Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Hase und der Igel

Nach dem deutschen und plattdeutschen Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Sankt Augustinus sagt: Die Heilige Schrift lacht anfangs junge Kinder an und lockt das Kind an sich; am Ende aber, wenn man die Schrift ergründen will, spottet sie weiser Leute; und niemand ist so einfältigen Sinnes, daß er darin nicht fände, was ihm gemäß ist; und wiederum ist niemand so weise, daß, wenn er sie ergründen will, er sie nicht (jeweils noch) tiefer und mehr darin findet. Alles, was wir hier (auf Erden) hören können und alles, was man uns zu sagen vermag, das hat alles darin einen weiteren, verborgenen Sinn. Denn alles, was wir hier verstehen, das ist alles dem, was es in sich selbst ist, und dem, was es in Gott ist, so ungleich, als wenn es gar nicht wäre. (Meister Eckhart, Predigt 24)

Ähnliches können wir auch von vielen alten Märchen sagen, wie wir es selbst erfahren haben, denn man kann mit ihnen in die tiefsten Tiefen vordringen. Ein Beispiel: Wer kennt sie nicht, die alte Kindergeschichte von „Hase und Igel“, wie der kluge Igel den dummen Hasen überlistet? Doch vielleicht will uns dieses Märchen noch viel mehr sagen, und sogar noch den erwachsenen Kindern? Und es geht gleich tiefsinnig los:

Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: „Wahr muß sie sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.“

Natürlich wissen wir, daß dieses Märchen eine symbolische Geschichte ist, und daß Symbole nur bezüglich ihrer Bedeutung wahr sind. Von ihrer Bedeutung getrennt kann man sie sicherlich auch als Lüge bezeichnen. Gilt das vielleicht für alles, was wir in dieser Welt sehen und „wahrnehmen“ bzw. für wahr nehmen? Und was ist dann die Wahrheit, die reine Quelle, aus der alle Geschichten mit ihren Symbolen kommen, bis zu unserer eigenen Lebensgeschichte? Wer erzählt sie? Wer hört sie?

Die Geschichte aber hat sich so zugetragen: Es war an einem Sonntagmorgen im Herbst, gerade als der Buchweizen blühte. Die Sonne war am Himmel aufgegangen, und der Wind strich warm über die Stoppeln, die Lerchen sangen hoch in der Luft, und die Bienen summten im Buchweizen. Die Leute gingen in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche, und alle Geschöpfe waren vergnügt, auch der Igel. Er stand vor seiner Tür, hatte die Arme verschränkt, guckte in den Morgenwind hinaus und trällerte ein kleines Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht wie am Sonntagmorgen ein Igel eben zu singen pflegt. Während er nun so vor sich hinsang, fiel ihm plötzlich ein, er könnte doch, während seine Frau die Kinder wusch und ankleidete, ein bißchen im Feld spazierengehen und nachsehen, wie die Steckrüben standen. Die Steckrüben waren ganz nah bei seinem Haus, und er pflegte mit seiner Familie davon zu essen, darum sah er sie auch als die seinigen an.

Ja, so eine schöne, sonnige und heile Welt wünschen wir uns. Ein Sonntag, an dem alle mühevolle Arbeit ruht, und wir zeigen uns von unserer besten Seite und wenden den Sinn in die heilige Kirche, wo man von einer Wahrheit spricht, die weit über unseren mühseligen Alltag hinausgeht. Was ist das für ein Geist in uns, der vor die Tür seines körperlichen Hauses tritt, alles wunderbar und vollkommen findet, und alles, von dem er zu leben pflegt, sein Eigen nennt? Hier können wir wieder Geist und Natur als Vater und Mutter finden: Der wirkende Geist, der für die Ernährung sorgt, und die gebärende Natur, die ihren Kindern das Kleid gibt und für die Reinigung sorgt. Wenn beide harmonisch vereint sind, wird es sicherlich ein schönes Leben sein, denn hinter den äußerlichen Rollen, sind sie doch beide ein einziges Bewußtsein, wie es auch diesen Begriff nicht in der Mehrzahl gibt. Nur durch die Rollen und Kleider, mit denen sich das Bewußtsein identifiziert, erscheinen sie unterschiedlich. Daß sie ansonsten nicht zu unterscheiden sind, wird uns später im Märchen noch begegnen. Und dieses „Be-Wußt-Sein“ meinen wir hier im weitesten Sinne als ein bewegtes und wirkendes Wissen, als eine Information im Sein. In dieser Hinsicht ist es praktisch die „Information“, die zu einer „Ausformung“ wird. Und so treibt es nun den wirkenden Geist durch die Kraft der Gedanken in die Welt:

Gedacht, getan. Er schloß die Haustür hinter sich und schlug den Weg zum Feld ein. Er war noch nicht sehr weit und wollte gerade um den Schlehenbusch herum, der vor dem Feld stand, als er den Hasen erblickte, der in ähnlichen Geschäften ausgegangen war, nämlich um seinen Kohl zu besehen. Als der Igel den Hasen sah, wünschte er ihm freundlich einen guten Morgen. Der Hase aber, der auf seine Weise ein vornehmer Herr war und grausam hochfahrend noch dazu, antwortete nicht auf des Igels Gruß, sondern sprach mit höhnischer Miene.

Damit begegnet uns nun das Bewußtsein auf verschiedenen Ebenen. Zuerst als Igel, der sich von der Wurzel in Form der goldgelben Steckrüben ernährt und freundlich in einer gemeinschaftlich-harmonischen Welt lebt. Und dann der stolze und überhebliche Hase, der von den äußerlichen Blättern der Kohlköpfe lebt und sich als etwas Höheres, Überlegeneres und Besseres dünkt. Diese symbolische Darstellung erinnert uns zuerst an die Vernunft eines ganzheitlich schauenden Bewußtseins und dann an den Verstand eines überheblichen Ichbewußtseins, der überall in der Welt Trennung und Gegensätze sieht, wie Mein und Dein, Gut und Schlecht, Glück und Leid, Wahr und Falsch oder Leben und Tod. So lebt der eine in einer heilen Welt des Friedens, und der andere in einer unzufriedenen Welt des Angriffs und Konkurrenzkampfes.

Der Hase sprach: „Wie kommt es, daß du hier schon so am frühen Morgen im Feld herumläufst?“ - „Ich gehe spazieren“, sagte der Igel. - „Spazieren?“, lachte der Hase: „Ja, du kannst wohl deine Beine nicht zu besseren Dingen gebrauchen.“ - Diese Antwort verdroß den Igel sehr. Alles kann er vertragen, aber auf seine Beine läßt er nichts kommen, gerade weil sie von Natur aus krumm sind.

Über die symbolischen Formen von Igel und Hase kann man lange nachdenken. Wie der Igel sich zusammenrollt und seine Stacheln nach außen richtet, wenn man ihn ergreifen will, so verschließt sich auch die ganzheitliche Vernunft, wenn sie vom gedanklichen Verstand er- oder begriffen werden will, und wird zum dichten Wald unserer äußerlichen Vorstellungen, die uns dann als schmerzliche Gegensätze ringsherum die Sicht verstellen. So braucht auch die Vernunft keine schnellen Beine, denn als ganzheitliche Sicht muß sie nicht ständig von einem Baum bzw. Standpunkt zum nächsten rennen, wie es der gedankliche Verstand im Spiel der gegensätzlichen Ansichten macht, weil er den „Wald vor lauter Bäume nicht sieht“, das heißt, das Ganze vor lauter Einzelteilen. Entsprechend steht auch der Hase als „Angsthase“ für die typische innere Angst, die unser äußerlich so stolzes Ego in diesem Versteckspiel des Verstandes hat. Das ist eine wesenhafte und endlose Angst, immerzu irgendetwas zu verlieren oder nicht zu gewinnen, eben weil es ein trennendes Ichbewußtsein ist. Damit lebt es in einer unzufriedenen Welt des Angriffs und jagt mit schnellen Beinen entweder irgendeinem Gewinn nach, um sich zu bereichern, oder muß die Flucht ergreifen, um sich selbst und sein vermeintliches Eigentum zu retten. Wer kennt es nicht, dieses Jagen in der Welt?

„Du bildest dir wohl ein, du könntest mit deinen Beinen mehr ausrichten?“, sagte der Igel. - „Das will ich meinen“, antwortete der Hase. - „Nun, das kommt auf einen Versuch an“, meinte der Igel: „Ich wette, wenn wir um die Wette laufen, dann laufe ich schneller als du.“ - „Das ist ja zum Lachen, du mit deinen krummen Beinen!“, sagte der Hase: „Aber meinetwegen, wenn du so große Lust hast: Was gilt die Wette?“ - „Eine Goldmünze und eine Flasche Branntwein“, sagte der Igel. - „Angenommen!“, sagte der Hase: „Schlag ein, und dann kann es gleich losgehen.“

Und doch ist sich die Vernunft sicher, daß sie schneller und beweglicher ist, als der gedankliche Verstand, der die ganzheitliche Vernunft als langweilig und träge betrachtet. Das ist auch eine typische Vision des Verstandes vom Himmel, wo die Engel auf Wolken sitzen, Harfe spielen und der Gottheit „Halleluja“ singen, während hier auf Erden das interessante, ereignisreiche und abenteuerliche Leben winkt. Und doch ist der Himmel viel größer und weiter als die Erde, und die Wesen können sich im Himmel viel schneller und leichter bewegen als auf und in der Erde. So ist auch das Licht schneller als jegliche Materie, und der Himmel gilt als Inbegriff des reinen Lichtes. Und dieses Licht soll „langweilig“ sein? Materie ist langweilig und vielleicht sogar das Langweiligste und Trägste im ganzen Universum. Doch der Ego-Verstand will es nicht glauben, weil er seine „Eigenständigkeit“ im ganzheitlichen Licht nicht verlieren will.

So kommt es nun zu einem Kräftemessen zwischen den beiden, und der Gewinn soll „eine Goldmünze und eine Flasche Branntwein“ sein. Als Symbole können wir hier an das Gold der Wahrheit denken, die damit in der Welt zur „Geltung“ kommt, wie auch eine Münze für unseren Verstand Geltung hat. Die Flasche Branntwein wäre eher ein Gewinn für den Verstand, wenn er diesen Wettkampf gewinnen würde, um seinen Rausch der Illusion zu vermehren. Doch auch für die Vernunft hat diese Illusionskraft ihre Bedeutung, vor allem in der Schöpfung, um aus dem ganzheitlichen Licht die weltliche Vielfalt erscheinen zu lassen. Doch im Gegensatz zum Verstand, wird die Vernunft von dieser Illusionskraft nicht beherrscht, sondern herrscht über sie, wie Gott über die Welt. So dient der Branntwein für den einen zur Sucht und für den anderen zur Medizin.

„Nein, so große Eile hat es nicht“, meinte der Igel, „ich hab' noch gar nichts gegessen. Erst will ich nach Hause gehen und ein bißchen was frühstücken. In einer Stunde bin ich wieder hier.“

Hier zeigt sich nun bereits die Ungeduld unseres Verstandes, und wie die Vernunft von uns Geduld fordert. Und wovon ernährt sich die ganzheitliche Vernunft in dieser Zeit, wenn der eigenwillige Verstand ungeduldig wartet? Natürlich von der reinen Quelle der göttlichen bzw. ganzheitlichen Intuition. Also wie oben symbolisch beschrieben, eine goldgelbe „Steckrübe“ als Wurzel mit dem Gold der Wahrheit im Gegensatz zum „Kohlkopf“ mit den vielfältigen Schichten der wirr verwachsenen Blätter unserer verkopften Gedanken.

Ist es möglich, daß er eine Stunde oder weniger von seinem innerlichen Ich-Wollen und Ich-Sprechen stillstehen kann, dann wird ihm das göttliche Wollen einsprechen. Durch dieses Einsprechen verinnerlicht sein Wollen das Wollen Gottes, das nun dem bildlichen, natürlichen, wesentlichen und äußeren Verstandesleben einspricht und die irdische Bildung des Verstandeswillens zerbricht und erleuchtet, so daß zugleich das übersinnliche göttliche Leben und Wollen im Verstandeswollen grünt und sich ganzheitlich verinnerlicht. (Jacob Böhme, Die hochteure Pforte von göttlicher Beschaulichkeit 2.17)

Damit ging er, und der Hase war es zufrieden. Unterwegs aber dachte der Igel bei sich: „Der Hase verläßt sich auf seine langen Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er ist zwar ein vornehmer Herr, aber doch ein dummer Kerl, und das soll er bezahlen.“

Als er nun nach Hause kam, sprach er zu seiner Frau: „Frau, zieh dich rasch an, du mußt mit mir ins Feld hinaus.“ - „Was gibt es denn?“, fragte die Frau. - „Ich habe mit dem Hasen um eine Goldmünze und eine Flasche Branntwein gewettet, daß ich mit ihm um die Wette laufen will. Und du sollst mit dabei sein.“ - „Oh mein Gott, Mann!“, fing nun die Frau des Igels zu jammen an: „Bist du nicht gescheit? Hast du denn ganz den Verstand verloren? Wie willst du mit dem Hasen um die Wette laufen?“ - „Sei ruhig, Frau“, sagte der Igel, „das ist meine Sache. Misch dich nicht in Männergeschäfte! Marsch, zieh dich an und komm mit!“ Was sollte also die Frau des Igels tun? Sie mußte gehorchen, ob sie wollte oder nicht.

Solche Gespräche haben wir sicherlich schon alle in unserem Inneren erfahren. Die Vernunft weiß, daß sie dem Verstand überlegen ist. Doch wenn es um die praktische Verwirklichung geht, mahnt uns gewöhnlich Mutter Natur, daß wir doch den Verstand nicht verlieren sollen, der den Körper ernährt und erhält. Wir müssen auch in dieser Welt den Verstand nicht verlieren, problematisch wird es nur, wenn der Verstand die Vernunft verliert. So ist dieser Kampf zwischen Vernunft und Verstand um die Überlegenheit bzw. Herrschaft zunächst ein typisches „Männergeschäft“, also ein Problem des Geistes. Und Mutter Natur dient dem Geist bzw. Bewußtsein „ob sie will oder nicht“, denn wie bereits gesagt, beide sind im Grunde ein gleiches Wesen, das sich nur gedanklich durch Begriffe trennen läßt und dem Verstand äußerlich unterschiedlich erscheint.

So sagt auch in der Bibel das Christusbewußtsein als ganzheitlicher Ursprung von allem: »Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ehe denn Abraham wurde, bin ich. (Joh. 8.58

Als sie miteinander unterwegs waren, sprach der Igel zu seiner Frau: „Nun paß auf, was ich dir sage. Dort auf dem langen Acker will ich unseren Wettlauf machen. Der Hase läuft in einer Furche, und ich in der anderen, und dort oben fangen wir an. Du hast nun weiter nichts zu tun, als daß du dich hier unten in die Furche stellst, und wenn der Hase in seiner Furche daherkommt, so rufst du ihm entgegen: „Ich bin schon da!“

So kamen sie zu dem Acker, der Igel wies seiner Frau ihren Platz an und ging den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. „Kann es losgehen?“, fragte er. - „Jawohl“, erwiderte der Igel. „Dann nur zu.“ Damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte „Eins, zwei, drei“, und los ging es wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Igel aber lief nur etwa drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche hinein und blieb ruhig sitzen. Und als der Hase im vollen Lauf am Ziel unten am Acker ankam, rief ihm die Frau des Igels entgegen: „Ich bin schon da!“ Der Hase war nicht wenig erstaunt, glaubte er doch nichts anderes, als daß er den Igel selbst vor sich hatte, denn bekanntlich sieht Frau Igel genauso aus wie ihr Mann. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu!“, rief er: „Noch einmal gelaufen, in die andere Richtung!“ Und fort ging es wieder wie der Sturmwind, daß ihm die Ohren am Kopf flogen. Die Frau des Igels aber blieb ruhig an ihrem Platz sitzen, und als der Hase oben ankam, rief ihm der Herr Igel entgegen: „Ich bin schon da!“

Damit kommen wir nun zum tiefen Kern dieses Märchens. Denn die Vernunft weiß, egal wo der Verstand hinläuft und irgendetwas ergreifen will, daß Geist und Natur bereits da sind, als ein reines Bewußtsein, daß natürlich überall gegenwärtig ist. Denn ohne Bewußtsein könnte auch der Verstand nichts erkennen und kein Ziel erreichen. Und doch kann es der gedankliche Verstand nicht verstehen, wenn er die ganzheitliche Vernunft verloren hat. So versucht er es immer wieder in jede Richtung und will schneller sein als das ganzheitliche Bewußtsein, daß schon überall gleichzeitig da ist. Wie lächerlich! Und doch ist es der gewöhnliche Zustand unseres Verstandes, und wir ärgern uns darüber:

Der Hase war ganz außer sich vor Ärger und schrie: „Noch einmal gelaufen, noch einmal herum!“ - „Meinetwegen“, gab der Igel zurück: „Sooft du Lust hast.“ So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Igel hielt immer mit. Und jedes Mal, wenn der Hase oben oder unten am Ziel ankam, sagten der Igel oder seine Frau: „Ich bin schon da.“ Beim vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr ans Ziel. Mitten auf dem Acker fiel er zu Boden, das Blut floß ihm aus der Nase, und er blieb tot liegen.

Wer kennt das nicht, wenn die Gedanken endlos in den gleichen Furchen hin- und herlaufen und ihr Ziel nicht erreichen können?! Und dafür zeigt uns hier dieses Märchen eine vorzügliche Methode, die man auch aus der Yoga-Meditation kennt. Wann immer uns ein Gedanke irgendwohin treibt, sagen wir uns: „Ich bin schon da!“ Das ist das Bewußtwerden des reinen Bewußtseins, das mühelos schon immer da ist, wohin der Verstand auch läuft und welches Ziel er erreichen will. So kann man mit dieser Übung beobachten, wie sich die Gedanken praktisch „totlaufen“ und irgendwann zur Ruhe kommen müssen, wenn man ihr Ziel nicht bestätigt und sie gewinnen läßt. Ja, das kann oft sehr lange dauern und ein schmerzlicher Prozeß sein. Doch der Sieg der Vernunft ist eigentlich sicher, denn niemals wird ein Gedanke schneller sein als das Bewußtsein selbst. Auf diesem Weg haben schon viele den egoistischen Verstand besiegt und unvergleichlich hohe Bewußtseinsebenen bis zum reinen Gewahrsein verwirklicht, die der Verstand niemals begreifen kann, wie zum Beispiel Nisargadatta Maharaj in seinem Buch „Ich Bin“ beschreibt, was im Grunde auch nichts anderes bedeutet als „Ich bin schon da!“.

Der Igel aber nahm seine gewonnene Goldmünze und die Flasche Branntwein, rief seine Frau von ihrem Platz am Ende der Furche, und vergnügt gingen beide nach Hause. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.

Happy-End! Wie der Igel mit seiner Frau, so könnten auch wir als Einheit von Geist und Natur mit dem Gewinn der goldenen Wahrheit und der Herrschaft über die Illusion „nach Hause“ kommen, in unsere wahre Heimat, wo das reine Bewußtsein ewig „vergnügt“ und glückselig lebt. Es sei denn, es trinkt wieder vom Feuerwasser oder „Branntwein“ der Leidenschaft und stellt sich vor, in einem sterblichen Körper mit einem Verstand zu leben, der die Vernunft verloren hat.

So geschah es, daß auf der Buxtehuder Heide der Igel den Hasen zu Tode gelaufen hatte, und seit jener Zeit hat kein Hase mehr gewagt, mit dem Buxtehuder Igel um die Wette zu laufen.

Die Lehre aber aus dieser Geschichte ist erstens, daß sich keiner, und wenn er sich auch noch so vornehm dünkt, einfallen lassen soll, sich über einen kleinen Mann lustig zu machen, und wäre es auch nur ein Igel. Und zweitens, daß es gut ist, wenn einer heiratet, daß er sich eine Frau von seinem Stand nimmt, die geradeso aussieht wie er. Wer also ein Igel ist, der muß darauf sehen, daß auch seine Frau ein Igel ist.

Aus dieser Sicht kann man nun darüber nachdenken, inwieweit der Igel den Hasen betrogen hat, oder ob der Verstand nur sich selbst betrügt, wenn er mit überheblichem Stolz glaubt, der Größte in dieser Welt zu sein. Darum ist es schließlich immer gut, wenn sich das Bewußtsein in der berühmten „Selbsterkenntnis“ mit sich selbst vereint, anstatt sich mit irgendwelchen äußerlichen Illusionen zu verbinden, auch wenn sie noch so begehrenswert erscheinen. Und damit kennen wir nun wieder so ein wundervolles Märchen, das „anfangs kleine Kinder anlockt und später weiser Leute spottet“. Danke, Danke, OM!

Eine ähnlich symbolische Geschichte über einen Wettlauf zwischen Vernunft und Verstand kann man übrigens auch in den alten indischen Überlieferungen finden. Eine Version steht zum Beispiel im Shiva-Purana 6.19: Shiva und Parvati, die man als Höchsten Geist und Höchste Natur betrachten kann, hatten zwei Söhne. Der eine war Ganesha, der als Beseitiger von weltlichen Hindernissen und Anführer der Geisterschar gilt und damit auch als Kraft der Weisheit. Der andere war Kartikeya, der als Heerführer der Götter im Kampf gegen die Dämonen dient. Als sie heiraten sollten, wollte jeder der erste sein, und so sprachen die Eltern:
„Liebe Söhne, wir haben eure Heirat beschlossen, um euer Glück zu mehren. Hört uns zu, denn wir sprechen die Wahrheit. Ihr seid beide gute Söhne, und wir lieben euch gleichermaßen. In unseren Augen gibt es keinen Unterschied zwischen euch. Doch es gibt eine Bedingung, die nützlich und sinnvoll ist. Es wird derjenige von euch zuerst heiraten, der als erster die gesamte Welt umrundet hat.“

Der sechsköpfige Kartikeya stürmte auf seinem stolzen Pfau, den er als Reittier nutzte, sogleich voran. Doch Ganesha mit dem großen Elefantenkopf, dessen Reittier nur eine kleine unscheinbare Maus war, begann zuerst in Ruhe zu überlegen. Dann ließ er seine beiden Eltern Shiva und Parvati gemeinsam auf einem Thron platznehmen und umrundete sie siebenmal voller Verehrung. Damit umrundete er seine ganzheitliche Quelle, die Einheit von Geist und Natur als reines Bewußtsein bzw. Gewahrsein, darin alle Welten und Formen erscheinen, während sein Bruder versuchte, die äußerliche Welt zu bezwingen, ihre äußeren Grenzen zu erreichen und die Vielfalt der Formen zu umrunden. Auf diese Weise gewann Ganesha den Wettkampf, wurde mit Siddhi und Buddhi verheiratet, den übernatürlichen Fähigkeiten und der ganzheitlichen Vernunft, während sein Bruder als begrifflicher Verstand immer noch unterwegs war. Und als er nach einiger Zeit von seiner Weltumrundung zurückkehrte, fühlte er sich von seinen Eltern betrogen, zog sich zornig zurück und wollte nun gar nicht mehr heiraten. Das heißt, er konnte in der Richtung, in der er die ganze Welt suchte, die ewige Einheit von Geist und Natur nicht finden. OM

Zeit und Licht

„Ich bin schon da!“ Was bedeutet es, in der ewigen Gegenwart des Jetzt zu leben, und nicht in der vergänglichen Zeit? Was ist Zeit? Nachdem wir im vorvorletzten Märchen von „der alten Hexe“ zum Abschluß über „Klang und Form“ nachgedacht haben, möchten wir nun hier über „Zeit und Licht“ nachdenken und zunächst der Frage nachgehen, wie Klang und Zeit zusammenhängen. Wir wissen ja, daß in jeder Uhr irgendeine Schwingung als Basis für die Zeitmessung verwendet wird. Und Klang ist im Grunde auch nur Schwingung, das heißt, die periodische Veränderung irgendeines Zustandes. Ähnlich kennen wir auch das sichtbare Licht als elektromagnetische Schwingungen mit verschiedenen Wellenlängen bzw. Frequenzen, die dann in verschiedenen Farben erscheinen. Und daß alle Schwingungen, Veränderungen und Bewegungen nichts Absolutes sind, sondern relativ geschehen, weiß auch die moderne Wissenschaft spätestens seit Albert Einstein und seiner Relativitätstheorie. Deshalb ist auch die Zeit etwas Relatives.

Doch schauen wir zunächst in die historische Geschichte. Schon die antiken Philosophen beschäftigten sich intensiv mit diesem Thema, und so lesen wir bei Wikipedia:
Heraklits Flußbilder, die vom gleichbleibenden Flußbett symbolisiert werden, in dem aber alles fließt (panta rhei), stehen als Metapher für die Zeit. Unwandelbare periodische Übergänge von Tag und Nacht, also die Beständigkeit des Flußlaufes, und die Dynamik seines Fließens stehen als die Einheit der Gegensätze. Für Platon haben Raum und Zeit keine Wesenheit, sondern sind nur bewegte Abbilder des eigentlich Seienden (Ideenlehre). Für Aristoteles ist der Zeitbegriff untrennbar an Veränderungen gebunden, Zeit ist das Maß jeder Bewegung und kann nur durch diese gemessen werden. Sie läßt sich in unendlich viele Zeitintervalle einteilen (Kontinuum). Augustinus unterscheidet erstmals zwischen einer physikalisch exakten (meßbaren) und einer subjektiven, erlebnisbezogenen Zeit. Zeit und Raum entstanden erst durch Gottes Schöpfung, für den alles eine Gegenwart ist. Das Geheimnis der Zeit faßt Augustinus in folgendem Ausspruch zusammen: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“

Ähnlich sagt auch um 1300 Meister Eckhart in seinen Predigten:
„Die Tage, die seit sechs oder sieben Tagen verflossen sind, und die Tage, die da waren vor sechstausend Jahren, die sind dem heutigen Tage so nahe wie der Tag, der gestern war. Warum? Weil da die Zeit in einem gegenwärtigen Nun ist. (Predigt 11)

Ich habe schon manchmal gesagt, Gott erschaffe diese ganze Welt voll und ganz in diesem Nun. Alles, was Gott je vor sechstausend und mehr Jahren erschuf, als er die Welt machte, das erschafft Gott jetzt allzumal. Gott ist in allen Dingen; aber soweit Gott göttlich und soweit Gott vernünftig ist, ist Gott nirgends so eigentlich wie in der Seele und in den Engeln, wenn du willst: im Innersten der Seele und im Höchsten der Seele. Und wenn ich sage »das Innerste«, so meine ich das Höchste; und wenn ich sage »das Höchste«, so meine ich das Innerste der Seele. Im Innersten und im Höchsten der Seele: ich meine sie (dort) beide als in Einem. Dort, wo niemals Zeit eindrang, niemals ein Bild hineinleuchtete: im Innerstern und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren, und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird, wenn die Welt (noch) so lange besteht, das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele. Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele. (Predigt 43)

Es gibt ein oberstes Teil der Seele, das steht erhaben über die Zeit und weiß nichts von der Zeit noch vom Leibe. Alles, was je geschah vor tausend Jahren - der Tag, der vor tausend Jahren war, der ist in der Ewigkeit nicht entfernter als der Zeitpunkt, in dem ich jetzt eben stehe, oder (auch) der Tag, der nach tausend Jahren oder so weit du zählen kannst, kommen wird, der ist in der Ewigkeit nicht entfernter als dieser Zeitpunkt, in dem ich eben jetzt stehe… O, wie edel ist jene Kraft, die da über die Zeit erhaben steht und ohne Stätte ist! Denn damit, daß sie über die Zeit erhaben steht, hält sie alle Zeit in sich beschlossen und ist sie alle Zeit. Wie wenig einer aber auch von dem besäße, was da über die Zeit erhaben ist, er wäre doch gar schnell reich geworden; denn, was jenseits des Meeres liegt, das ist jener Kraft nicht entfernter, als was jetzt gegenwärtig ist. (Predigt 49)“

Wow! Die Vorstellung, daß unsere Welt ca. 6.000 Jahre alt ist, kommt vor allem von zwei Sprüchen der Bibel, wo es heißt:
»Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. (Psalm 90.4
»Eins aber sei euch unverhalten, ihr Lieben, daß ein Tag vor dem Herrn ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag. (
2. Petrus 3.8

So hat auch Martin Luther um 1500 den Anfang der Schöpfung auf 3.970 Jahre vor Christi Geburt berechnet. Demnach müßten im Jahre 2030 die 6.000 Jahre der sechs Schöpfungstage vollendet werden, und darauf folgt der Ruhetag als tausendjähriger Sabbath.

Auf diese Berechnung bezieht sich um 1600 auch der christliche Seher Jacob Böhme, doch er ist sich auch bewußt, daß die Zeit nichts Absolutes ist, sondern eine relative Wahrnehmung in unserem Licht des Bewußtseins, wenn er schreibt:
„So ist auch das Alte vor tausend Jahren im Licht so nah und leicht zu erkennen, als das, was heute geschieht. Denn vor Gott sind tausend Jahre kaum anders als für uns eine Minute oder ein Augenblick. Darum ist seinem Geist alles nah und offenbar, sowohl das Geschehene als auch das Zukünftige.“ (8. Sendbrief an Paul Kaym, 14.8.1620)

Dazu pflegte er auch, guten Freunden ins Stammbuch zu schreiben:
„Wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Streit.“

Ähnlich schreibt Francesco Petrarca um 1350 in einem Buch, das um 1500 unter dem Titel „Von der Heilung beiderlei Glücks“ ins Deutsche übersetzt wurde, als ein tiefsinniges Gespräch erst zwischen Vernunft und Freude und danach zwischen Vernunft und Schmerz, zu dem auch viele, zutiefst symbolische Holzschnitte entstanden:
„Verwendest du den Ausdruck »Zeit verlieren« in diesem gewöhnlichen Sinne? Wenn das so wäre, dann müßte ich aufhören, eine unheilbare Krankheit heilen zu wollen, und zugeben, daß du nicht nur deine Zeit verloren hast, sondern daß du dich selbst völlig verloren hast. Doch wenn es wirklich so ist, dann sage ich, gib nicht auf, sondern gib deine Zeit Gott zurück, worauf ich sehr hoffe und was nicht ohne wahre Hingabe geschehen kann. Dann wisse, daß dies ein großer und unschätzbarer Gewinn sein wird, denn für ein wenig Zeit kannst du die Ewigkeit gewinnen. Welcher Händler hat jemals so gewinnbringend gehandelt?“ (Von der Heilung des Unglücks, 2.15)

Ähnlich haben auch die Weisen im alten Indien über das Phänomen der Zeit nachgedacht und dazu ein Schema aus zyklischen „Zeitwellen“ auf unterschiedlichen Bewußtseinsebenen gefunden, das man in fast allen Puranas, wie zum Beispiel im Vishnu-Purana Kap. 1.3, wiederfinden kann:

Die oberste Ebene (links im Bild) ist der Schöpfergott Brahma, der 100 Jahre lebt und dann von selbst durch Vishnu, den Gott der Erhaltung wiedergeboren wird. Ein Tag seiner Lebenszeit ist eine ganze Schöpfung, wenn alles existiert und sich bewegt, und seine Nacht ist eine entsprechende Zeit der Auflösung, wenn alles schläft und ruht. So ein Schöpfungstag, der auch Kalpa genannt wird, besteht aus 14 Manwantaras (Manu-Zeitalter), die jeweils von einem Manu als Stammvater zusammen mit einer Anzahl von Göttern und Weisen regiert werden. Und jedes Manwantara besteht wiederum aus ca. 71 Zyklen von 4 Yugas bzw. Zeitaltern, die unserem Gefühl von hellen und dunklen Zeitaltern in der Menschheitsgeschichte entsprechen, wonach wir gegenwärtig in einem dunklen Kali-Zeitalter leben. Und diese Sicht der herrschenden Götter und Weisen wird dann noch auf unsere Menschenjahre heruntergerechnet. Was natürlich alles relative Zeiten aus intuitivem Wissen sind. Doch wenn man damit rechnet, kommt man auf ein aktuelles Alter des gegenwärtigen Schöpfungstages von ca. 2,16 Milliarden Menschenjahren, was ganz gut zu modernen Berechnungen paßt, die ca. 13,7 Milliarden Jahre seit dem Urknall oder 4,5 Milliarden Jahre für das Alter der Erde annehmen.

Zumindest wird hier bereits deutlich, daß das Zeitempfinden von der Bewußtseinsebene abhängt und immer träger und sozusagen „langweiliger“ wird, je weiter das Bewußtsein in die materielle Körperlichkeit fällt und daran festhalten will. Umgekehrt wird man immer weiter, freier und beweglicher, je agiler das Bewußtsein wird. Solche Faktoren für die Beweglichkeit werden zum Beispiel im indischen Vayu-Purana Kap. 1.57 bezüglich der irdischen und himmlischen Welten angegeben:
- Menschen x 1 => Bhurloka / Erde
- Ahnen x 30 => Bhuvarloka / Luftraum
- Götter x 360 => Swarloka / Himmel
- Sieben Heilige x 3.030 => Maharloka / Bereich der Heiligen
- Krauncha x 9.090 => Janaloka / Bereich der Söhne von Brahma
- Manu x 4.320.000 => Tapaloka / Bereich der Yogis
- Brahma x 3.311.400.000.000 => Brahmaloka / Bereich des Schöpfergottes

Dazu wird auch eine symbolische Geschichte erzählt, wie ein menschlicher König mit seiner Tochter in das Reich des Schöpfergottes Brahma ging, um einen passenden Ehemann für sie zu erbitten. Doch der Große Vater der Welt war gerade beschäftigt, die Musik der himmlischen Musiker zu genießen. Und als er damit fertig war, sagte er dem König, daß auf der Erde mittlerweile 27 Mahayugas vergangen waren, also über 116 Millionen Menschenjahre, während er im Reich von Brahma nur ca. 20 Minuten gewartet hatte. Niemand spräche mehr von all den Ehemännern, die der König im Sinn hatte, und auch nicht von deren Söhnen, Enkeln und Nachkommen. (z.B. Bhagavatam-Purana Kap. 9.3)

Entsprechend betrachtete man die Zeit auch als eine Macht der Illusion, und im gleichen Purana wird die Frage „Was ist Zeit?“ so beantwortet:
Die Zeit ist grenzenlos und allumfassend und wird vom Höchsten Geist in seinem kosmischen Spiel von Ursache und Wirkung als Werkzeug der Seele zur Entwicklung der natürlichen Eigenschaften hervorgebracht. Wie alle anderen Geschöpfe von Brahma entsteht sie durch die Illusionskraft von Vishnu (der universalen Intelligenz) aus dem Ungestalteten (dem Meer der Ursachen). Diese ganze kosmische Gestaltung entsteht so, wie sie früher war, und wird auch in Zukunft so entstehen. (Bhagavatam-Purana Kap. 3.10)

Ähnliche Ansichten finden wir auch in neuerer Zeit bei uns im Westen. So schreibt Johann Gottfried Herder um 1800:
„Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit… Es gibt also im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten; die Zeit, die wir uns als das Maß aller denken, ist bloß ein Verhältnismaß unserer Gedanken… Die Zeit ist allerdings ein Erfahrungsbegriff, vom Lauf der Begebenheiten, von der Folge der Veränderungen um, in und an uns sehr langsam abgezogen, d.i. vom Verstande bemerkt… Die Zeit ist keine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zugrunde läge… Wahre Anschauung (Intuition) vergißt der Zeit. Fällt alles Veränderliche weg, so ist auch das Maß der Veränderungen, die Zeit, verschwunden…“ (Metakritik S206)

Und so heißt es dann auch in seinem bekannten Gedicht:

Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier;
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir
Und messen unsere trägen Schritte
Nach Raum und Zeit
Und sind, wir wissen´s nicht, in Mitte
Der Ewigkeit.
(Johann Gottfried Herder)

Als Beispiel für einen noch heute anerkannten Wissenschaftler der westlichen Welt möchten wir Albert Einstein (1879-1955) anführen, der gesagt haben soll:
Für uns Physiker ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts als eine Illusion, wie hartnäckig sie sich auch hält. Die subjektive Zeit mit ihrem Bestehen auf dem Jetzt hat keine objektive Bedeutung.

Als Kind träumte er davon, auf dem Licht zu reiten, und fragte sich, wie die Welt dann aussehen würde. Später erkannte er, daß es dann die Welt in dieser Form gar nicht mehr geben würde. Denn das Licht selbst ist unendlich schnell und damit jenseits von Raum und Zeit in einer reinen Gegenwärtigkeit. Der ganze Raum würde zu einem Punkt, und es gäbe weder Vergangenheit noch Zukunft, kein Oben und kein Unten. Das ist die Welt des reinen Lichtes, und ähnlich könnte man sich auch das reine Bewußtsein vorstellen. Eine begrenzte Lichtgeschwindigkeit in Zeit und Raum erscheint erst durch Beobachtung von einem Beobachter bzw. „Betrachter“ aus, der sich vom Licht getrennt sieht und nach dem Licht greifen bzw. trachten will.

Dadurch entsteht das Spiel von Zeit und Raum. Wenn also ein Raumschiff sehr schnell durch den Raum um die Erde kreisen würde, dann hat Einstein auch herausgefunden, daß von der Erde aus betrachtet die Uhren im Raumschiff langsamer laufen. Und umgekehrt würden vom Raumschiff aus betrachtet, die Uhren auf der Erde schneller laufen. So könnte man sich bezüglich der oben genannten Überlieferungen vorstellen, daß Gott oder Brahma in einem Raumschiff mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch den Raum fliegen würde. Dann wäre es auch „wissenschaftlich“ möglich, daß ein Tag Gottes wie tausend Jahre auf der Erde ist, oder ein Tag Brahmas über 4 Milliarden Menschenjahre. Das ließe sich sogar berechnen: Dann müßte der christliche Schöpfergott mit über 99,999999999% der maximalen Lichtgeschwindigkeit fliegen, und Brahma noch eine kaum meßbare Winzigkeit schneller. Das heißt, mit einer weiteren Beschleunigung von weniger als 0,000000001%, also weniger als 0,01 km/h, könnten aus den tausend Jahren viele Milliarden Jahre werden. Wow!

Doch jetzt wird es erst richtig interessant: Was passiert, wenn etwas Licht werden will? Auch dazu hat Einstein eine Formel gefunden, nämlich das berühmte E=mc². Denn je schneller sich etwas bewegen will, desto schwerer und träger wird es, weil sich dabei Energie in Masse verwandelt. Und so kann man die maximale Lichtgeschwindigkeit niemals erreichen. Damit hat auch Einstein eine uralte Weisheit bewiesen: Licht kann man nicht werden, sondern nur sein. Was dann auch für das reine und ewige Bewußtsein gilt, und auch Paulus bestätigt: »Gott, der allein Unsterblichkeit hat, wohnt in einem Licht, zu dem niemand kommen kann. (1.Tim. 6.16 Deshalb sagt Christus: »Ich bin das Licht der Welt. (Joh. 8.12 Denn sobald ein Betrachter versucht, das Licht zu werden, es zu ergreifen und festzuhalten, fällt er in Raum und Zeit, und je mehr er es festhält, desto fester bzw. materieller und „langweiliger“ wird es.

Dazu kommt der alte Teufel ins Spiel, der auch „Luzifer“ genannt wird, was „Lichtbringer“ bedeutet, denn er verspricht uns, das Licht zu geben, wenn wir vom Baum der Gegensätze essen. Seitdem fühlen wir uns innerlich dunkel und greifen nach dem äußeren Licht in einer Welt der Gegensätze, um es uns „einzuverleiben“. Doch dieser Weg des Ergreifens führt wohl mehr in ein „schwarzes Loch“ mit größter Masse auf kleinsten Raum als in die himmlische Weite des reinen Lichtes. Das entspricht auch unserer alltäglichen Erfahrung: Je mehr wir Energie in äußerliches Licht investieren, desto dunkler wird es in unserem Inneren, was sich in den zunehmenden Depressionen der Menschen in einer äußerlich so reichen Welt deutlich zeigt. Denn wir wandeln damit die Energie nicht in das helle Licht eines offenen und freibeweglichen Bewußtseins, sondern in dunkle und langweilige Materie, von der wir denken, daß wir sie festhalten können.

Was wäre dann der Weg zum reinen Licht in die Ewigkeit? Nun, wenn der Weg des Festhaltens in ein schwarzes Loch führt, dann führt wohl der Weg des Freigebens in das grenzenlose Licht. Wenn wir erkennen, daß wir bereits das Licht sind und nicht werden müssen, dann finden wir es in uns selbst in grenzenloser und vollkommener Weise. Dann müssen wir es nicht festhalten, sondern können es unbegrenzt geben und uns auf diese Weise mit dem Licht grenzenlos ausbreiten. Und das ist wohl auch gemeint, wenn es heißt: »Du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen.« Also nicht in einen engen Körper einschließen und festhalten, sondern ausstrahlen und freigeben, was dann auch die große Tugend der reinen Vergebung ist. Dann können wir das reine Licht sein, und sind überall gegenwärtig.

Und deshalb kann auch der Igel als Einheit von Vater und Mutter bzw. Geist und Natur behaupten „Ich bin schon da!“, während der Hase mit all seiner Energie und Bewegung niemals dahin kommt, wo der Igel einfach ist.

So heißt es auch am Anfang der Bibel: »Es werde Licht! Und es wurde Licht. (1.Mose 1.3Hier könnte man sagen: Nach der geistigen Schöpfung von Vater Himmel und Mutter Erde bzw. Geist und Natur sollte das Licht auch greifbar bzw. materiell werden, und so wurde der erste Tag und damit Zeit und Raum für die Materie der Schöpfung.

Was ist also Materie? Damit wollen wir noch einen kurzen Ausflug von der Relativitätstheorie im Großen zur Quantentheorie im Kleinen machen. Denn auch hier kann man das Große und Ganze finden, wie auch Werner Heisenberg (1901-1976) sagte, der als Vater der Quantenphysik gilt:
„Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott!"

Und zur Frage nach der Materie erklärt der Physiker Hans-Peter Dürr (1929-2014), ein treuer Schüler und Freund von Werner Heisenberg, daß Materie im Grunde nichts anderes ist, als „gefrorenes Licht“ oder „geronnener und erstarrter Geist“, also ein „Langweiler, dem nichts anderes mehr einfällt“. Womit wir auch wieder bei der Zeit wären, die damit immer zäher und „langweiliger“ wird.

Materie bedeutet „lange Weile“.

So sagte auch der amerikanische Quantenphysiker John Wheeler (1911-2008):
„Zeit ist das Instrument der Natur, was verhindert, daß alles gleichzeitig passiert.“

Was wäre das für eine Welt, wenn alles gleichzeitig passiert? Alles, was entsteht, würde gleichzeitig auch wieder vergehen und sofort wieder entstehen. Es gäbe gar keinen Grund, irgendetwas festhalten zu wollen, weil ja auch nichts verlorengehen kann. Und welchen Grund gäbe es dann, in der Zeit irgendetwas werden zu wollen, oder im Raum irgendwohin zu kommen?

Für das reine Licht ist alles ewige Gegenwart im Hier und Jetzt.

So eine Gleichzeitigkeit und ewige Gegenwart beschreibt dann auch die Quantenphysik als „Verschränkung“ von Teilchen. Aber dazu gab es hier noch eine viel wichtigere Entdeckung, den sogenannten Welle-Teilchen-Dualismus, das heißt, daß Photonen gleichzeitig auch Lichtwellen, und Lichtwellen auch Photonen sind. Und diese beiden Eigenschaften sind immer vorhanden, nur der Betrachter entscheidet, ob in seiner „Messung“ das Licht wie ein Teilchen oder eine Welle erscheint. Und das gilt nicht nur für Photonen, sondern für alle Teilchen.

Entsprechend könnten wir nun auch das oben angenommene Raumschiff von Gott oder Brahma als eine Welle betrachten, die sich kugelförmig mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Und damit kommt man schnell zu unserem Universum, das sich von der Erde aus betrachtet seit dem „Urknall“ wie ein Licht ausbreitet, worin dann Raum und Zeit mit Geist und Materie erscheinen. Aus dieser Perspektive wäre das „göttliche Raumschiff“ unser ganzes Universum, oder wie man in den Religionen sagt, der Schöpfergott selbst, der wiederum eine ganz andere Sicht auf das Universum mit Raum und Zeit hat, denn für ihn ist es nur ein kleiner Raum für eine kurze Zeit. So spricht man in der christlichen Symbolik von sieben Schöpfungstagen in einem paradiesischen Garten, und im Hinduismus ist es ein Schöpfungstag, und Brahma sitzt in einer reinen Lotusblüte.

Zusammengefaßt: Der „Knackpunkt“ ist sowohl in der Relativitätstheorie als auch in der Quantentheorie der Betrachter, der sich getrennt vom dem sieht, was er betrachtet. Doch warum haben wir uns vom Schöpfergott getrennt und sind so träge und langweilig geworden, so daß wir auf dieser Erde fast stehenbleiben und nur noch im „Schneckentempo“ körperlich und geistig wachsen? Warum sind wir über 1 Milliarde km/h langsamer als das Licht des Schöpfergottes? Was bringt unser Licht des Bewußtseins praktisch zum Stillstand? Hier sollten wir einmal über das Wort „Verstand“ nachdenken, mit dem wir verstehen und uns jede Menge „Vorstellungen“ in den Weg stellen, so daß unser freibewegliches Bewußtsein zum Stillstand kommt und irgendwelche „Standpunkte“ einnimmt, um daran festzuhalten. Warum fühlen wir uns innerlich oft so dunkel und unerfüllt? Wird mit dem Verstand das Licht des Bewußtseins „eingefroren“, so daß unser Geist „gerinnt und erstarrt“, wie Hans-Peter Dürr sagte? Entsteht dadurch unsere körperliche Materie? Reden wird deshalb auch lieber von „Teilchen“ anstatt von Wellen, weil uns Teilchen „greifbarer“ erscheinen? Liegt es an unserem „Ergreifen“ mit Körper und Verstand, daß wir in Raum und Zeit gebunden werden und damit weder das reine Licht noch die Ewigkeit erreichen können?

Deshalb möchten wir auch hier nicht behaupten, die Relativitätstheorie oder Quantenphysik wirklich „verstanden und mathematisch begriffen“ zu haben. Möge unser Bewußtsein beweglich bleiben und sich nicht in eine Burg aus begrifflichen Vorstellungen einmauern. Mögen wir über die Wunder der Natur noch so sehr staunen können, daß alle Worte versagen. Mögen wir niemals behaupten: „Das geht nicht! Das kann nicht sein!“ Wie großartig unsere heutige Wissenschaft auch geworden ist, aber hierin liegt auch unser Problem.

»Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. (Luk. 18.27

So möchten wir schließlich zu diesem Thema noch ein paar Menschen zu Wort kommenlassen, die sogenannte „Nahtoderlebnisse“ hatten:
„Sie haben Zeitlosigkeit erlebt?“ - „Ja, man hat überhaupt kein Zeitgefühl. Die Zeit spielt dort überhaupt keine Rolle, auch der Raum nicht, weil alles gleichzeitig geschieht. Das Unfaßbare dort ist, daß, sobald du eine Frage denkst oder in dir auch nur ein Gedanke oder Impuls auftaucht, dann sind zeitgleich alle Antworten da. Es kommt darauf an, worauf du deine Aufmerksamkeit richtest… In dem Moment fächern sich die Antworten auf, wie Hologramme, die aufgehen. Und man erkennt alle Zusammenhänge in einem einzigen Moment.“ (Video: Neun Tage jenseits von Raum und Zeit, ab 22:03)

„Als ich schließlich in atemberaubendem Tempo durch diesen Tunnel raste, hatte ich jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Waren es Minuten, Tage, Jahre, die ich unterwegs war? Hatte ich überschaubare Distanzen oder Lichtjahre zurückgelegt? Ich vermochte es nicht zu bestimmen. Mir fehlte jeder Anhaltspunkt. Und es machte keinen Unterschied ... Ich begriff, daß ich mich in einem Zustand erhöhter Bewußtheit befand, in einer Dimension, in der es weder Raum noch Zeit gab. Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber irgendwie hatten Raum und Zeit aufgehört zu existieren. Ich war viel zu schnell. Es war, als hätte ich Raum und Zeit selbst überholt... Es gab sie überhaupt nicht mehr. Diese Kategorien standen mir nicht zur Verfügung.“ (Lucy mit c, Markolf H. Niemz, S67)

Dieses Buch von Markolf Niemz ist auch im Ganzen sehr interessant, und vieles, was wir hier bezüglich der Relativitätstheorie und Quantenphysik nur kurz angedeutet haben, wird dort mit wissenschaftlichem Hintergrund ausführlicher und auch relativ verständlich beschrieben. Gleich zu Beginn wird dort die These aufgestellt:
„Mit dem körperlichen Tod wird unsere Seele (unser geistiges Ich, unser Bewußtsein) auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und geht dabei in einen lichtähnlichen Zustand über.“

Das ist und bleibt unser großer Wunsch, wie es auch viele Nahtoderfahrungen berichten, und vielleicht schaffen wir es auch irgendwann, vom Lichtwerden ins Lichtsein zurückzukehren. Denn:

Jeder Moment der Zeit wartet darauf, daß wir aus dem Traum der Vergänglichkeit in das Licht der Ewigkeit erwachen.

Und abschließend wollen wir noch einen Menschen zu Wort kommenlassen, dem die Verwirklichung dieser „ewigen Gegenwart des Jetzt“ bereits im irdischen Leben gegeben wurde:
„Zeit und Verstand sind untrennbar. Mit deinem Verstand identifiziert zu sein bedeutet in der Zeit gefangen zu sein…
Zeit ist überhaupt nicht kostbar, denn sie ist eine Illusion. Was dir so kostbar erscheint, ist nicht die Zeit, sondern der einzige Punkt, der außerhalb der Zeit liegt: das Jetzt. Das allerdings ist kostbar. Je mehr du dich auf die Zeit konzentrierst, auf Vergangenheit und Zukunft, desto mehr verpaßt du das Jetzt, das Kostbarste, was es gibt…
Wie hört man auf, Zeit zu erschaffen? Erkenne zutiefst, daß dein ganzes Leben sich im gegenwärtigen Moment abspielt. Stelle das Jetzt ins Zentrum deines Lebens…
Du siehst die Zeit als das Instrument deiner Erlösung an - dabei ist sie in Wahrheit das größte Hindernis auf dem Weg zur Erlösung. Du glaubst, daß du in diesem Moment nicht dorthin gelangen kannst, weil du noch nicht vollkommen genug bist, noch nicht gut genug. Aber die Wahrheit ist, daß hier und jetzt der einzige Punkt ist, von dem aus du dorthin gelangen kannst. Du kommst dort an, wenn du einsiehst, daß du schon dort bist… (Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, Eckhart Tolle, 2000)“


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Die goldene Gans - (Thema: wahre Ganzheit erkennen)
Die Gänsemagd - (Thema: Einheit und Vielfalt)
König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
Der Hase und der Igel (Thema: Ich bin schon da)
Hans mein Igel - (Thema: Vernunft und Natur)
Der Dummling - (Thema: Wesen des Meeres)
Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[Eckhart] Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1979
[Jacob Böhme] Alle Texte in deutscher Überarbeitung / www.boehme.pushpak.de
[2025] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. Januar 2025