Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die heilige Frau Kümmernis

Märchentext der Gebrüder Grimm [1815]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Es war einmal eine fromme Jungfrau, die gelobte Gott, nicht zu heiraten, doch war wunderschön, so daß es ihr Vater nicht zugeben und sie gern zur Ehe zwingen wollte. In dieser Not flehte sie Gott an, daß er ihr einen Bart wachsen lassen sollte, welches alsogleich geschah. Aber der König ergrimmte und ließ sie ans Kreuz schlagen, da wurde sie eine Heilige.

Nachdem wir nun im letzten Märchen von „König Drosselbart“ den Weg der Königstochter zur heiligen Ehe von Mann und Frau bzw. Ganzheit von Geist und Natur betrachtet haben, springt dieses kurze Märchen fast wie von selbst an diese Stelle. Denn wir finden hier nicht nur die Königstochter als heilige Jungfrau bzw. reine Geist-Seele wieder, wie sie im letzten Märchen ihre Vollkommenheit erreicht hatte, sondern auch König, Bettler und Spielmann, sogar einen Bart und anstatt der Drossel eine Geige. Und diesmal erbittet sie den Bart sogar von Gott und nimmt den Drosselbart freiwillig an, den sie einst verspottet und abgelehnt hatte.

Warum verkörpert sich die reine Geist-Seele wieder in dieser Welt der Unvollkommenheit? Warum nicht? Sie ist reines Bewußtsein, das an keiner Form anhaftet und damit jede Form annehmen kann. Und unsere körperliche Welt kann natürlich auch nicht außerhalb der vollkommenen Ganzheit sein. Deshalb kommt sie auch zu uns, wie sich zum Beispiel Jesus Christus als Mensch verkörpert hat oder Krishna oder Buddha in Indien. Und weil sie bereits ganzheitlich und vollkommen ist, muß sie natürlich den Weg von König Drosselbart nicht noch einmal gehen, um sich mit dem reinen Geist zu vereinen. Der christliche Seher Jacob Böhme spricht diesbezüglich von einer „männlichen Jungfrau“ als ein vollkommenes Wesen, wie es Gott als Ganzheit nach seinem eigenen Vorbild ursprünglich geschaffen hat, und schreibt um 1620:
St. Paulus sagt: »Unser Wandel ist im Himmel. (Phil. 3.20)« Das heißt, der Jungfrau Wandel, wenn sie mit ihrem Gemahl Christus in der Ehe steht, weil dann Christus und die Jungfrau Sophia nur Eine Person sind, nämlich die wahre männliche Jungfrau Gottes, die Adam vor seiner Eva war, als er Mann und Frau und doch keines davon war, sondern eine Jungfrau Gottes. (Mysterium Magnum, 50.48)

Sie muß also nicht noch einmal heiraten, wie auch Jesus und Buddha auf Erden kein häusliches Eheleben geführt haben, denn sie ist bereits mit allem vereint, und mit einer einseitigen Bindung an eine bestimmte Form würde ihre Reinheit verlorengehen. Ähnlich war auch Krishna nicht mit einer bestimmten Frau verheiratet, sondern symbolisch mit ganz vielen Frauen, angeblich über 16.000, und mit jeder hatte er viele Kinder, was sich praktisch auf alle Wesen der Welt bezieht. Damit zeigt er sich auch als ein ganzheitliches Wesen, wie zum Beispiel in der berühmten Bhagavadgita:
Schaue meine hundert- und tausendfachen Gestaltungen, vielfältige und göttliche in unterschiedlichsten Farben und Formen. Schaue die Adityas, Vasus, Rudras, Aswins und die Maruts. Schaue, oh Bharata, unzählige Wunder, die du nie zuvor gesehen hast. Schaue, oh Arjuna, das ganze Weltall mit allem Belebten und Unbelebten in meinem Körper vereint, und auch alles, was du sonst noch sehen möchtest. Aber mit deinen Augen bist du dazu nicht fähig. So gebe ich dir die himmlische Sicht. Damit schaue meine göttliche Macht! (Mahabharata 6.35)

Doch der weltliche König erkennt diese reine Geist-Seele nicht. Das heißt, er ist noch nicht die ganzheitliche Vernunft als König, sondern der begriffliche Ego-Verstand, der sie nach seinen eigenen Vorstellungen zwingen will und damit an das Kreuz dieser Welt nagelt. Die Ursache ist die egoistische Anhaftung, und die Wirkung ist das persönliche Leiden mit Mangel, Vergänglichkeit und Tod. Damit schafft er sich selbst sein Leiden, und die reine Geistseele wird als Kümmernis zur Heiligen bzw. Heilenden in seiner Welt.

Nur mich selber kann ich kreuzigen. - Alles, was ich tue, tue ich mir selbst an. Wenn ich angreife, leide ich. Wenn ich jedoch vergebe, wird mir die Erlösung gegeben. - Ich bin kein Körper. Ich bin frei. Denn ich bin immer noch so, wie Gott mich geschaffen hat. (Kurs in Wundern, Übung 216)

Nun geschah es, daß ein gar armer Spielmann in die Kirche kam, wo ihr Bildnis stand, und kniete davor nieder. Da freute es die Heilige, daß dieser zuerst ihre Unschuld anerkannte, und das Bild, das mit goldenen Pantoffeln angetan war, ließ einen davon los- und herunterfallen, damit er dem Pilger zugute käme. Der neigte sich dankbar und nahm die Gabe.

Hier begegnet uns nun ein ähnlich armer Spielmann, wie er auch als König Drosselbart seine Rolle spielte und die reine und unschuldige Seele in ihrer äußerlichen Form erkannte. Doch wie kann ein Bild lebendig werden und einen Pantoffel los- und herunterfallen lassen? Ist das nur symbolisch gemeint?

Der Mann aus Holz fängt an zu singen,
Die Frau aus Stein fängt an zu tanzen,
Rationales Wissen bringt das nicht zustande.

Solche Wunder wurden sicherlich schon zu tausenden glaubwürdig bezeugt, wofür unser rationaler Verstand keine greifbare Erklärung findet. Deshalb zweifeln wir gern daran und ignorieren solche Wunder. Doch interessanterweise passiert so etwas auch berühmten Wissenschaftlern, wie dem theoretischen Physiker Wolfgang Pauli, in dessen Gegenwart regelmäßig wissenschaftliche Geräte versagten. Daraus entstand der Begriff des „Pauli-Effekts“. Doch die tiefere Botschaft haben auch damals die meisten Physiker nicht erkannt, sondern ihm lieber ein Laborverbot erteilt. So flossen dann auch die großartigen Erkenntnisse der Quantenphysik mehr in technische Geräte als in die geistige Entwicklung einer ganzheitlichen Vernunft, und es wurden lieber Atombomben gebaut als eine heilsame Weltanschauung begründet. Ähnlich beschwert sich dann auch Werner Heisenberg als Vater der Quantenphysik im fortgeschrittenen Alter:
„Die meisten meinen ja wohl, daß eben die Atomtechnik die wichtigste Konsequenz (der Quantenphysik) sei. Mir ist es eigentlich immer anders gegangen. Ich habe geglaubt, daß die philosophischen Konsequenzen aus der Physik auf lange Sicht wohl noch mehr verändern werden, als die technischen Konsequenzen... (Video: Werner Heisenberg und die Frage nach der Wirklichkeit ab 1:21:20“)

Wie kann ein Bild eine heilige und heilende Seele haben? Nun, die vollkommene Geist-Seele ist natürlich ein ganzheitliches Wesen, das in der Ganzheit lebt und damit auch überall in dieser Welt gegenwärtig ist. Es ist nur eine Frage der Bewußtwerdung, und dieser Prozeß ist natürlich mit einem Heiligenbild in einer geheiligten Kirche einfacher. Und so ist es der wirkende Geist des Spielmanns, der das Bild durchschaut, die reine Seele erkennt, lebendig macht und sich mit ihr wieder vereint. Wie auch König Drosselbart die reine Seele in der Königstocher erkannte und als armer Spielmann mit ihr den Weg zur mystischen Hochzeit ging. In ähnlicher Weise bekommt auch hier der Spielmann einen goldenen Pantoffel als Symbol für den Weg der Wahrheit, den er als Pilger nun gehen kann, wenn wir das Gold als Wahrheit und den Schuh als Hilfe auf dem Weg betrachten. Und in diesem Sinne ist es auch die Heilige selbst, die sich über die Erkenntnis ihrer Unschuld freut und diesem Geist hilft.

Was bedeutet Unschuld? Schuld entsteht, wenn man etwas nimmt, was anderen gehört, und entsprechend zurückgegeben muß. So ist hier vor allem das egoistische Eigentum gemeint, das man sich durch Anhaftung aneignet. Und der große Weg zur Unschuld wäre dann die vollkommene Vergebung, die wohl der arme Spielmann als reine „Armut im Geiste“ suchte und lebte. Denn nur so kann er die Unschuld der reinen Seele erkennen und damit auch seine eigene als wirkender Geist.

»Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

Bald aber wurde der Goldschuh in der Kirche vermißt, und es geschah allenthalben die Frage, bis er zuletzt bei dem armen Geigerlein gefunden, und er als ein böser Dieb verdammt und abgeführt wurde, um zu hängen.

Hier könnte man zunächst über die weltliche Rolle der christlichen Kirche nachdenken, die den Weg zur Wahrheit gern als ihr Eigentum betrachtet. So wurden schon viele, die den Weg zur Wahrheit von der reinen Geistseele bzw. Gott selbst empfangen und offenbart hatten, als böse Diebe am Eigentum der Kirche verdammt, gehängt und verbrannt.

Innerlich könnte man an den begrifflichen Ego-Verstand denken, der sich seines Eigentums an Wahrheit beraubt fühlt und die erwachende ganzheitliche Vernunft gern eindämmen, gefangennehmen und anhängen will, um selber König zu bleiben. Damit schließt sich auch der Kreis zum obigen König, der die reine Geistseele kreuzigt und das Leiden verursacht.

In einer anderen Version der Geschichte wird hier von einem Goldschmied gesprochen, dem der Bettler den goldenen Pantoffel dummerweise verkaufen möchte. Auch in diesem Goldschmied können wir den Verstand wiedererkennen, der sozusagen das reine Gold der Wahrheit in äußerliche Formen zwingt, um damit in der Welt zu handeln. Und er ist es dann auch, der den Bettler als Dieb beschuldigt, ihn festhält und hängen will. Deshalb sollte man den goldenen Weg der Wahrheit niemals dem Verstand übergeben, damit er daraus etwas Formhaftes mache, um sich davon zu ernähren.

»Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen und sich wenden und euch zerreißen. (Matth. 7.6

Daraus entstehen dann auch unsere inneren Zweifel und Schuldgefühle des Verstandes, so daß wir bald erkennen: Mit einem Schuh geht man nicht besonders sicher. Wenn wir also nur eine Seite verehren, dann werden wir an der anderen Seite schuldig und zum Dieb. Verehren wir nur den männlichen Geist, dann werden wir zum schuldigen Dieb an der Körperlichkeit bzw. Seele der Natur. Verehren wir nur die weibliche Natur, dann werden wir zum schuldigen Dieb an der Geistigkeit von Allem.

Unterwegs aber ging der Zug an dem Gotteshaus vorbei, wo die Bildsäule stand. Da begehrte der Spielmann hineingehen zu dürfen, daß er zu guter Letzt Abschied nähme mit seinem Geiglein, und seiner Guttäterin die Not seines Herzens klagen könnte. Dies wurde ihm nun erlaubt. Kaum aber hatte er den ersten Strich getan, siehe, so ließ das Bild auch den anderen goldenen Pantoffel herabfallen und zeigte damit, daß er des Diebstahls unschuldig war. Also wurde der Geiger der Eisen und Bande ledig, und zog vergnügt seiner Straßen. Die heilige Jungfrau aber hieß Kümmernis.

Was soll man tun, wenn der begriffliche Verstand die ganzheitliche Vernunft in den Tod führen will? Wer sollte mit dem Verstand um die Unschuld streiten, wenn nicht der Verstand selbst, der damit nur seine Herrschaft festigt? Die Vernunft bittet nur demütig um einen letzten Wunsch zum Abschied, führt den Verstand ins Gotteshaus der Ganzheit und läßt dort ihre Geige erklingen, damit er ihre Unschuld erkennt: Keine langen Reden, keine Begriffe, kein Streit und kein Urteil, sondern nur ein harmonischer Klang als Hilferuf des Herzens nach der Wahrheit, den alle ringsherum hören, der in die tiefste Materie dringt und alles bewegen kann.

Über einen ähnlichen Spielmann mit seiner Geige haben wir bereits im Märchen „Der wunderliche Spielmann“ nachgedacht. So erscheint uns auch hier die Geige als ein Instrument der Vernunft für den Widerhall der himmlischen Musik auf Erden. Nicht umsonst sagt man, daß „der Himmel voller Geigen hängt“, wenn man sich glückselig fühlt. Man muß also keine langen Reden halten, um die heilige Geistseele anzusprechen. Ein Amen oder Om, das mit reiner Liebe aus dem Herzen kommt, reicht vollkommen aus. Man könnte hier auch von einer Klangwelle auf dem ewigen Meer der Ursachen sprechen, im reinen Bewußtsein, das alles beseelt, belebt und jede Form annehmen kann.

So hilft uns die ganzheitliche Vernunft auch zum zweiten goldenen Pantoffel auf dem Weg zur Wahrheit, der uns von der reinen Geistseele oder auch vom Heiligen Geist gegeben wird, nicht als Eigentum, sondern als Heilung von egoistischer Anhaftung an Eigentum und damit auch von jeder Schuld. Damit bestätigt sich unsere Unschuld, und frei von jeder Anhaftung können wir nun den Weg der Wahrheit voller Freude gehen und die Not und das Leiden dieser Welt überwinden, also nicht nur die Wirkungen bekämpfen, sondern die Ursache auflösen. Und das ist wohl auch die heilige Aufgabe des Leidens in dieser Welt, um den heilsamen Weg der Wahrheit zu finden und zu gehen, wie auch Buddha das Leiden ins Zentrum seiner Lehren setzte. Deshalb kommt auch der Name „Buddha“ nicht umsonst von „Buddhi“, was wiederum „Vernunft“ bedeutet. Und diese Vernunft lehrt uns auch die „vier edlen Wahrheiten“:

Die edle Wahrheit über das Leiden;
Die edle Wahrheit über die Ursache des Leidens;
Die edle Wahrheit über die Beendigung des Leidens;
Und die edle Wahrheit über den Weg, der zur Beendigung des Leidens führt.

So können die beiden Schuhe auch die beiden Prinzipien von Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur symbolisieren, die man beide auf dem Weg der Wahrheit braucht. Mal führt der Geist und die Natur schiebt, mal führt die Natur und der Geist schiebt, bis man zum Hochzeitstanz von Geist und Natur kommt, wo sich alle Gegensätze in der Vollkommenheit von Harmonie und Rhythmus vereinen. Das ist die ewige Welle von Werden und Vergehen, die sich als das ewige Meer selbst wiedererkennt, das Ganze und Vollkommene, was schon immer („im-Meer“) da war, ist und sein wird. Deshalb finden wir unter den vielen Märchen auch beide Arten, mal führt die weibliche Seite, mal die männliche, und am Ende gibt es gewöhnlich die große Hochzeit als Happy-End.


Das Spiel von Männlich und Weiblich
als Yang und Yin im Kreis der Ganzheit

Möge auch unser Herz nach der reinen Vernunft rufen, und mögen auch wir diese beiden goldenen Schuhe von der wohltätigen Geist-Seele empfangen, um den ganzheitlichen Weg der Wahrheit zu gehen, das Leiden zu beenden und die Vollkommenheit zu erreichen. Amen - OM

Weitere Hintergründe zur Geschichte

Über die historischen Hintergründe finden wir vieles im Internet, wie zum Beispiel bei Wikipedia unter „Kümmernis“. In den Anmerkungen von Bolte und Polivka steht zu diesem Märchen:
Die Legende von der hl. Kümmernis oder Comeria (auch Wilgefortis, Ontkomer, Liberata, Hülpe u.a. genannt) ist im 15. Jahrhundert entstanden aus einem Mißverständnis der alten romanischen, bekleideten und mit einer Krone versehenen Christusbilder, die den Heiland als den lebenden Himmelskönig am Kreuze darstellen; die Darstellung des nackten, schmerzgequälten Crucifixus mit der Dornenkrone kam im Abendlande erst im 13. Jahrhundert auf. Das Volk sah in jenen alten Bildern eine gekreuzigte Königstochter, die gleich der hl. Paula (Acta Sanctorum Febr. 3, 174) und Galla zum Schutze ihrer Jungfräulichkeit bärtig geworden war, obwohl z.B. das Saalfelder Steinbild von 1516 die deutliche Beischrift 'Salvator mundi' (‚Retter der Welt‘) trug. Der Kultus dieser von der Kirche niemals anerkannten Heiligen, von der die Acta Sanctorum unter dem 20. Juli (Julii t. 5, 50: Liberata) berichten, erstreckt sich über Deutschland, die Schweiz, Belgien, England, Frankreich, Spanien und Portugal.

Auch das zeigt uns wieder, wie schwer es der christlichen Kirche fiel und fällt, eine ganzheitliche Sicht von Männlich und Weiblich bzw. Geist und Natur zu akzeptieren, ganz zu schweigen von der geistigen Einheit in der Vielfalt aller Religionen und Weltanschauungen. Dabei ist es doch überall offensichtlich, daß Geist und Natur, Subjekt und Objekt, Welle und Teilchen oder auch Antimaterie und Materie immer zusammengehören und eine Trennung nur durch unsere Wahrnehmung entsteht. Und dann versuchen wir, das eine über das andere zu setzen. Dann herrscht entweder der Geist über die Natur, wie die Geisteswissenschaft predigt, oder die Natur über den Geist, wie die Naturwissenschaft behauptet. Beide auf gleicher Höhe zu vereinen fällt uns irgendwie schwer und scheint unserem begrifflichen Verstand sogar unmöglich zu sein.

Meister Eckhart schreibt dazu:
Eine Frau und ein Mann, die sind einander ungleich; in der Liebe aber sind sie gar gleich. Daher sagt die Schrift gar recht, Gott habe das Weib aus des Mannes Rippe und Seite genommen, weder also aus dem Haupt noch aus den Füßen; denn, wo zwei sind, da ist Mangelhaftigkeit. Warum? - Weil das eine nicht das andere ist, denn dieses »Nicht«, das da Unterschiedenheit schafft, das ist nichts anderes als Bitterkeit, eben weil da kein Friede vorhanden ist. (Meister Eckhart, Predigt 50)

Ähnlich wie in den obigen Anmerkungen steht, daß die Legende aus einem dummen Mißverständnis entstanden sei, weil „das Volk in jenen alten Bildern eine gekreuzigte Königstochter sah…“, so lesen wir auch heute noch bei Wikipedia:
Weil damals die Bedeutung der Tunika als männliches Gewand nicht mehr allen bekannt war, führte dies zu einer Verwechselung und ikonographischen Vermischung mit Darstellungen der Hl. Kümmernis, in die auch die Spielmannslegende als fester Bestandteil einging.

Ach ja, das dumme Volk, das noch nie einen Mönch in Kutte oder einen Geistlichen im langen Gewand gesehen hat, geschweige denn, eine Predigt über den gekreuzigten Jesus Christus hörte! Und dann erzählt das Volk solche Märchen und stellt noch dumme Fragen: Wie kann ein Mann oder eine Frau heilig und heil sein, solange sie getrennt sind? Wie kann ein Vater ohne Mutter einen Sohn gebären? Warum sollte ein Mann einen Mann verehren, um seine Vollkommenheit wiederzufinden? Warum sollte man das schreckliche Leiden der Trennung verehren und nicht das Heilige, Heile und Ganze? Hinter Klostermauern läßt sich das wohl denken, aber draußen in der Welt nur schwer leben.

Auch im Hinduismus stehen die Götter oft im Vordergrund, doch haben alle großen Götter auch ihre Shakti bzw. Göttin. Und vor allem über Shiva und seine Shakti gibt es viele Geschichten, wie sich beide als Purusha und Prakriti bzw. Geist und Natur scheinbar trennen und immer wiederfinden. So heißt es auch im Shiva-Purana Kapitel 4.25:
Es gibt sicher viele Gelehrte, die über die Trennung von Shiva und Sati erzählen, doch wie kann es zwischen den beiden wahre Trennung geben? Wer erkennt schon die Essenz von Shiva und Sati und versteht ihre Handlungen in der Welt? Sie bewegen sich aus eigenem Willen und existieren ewig. Shiva und Sati sind untrennbar miteinander verbunden wie die Worte mit ihrer Bedeutung, und nur wenn sie es wünschen, erscheinen sie uns getrennt.

Entsprechend findet man dann in Kapitel 10.19 eine schematische Darstellung, wie Geist, Seele und Natur im grenzenlosen Meer der Ursachen gleichberechtigt zu den höchsten Prinzipien der Sankhya-Theorie zählen, die alle anderen Prinzipien durchdringen und in sich einschließen. Dazu gibt es dann auch entsprechende Bilder, wie sich Geist und Natur als Shiva vereinen, wie zum Beispiel die Darstellung von Ardhanarishvara:

Solche Bilder voller Symbolik werden gern in der Meditation verwendet, um zu erkennen, warum sich Geist und Natur scheinbar trennen mußten, ähnlich wie Adam und Eva, um die Vielfalt der Schöpfung durch Mann und Frau hervorzubringen (siehe auch Shiva Purana 8.3), und wie man dann die Einheit in der Vielfalt und sich selbst im Ganzen wiederfinden kann. So werden schließlich auch alle Götter als eine Ganzheit oder Gottheit betrachtet, die sich in vielfältigen Formen zeigt:
Wer Shiva getrennt von den anderen Göttern sieht, wird keinen Erfolg haben. Nur wer die Gottheit in allem sieht und verehrt, dessen Hingabe wird fruchtbar sein. (Shiva Purana 3.4)

Ähnlich findet man auch zur „heiligen Jungfrau Kümmernis“ symbolische Bilder, wie zum Beispiel in einer kleinen Kapelle am niederösterreichischen Ötscher (siehe auch sagen.at):

So wollen auch wir nun versuchen, über die Symbolik dieses heiligen Bildes einige Tage zu meditieren, und schauen, was es uns sagen möchte, was natürlich auch jeder etwas anders empfinden wird:

Zuerst fällt uns der propere Spielmann auf, der nicht an eine körperliche Hungersnot erinnert, so daß es wohl mehr eine geistige Not ist, aus der heraus er das heilige Bild verehrt. Darin finden wir bereits die Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Betrachter und Bild. Er schaut voller Sehnsucht auf das Bild hinauf, und das Bild wird lebendig und schaut voller Mitgefühl herab. Die auffallend große Nase könnte ein gutes Gespür auch für die geistige Welt andeuten, die wohl die stolze Prinzessin ähnlich wie das vorstehende Kinn mit dem Bart bei König Drosselbart verspottet hätte. Seine beiden Hände wirken gelassen, nicht von der Begierde des begrifflichen Verstandes verkrampft, und mit ihnen spielt er die Geige, deren Klang das Bild lebendig macht. Und es würde wohl noch lebendiger werden, wenn es nicht ans Kreuz dieser Welt genagelt wäre. So ist es vor allem unser begrifflicher Verstand, der durch seine Anhaftung verhindert, daß Bilder lebendig werden. Kinder können das noch sehr gut mit ihren Puppen, Bären und anderen Spielsachen, doch wenn sie erwachsen werden, wächst auch der Verstand und verfestigt sich immer mehr zu einer toten irdischen Welt. Deshalb sagt Christus nicht umsonst:
»Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Matth. 18.2

Die Hände am Kreuz wirken weniger entspannt und zeigen die „Schwurhand“. Darin könnte man den Mittelfinger als Heiligen Geist sehen, der die beiden anderen Paare wieder vereinen sollte: Den Daumen und Zeigefinger als Vater und Sohn mit dem Ringfinger und kleinem Finger als Seele und Leib der Natur. Also Männlich und Weiblich wieder zu einer Ganzheit vereinen, die man in der Handfläche sehen kann, worin alle Finger wurzeln. Doch hier wurde die weibliche Seite abgeknickt, und mitten durch die Ganzheit wurden vom begrifflichen Verstand die Nägel ans Kreuz der materiellen Welt von Raum und Zeit geschlagen, so daß sich nun das Bild nicht mehr frei, sondern nur noch teilweise bewegen kann, soweit es der Verstand zulassen will und kann. Zumindest sind die Füße noch frei, an denen sich die Zehen harmonisch aneinanderreihen, und auf einem sechseckigen Grund- oder Eckstein stehen. Dieser Stein könnte uns an den berühmten „Stein der Weisen“ erinnern, und damit auch an das reine Bewußtsein, das man als ewigen Grundstein überall finden kann. Die sechs Ecken entstehen, wenn man die beiden Dreieckssymbole von Männlich und Weiblich zu einem harmonischen Stern bzw. Hexagon vereint. Eine ähnliche Symbolik wird auch in den indischen Yantras verwendet.

Solche symbolischen Dreiecke finden wir auch im Umhang und Kleid wieder. Das nach oben gerichtete Dreieck im unteren Kleid erinnert an den männlichen Geist oder auch das Feuer, das nach oben strebt. Und das nach unten gerichtete Dreieck im oberen Kleid an die weibliche Natur oder Seele der Natur, wie das Wasser, das nach unten strebt und fließt. Im Unterleib treffen sich beide Prinzipien, Mann und Frau befruchten sich gegenseitig, zeugen und gebären neue Lebensformen und trennen sich dort auch wieder. Und über beide gemeinsam findet man das große Dreieck des Heiligen Geistes als einen goldgeschmückten Umhang mit der königlichen Krone der Ganzheit an der Spitze. Die goldene Krone mit dem Symbol der Dreieinigkeit sitzt auf einem Kopf, der im heiligen Licht erstrahlt und voller Mitgefühl auf den Spielmann schaut, aber keinen üblichen Heiligenschein trägt, denn dazu fehlt bis heute das offizielle Zertifikat der Kirchenführung als „anerkannte Heilige“. Um den Kopf herum erscheint wieder ein weibliches Dreieck aus den Armen am Kreuzbalken, dessen Spitze auf das blaue Juwel des Herzens zeigt. Wenn dort die reine Liebe der heiligen Geistseele erstrahlt, dann wandelt sich das Leiden am Kreuz in die reine Freude im Heiligen Geist. Wenn jedoch die egoistische Eigenliebe der Anhaftung im Herzen wohnt, dann verläßt diese Liebe den Heiligen Geist und geht nach außen ans Kreuz von Begierde und Haß, um sich in Leidenschaft zu verwandeln. So wäre es wohl besser, die Hände von dieser Anhaftung zu lösen und zusammengelegt 🙏 auf ein reines Herz der Liebe zu richten. Damit erinnert uns dieses Herz-Dreieck auch an das Herz-Symbol ♡, als Fluß aus der inneren Quelle durch die Welt der Gegensätze zum Grund der Einheit.

Zusätzlich spielt der Maler hier auch mit einem perspektivischen Trick, so daß die Heilige ihre Arme vom Kreuz zu lösen scheint und uns förmlich entgegenkommt, was einem Heiligenbild besonders dienlich und dann auch unsere Aufgabe im Leben ist.

Im Haar, um den Hals und im unteren Kleid finden wir die geistigen Perlen wieder, die man „nicht vor die Säue werfen sollte“, also nicht dem begrifflichen Verstand geben, sondern der ganzheitlichen Vernunft, die dann unter der Krone des Heiligen Geistes voll Mitgefühl und reiner Liebe zu allen Wesen erstrahlen kann.

Nun könnte man sagen, daß in diesem Spiel der Dreiecke wieder der männliche Geist gegenüber der weiblichen Natur überwiegt, und das sollte wohl auch in einem Heiligenbild auf den ersten Blick so sein. Einfacher wäre es natürlich, das Bild vertikal in eine männliche und weibliche Seite zu trennen, wie es oben im Yin-Yang Zeichen und im Shiva-Bild getan wird. Diese Trennung wird hier zumindest durch den Lichteinfall von rechts angedeutet, so daß auch der Spielmann auf der rechten, männlichen und hellen Seite des Geistes nur mit seinem rechten Bein niederkniet, über das sein dunkler Umhang liegt, und zuerst den rechten Schuh der geistigen Seite empfängt.

Auf den zweiten Blick relativiert sich dieses geistige Übergewicht wieder. Zum einen, weil er auf einer grünen Wiese zwischen Gras und Kräutern einer wachsenden Natur kniet, was man im obigen Bildausschnitt nicht mehr sehen kann. Zum anderen, wenn wir den strahlenden Kopf unter der Krone der Ganzheit als Sitz der ganzheitlichen Vernunft gegenüber dem rosaroten Körperkleid der Natur betrachten. Dieses weibliche Kleid erscheint uns dann wie eine symbolische Sanduhr als Zeichen der Vergänglichkeit, in der die Gedanken, Taten und Formen von der Anhaftung am Kreuz der Gegensätze wie Sand durch das weibliche Dreieck der Natur in das männliche des Geistes fließen, bis die Zeit der Körperlichkeit abgelaufen ist, die Sanduhr in einer neuen Geburt bzw. Verkörperung wieder herumgedreht wird und das Spiel von Anhaftung und Bewegung von neuem beginnt. Das heißt dann auch: „Auf Sand gebaut!“ Das ist im Bild genial dargestellt, zwischen der Anhaftung der Hände am Kreuz der Welt und der Beweglichkeit der Füße auf dem Grundstein. Hier kann man nun gut darüber nachdenken, wie die Zeit selbst durch die Anhaftung an die Gedanken, Taten und Formen in der Welt der Gegensätze erscheint, denn ohne Anhaftung würde alles gleichzeitig entstehen und vergehen, weil nichts in Zeit und Raum festgehalten würde, und alles ungehindert fließen könnte. So ungefähr könnten wir uns auch die Ewigkeit jenseits von Zeit und Raum vorstellen. Ein ähnliches Spiel gegensätzlicher Dreiecke kennt heute auch die Wissenschaft und weiß, daß alle Materie aus einem Spiel von Materie und Antimaterie entsteht, die sich eigentlich sogleich wieder auslöschen müßten. Und sie rätseln bis heute, warum unsere sichtbare Materie im Urknall übriggeblieben ist und so stabil in Zeit und Raum erscheint.

Damit kommen wir nun auch zum „Knackpunkt“ des Bildes und der Geschichte, nämlich der Hals zwischen Kopf und Körper, wo die Heilige von Gott ihren Bart bekommt und der Spielmann unter seinem Bart die Geige erklingen läßt. Was könnte der Bart bedeuten? Wie die Haare am Kopf gewöhnlich als Gedanken gedeutet werden, die mehr oder weniger wild oder beschnitten, geordnet, gebunden oder zu einem Zopf geflochten in die Welt streben, reichen und wachsen, ähnlich könnte man auch über die Bedeutung der Barthaare nachdenken und sagen: Wie der Bart als ein körperliches Zeichen der männlichen Reife für die geschlechtliche Vereinigung gilt, so könnte man ihn symbolisch als ein Zeichen geistiger Reife für die ganzheitliche Vernunft betrachten, bis hin zum weißen Bart der Weisheit. Dann sind die Barthaare um den Mund herum wie die Worte Gottes, die in der Welt von einem „uralten weißbärtigen Mann“ ausgesprochen werden.


Gottvater, Paolo Veronese (1570)

Doch sollten wir nicht wie die Kinder werden? Ja, wie der begriffliche Verstand wieder jung werden sollte, so sollte die Vernunft alt und reif wie die Weisen werden. Das heißt, wie die Seele der Natur zu ihrer formlosen Quelle sozusagen ins Nichts zurückkehrt, zur ewigen Jungfrau am Jungbrunnen, indem das Seelenband vom Knäul unserer Lebensgeschichte abgewickelt wird, so wächst und reift der Geist zu seinem Ziel ins ewige Meer des Alles, wo sich Alles und Nichts wieder treffen und vereinen. Deshalb fehlen wohl auch am Oberkörper der Jungfrau die deutlichen Brüste als ein körperliches Zeichen der weiblichen Reife. Und auf diese Weise kann man zu einer „männlichen Jungfrau“ kommen, wenn der begriffliche Ego-Verstand abnimmt und die ganzheitliche Vernunft zunimmt. Deshalb bedeutet wohl auch „menschliche Entwicklung“, sich nicht immer mehr zu verwickeln, sondern zu entwickeln.

Hier können wir nun auch die Königstochter wiederfinden, die zusammen mit König Drosselbart als Spielmann unter der Führung seiner Geige symbolisch gesagt von den Händen der Anhaftung am Kreuz der Welt auf dem Weg der Demut durch das weibliche Dreieck nach unten bis zur Spitze ins Nichts geht, bis zur Küchenmagd im Königsschloß am Grund von allem, bis zur reinen „Armut im Geiste“. Das ist dann auch der Herz-Weg ♡ aus der Quelle durch die vergängliche Welt der Gegensätze zum Grund der Einheit. Dabei wandelt sich ihr stolzes Herz der egoistischen Begierde und Anhaftung erneut in ein demütiges Herz reiner Liebe, das durch das männliche Dreieck hindurch wieder Alles wird, bis ihre Füße auf dem sechseckigen Grund- und Eckstein von Allem stehen, wo sich Männlich und Weiblich sowie Alles und Nichts wieder harmonisch vereinen.

»Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. (Joh. 3.30

Entsprechend finden wir nun auch zwei Bärte in diesem Bild. Zum einen den Bart der „männlichen Jungfrau“, der ihr von Gott als Zeichen ihrer geistigen Vollkommenheit gegeben wurde und unterhalb des Mundes die ganze Kehle bedeckt. Zum anderen den schmaleren und wachsenden Bart am Kinn des „Spielmanns“ zwischen Mund und Kehle bzw. Drossel als Zeichen seiner wachsenden geistigen Reife. Auch das erinnert uns an „König Drosselbart“, der als wirkender Geist bzw. „Spielmann“ von der Seele der Natur getrennt natürlich zum armen Bettler wurde, weil er um die Formen der Natur betteln muß. Doch im gleichen Prozeß, wie die Seele ihren Egoismus der Trennung aufgibt, wird auch der Bettler wieder zum König, vereint sich wieder mit seiner Königin und empfängt die goldene Krone des Heiligen Geistes und damit sicherlich auch den „Vollbart“ der geistigen Vollkommenheit zwischen Kopf und Körper. So wird der Spielmann als Subjekt wieder eins mit dem Bild als Objekt, das er „betrachtet“. Wie geschieht das zwischen Kopf und Körper?

Was bedeutet der Kehlkopf? Hier können wir nun über die körperliche und auch geistige Quelle der Klänge und Töne nachdenken, die hier durch Drosseln des Atems erzeugt werden können, um zu singen oder zu sprechen. Diesbezüglich könnte die Geige auch nur ein symbolischer Ersatz für den Kehlkopf sein, weil der Klang nun einmal in Bildern schwer darstellbar ist. Zumindest ist die Verbindung zwischen der Geige mit ihren Saiten und dem Kehlkopf mit seinen Stimmbändern nicht nur örtlich im Bild, sondern auch funktionell deutlich. Und es ist auch in der Geschichte wichtig, daß der Spielmann nicht mit vielen Worten zum heiligen Bild spricht, sondern mit dem Klang seiner Geige. So daß man auch sagen könnte: Wie begriffliche Worte dem gedanklichen Verstand dienen, so dient der allgemeine Klang der ganzheitlichen Vernunft, denn er ist auch in allen Worten enthalten.


Sada-Shiva mit der OM-Kehle

So kommen wir nun schließlich zu der großen Frage: Wie kann der Klang ein Bild bewegen? Oder warum tanzt die Jungfrau nach der Geige des Spielmanns? Nun, der Klang oder die Welle ganz allgemein ist die Grundlage jeder Kommunikation. Und die Verbindung zwischen Geist und Natur oder Subjekt und Objekt setzt natürlich immer irgendeine Kommunikation voraus. Doch je begrenzter diese Kommunikation ist, desto größer erscheint uns die Trennung zwischen beiden. Dazu hat auch die moderne Quantenphysik bewiesen, daß diese Kommunikation keine Einbahnstraße ist, sondern der Beobachter das Beobachtete mitbestimmt, wie wir auch ganz selbstverständlich tagtäglich mit Geisteskraft unseren Körper bewegen. Auch dazu finden wir im Bild ein genial gezeichnetes Dreieck, wie einerseits das äußere Bild über den Blickkontakt in die Augen des geistigen Beobachters fließt und anderseits der Klang über die Geige, die auf den geistigen Fuß bzw. Grund des Bildes gerichtet ist, in das äußere Bild fließt und damit das körperliche Bild bewegt und belebt.

In diesem Schema sieht man gut, wie sich zwischen Subjekt und Objekt das Dreieck zur Natur hin öffnet, wie die Einheit des Geistes mit der Vielfalt der Natur zusammenhängt und wie die Seele ihren Wirkungskreis hat, um die Fäden von Ursache und Wirkung zu spinnen. Interessant ist auch, daß die Bewegung durch den Klang der Geige unten an den Füßen am Grund des Bildes geschieht und nicht oben, wo die Hände ans Kreuz der Gegensätze genagelt wurden, wie auch die Quantenphysik diesen Einfluß des Beobachters auf das Beobachtete ganz unten am Grund der Natur gefunden hat. Ähnlich finden wir dann auch auf der Geige zwei gegensätzliche Wellen, die in sich selbst ihren Anfang und ihr Ende haben.

Und bezüglich dieser Beweglichkeit kann man sogar noch einen Schritt weiter zur Einheit gehen, wie es dann auch im Zen-Buddhismus heißt:
Zwei Mönche stritten sich. Der eine sagte: „Die Flagge bewegt sich.“ Der andere sagte: „Nein, der Wind bewegt sich.“ Huineng hörte das und sprach: „Weder der Wind noch die Flagge bewegt sich. Was sich bewegt ist euer Geist.“

Dann kann man sich fragen: Was bewegt den Geist? Wer spielt die Geige? Wer spricht die Worte? Wem paßt der goldene Schuh? Wer geht damit den Weg? Was ist das für eine Kraft, die alles bewegt, belebt und tanzen läßt, die uns jeden Morgen aufwachen läßt, die unsere Gedanken und Körper bewegt, die unsere Organe arbeiten und die Zellen funktionieren läßt, die alle Atome, Planeten und Sterne in Raum und Zeit kreisen läßt, die alle Wellen auf dem Meer bewegt, die dann miteinander spielen, sich überlagern, verstärken oder auslöschen im ewigen Tanz der Gegensätze? Damit kommen wir schließlich wieder zum reinen Bewußtsein zurück, dem Licht der Welt und das ganzheitliche oder göttliche Wort, das alles formt und bewegt. Oder wie es der berühmte Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger moderner ausdrückt: „Information ist der Urstoff des Universums.“ Deswegen kann auch eine Software die Hardware einer Maschine bewegen, weil die Hardware im Grunde auch nur aus Information besteht.

Ähnlich heißt es auch in der Bibel:
»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen. (Joh. 1.1

Die Finsternis können wir im Inneren des Umhangs erkennen, der sich vor uns öffnet, so daß im Licht des reinen Bewußtseins das vollkommene Bild der „männlichen Jungfrau“ erscheint. Dieser Umhang des Heiligen Geistes steht symbolisch als Dreieck oder Kegel auf dem sechseckigen Grundstein als Sockel. Und das ist es, was alles miteinander verbindet und vereint. So daß auch die goldene Krone an der Spitze im Zentrum des Kreuzes steht, wo sich alle Gegensätze wieder treffen und vereinen.

»Darum spricht der Herr: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen köstlichen Eckstein, der wohl gegründet ist. Wer glaubt, der flieht nicht. (Jes. 28.16

Warum ein unbewegter Stein? Nun, die oben erwähnte Zen-Geschichte geht noch weiter:
Als die beiden streitenden Mönche erkannt hatten, daß sich nur ihr Geist bewegt, kam noch eine Nonne dazu, die ihnen offenbarte: „Weder der Wind noch die Flagge noch der Geist bewegt sich im Grund der Wahrheit.“

So finden wir nun in diesem Grundstein auch das Ziel, wohin uns die goldenen Schuhe auf dem Weg der Wahrheit führen möchten, nämlich dahin zurück, woher sie gekommen sind, zum Grund- und Eckstein von Allem, zum reinen Bewußtsein, das selbst formlos und unbewegt ist, aber jede Form annehmen und alles bewegen kann. Denn wie die Geige auf den Fuß zielt, um den Weg zu finden, so zielt der Geigenbogen direkt auf das strahlende Juwelen-Herz der reinen Liebe, um alle Gegensätze wieder in die stille Mitte zu bringen, die durch die Anhaftung am Kreuz der Welt in Raum und Zeit auseinandergezogen wurden. Und das geschieht dann auch symbolisch in diesem Grund- und Eckstein, wo sich alle Formen von Männlich und Weiblich, Krone, Kopf und Herz, Hände und Füße, Feuer und Wasser, Körper und Seele, Geist und Natur, Subjekt und Objekt, Mein und Dein, Geburt und Tod, Vergangenheit und Zukunft, Gut und Böse, Himmel und Hölle, Licht und Finsternis, Yang und Yin wieder in einer Ganzheit bzw. Gottheit harmonisch vereinen:

Das ist dann auch der Grund- und Eckstein, den die »Bauleute verworfen haben (Matth. 21.42)«, weil er keine äußerlichen Grenzen hat, die der begriffliche Verstand begreifen kann, um den gedanklichen Babel-Turm seiner weltlichen Vorstellungen aufzubauen. Wenn er aber äußerliche Grenzen bekommt, dann erscheint das symbolische Hexagon als die „alte Hexe“ zwischen Innen und Außen bzw. Geist und Natur und wird zu einem trennenden Ego-Bewußtsein zwischen Subjekt und Objekt und damit zum »Stein des Anstoßes und Fels des Ärgernisses (Jes. 8.14)«. So wird auch im obigen Bild der Heiligen genial dargestellt, wie sie uns auf dem Grundstein soweit wie möglich entgegenkommt. Und nun ist es unsere geistige Aufgabe, diese vermeintliche Grenze aufzulösen, die wir hier als getrennter Beobachter wahrnehmen, der glaubt, auf dem Grund einer äußerlichen Natur zu stehen oder zu knieen und seine eigene Geige zu spielen.

Entsprechend heißt es auch im „Wasserstein der Weisen“, einem alten Alchemiebuch von 1619, das vor allem von der geistigen Bedeutung der Alchemie handelt:
Zumal ja Gott, ja Gottes Herz, sein ewiger Sohn, der rechte, ewige, köstliche und bewährte Eck- und Grundstein ist, den die Bauleute verworfen und verachtet haben. Er ist der wahre alte, ja uralte, der vor dem Grund der Welt gewesen war und seit Ewigkeit ist. Er ist der wahre verborgene und bekannte Gott, übernatürlich und unbegreiflich, himmlisch, gesegnet, hochgelobt und alleinseligmachend, ja ein Gott aller Götter. Er ist der rechte Wahrhaftige, der nicht lügen kann, der Allergewisseste, zu tun und zu schaffen, was er will, oder der allein Mächtige. Er ist der Geheimste und Ewige, in dem alle Geheimnisse und Schätze der Weisheit verborgen liegen, die allein göttliche Kraft und Allmacht, die den Narren oder Gelehrten dieser Welt verborgen ist. Er ist der Erste und Letzte im Himmel und auf Erden. Er ist das wahrhaft einige und vollkommene Gleichnis aller Elemente, von dem, durch den und in dem alle Dinge sind und herkommen. Er ist ein unzerstörbares Wesen, das da von keinem Element getrennt oder geschieden werden kann.

So ist nun die reine Geist-Seele nach der mystischen Hochzeit zu einem lebendigen Bild geworden, und damit spricht sie als ganzheitliche Geist-Natur sowohl in diesem heiligen Bild, als auch im Maler des Bildes und im Spielmann, der als Pilger das heilige Bild anschaut und die goldenen Schuhe empfängt, um den Weg der Wahrheit zur mystischen Hochzeit von Geist und Natur zu gehen. Und wenn wir darum bitten und achtsam lauschen, dann spricht diese Geistseele als „heilige Jungfrau Kümmernis“ sicherlich auch in uns und möchte uns gern die goldenen Schuhe geben, um den Weg der Wahrheit zu gehen, um die Ursache des Leidens zu erkennen und aufzulösen und damit den heilsamen Sinn des Leidens zu erfüllen.

So kann man hier auf wunderbare Weise in einem heiligen Bild und seiner Geschichte betrachten, wie der Heilige Geist den äußerlichen Umhang öffnet, der mit den goldenen Wellen auf dem dunklen Meer der Ursachen geschmückt ist, die wir im Spiel der äußerlichen Welt im Werden und Vergehen sehen. Und damit gewährt er dem Betrachter, der sich verneigt und seine Geige der Vernunft erklingen läßt, einen tiefgründigen Einblick in das Wirken von Geist und Natur als Mann und Frau in der irdischen Welt.

Damit haben wir versucht, den Gedankenstrom soweit wie möglich niederzuschreiben, der uns in den vergangenen Tagen von diesem mystischen Bild der „heiligen Jungfrau Kümmernis“ zugeflossen ist. Ob das viel Sinn macht, ist schwer zu sagen, doch irgendwie wollte er aufgeschrieben werden. Möge überall die Geige der Liebe erklingen. Danke!



... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Das arme Mädchen und die Sterntaler - (Thema: Armut im Geiste)
Der Tod und der Gänsehirt - (Thema: Gänse und Ganzheit)
Der Fuchs und die Gänse - (Thema: Verstand und Ganzheit)
Die Gänsehirtin am Brunnen - (Thema: Geist, Seele und Natur)
Die goldene Gans - (Thema: wahre Ganzheit erkennen)
Die Gänsemagd - (Thema: Einheit und Vielfalt)
König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis (Thema: Bart und Geige)
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)

[1815] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1815
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[Jacob Böhme] Alle Texte in deutscher Überarbeitung / www.boehme.pushpak.de
[MHB] Das Mahabharata, www.mahabharata.pushpak.de, Undine & Jens, 2014
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 3. November 2024