, die reine Liebe wäre gefunden, der Durst gestillt und das Märchen schnell am glücklichen Ende.

Damit erinnert uns diese Geschichte im Prinzip auch an das biblische Gleichnis von Jesus, als er am Brunnen die Samariterin bat: »Gib mir zu trinken!« Und als sie sich weigerte, sprach er: »Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt „Gib mir zu trinken!“, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser… Wer da trinkt von diesem Wasser hier, den wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten. Sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.« (Joh. 4.10)

Doch unsere egoistische Seele kann es nicht wie die biblische Samariterin, weil sie die reine Seele in ihrer Ganzheit nicht anerkennt und sich damit selbst nicht erkennt, sondern sich persönlich als ein getrenntes Wesen zur Herrscherin und Königin erheben will. So hält nun die egoistische Seele den goldenen Becher der Wahrheit zurück, und die reine Seele muß in ihrem „großen Durst“ ohne ihn trinken, „herabsteigen und sich über das Wasser neigen“, und damit selbst zur Handelnden im weltlichen Fluß werden. Denn was trinkt sie ohne den Becher der Wahrheit? Natürlich das weltliche Wasser der Illusion einer eigenständig handelnden Seele, auch wenn es bisher nur ein kleiner Schluck aus einem kleinen Bächlein nah der Quelle ist. Und ihr innigster Ruf nach der Ganzheit „Ach Gott!“, wird nun von den reinen Kräften der mütterlichen Natur beantwortet, daß dies noch nicht das Ziel der Ganzheit und reinen Liebe ist. So zieht sich dieser Spruch „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen.“ wie ein Mantra durch das ganze Märchen und erinnert an die Quelle und das große Ziel.

Was soll die reine Seele nun tun? Soll sie gegen die egoistische Seele ankämpfen, sie als Rivalin anerkennen, sich getrennt von ihr sehen und sich damit auf ihre Stufe stellen? Nein, sie nimmt es nicht persönlich, sondern bleibt demütig und gelassen, wie es ihr reines Wesen ist, und kann alles vermeintlich Böse vergessen:

So ritten sie etliche Meilen weiter fort, aber der Tag war warm, die Sonne stach, und sie durstete bald von neuem. Da sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal zu ihrer Kammerjungfer: „Steig ab und gib mir aus meinem Goldbecher zu trinken.“ Denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die Kammerjungfer sprach aber noch hochmütiger: „Wollt Ihr trinken, so trinkt allein. Ich mag nicht Eure Magd sein.“ Da stieg die Königstochter hernieder vor großem Durst, legte sich über das fließende Wasser, weinte und sprach „Ach Gott!“, und die Blutstropfen antworteten wiederum: „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen.“ Und wie sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Tropfen waren, aus dem Busen und floß mit dem Wasser fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammerjungfer hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Gewalt über die Braut bekäme: Denn damit, daß diese die Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach und machtlos geworden.

Wer könnte eine solche Mißachtung vergeben und vergessen, außer die reine Seele? Doch als die egoistische Seele auf keine Gegenwehr traf, wurde sie noch hochmütiger und stolzer, und damit eskalierte und verkörperte sich das Problem immer mehr, das ihr auf den Weg mitgegeben wurde. So vermehrte sich auch das Problem der Trennung, der Durst nahm zu (wie oben von Jesus im Gleichnis vorausgesagt), und der kleine Bach des weltlichen Lebens wurde zu einem breiten und tiefen Fluß von Ursache und Wirkung durch Raum und Zeit, wie wir ihn heutzutage praktisch alle erfahren und versuchen, unseren Durst darin zu stillen. Daraufhin neigte sich die reine Seele immer weiter in diesen Fluß, um daraus zu trinken, so daß auch ihre Kraftquelle von ihrem Herzen in den Fluß fiel, die reine Seele sozusagen selbst zum Fluß des weltlichen Lebens wurde, nun mit dem Wasser dahinfloß und damit auch von der weltlichen „großen Angst“ ergriffen wurde, denn mit der Trennung ist auch immer große Angst verbunden. Bei diesem Anblick glaubte die „Kammerjungfrau“ als egoistische Seele, daß nun die königliche Kraft der Reinheit und Wahrheit „schwach und machtlos“ geworden ist und sie selbst die „Gewalt über die Braut bekäme“, ja, sogar ergreifen müsse, denn auch sie spürt diesen großen Durst:

Als sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau: „Auf Falada gehör ich, und auf meinen Gaul gehörst du!“ Und das mußte sie sich gefallen lassen. Dann befahl ihr die Kammerfrau mit harten Worten die königlichen Kleider auszuziehen und ihre schlechten anzulegen, und endlich mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am königlichen Hof keinem Menschen etwas davon sprechen wollte. Und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und nahm es wohl in acht.

So will nun die egoistische Seele zur Königin werden, und aus ihrem Liebesdurst wird persönliche Begierde, und sie ergreift das königliche Pferd und die königlichen Kleider. Damit ist es nun mit der „Kammerjungfrau“ vorbei, und im Weiteren wird von einer „Kammerfrau“ gesprochen, die nun sozusagen verheiratet und an einen Mann bzw. Geist gebunden ist, und das ist der leidenschaftliche Geist der persönlichen Begierde und des Hasses und damit auch der Geist der Vergänglichkeit und des Todes. Die reine Seele „schwört unter dem Himmel“ der Ganzheit, daß sie über diese Tat schweigt. Und das ist gut, denn würde sie die egoistische Seele am „königlichen Hof“ anklagen und angreifen, dann würde sie sich auf ihre Ebene begeben, eine Rivalin sehen, ihre Reinheit und Ganzheit verlieren und damit ebenfalls auf Vergänglichkeit und Tod treffen. Das heißt, dann „wäre sie auf der Stelle umgebracht worden“. Doch so bleibt die reine Seele ihrem reinen Wesen treu, vergibt und vergißt alles, und die Erinnerung bleibt nur in der Körperlichkeit des Pferdes zurück, das sie durch die Welt trägt, sozusagen mit dem Körper als persönliche Geschichte verbunden.

Damit können wir nun über das große Problem nachdenken, das der Seele der Natur mit auf den Weg gegeben wurde: Wie läßt sich das Ego besiegen? Wird es verwöhnt, dann ernährt und stärkt es sich durch Gewohnheit, wird es bekämpft, dann ernährt und stärkt es sich im Kampf. Denn es zieht seine Nahrung aus der Trennung im weltlichen Spiel der Gegensätze und glaubt, die weltliche Natur müsse nun damit dienen. Und so geschieht es auch, daß die reine Seele zur Dienerin und Magd wird, aber sie dient der egoistischen Seele im Fluß des weltlichen Lebens natürlich auf ganz andere Weise, als die es sich in ihrer Unwissenheit vorgestellt hatte, nämlich nicht im Sinne ihrer Illusionsblase, sondern der Wahrheit:

Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre Braut auf das schlechte Roß, und so zogen sie weiter, bis sie endlich in dem königlichen Schloß eintrafen. Da war große Freude über ihre Ankunft, und der Königssohn sprang ihnen entgegen, hob die Kammerfrau vom Pferd und meinte sie wäre seine Gemahlin: Sie wurde die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königstochter aber mußte unten stehenbleiben. Da schaute der alte König am Fenster und sah sie im Hof halten, und sah wie sie fein war, zart und gar schön: Ging alsbald hin ins königliche Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und da unten im Hofe stände und wer sie wäre? - „Die hab ich mir unterwegs mitgenommen zur Gesellschaft. Gebt der Magd was zu arbeiten, daß sie nicht müßig steht.“ Aber der alte König hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte: „Da hab ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem mag sie helfen.“ Der Junge hieß Kürdchen (Conrädchen), dem mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten.

So kommt nun die Seele in ein „königliches Schloß“. Darunter können wir uns einen vernünftigen Menschen mit seinem ganzen königlichen Hofstaat vorstellen. Da ist zuerst ein alter König, der intuitiv fühlt, daß hier etwas nicht stimmt, und uns damit an die ganzheitliche Vernunft mit ihrer Intuition erinnert, die hier herrschen sollte. Und wie die reine Seele eine Tochter der ganzheitlichen Natur als Königin ist, so sollte auch der reine Geist dessen Königssohn sein. Doch er ist wohl noch nicht so rein, denn er läßt sich im Gegensatz zum alten König von den Äußerlichkeiten täuschen, „hob die Kammerfrau vom Pferd und meinte sie wäre seine Gemahlin“ und läßt die „wahre Königstochter unten stehen“, sozusagen im Unbewußten. Der Junge Kürdchen wäre dann der Verstand im Menschen, denn „Konrad“ bedeutet vom Wortstamm her auch „mutiger Ratgeber“. Doch er ist noch klein und jung, und der König erkennt sogleich intuitiv, daß er die Hilfe der reinen Seele braucht, um die gackernden Gänse zu hüten, das heißt die Gedanken und Sinne des Menschen. Denn sie sind es vor allem, die Geist und Natur voneinander trennen, Subjekt und Objekt oder Beobachter und Beobachtetes. Und erst, wenn diese rein sind, kann auch der menschliche Geist bzw. Königssohn rein sein und die reine Seele als seine wahre Braut erkennen, die ihm in Ewigkeit versprochen ist.

Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König: „Liebster Gemahl, ich bitte Euch, tut mir einen Gefallen.“ Er antwortete: „Das will ich gerne tun.“ - „Nun so laßt den Schinder rufen und da dem Pferd, worauf ich hergeritten bin, den Hals abhauen, weil es mich unterwegs geärgert hat.“ Eigentlich aber fürchtete sie, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der Königstochter umgegangen war.

Das ist nun eine ganz besondere Symbolik, die wir tiefer betrachten sollten, denn sie deutet uns das versteckte Wesen der egoistischen Seele an: Sie ist es, die dafür sorgt, daß unsere Körper sterben müssen, denn sie ist mit dem leidenschaftlichen Geist der Vergänglichkeit und des Todes verbunden und kennt keinen anderen. Sie fordert diesen Geist des Todes regelrecht ein, um ihre eigene illusionäre Natur zu beschützen, weil sie Angst hat, der Körper könnte sprechen und ihr falsches Wesen offenbaren. Denn wenn klar würde, daß auch der Körper nur reines und ewiges Bewußtsein ist, dann könnte keine Trennung mehr zwischen Geist und Natur bestehen, dem Egoismus von Mein und Dein würde jede Grundlage entzogen, und diese Illusionsblase müßte zerplatzen. Ist das vielleicht auch der Grund, warum die meisten unserer heutigen Naturwissenschaftler den Begriff des „Geistes“ wie ein bedrohliches Gift fürchten? Dann geht es ihnen wie dem jungen König in unserem Märchen, der dieses Verlangen nach dem körperlichen Tod nicht durchschaut und damit das Prinzip der Trennung anerkennt. Nur ein egoistischer Mensch, der in seiner Illusionsblase lebt, glaubt, daß mit dem Tod wirklich etwas verlorengeht. Die reine Seele kennt eine solche Vorstellung nicht und sorgt sogar im weltlichen Fluß des Lebens von Ursache und Wirkung mit ihrer ganzheitlichen Kraft heimlich und unerkannt dafür, daß nichts verlorengeht:

Nun war das so weit geraten, daß es geschehen und der treue Falada sterben sollte, da kam es auch der rechten Königstochter zu Ohr, und sie versprach dem Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war ein großes finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den Gänsen durchmußte: Unter das finstere Tor möchte er dem Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch mehr als einmal sehen könnte. Also versprach das der Schindersknecht zu tun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn unter das finstere Tor fest.

Auch diese Symbolik können wir in einem Menschen wiederfinden: Die Stadt mit ihren Stadtmauern ist sein Körper, die Tore sind seine Denk- und Sinnesorgane, wo die Sinne und Gedanken am Tag nach draußen in die Welt gehen und in der Nacht wieder ins Innere kommen. Das große und finstere Tor könnte vor allem die Gedanken bedeuten, die besonders von der Unwissenheit verdunkelt werden. Hier dient nun die reine Seele als Gänsehirtin und hütet zusammen mit dem jungen Verstand die Sinne und Gedanken, wenn sie nach draußen in die Welt gehen, um ihre Nahrung zu finden.

Welches Wesen in uns wäre dann der Schinder? Schinden bedeutet ursprünglich „Haut abziehen“. So hat sich der Schinder früher um die kranken und ausgedienten Tiere gekümmert, was die spätere Bedeutung von „schinden“ prägte, wenn jemand wie ein elendes Tier behandelt wird. Diesbezüglich könnte der Schinder an unseren Hochmut oder Stolz erinnern, der mit dem Egoismus kommt und sich auch gern eine Trophäe über das finstere Tor der Gedanken nagelt. Die Begierde der egoistischen Seele gibt dazu die Ursache, der Wille des menschlichen Geistes gibt die Macht, und die reine Seele der Natur gibt im weltlichen Fluß von Ursache und Wirkung die Kraft bzw. Energie dazu, sozusagen „das Geld für den Dienst“. Wo sonst sollte die Kraft dazu herkommen? Doch wir erkennen diese reine Quelle nicht und denken, es ist unsere eigene persönliche bzw. egoistische Kraft. Genau das ist die Unwissenheit, die das Tor der Gedanken verdunkelt und die Ganzheit von Geist und Natur verdeckt.

Des Morgens früh, da sie und Kürdchen unter dem Tor (die Gänse) hinaustrieben, sprach sie im Vorbeigehen:
„O du Falada, da du hangest,“

Da antwortete der Kopf:
„O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät ihr zerspringen.“

So wird nun dieses dunkle Tor der Sinne und Gedanken selbst lebendig, und die reine Seele kann hier an dieser körperlichen Grenzmauer zwischen Innen und Außen mit sich selbst sprechen. Mit wem sonst? In der Ganzheit gibt es nur eine reine Seele. Und sie spricht etwas sehr Geheimnisvolles, das man vielleicht so übersetzen könnte: „Oh reiner Geist, du bist reine Beweglichkeit und hängst nun fest an dieser Körperlichkeit!“ Und der Geist des Körpers antwortet: „Oh reine Seele der ganzheitlichen Natur, die bist die ewige Beständigkeit und gehst nun im Fluß des weltlichen Lebens durch Raum und Zeit dahin, als wärst du vergänglich! Wäre das deiner Mutter bewußt, könnte ihr Herz keine Ganzheitlichkeit mehr sein, und sie müßte befürchten, ihre Tochter zu verlieren.“

Auf diese Weise läßt die reine Seele den Körper am Tor der Sinne und Gedanken sprechen, so daß es der junge Kürdchen als Verstand hören kann. Und vielleicht sollten wir auch manchmal unseren Körper fragen, warum er so fest an einer Form hängt? Obwohl er doch im Grunde reine Energie bzw. reines Bewußtsein ist, das frei beweglich jede Form annehmen kann, aber selbst beständig und formlos bleibt. Vielleicht bekommen wir dann auch in der Stille eine Antwort, falls wir den Körper noch nicht ganz zu einer materiellen Maschine degradiert haben, wie eine aus toten Steinen gemauerte Stadt.

Da zog sie still weiter zur Stadt hinaus, und sie trieben die Gänse aufs Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie nieder und machte ihre Haare auf, die waren eitel Gold, und Kürdchen sah sie und freute sich wie sie glänzten, und wollte ihr ein paar ausraufen. Da sprach sie:

„Weh, weh, Windchen,
nimm Kürdchen sein Hütchen,
und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt,
und wieder aufgesatzt.“

Nun, unser Verstand wird diese mystische Antwort der Ganzheit von Form und Formlosigkeit sowie Bewegung und Stille nicht begreifen können, solange er nur auf äußerliche Formen schaut und sich auf das Gedankenspiel der Gegensätze stützt. So kann auch Kürdchen die goldenen Haare bzw. wahren oder ganzheitlichen Gedanken der reinen Seele nicht erfassen, und schon gar nicht von ihr abtrennen und als sein Eigentum ergreifen, auch wenn er ihren reinen Glanz bereits mit Freude sieht. Denn er jagt nur sein eigenes persönliches Hütchen im Wind des Geistes durch die äußerliche Welt „über das Land“, um eine bestimmte Form anzunehmen und etwas darzustellen, was auch den Hut zu einem wichtigen Statussymbol machte. Auch diese Kraft des Windes zur Bewegung des Geistes kommt natürlich von der reinen Seele der Natur, die ihre reinen Haare bzw. Gedanken selbst ordnet und im Fluß des weltlichen Lebens flechtet bzw. ganzheitlich verwebt, was uns wieder an das weiße Tuch der Großen Mutter mit ihren drei Tropfen Blut als natürliche Kraftquelle erinnert:

Und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hütchen wegwehte über alle Lande, und er mußte ihm nachlaufen. Bis er wiederkam, war sie mit dem Kämmen und Aufsetzen fertig, und er konnte keine Haare kriegen. Da wurde Kürdchen bös und sprach nicht mit ihr. Und so hüteten sie die Gänse, bis daß es Abend wurde, dann gingen sie nach Haus.

Man sieht nun deutlich, daß unserem Verstand das Hütchen wichtiger ist, als die Wahrheit. Und dennoch schafft er es nicht, es festzuhalten, denn es ist nun einmal ein vergänglicher Hut in dieser Welt, den niemand lange festhalten kann.

»Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind… Und ich richtete mein Herz darauf, daß ich lernte Weisheit und erkennte Tollheit und Torheit. Ich wurde aber gewahr, daß auch dies ein Haschen nach Wind ist. (Pred. 1.14

Und wer kennt das nicht, wie der Verstand ärgerlich und sogar böse wird, wenn er etwas nicht begreifen kann? Dann reagiert er gewöhnlich mit Verachtung und Abneigung und zieht sich in sich selbst zurück. Doch die reine Seele bleibt unermüdlich ihrem Dienst treu und läßt den Körper unter dem finsteren Tor immer wieder zum Verstand sprechen:

Den anderen Morgen, wie sie unter dem finstern Tor hinaustrieben, sprach die Jungfrau:
„O du Falada, da du hangest“,

Falada antwortete:
„O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz tät ihr zerspringen.“

Und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an, ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte danach greifen, da sprach sie schnell:

„Weh, weh, Windchen,
nimm Kürdchen sein Hütchen,
und laß’n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt,
und wieder aufgesatzt.“

Da wehte der Wind, und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß Kürdchen nachlaufen mußte. Und als er wiederkam, hatte sie längst ihr Haar zurecht, und er konnte keins davon erwischen. Und so hüteten sie die Gänse, bis es Abend wurde.

Warum macht die Gänsehirtin ihr Haar gerade beim Gänsehüten auf der Wiese zurecht? Nun, das ist ja der Sinn ihres Dienstes, denn sie hütet die Sinne und Gedanken des vernünftigen Menschen, wenn sie draußen in der Welt ihre Nahrung suchen, und ordnet sie in der Stille zur Reinheit und Wahrheit, wobei der begriffliche Verstand eigentlich mehr stört als hilft. Doch es ist auch wichtig, daß der Verstand erkennt, daß er diese Wahrheit nicht begreifen kann, denn damit erreicht sie das große Ziel, daß sich der begriffliche Verstand an die ganzheitliche Vernunft wendet und zum alten König geht:

Abends aber, nachdem sie heimgekommen waren, ging Kürdchen vor den alten König und sagte: „Mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten.“ - „Warum denn?“, fragte der alte König. „Ei, sie ärgert mich den ganzen Tag.“ Da befahl ihm der alte König zu erzählen, wie es ihm denn mit ihr erginge. Da sagte Kürdchen: „Morgens, wenn wir unter dem finsteren Tor mit der Herde durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an der Wand, zu dem redet sie:
„Falada, da du hangest“,

Da antwortet der Kopf:
„O du Königsjungfer, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
das Herz tät ihr zerspringen.“

Und so erzählte Kürdchen weiter, was auf der Gänsewiese geschähe und wie er da dem Hut im Wind nachlaufen müßte.

Wenn sich nun der begriffliche Verstand an die ganzheitliche Vernunft wendet und ihr erzählt, was er nicht begreifen kann, dann hat der Mensch eine echte Chance, der Wahrheit näher zu kommen:

Der alte König befahl ihm den nächsten Tag wieder (die Gänse) hinauszutreiben, und er selbst, wie es Morgen war, setzte sich hinter das finstere Tor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada sprach. Und dann ging er ihr auch nach in das Feld und verbarg sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen eigenen Augen, wie die Gänsemagd und der Gänsejunge die Herde getrieben brachten, und wie nach einer Weile sie sich setzte und ihre Haare losflocht, die von Glanz strahlten. Gleich sprach sie wieder:

„Weh, weh, Windchen,
faß Kürdchen sein Hütchen,
und laß’n sich mit jagen,
bis daß ich mich geflochten und geschnatzt,
und wieder aufgesatzt.“

Da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß er weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre Locken still fort, welches der alte König alles beobachtete.

So beobachtet nun die Vernunft den Verstand, wie er durch das finstere Tor geht, den Körper sprechen hört und die Sinne und Gedanken nach draußen auf das Feld der Welt treibt. Dabei läßt er sich seinen Hut der „Obhut“ als königliche bzw. ganzheitliche Krone nicht wegwehen, sondern schaut verborgen und still der Seele zu, wie sie die Gedanken kämmt, ordnet und ganzheitlich verwebt. Nun, ähnliches geschieht auch in der Meditation, wenn man als bewußter Beobachter in die bewußte Stille kommt. Und am Abend, wenn die Sinne und Gedanken aus der äußeren Welt nach innen zurückkehren hinterfragt er das Geschehen:

Darauf ging er unbemerkt zurück, und als abends die Gänsemagd heimkam, rief er sie beiseite und fragte, warum sie dem allem so täte? - „Das darf ich Euch nicht sagen, und darf auch keinem Menschen mein Leid klagen, denn so hab ich mich unter freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben gekommen wäre.“ Er drang in sie und ließ ihr keinen Frieden, aber er konnte nichts aus ihr herausbringen. Da sprach er: „Wenn du mir nichts sagen willst, so klag dem Eisenofen da dein Leid“, und ging fort.

Das ist nun wieder eine sehr tiefgründige Symbolik, über die man lange nachdenken kann. Die reine Seele der ganzheitlichen Natur kann natürlich immer nur mit sich selbst sprechen, sonst wäre sie keine reine und ganzheitliche Seele und würde der Trennung unterliegen und damit auch der Vergänglichkeit und dem Tod. Das ist natürlich auch der Schwur, den sie für den freien Himmel der Ganzheit gegeben hat. Deshalb kann sie nun, wie der Kopf am dunklen Tor der Sinne und Gedanken zum begrifflichen Verstand sprach, auch den ganzen Körper (als Ofen symbolisiert) zur ganzheitlichen Vernunft sprechen lassen. Und der klagt ihr nicht nur sein Leiden, sondern erzählt auch seine ganze Lebensgeschichte aus seiner körperlichen Erinnerung. In diesem Fall ist es nicht nur die Teilgeschichte, die das Ego in seiner Illusionsblase vom Verstand gern hören möchte, sondern die ganze Geschichte aus dem verdrängten Unterbewußtsein, sozusagen aus dem Bauchgefühl, wo die reine Seele im Ofen sitzt, der unsere Nahrung verdaut und verbrennt und den beseelten Körper erhält. Und der alte König als ganzheitliche Vernunft hört mittels Intuition am „Ofenrohr“ zu, in dem sonst der Rauch der Illusion in den Kopf bzw. Verstand steigt. Und wenn wir still lauschen und achtsam zuhören, dann könnten wir hier die ganze Menschheitsgeschichte hören, wie das Leben aus dem ganzheitlichen Grund von Geist und Natur entstand, wie aus einem kleinen Bächlein ein großer Fluß des weltlichen Lebens und aus einem beseelten Tier der heutige Mensch wurde, dessen Geist immer noch mit der egoistischen Seele verbunden ist:

Da kroch sie in den Eisenofen, fing an zu jammern und zu weinen, schüttete ihr Herz aus und sprach: „Da sitze ich nun von aller Welt verlassen, und bin doch eine Königstochter, und eine falsche Kammerjungfer hat mich mit Gewalt dahin gebracht, daß ich meine königlichen Kleider habe ablegen müssen, und hat meinen Platz bei meinem Bräutigam eingenommen, und ich muß als Gänsemagd gemeine Dienste tun. Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib tät ihr zerspringen.“ Der alte König stand aber außen an der Ofenröhre, lauerte ihr zu und hörte, was sie sprach. Da kam er wieder herein und hieß sie aus dem Ofen gehen. Da wurden ihr königliche Kleider angetan, und es schien ein Wunder, wie sie so schön war. Der alte König rief seinen Sohn und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte: Die wäre bloß ein Kammermädchen, die wahre aber stände hier, als die gewesene Gänsemagd.

Auch über die Symbolik des Ofens kann man viel nachdenken. In der ersten Auflage von 1815 war es noch ein Kachelofen, der erst 1840 zum Eisenofen wurde. Der Kachelofen erinnert noch mehr an unseren gemauerten bzw. materiellen Körper, der sich zunehmend zu einem Gefängnis verfestigt und als ein Ort der Wandlung wohl nicht nur dazu dienen soll, materielle Nahrung zu verbrennen, sondern auch geistige Probleme. Dazu hat sich die reine Seele in diesen Ofen gesetzt und klagt sich selbst ihr Leid. Und es ist eine sehr kraftvolle Meditation, wenn wir sozusagen als unbeteiligter Zuhörer still und achtsam ohne Verurteilung lauschen, das heißt, als ganzheitliche Vernunft, denn nur so kann Trennung verbrennen und verschwinden und unser Grundproblem gelöst werden, das wir mit auf den Weg bekommen haben.

So erklingt nun der Mantra-Spruch „Wenn das die Mutter wüßte…“ aus dem Herzen der Seele zuerst am Bach nahe der Quelle, dann am Fluß des weltlichen Lebens, dann aus dem Tierkörper und schließlich auch aus dem Menschenkörper, im Laufe einer langen Entwicklung von den Elementen bis zum Menschen, in dem sich all diese Stufen vereinen. Und der Spruch erinnert uns auf allen Stufen immer wieder an das ganzheitliche Herz der mütterlichen Natur, das reine Liebe, reine Energie und reines Bewußtsein ist. Dadurch erkennt nun die ganzheitliche Vernunft als König die reine Seele der ganzheitlichen Natur wieder, befreit sie aus dem Ofen des Körpers, gibt ihr das königliche Kleid zurück und läßt ihre ganze Schönheit erstrahlen, so daß nun sicherlich auch das finstere Tor der Körperstadt in hellem Licht erstrahlt. Damit offenbart er diese Erkenntnis auch seinem Sohn, dem jungen König oder menschlichen Geist, der nun mit gereinigten und lichtvollen Gedanken und Sinnen die Schönheit und Tugend der reinen Seele voller Freude erblicken kann:

Der junge König war herzensfroh, als er ihre Schönheit und Tugend erblickte, und ein großes Mahl wurde angestellt, zu dem alle Leute und guten Freunde gebeten wurden. Obenan saß der Bräutigam, die Königstochter zur einen Seite und die Kammerjungfer zur andern.

Damit nähern wir uns der mystischen Hochzeit, in der alles wieder vereint wird. Alle werden zum großen Mahl gebeten und versammeln sich um den reinen Geist, natürlich auch der egoistische Seelenanteil, der in der Ganzheit nicht ausgeschlossen werden kann. Und sicherlich gibt es zum Hauptgang bei diesem großen Mahl „goldene Gans“ bzw. wahre Ganzheit zu essen.

Diese Symbolik erinnert uns im Prinzip auch an das berühmte Abendmahl von Jesus Christus, an dem auch Judas teilnahm, der als „Verräter“ diente: »Jesus nahm das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach: Nehmt und eßt, dies ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus! Das ist mein Blut… (Matth. 26.26 So werden das Brot als Vielfalt der Natur und der Wein als Einheit des Geistes wieder zu einem ganzheitlichen Bewußtsein vereint. Ähnlich geschieht es nun auch hier, und es bleibt nur noch ein Problem zu lösen, das erkannt wurde: Was geschieht mit der egoistischen Seele?

Aber die Kammerjungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten und guten Muts waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte: „Welches Urteils ist diese würdig?“ Da sprach die falsche Braut: „Die ist nichts besseres wert, als daß sie splitternackt ausgezogen und in ein Faß gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist: Und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt werden, die sie Gasse auf Gasse ab zu Tode schleifen.“ - „Das bist du“, sprach der alte König, „und hast dein eigenes Urteil gefunden, und danach soll dir wiederfahren.“ Und als das Urteil vollzogen war, vermählte sich der junge König mit seiner rechten Gemahlin, und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.

Natürlich muß auch der egoistische Seelenanteil in der Ganzheit bleiben, auch wenn sie sich selbst als etwas Abgetrenntes wahrnimmt und weder die reine Seele noch den reinen Geist als Ganzheit erkennen kann. Damit fällt die egoistische Seele ihr eigenes „Ur-Teil“ über sich und muß auch in einem abgeteilten und getrennten Körper leben, der ein himmlischer Palast voller Genüsse werden sollte, aber schließlich die höllische Kammer eines engen Fasses wurde, ein Ort des Leidens mit vielen Dornen. Denn als sie sich von der reinen Seele trennte und in ihrer Illusionsblase etwas Eigenes sein wollte, hat sie sich als „Kammerfrau“ mit diesem leidenschaftlichen Geist der Begierde und damit der Vergänglichkeit und des Todes verheiratet und ist nun an diesen Körper gebunden. Und die „zwei weißen Pferde“ könnten uns an die Hochzeitspferde erinnern, die als weltliche Gegensätze vor diese „Hochzeitskutsche“ des Leidens für Geist und Natur gespannt werden, die nun auf den ausgefahrenen Gassen der Welt hin und her bis zum Tod gezogen wird. Ja, auch diese Freiheit hat das reine Bewußtsein, ein solches Leben zu erfahren, denn es kann jede Form annehmen. Wer sollte es verhindern? Aber man kann erkennen, daß es ein Weg des Leidens ist, und muß nicht weiter daran festhalten.

Damit erinnert uns diese Symbolik des „Urteils“ im Prinzip auch an die Kreuzigung von Christus, der als reiner Geist und reine Vernunft mit einer Dornenkrone des Leidens an das körperliche Kreuz dieser Welt genagelt wurde. Nur, daß unser Märchen diesen Weg auf der weiblichen Seite als Seele der Natur beschreibt, also mehr aus der Perspektive der Übeltäter, die neben Christus gekreuzigt wurden, von denen einer spricht: »Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. (Luk. 23.41So beschreibt unser Märchen den Leidensweg der reinen Seele der Natur, die durch die Hochzeit mit dem reinen bzw. heiligen Geist im Paradies der natürlichen Vielfalt endet. Und die Bibel beschreibt den Leidensweg der reinen Seele des Geistes, der durch die Hochzeit mit der reinen Natur des Vaters als Schöpfergott auf dem Thron Gottes im Himmel der geistigen Einheit endet. Wie Jesus auch mit den Worten verschied: »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!« Und diese beiden Wege sind im Grund eins, denn so findet sich die geistige Einheit in der natürlichen Vielfalt und die natürliche Vielfalt in der geistigen Einheit, so daß alles wieder eine Ganzheit und Gottheit ist, was aber unser Verstand nicht begreifen kann, weil er nur in Gegensätzen denkt.

Auf diesem heiligen und heilsamen Weg zur Ganzheit findet nun auch in unserem Märchen die reine Seele den reinen Geist wieder, der in der Körperlichkeit „in einem fremden Reich“ versteckt war, wo er die reine Seele und damit seine eigene Reinheit und Wahrheit vergessen hatte und nicht mehr erkennen konnte. Doch die Erkenntnis kam mit Hilfe der Vernunft zurück, und so vereinen sich nun Geist und Natur als König und Königin, die in Wahrheit nie getrennt waren, wieder zur großen Ganzheit, so daß auch die Tochter wieder eins mit der Mutter und der Sohn mit dem Vater wird, wie auch Christus sagt: »Ich und der Vater sind eins. (Joh. 10.30 Das heißt dann für unser Märchen: Die reine Seele wird eins mit der ganzen Vielfalt der Natur, die ganzheitliche Vernunft mit dem reinen Geist der Einheit, und beide werden in der großen Hochzeit zu einem reinen Bewußtsein vereint.

Und was wird mit Kürdchen, dem begrifflichen Verstand? Nun, der kümmert sich um den Körper, solange dieser noch in der Welt lebt und solange es noch angesammeltes Karma bzw. die Sünde der Trennung in diesem Ofen zu verbrennen gibt. Und unter einem vernünftigen König wird er sicherlich ein guter und nützlicher Ratgeber sein, wie auch die Kammerjungfrau der natürlichen Königin dienen sollte. Auf diese Weise sollte der Teil dem Ganzen dienen und nicht das Ganze dem Teil, denn sobald sich der Teil freiwillig in das Ganze einordnet, wird der Teil wieder zur Ganzheit. Und damit ist das Happy-End in Sicht, ein „Reich in Frieden und Seligkeit“, vom reinen Bewußtsein beherrscht, ein Paradies und Himmelreich auf Erden. OM

So mögen auch wir unsere Vernunft fragen, mit wem wir innerlich verlobt sind und ob wir damit der Ganzheit dienen, der Einheit in der Vielfalt und der Vielfalt in der Einheit. Und so mögen auch wir erkennen, wer sich hier überheblich erheben will, um eigennützig über Natur und Geist zu herrschen, und wo uns dieser Weg hinführt…


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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 3. Oktober 2024