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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Es war einmal ein Bauer, der hatte Geld und Gut genug, aber wie reich er war, so fehlte doch etwas an seinem Glück: Er hatte mit seiner Frau keine Kinder. Öfters, wenn er mit den anderen Bauern in die Stadt ging, spotteten sie und fragten warum er keine Kinder hätte. Da wurde er einmal zornig, und als er nach Hause kam, sprach er: „Ich will ein Kind haben, und sollt‘s ein Igel sein!“ Da bekam seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein Junge, und als sie das Kind sah, erschrak sie und sprach: „Siehst du, du hast uns verwünscht.“
Wir wollen nun versuchen, das Symbol des Igels, wie wir es im vorhergehenden Märchen vom „Hase und Igel“ gefunden haben, in diesem Märchen weiterzuführen. Am Anfang begegnen uns wieder Mann und Frau, denen es nicht an materiellem Reichtum mangelt, aber am lebendigen, also ein Bauer als wirkender Geist und seine Frau als die gebärende Natur. Über die Kraft der Wünsche haben wir ja schon viel gesprochen, und daß der wirkende Geist natürlich aufpassen muß, daß er sich nicht „verwünscht“ und die Natur entsprechend reagiert und wirkt. Denn soweit er sich unter dem Einfluß von Begierde und Zorn irgendwelches Eigentum wünscht, daß er festhalten will, wenn es ihm gefällt, und wieder loswerden will, wenn es ihm nicht mehr gefällt, dann erkennt er das wahre Wesen seiner eigenen Wirksamkeit nicht, sondern sieht nur die äußerlichen Formen, die ihm gut oder schlecht erscheinen.
Da sprach der Mann: „Was kann das alles helfen, getauft muß der Junge werden, aber wir können keinen Gevatter (Taufpaten) dazu nehmen.“ Die Frau sprach: „Wir können ihn auch nicht anders taufen als Hans mein Igel.“ Als er getauft war, sagte der Pfarrer: „Der kann wegen seiner Stacheln in kein ordentliches Bett kommen.“ Da wurde hinter dem Ofen ein wenig Stroh zurechtgemacht und Hans mein Igel draufgelegt. Er konnte auch an der Mutter nicht trinken, denn er hätte sie mit seinen Stacheln gestochen. So lag er da hinter dem Ofen acht Jahre, und sein Vater war ihn müde und dachte, wenn er nur stürbe. Aber er starb nicht, sondern blieb da liegen.
So müssen nun Geist und Natur in ihrer Welt der Wünsche leben und das Beste daraus machen, auch wenn ihnen die äußere Form nicht gefällt. Was ist das nun für ein Wesen, das zwar getauft und Höherem geweiht wird, aber dem Bauer als eigenwillig wirkender Geist nicht nützlich erscheint und sich auch nicht von der Mutter Natur ernährt, aber trotzdem lebt und nicht stirbt? Er wird „Hans“ als Kurzform für „Johannes“ genannt, ein Name, der „Gott ist gnädig“ bedeutet. Damit können wir wieder an die ganzheitliche Vernunft denken, die reine Intelligenz oder das Christusbewußtsein, das in der Tiefe eines jeden Geschöpfes anwesend und lebendig ist, aber nur selten erkannt und gehört wird. In diesem Sinne taufte Mutter Natur dieses ganzheitliche Bewußtsein im Sinne von „Johannes mein Igel“ auch auf den Namen „Gottes Gnade ist meine Vernunft“. Bedenklich ist, daß sogar der Pfarrer darin kein vernünftiges Wesen, sondern nur ein stachliges Tier gesehen hat, das nicht in die geordnete Welt der Menschen gehört, eine Ordnung, die sich der menschliche Verstand selbst gemacht hat.
Nun trug es sich zu, daß in der Stadt ein Markt war, und der Bauer wollte hingehen, da fragte er seine Frau, was er ihr mitbringen sollte. „Ein wenig Fleisch und ein paar Wecke (Brötchen oder Brote), was zum Haushalt gehört“, sprach sie. Darauf fragte er die Magd, die wollte ein paar Pantoffeln und Zwickelstrümpfe. Endlich sagte er auch: „Hans mein Igel, was willst du denn haben?“ - „Väterchen“, sprach er, „bring mir doch einen Dudelsack mit.“ Wie nun der Bauer wieder nach Hause kam, gab er der Frau, was er ihr gekauft hatte, Fleisch und Wecke, dann gab er der Magd die Pantoffeln und die Zwickelstrümpfe, endlich ging er hinter den Ofen und gab dem Hans mein Igel den Dudelsack.
So erfüllt nun der Bauer als wirkender Geist auch weitere Wünsche: Mutter Natur wünscht sich Nahrung, ihre Magd Kleidung und die Vernunft einen Dudelsack, damit sie doch endlich gehört werden kann. Damit bekommt dieses ganzheitliche Bewußtsein ein Instrument, das uns an die berühmte Zauberflöte erinnert, welche die Macht hat, alles zum Guten zu wandeln:
Du kannst mit ihr allmächtig handeln, der Menschen Leidenschaft verwandeln. Bei deiner Flöte Zauberklang verwandelt Droh‘n sich in Gesang. … Die Zauberflöte hast du ja, sie bringet uns dem Ziele nah. Es schnitt in einer Zauberstunde mein Vater sie aus tiefem Grunde der tausendjährigen Eiche aus, bei Blitz und Donner, Sturm und Graus. (Mozart, Zauberflöte)
Damit kommt diese magische Flöte aus der Wurzel eines uralten Baumes, der an den Baum des Lebens erinnert, mit seinen tiefgründigen Wurzeln, die sich aus der reinen Quelle der tiefen Intuition ernähren, aus einem Bewußtsein, das allem zugrunde liegt.
Eine ähnlich symbolische Flöte finden wir auch in den altindischen Geschichten von Krishna, eine Verkörperung von Vishnu, der als Hirtenjunge mit dieser Flöte den Ruf der wahren und reinen Liebe ertönen läßt (siehe z.B. Bhagavatam, 10.21. Krishnas Flötenspiel). Vishnu selbst gilt als Gott der Erhaltung und steht im Grunde auch für die universale Intelligenz bzw. ganzheitliche Vernunft.
Und wie Hans mein Igel den Dudelsack hatte, sprach er: „Väterchen, geht doch zur Schmiede und laßt mir meinen Gockelhahn beschlagen, dann will ich fortreiten und will nimmermehr wiederkommen.“
Auch eine solche Symbolik von Reittieren finden wir in den altindischen Geschichten. Da reitet zum Beispiel Brahma als Schöpfergott auf dem Schwan Hamsa, Vishnu als Gott der Erhaltung auf dem Adler Garuda und Shiva als Gott der Auflösung auf dem Stier Nanda (siehe auch Yogawiki Reittiere).
Der bunte Gockelhahn erinnert uns an die bunte Welt der äußerlichen Vielfalt, die von einem ganzheitlichen Bewußtsein hervorgebracht und auch geführt wird, welches selbst formlos ist und deshalb jede Form annehmen kann. So wird die Einheit von der Vielfalt getragen und reitet symbolisch auf der Vielfalt, um sich selbst erkenntlich zu machen. Und der symbolische Schmied als Herrscher über die natürlichen Elemente von Feuer, Wind, Wasser und Eisen bzw. Erde erinnert uns an den begrifflichen Verstand, der dieser Vielfalt der Natur eine greifbare und damit auch vergängliche Körperlichkeit gibt. Hier könnte man auch an das alte Sprichwort denken: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Und so erfüllt das Bewußtsein dem Vater bzw. wirkenden Geist seinen Wunsch, das Gewünschte oder auch Verwünschte wieder loswerden zu können, so daß wir nun in einer Welt der körperlichen Vergänglichkeit leben.
Da war der Vater froh, daß er ihn loswerden sollte, und ließ ihm den Hahn beschlagen, und als er fertig war, setzte sich Hans mein Igel darauf, ritt fort, nahm auch Schweine und Esel mit, die er draußen im Wald hüten wollte. Im Wald aber mußte der Hahn mit ihm auf einen hohen Baum fliegen, da saß er und hütete die Esel und Schweine, und saß lange Jahre, bis die Herde ganz groß war, und sein Vater wußte nichts von ihm.
So begibt sich nun die ganzheitliche Vernunft mit ihrem Dudelsack und von der Vielfalt der Natur getragen in den Wald der äußerlichen Welt, die aus den Bäumen unserer Vorstellungen gewachsen ist, die wir in alle Richtungen vor uns hingestellt haben. Dort sitzt sie auf dem Baum des Lebens und hütet unsere Tierwesen, wie auch Krishna mit seiner Flöte als Hirtenjunge die Kühe hütete. Das Schwein erinnert an unsere gierig-gefräßige Körperlichkeit und der Esel an unseren eigenwillig-egoistischen Verstand, den „I-A“, der „sich immer zuerst nennt“. Ja, über diesen Körper-Verstand sollte stets die Vernunft wachen, dann wird alles gut. Zu beachten ist, daß es eine ganzheitliche Vernunft ist, die nicht getrennt in jedem Wesen, sondern als Einheit über die Vielfalt der Wesen herrscht, soweit sie ihre harmonische Stimme hören können und wollen, um sich hüten und führen zu lassen. Und klar, der begriffliche Verstand kann von dieser Einheit nichts wissen, denn er kann nur abgetrennte und begrenzte Formen er- und begreifen. Das ist der Vater als wirkender Geist und Schöpfer, der das wahre Wesen seiner eigenen Schöpfung nicht erkennt.
Wenn er aber auf dem Baum saß, blies er seinen Dudelsack und machte Musik, die war sehr schön. Einmal kam ein König vorbeigefahren, der hatte sich verirrt und hörte die Musik. Da verwunderte er sich darüber und schickte seinen Bedienten hin, er sollte sich einmal umgucken, wo die Musik herkäme. Er guckte sich um, sah aber nichts als ein kleines Tier auf dem Baum oben sitzen, das war wie ein Gockelhahn, auf dem ein Igel saß, und der machte die Musik. Da sprach der König zum Bedienten er sollte fragen, warum er da säße und ob er nicht wüßte, wo der Weg in sein Königreich ginge.
So können wir nun lesen, wie sich der begriffliche Verstand als weltlicher König und vermeintlicher Herrscher in diesem dichten Wald der Vorstellungen verirrt und seinen Weg nach Hause in sein wahres Königreich nicht wiederfindet. Und so hören wir auch alle irgendwann in diesem Wald die harmonische Stimme der Vernunft und schicken unsere weltlichen Diener in Form der fünf Sinne und Gedanken aus, um dieses unbegreifliche Wesen zu erkunden. Doch sie können es natürlich nicht wahrhaft erkennen, weil sie nur äußerliche Formen wahrnehmen. Trotzdem sind wir alle irgendwie auf der Suche nach unserem wahren Königreich, das wir in unserem Inneren finden können, wo all unser Reichtum ist und unsere wahre Wurzel.
Da stieg Hans mein Igel vom Baum und sprach, er wollte den Weg zeigen, wenn der König ihm verschreiben und versprechen wollte, was ihm zuerst am königlichen Hofe begegnete, sobald er nach Hause käme. Da dachte der König: „Das kann ich leicht tun, Hans mein Igel versteht‘s doch nicht, und ich kann schreiben was ich will.“ Da nahm der König Feder und Tinte und schrieb etwas auf, und als es geschehen war, zeigte ihm Hans mein Igel den Weg, und er kam glücklich nach Hause. Seine Tochter aber, als sie ihn von weitem sah, war so voll Freuden, daß sie ihm entgegenlief und ihn küßte. Da gedachte er an Hans mein Igel und erzählte ihr, wie es ihm gegangen war und daß er einem wunderlichen Tier habe verschreiben sollen, was ihm daheim zuerst begegnen würde. Und das Tier hätte auf einem Hahn wie auf einem Pferd gesessen und schöne Musik gemacht. Er habe aber geschrieben, es solle es nicht haben, denn Hans mein Igel könne es doch nicht lesen. Darüber war die Prinzessin froh und sagte, das war gut, denn sie wäre doch nimmer hingegangen.
Sicherlich kann uns die Vernunft diesen großen Weg der Wege zeigen, aber natürlich nur, wenn wir unsere innere Seele mit der Vernunft vereinen. Ansonsten versucht der Verstand nur mit gedanklichen Vorstellungen dahin zu gelangen und kann damit den Wald der Vorstellungen niemals verlassen. Dann versucht er mit den gewöhnlichen Illusionen des begrifflichen Denkens, die ganzheitliche Vernunft zu überlisten, aber betrügt sich doch nur selbst. Entsprechend ist auch seine Seele nicht bereit, die ihm natürlich zuerst begegnet, wenn er in sein Inneres zurückfindet. Denn sie ist immer auch ein natürliches Kind ihres geistigen Vaters, und wenn der Vater betrügt, kann die Seele nicht wahrhaft und rein sein.
Hans mein Igel aber hütete die Esel und Schweine, war immer lustig, saß auf dem Baum und blies auf seinem Dudelsack. Nun geschah es, daß ein anderer König gefahren kam mit seinen Bedienten und Läufern, und hatte sich verirrt, und wußte nicht wieder nach Hause zu kommen, weil der Wald so groß war. Da hörte er gleichfalls die schöne Musik von weitem und sprach zu seinem Läufer was das wohl wäre, er solle einmal nachsehen. Da ging der Läufer hin unter den Baum und sah den Gockelhahn sitzen und Hans mein Igel oben drauf. Der Läufer fragte ihn, was er da oben vorhätte. „Ich hüte meine Esel und Schweine, aber was ist euer Begehren?“ Der Läufer sagte, sie hätten sich verirrt und könnten nicht wieder ins Königreich, ob er ihnen den Weg nicht zeigen wolle. Da stieg Hans mein Igel mit dem Hahn vom Baum herunter und sagte zu dem alten König, er wolle ihm den Weg zeigen, wenn er ihm zu eigen geben wolle, was ihm zu Hause vor seinem königlichen Schloß als erstes begegnen würde. Der König sagte „ja“ und unterschrieb sich dem Hans mein Igel, er solle es haben. Als das geschehen war, ritt er auf dem Gockelhahn voraus und zeigte ihm den Weg, und so gelangte der König glücklich wieder in sein Reich. Wie er auf den Hof kam, war große Freude darüber. Nun hatte er eine einzige Tochter, die war sehr schön, lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn und freute sich, daß ihr alter Vater wiederkam. Sie fragte ihn auch wo er so lange in der Welt gewesen war. Da erzählte er ihr, er habe sich verirrt und wäre beinahe gar nicht wiedergekommen. Aber als er durch einen großen Wald gefahren war, habe einer, halb wie ein Igel, halb wie ein Mensch, rittlings auf einem Hahn in einem hohen Baum gesessen und schöne Musik gemacht. Der habe ihm fortgeholfen und den Weg gezeigt, er aber habe ihm dafür versprochen, was ihm am königlichen Hofe zuerst begegnete. Und das wäre sie, und das tue ihm nun so leid. Da versprach sie ihm aber, sie wollte gerne mit ihm gehen, wenn er käme, ihrem alten Vater zu Liebe.
Nun, die Vernunft wird von solchen Illusionen als Selbstbetrug des Verstandes praktisch nicht beeinflußt, sondern bleibt heiter und froh. Sie wartet, bis der weltliche Verstand bereit und der Wahrheit geneigt ist und seinen Vorteil nicht mehr in Lügen und Betrug sucht. Dann ist auch die natürliche Seele bereit, die sich nun als geistige Tochter eines wahrheitsliebenden Verstandes von einer reineren Liebe führen läßt und nicht mehr von Begierde beherrscht und getrieben wird.
Hans mein Igel aber hütete seine Schweine, und die Schweine bekamen wieder Schweine und wurden ihrer so viel, daß der ganze Wald voll war. Da wollte Hans mein Igel nicht länger im Walde leben und ließ seinem Vater sagen, sie sollten alle Ställe im Dorf räumen, denn er komme mit einer so großen Herde, daß jeder schlachten könnte, der nur schlachten wolle. Da war sein Vater betrübt, als er das hörte, denn er dachte, Hans mein Igel wäre schon lange gestorben. Hans mein Igel aber setzte sich auf seinen Gockelhahn, trieb die Schweine vor sich her ins Dorf und ließ schlachten. Hu! Da war ein Gemetzel und ein Hacken, daß man‘s zwei Stunden weit hören konnte. Danach sagte Hans mein Igel: „Väterchen, laßt mir meinen Gockelhahn noch einmal in der Schmiede beschlagen, dann reite ich fort und komme mein Lebtag nicht wieder.“ Da ließ der Vater den Gockelhahn beschlagen und war froh, daß Hans mein Igel nicht wiederkommen wollte.
Diese Symbolik ist heutzutage schwer zu verstehen, weil wir die Massentierhaltung aufgrund unserer maßlosen Begierde bereits so übertrieben haben, daß man in keiner Weise mehr von Vernunft reden kann. Damals war das Schwein noch ein weltlicher Reichtum, so daß man sich glücklich schätzte, ein solches schlachten zu dürfen. Davon ist zumindest noch der Begriff „Glücksschwein“ übriggeblieben, und „Schwein gehabt“ bedeutet „Glück gehabt“. Ähnlich galt auch das Hufeisen als ein Glückssymbol, mit dem die Vernunft den Hahn beschlagen ließ, und der Vater war glücklich, seinen Sohn wieder loszuhaben.
Aus geistiger Sicht könnten wir die Schweine als unsere eigenen Verkörperungen sehen, die uns von der Vernunft als vergängliche Materie gegeben wurden, damit der Verstand in dieser Welt der Vergänglichkeit damit leben und davon wachsen kann. So ist unser Körper nur ein Wimpernschlag im Leben des Universums und trägt wie manch anderes „Lebensmittel“ das Etikett: „Nach der Geburt zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt.“ Doch auch diesmal erkannte der Vater als wirkender Geist sein großes Glück nicht, weder den wahren Sinn seines Körpers noch das wahre Wesen seines Sohnes. So wendet sich die Vernunft wieder ab, will sich nicht noch einmal in dieser äußerlichen Form lebendig zeigen und kehrt sich den weltlichen Königen zu, die sich zumindest bewußt wurden, daß sie sich in dieser äußerlichen Welt verirrt hatten und den Weg nach Hause suchten. Damit geht das Märchen in die zweite Runde:
Hans mein Igel ritt fort in das erste Königreich. Da hatte der König befohlen, wenn einer auf einem Hahn geritten käme und einen Dudelsack bei sich hätte, dann sollten alle auf ihn schießen, hauen und stechen, damit er nicht ins Schloß käme. Als nun Hans mein Igel dahergeritten kam, drangen sie mit Bajonetten auf ihn ein, aber er gab dem Hahn die Sporen, flog auf und über das Tor hin vor des Königs Fenster. Da ließ er sich nieder und rief ihm zu, er solle ihm geben, was er versprochen habe, sonst wolle er ihm und seiner Tochter das Leben nehmen. Da gab der König seiner Tochter gute Worte, sie möge zu ihm hinausgehen, damit sie ihm und sich das Leben rette. Da zog sie sich weiß an, und ihr Vater gab ihr einen Wagen mit sechs Pferden und herrliche Diener, Geld und Gut. Sie setzte sich hinein und Hans mein Igel mit seinem Hahn und Dudelsack neben sie. Dann nahmen sie Abschied und zogen fort, und der König dachte, er bekäme sie nicht wieder zu sehen. Es ging aber anders als er dachte, denn als sie ein Stück Weges von der Stadt waren, da zog ihr Hans mein Igel die schönen Kleider aus und stach sie mit seiner Igelhaut, bis sie ganz blutig war, und sagte: „Das ist der Lohn für eure Falschheit, geh hin, ich will dich nicht!“ Damit jagte er sie nach Hause, und so war sie ihr Lebtag lang beschimpft.
Auch heute leben die meisten Menschen in einem solchen Königreich, wo die reine Vernunft praktisch verboten wurde und überall verfolgt und getötet wird, weil der eigenwillige Egoismus regiert, für den die ganzheitliche Sicht der Vernunft eine essentielle Bedrohung ist. Deshalb brauchen wir uns auch nicht zu wundern, daß heutzutage kaum noch jemand den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft oder Ich und Selbst kennt. Damit hat der begriffliche Ego-Verstand alles im Griff und beschützt sein kleines Königreich, so gut er kann. Doch die Vernunft läßt sich weder ergreifen noch töten, sondern dringt durch jede Mauer und über jedes Tor vor die Fenster des Königs, das heißt, vor die körperlichen Sinne mit dem Denken. Dort ruft sie den König zur Wahrhaftigkeit, dessen taubes Ego aber gewöhnlich erst reagiert, wenn größte Vernichtung droht und keine andere Rettung mehr für sein Leben mit all seinem vermeintlichen Eigentum ersichtlich ist. Denn die Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein ist nun einmal die wahre Grundlage des Lebens, und nicht der begriffliche Ego-Verstand, der so gern die Welt als König regieren will. Deshalb lebt er auch in ständiger Angst, daß seine illusionäre Ego-Blase zerplatzen und sterben könnte, und verkauft dafür sogar seine Seele und hofft, sich mit Gut und Geld retten zu können. Doch schließlich bleibt für eine natürliche Seele, die keine Vernunft kennt und das ganzheitliche Bewußtsein nicht liebt, das hinter jeder äußeren Form lebt, diese Welt voller Stacheln und Dornen im Spiel der Gegensätze, und sie wird in ihrem ganzen Leben nicht froh. Dagegen helfen auch die schönsten und reinsten Kleider nicht, die sie äußerlich trägt, sowie alle Diener und alles Geld und Gut der Welt.
Hans mein Igel aber ritt weiter auf seinem Gockelhahn und mit seinem Dudelsack zum zweiten Königreich, wo er dem König auch den Weg gezeigt hatte. Der aber hatte bestellt, wenn einer käme, wie Hans mein Igel, sollten sie das Gewehr präsentieren, ihn frei hereinführen, „Vivat!“ rufen und ihn ins königliche Schloß bringen. Als ihn nun die Königstochter sah, war sie erschrocken, weil er doch gar zu wunderlich aussah. Sie dachte aber, es wäre nicht anders, und sie hatte es doch ihrem Vater versprochen. Da wurde Hans mein Igel von ihr willkommen geheißen und mit ihr vermählt. Und er mußte mit an die königliche Tafel gehen, und sie setzte sich an seine Seite, und sie aßen und tranken. Als es nun Abend wurde und sie schlafen gehen wollten, da fürchtete sie sich sehr vor seinen Stacheln. Er aber sprach, sie sollte sich nicht fürchten, es geschähe ihr kein Leid, und sagte zu dem alten König, er solle vier Mann bestellen, die vor der Kammertür wachen und ein großes Feuer anmachen sollten. Und wenn er in die Kammer ginge und sich ins Bett legen wolle, würde er aus seiner Igelhaut herauskriechen und sie vor dem Bett liegenlassen. Dann sollten die Männer hurtig herbeispringen und sie ins Feuer werfen, auch dabeibleiben, bis sie vom Feuer verzehrt ist.
Wo nun der weltliche Verstand für die Wahrheit offen ist und die Vernunft nicht als Feind betrachtet, sondern im Laufe der menschlichen Entwicklung erwartet und willkommen heißt, dort geht der Mensch einen anderen Weg. Auch wenn sich die natürliche Seele zunächst vor dieser ungewohnten Sicht fürchtet, so bleibt sie doch ihrem Vater treu und vertraut ihm und schließlich auch dem Versprechen der Vernunft, daß man sie nicht fürchten muß. Denn schließlich ist die ganzheitliche Vernunft der Weg aus dem Leiden und nicht der gedankliche Verstand. Und wenn die Vernunft in die Kammer der Seele eingeht und die mystische Hochzeit vollbracht wird, dann hat der Verstand die Chance die stachlige Igelhaut der weltlichen Gegensätze zu verbrennen und das Leiden an der Ursache aufzulösen. So erinnern uns die vier Männer vor der Kammertür an die geistige Macht der vier Elemente von Erde, Wasser, Wind und Feuer in der äußerlichen Welt, die als Diener des Verstandes das alchemistische Feuer entfachen können, um die Gegensätze zwischen Geist und Materie und damit auch zwischen Vernunft und Verstand zu verbrennen. Das ist der große Weg, um das trennende Ichbewußtsein des Egos aufzulösen und die alchemistisch-mystische Hochzeit der Ganzheitlichkeit zu feiern. Denn alles Leiden hat seine Ursache in diesem Ego-Bewußtsein der Trennung, daraus Begierde und Haß entstehen, Anhaftung und Abwehren, so daß der Mensch unter den weltlichen Gegensätzen leiden muß und darin gefangen bleibt.
Wie die Glocke nun Elfe schlug, da ging er in die Kammer, streifte die Igelhaut ab und ließ sie vor dem Bett liegen. Da kamen die Männer, holten sie geschwind und warfen sie ins Feuer. Und als sie das Feuer verzehrt hatte, da war er erlöst und lag da im Bett ganz als ein Mensch gestaltet, aber er war kohlschwarz wie gebrannt. Der König schickte nach seinem Arzt, der wusch ihn mit guten Salben und balsamierte ihn, da wurde er weiß und war ein schöner junger Herr. Als das die Königstochter sah, war sie froh, und am anderen Morgen standen sie mit Freuden auf, aßen und tranken, und nun wurde die Vermählung erst recht gefeiert, und Hans mein Igel bekam das Königreich von dem alten König.
Wenn diese stachlige Igelhaut verbrannt wird und verschwindet, hat die äußerliche Welt der vier Elemente ihre Aufgabe vollbracht und der Mensch ist wieder „ganz“, ein vernünftiger Mensch, der seine Tierhaut abgelegt hat und sein ganzheitliches Wesen erkennt. Praktisch kann das ein sehr schmerzlicher Prozeß an der Grenze zwischen der inneren und äußeren Welt sein. Und was zuvor ganz dunkel, verhüllt und unerkennbar war, kann nun der „Arzt“ des Verstandes wieder hell, strahlend und erkennbar machen. Damit erinnert uns der „Arzt“ an den Heiligen Geist, der jegliche Trennung heilt und alles wieder im reinen Licht erkennen läßt. Das ist der Königsweg zum Happy-End, und die Vernunft wird wieder König in einem Reich, wo Seele, Verstand und Vernunft glücklich geheilt und vereint sind. Zu beachten ist, daß in diesem Prozeß, der am Ende des weltlichen Tages stattfindet, wenn die Glocke Elf schlägt, der Verstand als weltlicher König selbst nichts machen kann, als die Heilung zuzulassen. So sollte der Verstand weder den heilsamen Geist als Arzt und Heiler noch das geistige Wirken der Vergänglichkeit in den vier Elementen der Natur verweigern.
Als etliche Jahre herum waren, fuhr er mit seiner Gemahlin zu seinem Vater und sagte, er sei sein Sohn. Der Vater aber sprach, er habe keinen, er habe nur einen gehabt, der wäre aber wie ein Igel mit Stacheln geboren worden und in die Welt gegangen. Da gab er sich zu erkennen, und der alte Vater freute sich und ging mit ihm in sein Königreich.
Mein Märchen ist aus,
und geht vor Gustchen sein Haus.
Möge dieses Märchen auch an unsere Tür anklopfen!
Zum Abschluß möchten wir noch ein kleines Highlight empfehlen, ein Hoffnungsschimmer und fast schon ein Wunder: Ein moderner Märchenfilm von 2024 ohne die üblichen politischen Klischees, ja, nicht einmal eine emanzipierte Prinzessin, sondern eine überraschende Botschaft: Rettet die alten Märchen! Und unsere Kinder sollen wieder ganz fest daran glauben. Die Märchenfiguren werden lebendig, und die Eltern sollen Vertrauen haben, daß ihre Kinder aus der Märchenwelt zurückkehren. Ja, liebe Eltern, eure Kinder sind nicht „strunzdumm“, so daß sie aus der märchenhaften Phantasiewelt nicht wieder zurückfinden! Im Gegenteil, sie können dort die Liebegüte finden, den tieferen Sinn der Märchen im Rad der Zeit entdecken und sie vor dem „dicken Ende“ retten, dem überfressenen Materialismus, der jede Phantasie vernichtet. Und die im Hamsterrad gefangenen Eltern sollten auch selbst wieder an die alten Märchen glauben und sich Zeit nehmen, sie ihren Kindern vorzulesen, denn sie seien im Räderwerk der Zeit wichtig, damit es reibungslos und im friedlichen Miteinander laufen kann. Wow! Entsprechend kümmern sich in diesem Film drei Märchenfiguren um die Eltern, und zwei um die Kinder, interessanterweise sogar Hexe und Teufel, die sie zusammen in die Märchenwelt begleiten, ihr eigenes vielfältiges Wesen zeigen, selbst die Liebe entdecken und damit auch die Kinder wieder zurückbringen. Ohja, darüber könnten auch Erwachsene viel nachdenken. Es ist „Das Märchen von der silbernen Brücke“, die später im Leben sogar eine goldene werden könnte, um unsere äußere und innere Welt zu vereinen. Und das Ganze in voller Länge in der ARD-Mediathek und im Kika als ein „echtstarker Anfang“. Viel Spaß!
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
• Die goldene Gans - (Thema: wahre Ganzheit erkennen)
• Die Gänsemagd - (Thema: Einheit und Vielfalt)
• König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
• Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
• Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
• Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
• Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
• Der Hase und der Igel - (Thema: Ich bin schon da)
• Hans mein Igel (Thema: Vernunft und Natur)
• Der Dummling - (Thema: Wesen des Meeres)
• Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857 |