Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Jude im Dorn

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Nachdem wir in den letzten beiden Märchen viel über das Symbol der Geige nachgedacht haben, wollen wir auch dieses Märchen etwas tiefer betrachten, in dem die Geige eine Hauptrolle spielt und sogar ein Bärtchen vorkommt:

Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Knecht, der diente ihm fleißig und redlich, war alle Morgen der erste aus dem Bett und abends der letzte hinein. Und wenn es eine saure Arbeit gab, wo keiner anpacken wollte, so stellte er sich immer zuerst daran. Dabei klagte er nicht, sondern war mit allem zufrieden, und war immer lustig. Als sein Jahr herum war, gab ihm der Herr keinen Lohn und dachte: „Das ist das Gescheiteste, so spare ich etwas, und er geht mir nicht weg, sondern bleibt hübsch im Dienst.“ Der Knecht schwieg auch still, tat das zweite Jahr wie das erste seine Arbeit, und als er am Ende desselben abermals keinen Lohn bekam, ließ er sich‘s gefallen und blieb noch länger. Als auch das dritte Jahr herum war, bedachte sich der Herr, griff in die Tasche, holte aber nichts heraus. Da fing der Knecht endlich an und sprach: „Herr, ich habe euch drei Jahre redlich gedient, seid so gut und gebt mir, was mir von Rechtswegen zukommt: Ich wollte fort und mich gerne weiter in der Welt umsehen.“ Da antwortete der Geizhals: „Ja, mein lieber Knecht, du hast mir unverdrossen gedient, dafür sollst du mildiglich belohnt werden.“ Griff abermals in die Tasche, und zählte dem Knecht drei Heller (Pfennige) einzeln auf: „Da hast du für jedes Jahr einen Heller. Das ist ein großer und reichlicher Lohn, wie du ihn bei wenigen Herrn empfangen hättest.“ Der gute Knecht, der vom Geld wenig verstand, strich sein Kapital ein und dachte: „Nun hast du vollauf in der Tasche, was willst du sorgen und dich mit schwerer Arbeit länger plagen.“

Das Märchen beginnt mit einem Knecht, den der weltliche Verstand einen „dummen Menschen“ nennen würde, denn er dient fleißig, aber fordert dafür keinen großen Lohn, und weiß auch nicht, wieviel das Geld wert ist. Doch er „klagte nicht, sondern war mit allem zufrieden und immer lustig“. Ist das nicht schon Lohn genug? Nur für den egoistischen Verstand erscheint die äußerliche Welt immer geizig, denn sie gibt niemals genug, um wahre Erfüllung zu finden, solange die innerliche Welt nicht gewonnen wurde. So möchten wir nun versuchen, diese ganze Geschichte mehr aus der Perspektive der inneren Welt unseres Geistes zu betrachten, und denken hier zunächst an die Tugend der „Demut“. Das etymologische Wörterbuch sagt dazu „Dien-Mut“, also „Mut zum Dienen“, und am besten, ohne einen persönlichen Vorteil und Gewinn darin zu suchen. Dann dient nicht mehr der egoistische Verstand, sondern die ganzheitliche Vernunft. Damit könnten wir diesen demütigen Dienst in der Welt der Vergänglichkeit als einen Weg zur menschlichen Vernunft sehen und wie sich im weiteren Verlauf der Geschichte die Vernunft vom Knecht zum König entwickelt, denn im Menschen sollte natürlich die Vernunft herrschen.

Das heißt zunächst: „Ich will fort und mich weiter in der Welt umsehen.“ Wo ist die „weite Welt“? Aus geistiger Sicht ist es die innere Welt, und dann bedeutet dieser Satz: Aus der engen äußerlichen Welt heraus in eine weite innere Welt schauen. Dafür muß der menschliche Geist natürlich bereit und bereitet worden sein, wie auch Meister Eckhart sagt:
Ich will Gott nicht darum bitten, daß er mir gebe. Ich will ihn auch nicht dafür loben, daß er mir gegeben hat. Ich will ihn vielmehr bitten, daß er mich würdig mache zu empfangen, und will ihn dafür loben, daß er der Natur und des Wesens ist, daß er geben muß.

So war wohl der Knecht durch seinen Dienst gut bereitet und kann nun auch Großes empfangen:

Da zog er fort, bergauf, bergab, sang und sprang nach Herzenslust. Nun trug es sich zu, als er an ein Buschwerk vorüberkam, daß ein kleines Männchen hervortrat und ihn anrief: „Wo hinaus, Bruder Lustig? Ich sehe, du trägst nicht schwer an deinen Sorgen.“ - „Was soll ich traurig sein“, antwortete der Knecht, „ich habe vollauf. Der Lohn von drei Jahren klingelt in meiner Tasche.“ - „Wieviel ist denn deines Schatzes?“, fragte ihn das Männchen. „Wieviel? Drei bare Heller, richtig gezählt.“ - „Höre!“, sagte der Zwerg, „ich bin ein armer bedürftiger Mann, schenke mir deine drei Heller: Ich kann nichts mehr arbeiten, du aber bist jung und kannst dir dein Brot leicht verdienen.“ Und weil der Knecht ein gutes Herz hatte und Mitleid mit dem Männchen fühlte, so reichte er ihm seine drei Heller und sprach: „In Gottes Namen, es (das Geld) wird mir nicht fehlen.“ Da sprach das Männchen: „Weil ich dein gutes Herz sehe, so gewähre ich dir drei Wünsche, für jeden Heller einen, die sollen dir in Erfüllung gehen.“ - „Aha“, sprach der Knecht, „du bist einer, der blau pfeifen kann (als Erstickender noch Lieder pfeifen bzw. als Armer noch Reichtum geben). Wohlan, wenn‘s doch sein soll, dann wünsche ich mir erstlich ein Vogelrohr, das alles trifft, wonach ich ziele. Zweitens eine Fidel, wenn ich darauf streiche, so muß alles tanzen, was den Klang hört. Und drittens, wenn ich an jemand eine Bitte tue, so darf er sie nicht abschlagen.“ - „Das sollst du alles haben“, sprach das Männchen, griff in den Busch, und, denk einer, da lagen schon Fidel und Vogelrohr in Bereitschaft, als wenn sie bestellt wären. Er gab sie dem Knecht und sprach: „Was du dir immer erbitten wirst, kein Mensch auf der Welt soll dir‘s abschlagen.“

Warum macht sich die Vernunft keine Sorgen? Nun, welche Sorgen sollte man noch haben, wenn man erkennt, daß man selbst die ewige Quelle von allem ist und nichts festhalten muß? Und wenn wir so voller Freude aus dem äußerlichen Bergauf und Bergab in unsere innere Welt gehen, dann treffen wir am Eingang zunächst auf eine Prüfung des Herzens, ähnlich dem Engel mit dem Flammenschwert am Eingang des Paradieses. Denn der Geist muß bereit sein, den persönlichen Besitz aus der äußerlichen Welt loszulassen, und fähig sein, sich das Richtige für den weiteren Weg zu wünschen. Beides fällt vielen Menschen sehr schwer, doch der Knecht war wohlbereitet, und wünschte sich zuerst die nötigen Mittel, damit auch der dritte Wunsch erfüllt werden kann, was im Folgenden praktisch mit Symbolen aus unserer äußerlichen Welt erklärt wird. Denn das ist die übliche Vorgehensweise von Märchen, die man Kindern auf den langen Weg durchs Leben mitgibt, und es wäre wohl gut, wenn auch unsere Kinder schon früh diese Demut lernen könnten.

„Herz, was begehrst du nun noch?“, sprach der Knecht zu sich selber und zog lustig weiter. Bald darauf begegnete er einem Krämer mit einem langen Ziegenbart, der stand und horchte auf den Gesang eines Vogels, der hoch oben in der Spitze eines Baumes saß. „Gottes Wunder!“, rief er aus, „so ein kleines Tier hat so eine grausam mächtige Stimme! Wenn‘s doch mein wäre! Wer ihm doch Salz auf den Schwanz streuen könnte (es fangen und festhalten)!“ - „Wenn‘s weiter nichts ist“, sprach der Knecht, „der Vogel soll bald herunter sein.“ Legte an und traf aufs Haar genau, und der Vogel fiel herab in die Dornhecken. „Geh, Spitzbub“, sagte er zum Krämer, „und hol dir den Vogel heraus.“ - „Mein“, sprach der Krämer, „laß der Herr den Bub weg, so kommt ein Hund gelaufen. Ich will mir den Vogel auflesen, weil ihr ihn doch einmal getroffen habt.“ Legte sich auf die Erde und fing an, sich in den Busch hineinzuarbeiten. Wie er nun mitten in dem Dorn steckte, plagte der Mutwille den guten Knecht, daß er seine Fidel abnahm und anfing zu geigen. Gleich fing auch der Krämer an, die Beine zu heben und in die Höhe zu springen: Und je mehr der Knecht strich, desto besser ging der Tanz. Aber die Dornen zerrissen ihm den schäbigen Rock, kämmten ihm den Ziegenbart und stachen und zwickten ihn am ganzen Leib. „Mein“, rief der Krämer, „was soll mir das Geigen! Laß der Herr das Geigen, ich begehre nicht zu tanzen!“ Aber der Knecht hörte nicht darauf und dachte: „Du hast die Leute genug geschunden, nun soll dir‘s die Dornhecke nicht besser machen.“ Und fing von neuem an zu geigen, daß der Krämer immer höher aufspringen mußte, und die Fetzen von seinem Rock an den Stacheln hängenblieben. „Au weih geschrien!“, rief der Krämer, „geb ich doch dem Herrn, was er verlangt, wenn er nur das Geigen läßt, einen ganzen Beutel mit Gold.“ - „Wenn du so spendabel bist“, sprach der Knecht, „so will ich wohl mit meiner Musik aufhören. Aber das muß ich dir nachrühmen, du machst deinen Tanz noch mit, daß es eine Art hat.“ Nahm darauf den Beutel und ging seiner Wege.

Wenn wir nun ins Innere kommen, finden wir vor allem unseren Ego-Verstand, der vor dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und sonstiger Gegensätze steht, und mit großer Begierde auf den Vogel der begrifflichen Gedanken hört, der in diesem Baum sein Lied zwitschert, und ihn ergreifen und sich schmackhaft zubereiten will, weil sich der Ego-Verstand von solchen Gedanken ernährt. Wer kennt dieses Gedanken-Gezwitscher nicht, das oft stundenlang das gleiche Lied singt!? In der Grimmschen Version wird diese Rolle des Ego-Verstandes von einem „Juden“ gespielt, den wir hier mit „Krämer“ ersetzt haben, um dem heutigen Vorwurf aus dem Weg zu gehen, daß dieses Märchen antisemitisch wäre und deshalb verboten werden sollte, obwohl es doch gerade voller Weisheit steckt und die geistigen Wurzeln aufdeckt, warum der Mensch solche schrecklichen Taten und Kriege überhaupt sucht und durchführt.

So ist das Ergreifen und Festhalten eine typische Eigenschaft des Ego-Verstandes, und die Vernunft hilft ihm dabei, diese Erfahrung machen zu dürfen, aber auch die Konsequenzen zu erfahren. Das Vogelrohr wird hier oft als Flinte gedeutet. Wir würden darin symbolisch mehr ein Blasrohr sehen, denn die Flinte schießt mit Feuer und Blei bzw. Leidenschaft und illusorischer Wahrheit, weil sich das Blei nur im Dunkeln wie Gold anfühlt. Während das Blasrohr an den Wind des Geistes und ein kleines Steinchen erinnert, am besten an den Stein der Weisen. So wird der Vogel nicht getötet, sondern nur betäubt, wie unwirksame Gedanken.

Entsprechend sollte man auch in der Meditation die Gedanken nicht töten wollen, die gewöhnlich „über uns“ herrschen, sondern mit dem konzentrierten Geist der Weisheit beobachten, bis sie ihre Kraft verlieren und vom Baum auf den Grund des reinen Bewußtseins herabfallen, in dem auch der Baum wurzelt. Und dann beobachtet man mit ganzer Achtsamkeit den Ego-Verstand, wie er sich darauf stürzt und den Vogel ergreifen und festhalten will, aber sich damit nur jede Menge Leiden schafft, sozusagen einen Tanz in der Dornenhecke der weltlichen Gegensätze von Gut und Böse, Mein und Dein, Gewinnen und Verlieren, Leben und Tod usw..

Und zu diesem Tanz spielt die Geige der Vernunft als Kraft des Bewußtseins, die alles bewegt und lebendig macht. Das ist die Macht der Achtsamkeit in der Meditation, und sobald dieses Bewußtsein schläfrig wird, fühlt sich der Ego-Verstand wieder unbeobachtet und gut, und kann seine egoistischen Ziele weiterverfolgen, im Glauben, daß sie ihm viel Glück und kein Leid bringen. Denn wie schon der Name sagt, will der „Verstand“ nicht tanzen, sondern gern stehenbleiben, ergreifen und festhalten, und will auch nicht gern dabei beobachtet werden, wenn er wie ein „Spitzbube“ etwas ergreift, das ihm eigentlich gar nicht gehört. Und ja, dieser Tanz fühlt sich auch in der Meditation nicht schön an, denn er zerreißt das langgetragene äußerliche Kleid des Verstandes und verletzt den Ego-Leib. Man muß schon viel Mut haben, in diesem Leiden den tieferen Sinn zu erkennen und es ertragen zu wollen. Das ist wohl auch der „Mutwille“ der Vernunft, und so ist es schließlich doch ein wahrer Segen, eine solche Geige spielen zu können.

Dazu finden wir in diesem alten Märchen, lange bevor in Europa von Yoga gesprochen wurde, zwei prinzipielle Mittel oder Methoden wieder, die auch im Yoga eine grundlegende Rolle spielen, nämlich Konzentration und Achtsamkeit als Vogelrohr und Geige. Und was passiert dann? Zum einen wird der „Ziegenbart gekämmt“, der so gern meckert. Über die symbolische Bedeutung des Bartes haben wir in den letzten Märchen schon viel nachgedacht. So könnte man sich auch hier vorstellen, daß die ausgesprochenen bzw. wirkenden Gedanken geordnet, geglättet und ausgeglichen werden. Zum anderen gibt der Ego-Verstand sein Gold, das er als Wahrheit ergriffen hatte und festhalten wollte, an die Vernunft zurück, und damit findet er auch seine Ruhe wieder, und der leidvolle Tanz in den Dornen der Gegensätze hört auf. Denn die goldene Krone der Wahrheit sollte die ganzheitliche Vernunft tragen, und nicht der Ego-Verstand. So ist die Moral der Geschichte: Nicht durch Festhalten gewinnt man die Ruhe, sondern durch Loslassen.

Doch damit ist das Märchen noch nicht zu Ende. Denn wer kennt es nicht, ein verletztes Ego, wenn der Ziegenbart zu meckern beginnt?

Der Krämer blieb stehen und sah ihm nach und war still, bis der Knecht weit weg und ihm ganz aus den Augen war. Dann schrie er aus Leibeskräften: „Du miserabler Musikant, du Bierfiedler! Warte, wenn ich dich allein erwische! Ich will dich jagen, daß du die Schuhsohlen verlieren sollst. Du Lump, steck einen Groschen ins Maul, daß du sechs Heller wert bist!“ Und schimpfte weiter, was er nur losbringen konnte. Und als er sich damit etwas zu Gute getan und Luft gemacht hatte, lief er in die Stadt zum Richter: „Herr Richter, au weih geschrien! Seht, wie mich auf offener Landstraße ein gottloser Mensch beraubt und übel zugerichtet hat. Ein Stein auf dem Erdboden möcht sich erbarmen: Die Kleider zerfetzt, der Leib zerstochen und zerkratzt! Mein bißchen Armut samt dem Beutel genommen! Lauter Dukaten, ein Stück schöner als das andere: Um Gotteswillen, laßt den Menschen ins Gefängnis werfen!“ Sprach der Richter: „War‘s ein Soldat, der dich mit seinem Säbel so zugerichtet hat?“ - „Gott bewahre!“, sagte der Krämer, „einen nackten Degen hat er nicht gehabt, aber ein Rohr hat er gehabt, auf dem Buckel hängen, und eine Geige am Hals. Der Bösewicht ist leicht zu erkennen.“

Sobald der Ego-Verstand wieder zur Ruhe kommt und von der Vernunft unbehelligt „stehenbleiben“ kann, begehrt er natürlich seinen Anspruch auf sein Eigentum an Wahrheit zurück, schimpft auf die ganzheitliche Vernunft, die seinem trennenden Bewußtsein eine prinzipielle Bedrohung ist, und schreit laut nach Gerechtigkeit. So steht nun hier eine große Frage: Kann es für das Ego, das seinen eigenen Vorteil sucht, überhaupt eine wahre Gerechtigkeit geben? Ist es gerecht, wenn ich mir etwas aneigne und dann gegen jeden kämpfe, der es mir wegnehmen will, ihn bestrafen und sogar töten darf? Ja, dafür hat sich unser Ego-Verstand eine Gesellschaftsordnung mit vielen Gesetzen geschaffen, die das persönliche Eigentum an Land, Haus, Gütern, Körper und sonstigem Besitz sichern soll. Und dazu gibt es auch in uns einen „Gerechtigkeitssinn“, der hier im Märchen als ein Richter erscheint.

Der Richter schickte seine Leute nach ihm aus, die fanden den guten Knecht, der ganz langsam weitergezogen war, und fanden auch den Beutel mit Gold bei ihm. Als er vor Gericht gestellt wurde, sagte er: „Ich habe den Krämer nicht angerührt und ihm das Gold nicht genommen. Er hat es mir aus freien Stücken angeboten, damit ich nur aufhörte zu geigen, weil er meine Musik nicht vertragen konnte.“ - „Gott bewahre!“, schrie der Krämer, „der greift die Lügen wie Fliegen an der Wand.“ Der Richter glaubte es auch nicht und sprach: „Das ist eine schlechte Entschuldigung, das tut kein Krämer“, und verurteilte den guten Knecht, weil er auf offener Straße einen Raub begangen hätte, zum Galgen. Als er aber abgeführt wurde, schrie ihm noch der Krämer zu: „Du Bärenhäuter, du Hundemusikant, jetzt kriegst du deinen wohlverdienten Lohn.“

So kann der Ego-Verstand den Gerechtigkeitssinn, den er sich selbst geschaffen hat, schnell überzeugen. Denn welches Ego würde freiwillig sein Eigentum hergeben, und vor allem das Gold seiner eigenen Wahrheit? Es kann also nur von einem „anderen“ mit Gewalt geraubt worden sein, den es nun zu bestrafen und am besten zu töten gilt, damit der Ego-Verstand „unbehelligt“ weiterleben kann. Geschieht das vielleicht auch in unserer äußerlichen Welt, daß wir die Vernunft töten wollen, damit der Ego-Verstand leben kann?

Doch die Vernunft bleibt gelassen, denn sie weiß, daß es wahre Gerechtigkeit nur für die ganzheitliche Vernunft und nicht für den begrifflichen Ego-Verstand geben kann. Wie auch Meister Eckhart sagt:
Unsere Meister stellen die Frage, ob die Engel betrübt werden, wenn der Mensch Sünde tut? Wir sagen: Nein! Denn sie schauen in die Gerechtigkeit Gottes und erfassen darin alle Dinge in ihm (= in Gott), wie sie in Gott sind. Deshalb können sie sich nicht betrüben. Nun gleicht die Vernunft in der vermögenden Kraft dem natürlichen Licht der Engel, welches das Abendlicht ist. Mit der wirkenden Kraft (aber) trägt sie alle Dinge hinauf in Gott, und sie ist alle Dinge in diesem Morgenlicht. (Predigt 51)

So hat auch die Vernunft keine Angst vor dem Tod, denn diese Angst ist nur eine Eigenschaft des Ego-Verstandes, der glaubt, sein vermeintliches Eigentum verlieren zu können. Und so geht die Vernunft ruhig und gelassen durch die Stufen des körperlichen Lebens, und kann sich auch auf der letzten Stufe noch vom Tod ab und dem ewigen Leben zuwenden, denn sie ist sich ihrer Macht bewußt und weiß: „Der Gerechte lebt in Gott, und Gott in ihm. (Predigt 25)“

Der Knecht stieg ganz ruhig mit dem Henker die Leiter hinauf, aber auf der letzten Sprosse drehte er sich um und sprach zum Richter: „Gewährt mir noch eine Bitte, eh ich sterbe.“ - „Ja“, sprach der Richter, „wenn du nicht um dein Leben bittest.“ - „Nicht ums Leben“, antwortete der Knecht, „ich bitte, laßt mich zu guter Letzt noch einmal auf meiner Geige spielen.“ Der Krämer erhob ein Zetergeschrei: „Um Gotteswillen, erlaubt es nicht, erlaubt es nicht!“ Allein der Richter sprach: „Warum soll ich ihm die kurze Freude nicht gönnen? Es sei ihm zugestanden, und dabei soll es sein Bewenden haben.“ Auch konnte er es ihm nicht abschlagen wegen der Gabe, die dem Knecht verliehen war. Der Krämer aber rief: „Au weih! Au weih! Bindet mich an, bindet mich fest!“

Nun zeigt sich noch einmal die große Angst des Ego-Verstandes vor der Vernunft, daß sie die Herrschaft über den Verstand bekommen könnte. Denn der Verstand will sich nicht gern bewegen, sondern festhalten und sich lieber binden lassen, als nach der Geige der Vernunft zu tanzen. Und doch siegt am Ende die Vernunft:

Da nahm der gute Knecht seine Geige vom Hals, legte sie zurecht, und wie er den ersten Strich tat, fing alles an zu wabern und zu wanken, der Richter, die Schreiber, und die Gerichtsdiener, und der Strick fiel dem aus der Hand, der den Krämer festbinden wollte. Beim zweiten Strich hoben alle die Beine, und der Henker ließ den guten Knecht los und machte sich zum Tanze fertig. Beim dritten Strich sprang alles in die Höhe und fing an zu tanzen, und der Richter und der Krämer waren vorn und sprangen am besten. Bald tanzte alles mit, was auf den Markt aus Neugierde herbeigekommen war, alte und junge, dicke und magere Leute untereinander. Sogar die Hunde, die mitgelaufen waren, setzten sich auf die Hinterfüße und hüpften mit. Und je länger er spielte, desto höher sprangen die Tänzer, daß sie sich einander an die Köpfe stießen und anfingen, jämmerlich zu schreien.

Endlich rief der Richter ganz außer Atem: „Ich schenke dir dein Leben, höre nur auf zu geigen.“ Der gute Knecht ließ sich bewegen, setzte die Geige ab, hing sie wieder um den Hals und stieg die Leiter herab. Da trat er zu dem Krämer, der auf der Erde lag und nach Atem schnappte, und sagte: „Spitzbube, jetzt gesteh, wo du das Gold herhast, oder ich nehme meine Geige vom Hals und fange wieder an zu spielen.“ - „Ich hab‘s gestohlen, ich hab‘s gestohlen!“, schrie er, „du aber hast es redlich verdient.“ Da ließ der Richter den Krämer zum Galgen führen und als einen Dieb aufhängen.

So wird nun auch der dritte Segen gewährt, und alle Wünsche können sich erfüllen. Denn das reine Bewußtsein, das an keiner eigenen Form mehr anhaftet und auch den Tod als Prinzip der Trennung nicht mehr fürchtet, kann natürlich jede gewünschte Form annehmen. Auf diese Weise kann die ganzheitliche Vernunft die erste Geige in der innerlichen bzw. geistigen Welt spielen und alles bewegen und beleben. Und das ist der Segen der ganzen Schöpfung, ein lebendiger Tanz der Harmonie und des Einklangs. Nur, wer seinen eigenen Kopf durchsetzen und nicht mittanzen will, wird in diesem Tanz mit „anderen“ zusammenstoßen, entsprechend leiden müssen und schließlich „ganz außer Atem kommen“. Doch auf diesem Weg kommen wir im Tanz der Schöpfung zur Vernunft. So erwacht dann auch unser Gerechtigkeitssinn und schenkt das Leben der Vernunft und nicht dem Ego. Und der Ego-Verstand bekennt seine Schuld und gibt das Gold der Wahrheit der Vernunft zurück, die damit wieder zum König wird, über den begrifflichen Verstand herrscht und die goldene Krone der Wahrheit trägt. Dann spricht die ganzheitliche Vernunft: »Ich bin das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit und das ewige Leben.« Und das Ego zeigt sich als vergängliches Leben, als eine sterbliche Illusion des begrifflichen Verstandes.

Auf diese Weise kommt nun die Vernunft als Knecht ins Innere und kehrt als König ins Äußere zurück. Denn König ist, wessen Bitte auch Befehl ist. Und wahrer König ist, wer frei und ungebunden ist, frei von Anhaftung und ungebunden von egoistischen Begierden, um irgendwelche Formen festzuhalten…

Zu diesem Thema können wir auch den historischen Text von Jakob Böhme „Von wahrer Gelassenheit“ empfehlen, der beschreibt:
Wie der Mensch mit seinem eigenen Willen in seiner Ichheit täglich sterben müsse, und wie er seine Begierde in Gott hineinführen soll, was er von Gott erbitten und begehren soll, und wie er aus dem Sterben des sündhaften Menschen mit einem neuen Gemüt und Willen in Gott ausgrünen kann. Auch was der alte und neue Mensch, ein jeder in seinem Leben, Wollen und Tun sei.

Und zu dem großen Thema, wie der gewöhnliche Verstand auf außergewöhnliche Musik reagieren kann, gab es dann auch ein ganz besonderes Konzert zum 400. Todestag von Jakob Böhme unter dem Titel: "Harmonikale Musik" mit Obertongesang


Damit wünschen wir einen friedlichen Start in die weihnachtliche Adventszeit! Möge überall die Geige der Vernunft mit reiner Liebe erklingen! 🙏


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Die goldene Gans - (Thema: wahre Ganzheit erkennen)
Die Gänsemagd - (Thema: Einheit und Vielfalt)
König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
Der Hase und der Igel - (Thema: Ich bin schon da)
Hans mein Igel - (Thema: Vernunft und Natur)
Der Dummling - (Thema: Wesen des Meeres)
Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
Bilder 1-4: Das lustige Märlein vom kleinen Frieder, Franz Graf von Pocci, 1839
Bild 5: www.bilderbogenforschung.de
[Eckhart] Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1979
[Jacob Böhme] Alle Texte in deutscher Überarbeitung / www.boehme.pushpak.de
[2024] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. Dezember 2024 / 1. Advent