Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die Gänsehirtin am Brunnen

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Nach dem „Gänsehirt“ wollen wir nun wieder über die weibliche Seite nachdenken, über die Natur und ihre reine Seele, also die „Gänsehirtin“, welche sozusagen die „Ganzheit“ hütet. Dazu ist dieses Märchen besonders interessant, weil uns hier die berüchtigte „Hexe“ aus einer etwas anderen Sichtweise begegnet:

Es war einmal ein steinaltes Mütterchen, das lebte mit ihrer Herde Gänse in einer Einöde zwischen Bergen und hatte da ein kleines Haus. Die Einöde war von einem großen Wald umgeben, und jeden Morgen nahm die Alte ihre Krücke und wackelte in den Wald.

So finden wir zuerst „Mutter Natur“, die „steinalt“, also mindestens so alt, wie die kosmische Materie selbst ist, und in dieser weiten „Einöde“ des natürlichen Universums lebt. So steht auch das „Tohuwabohu“ am Anfang der biblischen Schöpfung, als Alles noch öde und leer war. Darin lebt sie nun mit „ihrer Herde Gänse“ und baut sich ein „kleines Haus zwischen den Bergen“ aufgetürmter Materie, das an unser kleines Körperhaus erinnert, wo wir mit den Sinnen und Gedanken wie mit einer Herde gackernder Gänse leben. Diese „Einöde“ oder Ganzheit, in der alles möglich ist, wird dann vom Wald unserer Vorstellungen begrenzt und gestaltet, so daß auch eine gewisse Ordnung in das Chaos grenzenloser Möglichkeiten kommt. Damit geht nun diese mütterliche Natur „jeden Morgen“, wenn das äußerliche Licht des Bewußtseins erwacht, an ihren „Krücken“ der begrenzten Sinne und Gedanken in diesen Wald auf Nahrungssuche. Und wie „wacklig“ diese Angelegenheit ist, wissen wir wohl alle:

Da war aber das Mütterchen ganz geschäftig, mehr als man ihr bei ihren hohen Jahren zugetraut hatte, sammelte Gras für ihre Gänse, brach sich das wilde Obst ab, soweit sie mit den Händen reichen konnte, und trug alles auf ihrem Rücken heim. Man hätte meinen sollen, die schwere Last müßte sie zu Boden drücken, aber sie brachte sie immer glücklich nach Hause.

So trägt nun Mutter Natur seit urältesten Zeiten alle Formen an Nahrung und greifbaren Früchten „nach Hause“ in die Häuser aller Geschöpfe, und ist bis heute nicht müde geworden. Doch nun wird es interessant: Was bisher ein ganzheitliches Wesen war, trifft nun auf andere Wesen, die ihr „begegnen“:

Wenn ihr jemand begegnete, so grüßte sie ganz freundlich: „Guten Tag, lieber Landsmann, heute ist schönes Wetter. Ja, Ihr wundert Euch, daß ich das Gras schleppe, aber jeder muß seine Last auf den Rücken nehmen.“

So ist die Natur in ihrem Wesen stets freundlich und begrüßt natürlich jeden Geist als „Lands-Mann“, weil auch er im Grunde aus demselben Land stammt, und ermahnt uns, daß in der Natur immer „schönes Wetter“ ist, und wir alle unsere Last tragen müssen.

Doch die Leute begegneten ihr nicht gerne und nahmen lieber einen Umweg, und wenn ein Vater mit seinem Knaben an ihr vorüberging, dann sprach er leise zu ihm: „Nimm dich in acht vor der Alten, die hat‘s faustdick hinter den Ohren: Es ist eine Hexe.“

Doch nicht jeder Geist, der auf die Natur schaut, begegnet ihr gern. So wird nun hier vom „Vater“ als ein geistiges Wesen gesprochen, der das Mütterchen trifft, und seinen Sohn als heranwachsenden Ego-Verstand vor dem weiblichen Wesen der Natur warnt, die uns natürlich auch viel Unangenehmes bringen kann, viel Unglück, Schmerz, Verlust und sogar den Tod, und die den Geist in ihren Bann ziehen und ihn damit verzaubern oder verhexen kann. Womit wir wieder bei dem Begriff der „Hexe“ wären, der vor allem dann erscheint, wenn Geist und Natur getrennt werden. Denn genau an dieser Grenze erscheinen und arbeiten unsere fünf körperlichen Sinne mit dem Denken, die sich so leicht täuschen und verzaubern lassen, und scheinen den bezeugenden Geist von einer äußeren Natur zu trennen. Und wenn diese Trennung verschwindet, dann verschwindet auch die Hexe, wie wir auch in diesem Märchen noch lesen werden.

Ähnlich schreibt auch Goethe in [Faust II]:

Natur und Geist -
so spricht man nicht zu Christen.
Deshalb verbrennt man Atheisten,
Weil solche Reden höchst gefährlich sind.
Natur ist Sünde, Geist ist Teufel,
Sie hegen zwischen sich den Zweifel,
Ihr mißgestaltet Zwitterkind.

Damit endet sozusagen die Einleitung des Märchens, und im weiteren finden wir nun das männliche Geistwesen als einen jungen Edelmann und die reine Seele des weiblichen Naturwesens als eine Gänsehirtin wieder, die dem Mütterchen Natur dient und die Gänse in der Ganzheit der Natur hütet:

Eines Morgens ging ein hübscher junger Mann durch den Wald. Die Sonne schien hell, die Vögel sangen und ein kühles Lüftchen strich durch das Laub, und er war voll Freude und Lust. Noch war ihm kein Mensch begegnet, als er plötzlich die alte Hexe erblickte, die am Boden auf den Knien saß und Gras mit einer Sichel abschnitt. Eine ganze Last hatte sie schon in ihr Tragetuch geschoben, und daneben standen zwei Körbe, die mit wilden Birnen und Äpfeln angefüllt waren. „Aber, Mütterchen“, sprach er, „wie kannst du das alles fortschaffen?“ - „Ich muß sie tragen, lieber Herr“, antwortete sie, „reicher Leute Kinder brauchen es nicht. Aber beim Bauer heißt es: Schau dich nicht um, dein Buckel ist krumm.“

So geht nun unser heranwachsender Ego-Verstand als „unbeschwerter junger Mann“ durch den Wald der Welt bzw. seiner Vorstellungen von einer Welt, und die Natur meint es gut mit ihm und zeigt sich in ihrem freundlichen Wesen. So fühlt man sich wohl, wenn man noch eins mit der Natur ist. Doch dann geschah es plötzlich, daß ihm die Natur als ein äußerliches Wesen „begegnete“, das ihm nun bewußt gegenüberstand. Und was bisher ein Ganzes war, trennt sich plötzlich in Geist und Natur, Subjekt und Objekt, und der Verstand sieht, wie die Natur mühsam für unsere Nahrung sorgt und wundert sich, wie sie das bisher ganz allein gemacht hat. Wie auch ein Kind irgendwann erkennt, daß es bisher von seinen Eltern ernährt und versorgt worden ist. Und Mutter Natur sagt, daß es ihre natürliche Aufgabe ist, ohne sich nach einer anderen umzuschauen, aber das Kind von „reichen Eltern“ braucht das nicht zu tun. So fragen wir uns nun: Sind wir ein Kind von reichen Eltern, das sich nicht selber um seine eigene Nahrung bemühen muß, ein Kind von göttlicher Ganzheit im reinen Bewußtsein? Oder müssen wir Angst haben, an Hunger und Durst zu sterben?

»Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? (Matth. 6.26

„Wollt Ihr mir helfen?“, sprach sie, als er bei ihr stehenblieb, „Ihr habt noch einen geraden Rücken und junge Beine, es wird Euch ein Leichtes sein. Auch ist mein Haus nicht so weit von hier: Hinter dem Berge dort steht es auf einer Heide. Wie bald seid Ihr da hinaufgesprungen.“ Der junge Mann empfand Mitleid mit der Alten: „Zwar ist mein Vater kein Bauer“, antwortete er, „sondern ein reicher Graf, aber damit Ihr seht, daß die Bauern nicht allein tragen können, so will ich Euer Bündel aufnehmen.“

Nun, offenbar war der junge Mann kein reines Kind mehr, läßt sich von der schmeichelnd-herausfordernderen Rede ergreifen und „empfand Mitleid“. Über den Begriff „Mitleid“ kann man viel nachdenken. Man sagt ja gern: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Doch für den Ego-Verstand gilt erfahrungsgemäß: „Geteiltes Leid ist doppeltes Leid.“ Denn das Ego lebt von der Trennung, und daß hier in der Trennung zwischen Geist und Natur das Ego wächst und spricht, das deutet bereits der letzte Satz an: „So will ich…“

„Wollt Ihr es versuchen“, sprach sie, „so soll es mir lieb sein. Eine Stunde weit werdet Ihr freilich gehen müssen, aber was macht Euch das aus! Dort die Äpfel und Birnen müßt Ihr auch tragen.“ Es kam dem jungen Grafen doch ein wenig bedenklich vor, als er von einer Stunde Weges hörte, aber die Alte ließ ihn nicht wieder los, packte ihm das Tragetuch auf den Rücken und hing ihm die beiden Körbe an den Arm. „Seht Ihr, es geht ganz leicht“, sagte sie. „Nein es geht nicht leicht“, antwortete der Graf und machte ein schmerzliches Gesicht, „das Bündel drückt ja so schwer, als wären lauter Wackersteine darin, und die Äpfel und Birnen haben ein Gewicht, als wären sie von Blei. Ich kann kaum atmen.“

Nicht, daß es falsch wäre, anderen zu helfen. Entscheidend ist jedoch die Motivation, die dahintersteht, denn entsprechend ist die Wirkung. Wenn wir als Menschen der Natur helfen wollen, dann wollen wir es gewöhnlich viel besser machen als die Natur selbst, zumindest aus unserer begrenzten Sicht, was wir als „Besser“ verstehen, denn das eigentliche Ziel der Natur kennen wir nicht, wie auch der Jüngling hier im Märchen nicht weiß, welche Rolle das alte Mütterchen spielt. Und so wird dieses „mitleidige Helfen“ oft eine leidvolle Erfahrung und schafft uns viele Probleme dort, wo die Natur bisher mühelos und im Ganzen vollkommen gewirkt hat. Denken wir nur an die vielen chemischen Gifte, mit denen wir der Natur helfen wollen. Schon damit lädt sich der Mensch eine Last auf, die ihn noch lange schmerzlich bedrücken wird:

Er hatte Lust alles wieder abzulegen, aber die Alte ließ es nicht zu. „Seht einmal“, sprach sie spöttisch: „Der junge Herr will nicht tragen, was ich alte Frau schon so oft fortgeschleppt habe. Mit schönen Worten sind sie bei der Hand, aber wenn es ernst wird, so wollen sie sich aus dem Staub machen. Was steht Ihr da“, fuhr sie fort, „und zaudert, hebt die Beine auf. Es nimmt Euch niemand das Bündel wieder ab.“ Solange er auf ebener Erde ging, war es noch auszuhalten, aber als sie an den Berg kamen und steigen mußten, und die Steine hinter seinen Füßen hinabrollten, als wären sie lebendig, da ging‘s über seine Kräfte. Die Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn und liefen ihm bald heiß, bald kalt über den Rücken hinab. „Mütterchen“, sagte er, „ich kann nicht weiter, ich will ein wenig ruhen.“ „Nichts da“, antwortete die Alte, „wenn wir angelangt sind, dann könnt Ihr ausruhen, aber jetzt müßt Ihr vorwärts. Wer weiß, wozu Euch das gut ist.“ - „Alte, du wirst unverschämt“, sagte der Graf und wollte das Tragetuch abwerfen, aber er bemühte sich vergeblich: Es hing so fest an seinem Rücken, als wenn es angewachsen wäre. Er drehte und wendete sich, aber er konnte es nicht wieder loswerden. Die Alte lachte dazu und sprang ganz vergnügt auf ihrer Krücke herum. „Erzürnt Euch nicht, lieber Herr“, sprach sie, „Ihr werdet ja so rot im Gesicht, wie ein Zinshahn. Tragt Euer Bündel mit Geduld! Wenn wir zu Hause angelangt sind, dann will ich Euch schon ein gutes Trinkgeld geben.“

So erntet der Mensch oft nur Spott von der Natur und versucht vergeblich, diese Last wieder abzuwerfen, die er sich aufgeladen hat. Warum kann er diese Last nicht abwerfen? Weil er sich von der Natur getrennt und damit auch seine reine Seele verloren hat. Damit ist er ein getrenntes Lebewesen geworden, ein Ego mit seinem eigenen Verstand und Körper, und lädt sich seine eigene persönliche Last auf. Dann fällt es dem Ego überaus schwer, sein Eigentum wieder loszulassen, sei es Glück oder Leid. Doch Mutter Natur kennt ihre Aufgabe und weiß, was zu tun ist, wenn wir uns solche Lasten aufladen. So spricht dann auch Christus zu seinen Jüngern:
»Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. (Matth. 16.24

Was wollte er machen? Er mußte sich in sein Schicksal fügen und geduldig hinter der Alten herschleichen. Sie schien immer flinker zu werden, und ihm seine Last immer schwerer. Auf einmal tat sie einen Satz, sprang auf das Tragetuch und setzte sich oben darauf. Wie zaundürre sie war, so hatte sie doch mehr Gewicht als die dickste Bauerndirne. Dem Jüngling zitterten die Knie, aber wenn er nicht fortging, so schlug ihn die Alte mit einer Gerte und mit Brennesseln auf die Beine. Unter beständigem Ächzen stieg er den Berg hinauf und gelangte endlich bei dem Haus der Alten an, als er eben niedersinken wollte.

Ja, so müssen wir schließlich sogar die ganze Natur erleiden, alles Leiden, was die Welt jemals angesammelt hat, um schließlich aus dem Tal, in das wir gefallen sind, wieder auf den Berg zu steigen, unser Bewußtsein zu erheben und das ganzheitliche bzw. göttliche Bewußtsein wiederzufinden. Meister Eckhart sagt dazu:
In voller Wahrheit: Gäbe es einen Menschen, der um Gott und rein nur um Gottes willen leiden wollte, und fiele auf ihn alles das Leiden miteinander, das sämtliche Menschen je erlitten und das die ganze Welt zusammen trägt, das täte ihm nicht weh und wäre ihm auch nicht schwer, denn Gott trüge die Last. Wenn mir einer einen Zentner auf meinen Nacken legte und ihn dann ein anderer auf meinem Nacken hielte, so lüde ich mir ebenso lieb hundert auf wie einen, denn es wäre mir nicht schwer und täte mir auch nicht weh. Kurz gesagt: Was immer der Mensch um Gott und um Gottes willen allein leidet, das macht ihm Gott leicht und süß. (Predigt 2)

Die Last ist also gar nicht das große Problem, sondern wer die Last trägt. Wer ist der Träger? Wer ist der Leidende? - Doch was machen wir? Wir erfinden uns Maschinen, die unsere Last tragen sollen, und werden zu Sklaven der Maschinen. Dann müssen wir auch noch die Maschinen ertragen und leben am Ende selbst wie Maschinen. Wie wollen wir damit jemals auf den Berg in die Höhe kommen, wo die weißen Gänse bzw. Sinne und Gedanken gehütet werden und wohin uns die Natur ruft?

Als die Gänse die Alte erblickten, streckten sie die Flügel in die Höhe und die Hälse voraus, liefen ihr entgegen und schrien ihr „Wulle, Wulle“.

Das „Wulle, Wulle“ findet man in alten Büchern als Lockruf für Gänse. So ist hier vermutlich das alte Mütterchen der Natur gemeint, die damit unsere fünf Sinne mit den Gedanken zur Fütterung lockt. Dazu gibt es auch das alte Kinderlied:

Wulle, Wulle Gänschen,
wackelt mit dem Schwänzchen.
Wißt ihr denn auch, wer ich bin?
Ich bin Eure Königin,
ihr seid meine Kinder,
gi, ga, gack!

Seht, da ziehn sie alle fünfe
ohne Schuh und ohne Strümpfe.
Hei, wie ist das Leben schön,
wenn die Gänse barfuß gehn,
selbst im kalten Winter,
gi, ga, gack!

Schniebel, Schnäbel, rupf und pflück,
Abendbrot, Mittagessen und Frühstück:
Was das Gänschen gerne mag,
findet es den ganzen Tag:
grüne Blätter, frisches Gras,
gi, ga, gack!

So erinnert uns das Lied bereits an die Gänsehirtin und Seele der Natur, die als Königin unsere fünf Sinne und damit auch die Gedanken hütet. Fehlt nur noch der König.

Hinter der Herde mit einer Rute in der Hand ging eine bejahrte Trulle, stark und groß, aber häßlich wie die Nacht. „Frau Mutter“, sprach sie zur Alten, „ist Euch etwas begegnet? Ihr seid so lange ausgeblieben.“ - „Bewahre, mein Töchterchen“, erwiderte sie, „mir ist nichts Böses begegnet, im Gegenteil, der liebe Herr da hat mir meine Last getragen. Denk dir, als ich müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spaß miteinander gemacht.“ Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann das Bündel vom Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach: „Nun setzt Euch auf die Bank vor die Tür und ruht Euch aus. Ihr habt Euren Lohn redlich verdient, der soll auch nicht ausbleiben.“

So kommt nun der Jüngling bzw. junge Geist auf den mystischen Berg, wo die alte Mutter Natur zu Hause ist, wie auch die reine Seele der Natur als ihr „Töchterchen“, die der Geist verloren hatte, als er sich getrennt der Natur gegenüber erkannte. Es wird auch noch einmal deutlich gesagt, daß die Natur die getragene Last und das Leiden von einer ganz anderen Seite sieht, nämlich mehr wie ein lustiges Spiel als ein bitterer Ernst. Der Ego-Verstand wird hier zwar protestieren, aber diese Sichtweise als „Spiel des Lebens“ oder „Schauspiel der Sinne“ kennen wir von den europäischen Göttergeschichten genauso, wie auch von den indischen, wo man sogar vom göttlichen Spiel „Lila“ spricht, ein reines Spiel des Bewußtseins. Und hier in der Höhe des Bewußtseins wird ihm diese Last endlich auch abgenommen: Das Bündel an Nahrung für die Sinne und die Körbe voller Früchte für den Ego-Verstand, sowie die ganze äußerliche Natur selbst, die er getrennt von sich erkannt hatte und sich noch oben draufsetzte. Dabei wird sie nur so schwer, daß man nicht völlig daran zerbricht, denn das ist natürlich nicht das Ziel. Zu beachten ist, daß wir diese Last nicht selber abwerfen können, sondern daß sie uns von der Natur als Ganzes bzw. Göttliches zur rechten Zeit abgenommen wird. So wird auch „der Lohn nicht ausbleiben“, denn der Geist ist auf dem richtigen Weg und eigentlich schon nah am Ziel, aber das wahre Wesen der Natur und die reine Seele kann er hinter den äußerlichen Formen der Vergänglichkeit und scheinbaren Häßlichkeit noch nicht erkennen:

Dann sprach sie zu der Gänsehirtin: „Geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen! Es schickt sich nicht, daß du mit einem jungen Herrn allein bist. Man muß nicht Öl ins Feuer gießen, denn er könnte sich in dich verlieben.“ Der Graf wußte nicht ob er weinen oder lachen sollte. „Solch ein Schätzchen“, dachte er, „und wenn es dreißig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren.“ Indessen hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und ging dann mit ihrer Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden Apfelbaum. Die Luft war lau und mild, ringsumher breitete sich eine grüne Wiese aus, die mit Himmelsschlüsseln, wildem Thymian und tausend anderen Blumen übersät war, mitten hindurch rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte, und die weißen Gänse gingen auf und ab spazieren oder pudelten sich im Wasser. „Es ist recht lieblich hier“, sagte er, „aber ich bin so müde, daß ich die Augen nicht aufbehalten mag: Ich will ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoß kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg, denn sie sind mürb wie Zunder.“

Nein, die große Liebe erwacht noch nicht. Doch wie die Gänse, so erfreuen sich auch die Sinne und Gedanken des Jünglings an der lieblichen Schönheit der Natur in dieser unbeschwerten Höhe. Aber er konnte die „Himmelsschlüssel“ sowie die ätherische Wirkung des „wilden Thymians“ noch nicht verwenden, um aus der Äußerlichkeit auch in die Innerlichkeit zu kommen. Und so wird der Geist müde, denkt an seine Leiblichkeit und schläft ein. Obwohl es doch der größte Segen wäre, wenn ein reiner Wind bzw. Geist käme und ihm die Leiblichkeit wegblasen würde. Dann hätte er sicherlich auch die reine Seele der Natur wiedererkennen können…

Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte und schüttelte ihn wach. „Steh auf!“, sagte sie: „Hier kannst du nicht bleiben. Freilich habe ich dir‘s sauer genug gemacht, aber das Leben hat es doch nicht gekostet. Jetzt will ich dir deinen Lohn geben. Geld und Gut brauchst du nicht, da hast du etwas anderes.“ Damit steckte sie ihm ein Büchslein in die Hand, das aus einem einzigen Smaragd geschnitten war. „Bewahre es wohl!“, setzte sie hinzu: „Es wird dir Glück bringen.“

Doch allzulange läßt uns Mutter Natur nicht schlafen, denn sie weiß ja, welche Aufgabe wir noch zu erfüllen haben. Und dazu treibt sie uns auch sozusagen „mit Zuckerbrot und Peitsche“. Der Lohn ist ein wunderbares Symbol: Eine Dose mit Deckel, die aus einem Ganzen gemacht wurde, einem grünen Smaragd, der an die Ganzheit der grünenden Natur erinnert, wie auch an den berühmten „Stein der Weisen“, und auch eine ganz entscheidende Erinnerung enthält, wie wir noch sehen werden.

Der Graf sprang auf, und da er fühlte, daß er ganz frisch und wieder bei Kräften war, so dankte er der Alten für ihr Geschenk und machte sich auf den Weg, ohne nach dem schönen Töchterchen auch nur einmal umzublicken. Als er schon eine Strecke weg war, hörte er noch aus der Ferne das lustige Geschrei der Gänse.

Die reine Seele hat er noch nicht erkannt, aber den Ruf der ganzheitlichen Sinne hört er noch lange in sich widerhallen. Und wer aus dieser geistigen Höhe herabkommt, der braucht sicherlich einige Zeit, um sich wieder in unsere gewöhnliche Welt zu verirren und sich hier wiederzufinden:

Der Graf mußte drei Tage in der Wildnis herumirren, ehe er sich herausfinden konnte. Da kam er in eine große Stadt, und weil ihn niemand kannte, wurde er in das königliche Schloß geführt, wo der König und die Königin auf dem Thron saßen. Der Graf ließ sich auf ein Knie nieder, zog das smaragdene Gefäß aus der Tasche und legte es der Königin zu Füßen. Sie hieß ihn aufstehen, und er mußte ihr das Büchslein hinaufreichen. Kaum aber hatte sie es geöffnet und hineingeblickt, so fiel sie wie tot zur Erde. Der Graf wurde von den Dienern des Königs festgehalten und sollte in das Gefängnis geführt werden, da schlug die Königin die Augen auf und rief, sie sollten ihn frei lassen, und jedermann sollte hinausgehen, sie wollte insgeheim mit ihm reden.

So kommt der junge Geist wieder unter die Herrschaft des weltlichen Königs mit seiner Königin in einer äußerlichen Natur, verneigt sich vor ihnen und widmet ihnen auch den Lohn, den er auf dem Berg empfangen hat. Doch es war kein gewöhnlicher Lohn „von Gut und Geld“, sondern ein geistiger, so daß sich die Königin an ihren Verlust erinnerte. Und wenn sich die äußerliche Natur an ihr reines Leben erinnert, dann erscheint sie äußerlich wie eine tote Hülle, aber öffnet schließlich ihre Augen, sieht einen Weg zum Leben, ruft den Geist zu sich, bittet um seine Befreiung und spricht innerlich „insgeheim mit ihm“:

Als die Königin allein war, fing sie bitterlich an zu weinen und sprach: „Was hilft mir Glanz und Ehre, die mich umgeben! Jeden Morgen erwache ich mit Sorgen und Kummer. Ich habe drei Töchter gehabt, davon war die jüngste so schön, daß sie alle Welt für ein Wunder hielt. Sie war so weiß wie Schnee, so rot wie Apfelblüte und ihr Haar so glänzend wie Sonnenstrahlen. Wenn sie weinte, so fielen nicht Tränen aus ihren Augen, sondern lauter Perlen und Edelsteine.

Ja, im äußeren Licht dieser Welt erwachen wir jeden Morgen voller „Kummer und Sorgen“, denn wir leben in einer vergänglichen Natur voll vergänglicher Formen. So klagt nun die Königin „allein“, also als ein ganzheitliches Wesen, aber auch als Königin eines weltlichen Königs, der als herrschender Geist in einer äußerlichen Natur herrscht. Die drei Töchter der Königin erinnern uns als weibliche Wesen der Natur an drei Ebenen der Seele bezüglich ihrer Reinheit und Ganzheit. Und in der jüngsten, die uns im Grunde immer gegenwärtig ist und nicht altern kann, erkennen wir die reine Seele wieder, weiß als Reinheit, rot als Liebe und golden als Wahrheit. Und ihre Tränen sind unser wahrer Reichtum, denn sie weint und trauert wegen ihrer Trennung vom reinen Geist, und damit bekommt auch unser Leiden einen wertvollen Sinn, der unser größter Reichtum in dieser Welt werden kann, wie wir noch sehen werden. - Doch warum trennte sich der weltliche Geist von ihr? Das erzählt uns nun die Königin:

Als sie fünfzehn Jahre alt war, da ließ der König alle drei Schwestern vor seinen Thron kommen. Da hättet ihr sehen sollen, was die Leute für Augen machten, als die jüngste eintrat: Es war, als wenn die Sonne aufging. Der König sprach: „Meine Töchter, ich weiß nicht, wann mein letzter Tag kommt. Ich will heute bestimmen, was eine jede nach meinem Tod erhalten soll. Ihr alle habt mich lieb, aber welche mich von euch am liebsten hat, die soll das Beste haben.“ Jede sagte sie hätte ihn am liebsten. „Könnt ihr es mir nicht ausdrücken“, erwiderte der König, „wie lieb ihr mich habt? Daran werde ich es sehen, wie ihr es meint.“ Die älteste sprach: „Ich habe den Vater so lieb wie den süßesten Zucker.“ Die zweite: „Ich habe den Vater so lieb wie mein schönstes Kleid.“ Die jüngste aber schwieg. Da fragte der Vater: „Und du, mein liebstes Kind, wie lieb hast du mich?“ - „Ich weiß es nicht“, antwortete sie, „und kann meine Liebe mit nichts vergleichen.“ Aber der Vater bestand darauf, sie müßte etwas nennen. Da sagte sie endlich: „Die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz, darum habe ich den Vater so lieb wie Salz.“

Warum an der Schwelle der „fünfzehn Jahre“? Als Zahlenspiel von 1 und 5 könnten wir wieder an die Gedanken und fünf Sinne denken, die zusammen die 6 als lateinisch „Sex“, griechisch „Hexa“ oder persönlich „Hexe“ bilden, als ein trennendes Prinzip. Und das ist auch die vermeintliche Schwelle oder Grenze zwischen unserer inneren und äußeren Welt bzw. zwischen Geist und Natur, die wie ein Zaun von dieser Hexe als „Hagazussa“ bewacht wird. Dazu sind die „15 Jahre“ auch eine Altersschwelle der Pubertät, wenn im heranwachsenden Menschen die wunderliche Liebe der „Sexualität“ bzw. „Hex-Dualität“ erwacht, so daß man sich unvollkommen fühlt, als getrenntes Wesen erkennt und in der Welt auf die Suche geht, um das Fehlende zu finden und wieder ganz zu werden. Und in dieser jüngsten Tochter erscheint diese Liebe besonders rein, im Gegensatz zu ihrem Vater. Denn in ihm zeigt sich die „Liebe“ des Ego-Verstandes eines weltlichen Königs, der sich von Tod und Verlust bedroht fühlt, seine Liebe in der äußerlichen Welt bestätigt haben will, und auch dieser weltlichen Art der Liebe, die man eigentlich Begierde nennen sollte, sein Reich anvertrauen möchte.

Warum vergleicht die jüngste Tochter ihre Liebe mit Salz? Meister Eckhart sagt dazu:
Das Salz ist die göttliche Liebe. Hätten wir die göttliche Liebe, so schmeckte uns Gott und alle Werke, die Gott je wirkte, und wir empfingen alle Dinge von Gott und wirkten alle dieselben Werke, die er wirkt. (Predigt 23)

Und auch Jesus spricht in der Bibel:
Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man's salzen? Es ist hinfort zu nichts nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. Ihr seid das Licht der Welt… (Matth. 5.13)

Als der König das hörte, geriet er in Zorn und sprach: „Wenn du mich so liebst wie Salz, so soll deine Liebe auch mit Salz belohnt werden.“ Da teilte er das Reich zwischen den beiden ältesten, der jüngsten aber ließ er einen Sack mit Salz auf den Rücken binden, und zwei Knechte mußten sie hinaus in den wilden Wald führen.

Warum erzürnt der König über eine göttliche bzw. ganzheitliche Liebe, über ein reines Licht eines reinen Bewußtseins? Nun, das ist eben unser größtes Problem. Der Ego-Verstand kann mit einer Ganzheit und damit auch mit einem Gott nichts anfangen, sondern fühlt sich zutiefst davon bedroht, denn er ist ein trennendes Ichbewußtsein, das nur in Gegensätzen denken kann. Deshalb sind es wohl auch zwei Knechte, welche die reine Seele „hinaus in den wilden Wald“ unserer Vorstellungen führen sollen. Aus dieser Sicht wäre das Salz ein interessantes Gleichnis für unser Bewußtsein: Wenn es verwehrt wird, schmeckt alles leer, und wir fallen in dunkle und kalte Trägheit. Wenn es begehrt wird, versalzen wir alles, und fallen in feurige Leidenschaft. Und doch geht es nicht ohne, denn es ist der Grund von allem, und ohne Bewußtsein könnten wir gar nicht leben. Entsprechend finden wir auch in den Anmerkungen zu diesem Märchen:
Unvollständig aber ist das Motiv „Lieb wie das Salz“ durchgeführt. Es fehlt die Beschämung des alten Königs, der durch die ungesalzenen Speisen den Wert des Salzes erkennt und eingesteht, die Versicherung seiner jüngsten Tochter, sie liebe ihn wie das Salz, sei kein Spott gewesen. (Bolte/Polívka, Band 3, S305)

„Wir haben alle für sie gefleht und gebeten“, sagte die Königin, „aber der Zorn des Königs war nicht zu erweichen. Wie hat sie geweint, als sie uns verlassen mußte! Der ganze Weg ist mit Perlen besät worden, die ihr aus den Augen geflossen sind. Den König hat bald hernach seine große Härte gereut, und er hat das arme Kind in dem ganzen Wald suchen lassen, aber niemand konnte sie finden. Wenn ich denke, daß sie die wilden Tiere gefressen haben, so weiß ich mich vor Traurigkeit nicht zu fassen. Manchmal tröste ich mich mit der Hoffnung, sie sei noch am Leben und habe sich in einer Höhle versteckt oder bei mitleidigen Menschen Schutz gefunden. Aber stellt Euch vor, als ich Euer Smaragdbüchslein aufmachte, so lag eine Perle darin, gerade der Art, wie sie meiner Tochter aus den Augen geflossen sind, und da könnt Ihr euch vorstellen, wie mir der Anblick das Herz bewegt hat. Ihr sollt mir sagen, wie Ihr zu der Perle gekommen seid.“

Ja, die reine Seele wird man „im ganzen Wald“ unserer Vorstellungen nicht finden können. Sie kann zwar von „wilden Tieren gefressen werden“, doch sterben kann sie eigentlich nicht. So versteckt sie sich und sendet uns zur rechten Zeit eine wertvolle Erinnerung in Form der Perlen ihrer Tränen, die sie um ihre Trennung weint.

Der Graf erzählte ihr, daß er sie von der Alten im Walde erhalten hätte, die ihm nicht geheuer vorgekommen wäre und eine Hexe sein müßte. Von ihrem Kind (ihrer jüngsten Tochter) aber hätte er nichts gehört und gesehen. Doch der König und die Königin faßten den Entschluß, die Alte aufzusuchen, denn sie dachten, wo die Perle gewesen wäre, da müßten sie auch Nachricht von ihrer Tochter finden.

So bringt nun der edle Jüngling mit seinem Verstand die Erinnerung zurück und beschreibt dem weltlichen König mit seiner Königin auch den Weg zur „Alten im Wald“, die dem Ego-Verstand immer noch bedrohlich vorkommt. Wie uns die Natur auch immer bedrohlich bleiben wird, solange sie uns gegenübersteht und wir uns getrennt von ihr sehen. Denn auf unsere Sinne und Gedanken können wir uns nie völlig verlassen. Sie lassen sich gern täuschen und verzaubern, und wie wir wissen, gibt es dabei eine weiße und eine schwarze Magie. Die schwarze trennt und verkörpert uns noch mehr, bis sie uns schließlich ganz zu versteinern scheint. Während uns die weiße Magie erhebt, belebt und unser Bewußtsein zur reinen Liebe erweitert, wie wir es auch aus vielen alten Geschichten kennen und noch täglich erleben.

So „sitzt nun die Alte draußen in der Einöde“, aber spinnt innerlich unseren Lebensfaden, wo es noch sehr dunkel in uns ist, weil wir das wahre Wesen der Natur noch nicht erkannt haben:

Die Alte saß draußen in der Einöde bei ihrem Spinnrad und spann. Es war schon dunkel geworden, und ein Span, der unten am Herd brannte, gab ein sparsames Licht. Auf einmal wurde es draußen laut, die Gänse kamen heim von der Weide und ließen ihr heiseres Gekreisch hören. Bald hernach trat auch die Tochter herein. Aber die Alte dankte ihr kaum und schüttelte nur ein wenig mit dem Kopf. Die Tochter setzte sich zu ihr nieder, nahm ihr Spinnrad und drehte den Faden so flink wie ein junges Mädchen. So saßen beide zwei Stunden und sprachen kein Wort miteinander. Endlich raschelte etwas am Fenster und zwei feurige Augen glotzten herein. Es war eine alte Nachteule, die dreimal „Uhu“ schrie. Die Alte schaute nur ein wenig in die Höhe, dann sprach sie: „Jetzt ist es Zeit, Töchterchen, daß du hinausgehst, tue deine Arbeit.“

Und die reine und ewigjunge Seele der Natur, die auch die reinen Sinne und Gedanken hütet, hilft natürlich ihrer Mutter, unseren Lebensfaden als Seelenband von Ursache und Wirkung zu spinnen, auch wenn sie noch nicht genau weiß, woran sie da spinnt, denn sie ist noch vom reinen Geist getrennt. Dazu ist auch die Eule als Wächter der Nacht bzw. des Unterbewußtseins mit den feurigleuchtenden Augen der Weisheit ein schönes Symbol für die lebendige Uhr der Natur, um die rechte Zeit zu verkünden, wenn die Seele im Spiel von Ursache und Wirkung ihre Aufgabe zu erfüllen hat:

Sie stand auf und ging hinaus. Wo ist sie denn hingegangen? Über die Wiesen immer weiter bis in das Tal. Endlich kam sie zu einem Brunnen, bei dem drei alte Eichbäume standen. Der Mond war indessen rund und groß über dem Berg aufgestiegen, und es war so hell, daß man eine Stecknadel hätte finden können.

Nachdem wir nun viel von der Höhe des Berges gehört hatten, geht es hinab ins Tal, hinunter zur Quelle und zum Ursprung. Ein Brunnen mit drei Eichen klingt bereits nach einem alten und sehr mystischen Ort, deren Namen man heute noch oft findet, aber kaum eine tiefere Geschichte dazu. Der Brunnen selbst war schon immer ein mächtiges Symbol, weil in seiner Tiefe eine Quelle ist, die man äußerlich nicht sieht, aber das Wasser für das Leben gibt, welches man natürlich mit Vernunft schöpfen sollte, also weder verwehren noch begehren, wie das Salz. Und was könnte das für eine Quelle sein, welche die Wurzel von drei mächtigen Bäumen nährt? Hier können wir wieder an das reine Bewußtsein als ewiger Jungbrunnen denken, weil es selbst kein Altern und keine Vergänglichkeit kennt. Aus dieser Sicht ist es das Wasser des ewigen Lebens, ähnlich wie der „Wasserstoff“, der praktisch seit dem Urknall als Grundlage für jede Materie dient.

Die Eiche selbst war in vielen Kulturen ein heiliger Baum und steht für Beständigkeit, Lebenskraft, Treue, Wahrheit und viele andere Tugenden. Die Dreizahl erinnert uns an die üblichen drei prinzipiellen Kräfte, die überall in der Natur wirken und zu finden sind, also zwei Gegensätze und eine Richtung. Denn zwei gegensätzliche Kräfte würden nur sinnlos hin- und herschwingen. Dazu dient dann eine dritte Kraft für eine Ausrichtung, so daß symbolisch ein Dreieck entsteht, in dem die drei Kräfte wechselwirken. Ähnlich erklären wir heute auch die Entstehung unseres Universums aus dem Spiel von Materie und Antimaterie im Urknall, doch die dritte Kraft, warum daraus etwas entstanden ist, hat die moderne Wissenschaft immer noch nicht erkannt. So hat der ganze Weltenbaum im Prinzip drei Stämme oder zumindest drei Wurzeln, wie auch an dem berühmten Weltenbaum Yggdrasil drei Wurzeln zu finden sind, sowie drei Nornen als Schicksalsgöttinnen am heiligen Urdbrunnen.

Und hier am Grund von allem wird plötzlich Licht, der Vollmond eines geistigen Lichtes scheint in der weltlichen Nacht über dem Berg aus der Höhe bis ins Tal auf den Grund hinab, und wir sehen:

Sie zog eine Haut ab, die auf ihrem Gesicht lag, bückte sich dann zu dem Brunnen und fing an sich zu waschen. Als sie fertig war, tauchte sie auch die Haut in das Wasser und legte sie dann auf die Wiese, damit sie wieder im Mondschein bleichen und trocknen sollte. Aber wie war das Mädchen verwandelt! So was habt ihr nie gesehen! Als der graue Zopf abfiel, da quollen die goldenen Haare wie Sonnenstrahlen hervor und breiteten sich, als wär‘s ein Mantel, über ihre ganze Gestalt. Nur die Augen blitzten heraus so glänzend wie die Sterne am Himmel, und die Wangen schimmerten in sanfter Röte wie die Apfelblüte.

So legt nun die reine Seele an diesem Jungbrunnen als reine Quelle des Bewußtseins ihre vergängliche Hülle bzw. Form ab und reinigt sich immer wieder im Mondschein des geistigen Lichtes. In dieser Reinheit erscheint ihr goldenes Haar der Wahrheit, aus dem die weitsichtigen Augen der Weisheit blitzen, sowie ihre reine sanfte Liebe als rötliche Blüte für alle Früchte dieser Welt.

Aber das schöne Mädchen war traurig. Es setzte sich nieder und weinte bitterlich. Eine Träne nach der andern drang aus ihren Augen und rollte zwischen den langen Haaren auf den Boden. So saß sie da und wäre noch lange sitzengeblieben, wenn es nicht in den Ästen des nahestehenden Baumes geknistert und gerauscht hätte. Sie sprang auf wie ein Reh, das den Schuß des Jägers vernimmt. Der Mond wurde gerade von einer schwarzen Wolke bedeckt, und im Augenblick war das Mädchen wieder in die alte Haut geschlüpft und verschwand wie ein Licht, das der Wind ausbläst.

Das ist nun eine besonders wunderbare Beschreibung eines Grundproblems, das die Meditierenden nur allzugut kennen, wenn sie nach innen in die Tiefe schauen. Sobald sich ein Zuschauer im Baum des Lebens bewegt, und sobald man denkt „Ich sehe etwas anderes als mich selbst“, verschwindet das geistige Licht hinter der „dunklen Wolke“ der Unwissenheit, und die Vision entflieht sozusagen vor dem „Jäger“ des Ego-Verstandes. Das heißt, wenn sich die Wahrheit beobachtet fühlt, dann verschwindet sie, weil man sie niemals als etwas Getrenntes sehen kann. So sieht man immer nur vergängliche Wirkung. Das wird hier wunderbar beschrieben, und zeigt wieder einmal, wie unvorstellbar weit viele Menschen früher schon waren, die solche tiefgründigen Geschichten über so lange Zeit lebendig überliefert haben.

Damit entflieht nun die reine Seele wieder auf den Berg zu ihrer alten Mutter, die wir immer noch als eine äußerliche Natur sehen, die in einem körperlichen Hexenhaus wohnt, obwohl sie doch ein freundliches und ganzheitliches Wesen ist, das alles weiß, was geschieht:

Zitternd wie ein Espenlaub lief sie zu dem Haus zurück. Die Alte stand vor der Türe, und das Mädchen wollte ihr erzählen, was ihr begegnet war, aber die Alte lachte freundlich und sagte: „Ich weiß schon alles.“ Sie führte sie in die Stube und zündete einen neuen Span an. Aber sie setzte sich nicht wieder zu dem Spinnrad, sondern sie holte einen Besen und fing an zu kehren und zu scheuern. „Es muß alles rein und sauber sein“, sagte sie zu dem Mädchen.

Nun geschieht wieder etwas Großartiges: Die letzte wichtige Reinigung in unserem Haus übernimmt Mutter Natur selbst. Dazu entzündet sie in unserem Inneren kurz vor Mitternacht zur „Geisterstunde“, wenn das äußere Licht erloschen ist, ein „neues Licht“ und hört in dieser Zeit auf, den Lebensfaden weiterzuspinnen, der nun offenbar ein wichtiges Ziel erreicht hat. Damit werden insgesamt drei wesentliche Aspekte einer ganzheitlichen Geist-Natur beschrieben, nämlich spinnen, wissen und reinigen. Man könnte auch von Schöpfung, Erhaltung und Auflösung sprechen, wofür wir auch die indischen Götter Brahma, Vishnu und Shiva kennen, oder aus christlicher Sicht Vater, Sohn und Heiligen Geist, die doch in Wahrheit als Dreieinigkeit immer nur ein Ganzes sind. Doch unsere reine Seele weiß immer noch nicht, was geschieht, weil sie noch vom reinen Geist getrennt ist, und fragt:

„Aber, Mutter“, sprach das Mädchen, „warum fangt Ihr in so später Stunde die Arbeit an? Was habt Ihr vor?“ - „Weißt du denn, welche Stunde es ist?“ fragte die Alte. „Noch nicht Mitternacht“, antwortete das Mädchen, „aber schon elf Uhr vorbei?“ - „Denkst du nicht daran“, fuhr die Alte fort, „daß du heute vor drei Jahren zu mir gekommen bist? Deine Zeit ist aus, wir können nicht länger beisammenbleiben.“

Damit ist das Mädchen 18 Jahre alt geworden, was heutzutage „Volljährigkeit“ bedeutet. Als Zahlenspiel ist die 18 auch eine relativ heilige Zahl, die aus 2x3x3 besteht, und ihre Quersumme ist 9, also 3x3, was man bezüglich der beiden Dreiecke vom Männlich und Weiblich in der lebendigen Vervielfältigung ihrer Kräfte betrachten kann. Im Hebräischen ist diese Zahl eng mit der Bedeutung von „Leben“ verbunden, und ähnlich werden auch die Zahlen 18, 108 und 1008 in Indien als Vielfalt der Schriften, Namen und Gebete verehrt. Entsprechend können wird im Deutschen an die Achtsamkeit auf die Einheit in der Vielfalt denken, wenn im erwachsenen Menschen zunehmend die Vernunft als eine ganzheitliche Sichtweise erwacht.

Und was bedeuten die drei Jahre? Sie erinnern uns an eine Lehrzeit des „Gänsehütens“, die nun vorbei ist, ähnlich den drei Jahren, die „der Trommler“ auf dem Glasberg verbracht hatte. Im weitesten Sinne könnten es auch drei längere Lebensabschnitte zum Kind, Jugendlichen und Erwachsenen sein, die nach der Schulzeit ihr Ziel und eine gewisse Reife erreichen, wenn wir mit Körper und Verstand unsere Sinne und Gedanken wohlgehütet und genährt haben. Und vielleicht fragen wir uns dann auch erschrocken: Was kommt nun? Wie geht es weiter? Was wird aus mir?

Das Mädchen erschrak und sagte: „Ach, liebe Mutter, wollt Ihr mich verstoßen? Wo soll ich hin? Ich habe keine Freunde und keine Heimat, wohin ich mich wenden kann. Ich habe alles getan, was ihr verlangt habt, und Ihr seid immer zufrieden mit mir gewesen: Schickt mich nicht fort.“ Die Alte wollte dem Mädchen nicht sagen, was ihr bevorstand. „Meines Bleibens ist nicht länger hier“, sprach sie zu ihr, „wenn ich aber ausziehe, muß Haus und Stube sauber sein: Darum halt mich nicht auf in meiner Arbeit. Deinetwegen sei ohne Sorgen, du sollst ein Dach finden, unter dem du wohnen kannst, und mit dem Lohn, den ich dir geben will, wirst du auch zufrieden sein.“ - „Aber sagt mir nur, was ist vor (was steht bevor)?“, fragte das Mädchen weiter. „Ich sage dir nochmals, störe mich nicht in meiner Arbeit. Rede kein Wort weiter, geh in deine Kammer, nimm die Haut vom Gesicht und zieh das seidene Kleid an, das du trugst als du zu mir kamst, und dann harre in deiner Kammer, bis ich dich rufe.“

Solange wir in Trennung leben, sind diese Ängste, Sorgen und Fragen nach dem Werden natürlich da, denn wir sind noch nicht im wahren Sein angekommen, in der Ganzheit eines reinen Bewußtseins bzw. Gewahrseins. So ist nun nach der Lehrzeit noch etwas Geduld erforderlich.

»Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. (Römer 8.25

Dazu sollen wir unsere vergängliche Hülle ablegen, unser ursprüngliches Kleid anziehen, das wir trugen, als wir in die äußerliche Natur kamen, und im gereinigten Raum unseres Bewußtseins warten, bis die Zeit reif ist und wir gerufen werden, ohne die Natur „in ihrer Arbeit zu stören“. Was ist das für ein „seidenes Kleid“? Die Seele der Natur, welche die seidenen Fäden von Ursache und Wirkung spinnt, aus denen auch unsere Lebensgeschichte gewebt und gewirkt wird, kann sehr viele verschiedene Kleider tragen, in denen wir sie nur selten erkennen. Doch hier denken wir natürlich an ihr Hochzeitskleid, weiß wie Schnee, als Sinnbild von Reinheit, Ganzheit und Einheit, wofür sie auch geboren wurde, wie es oben die Königin erzählt hat. Denn ihr Bräutigam ist auf dem Weg zu ihr, was Mutter Natur bereits sieht und weiß…

Und gleichzeitig geschieht aus der Sicht des Geistes folgendes:

Aber ich muß wieder von dem König und der Königin erzählen, die mit dem Grafen ausgezogen waren und die Alte in der Einöde aufsuchen wollten. Der Graf war nachts in dem Wald von ihnen abgekommen und mußte allein weitergehen. Am anderen Tag kam es ihm vor, als befände er sich auf dem rechten Weg. Er ging immer fort, bis die Dunkelheit einbrach. Da stieg er auf einen Baum und wollte dort übernachten, denn er war besorgt, er möchte sich verirren. Als der Mond die Gegend erhellte, so erblickte er eine Gestalt, die den Berg herabwandelte. Sie hatte keine Rute in der Hand, aber er konnte doch sehen, daß es die Gänsehirtin war, die er früher bei dem Haus der Alten gesehen hatte. „Oho!“, rief er: „Da kommt sie, und habe ich erst die eine Hexe, so soll mir die andere auch nicht entgehen.“

So dachte der edle Jüngling immer noch, daß es seine Sinne sind, die ihm eine äußerliche Welt zeigen, und fühlt sich auf der Hexenjagd im nächtlichen Zauberwald seiner Vorstellungen. Und doch war er schon weit gekommen, denn er ging in sein Inneres und war vom weltlichen Geist und der äußerlichen Natur, die in der äußeren Welt herrschen, „abgekommen“. Und hier erblickt er nun höchst erstaunt das wahre Wesen der Natur und seiner Seele hinter der äußerlichen Hülle der Vergänglichkeit:

Wie erstaunte er aber, als sie zu dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum, daß er zu atmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an. Ob er sich zu weit überbog oder was sonst schuld war, plötzlich krachte der Ast, und in demselben Augenblick schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein Reh davon, und weil der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie seinen Blicken entzogen.

Man sagt: „Nur ein Blick auf unser wahres Wesen, und wir sind verliebt.“ Mit dieser Sicht jenseits der äußeren Formen kann nun die wahre Liebe wieder wirken, die jegliche Trennung überwinden und alles vereinen kann:

Kaum war sie verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab und eilte ihr mit behenden Schritten nach. Er war noch nicht lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten über die Wiese wandeln. Es war der König und die Königin, die hatten aus der Ferne das Licht in dem Häuschen der Alten erblickt und waren draufzugegangen. Der Graf erzählte ihnen, was er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte, und sie zweifelten nicht, daß das ihre verlorene Tochter gewesen wäre. Voller Freude gingen sie weiter und kamen bald bei dem Häuschen an: Die Gänse saßen ringsherum, hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und schliefen, und keine regte sich. Sie schauten zum Fenster hinein, da saß die Alte ganz still und spann, nickte mit dem Kopf und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der Stube, als wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub auf den Füßen tragen. Ihre Tochter aber sahen sie nicht.

So kann nun die Macht der reinen und wahren Liebe wieder alle auf dem Berg vereinen, Geist und Natur, innerlich und äußerlich, und es gibt wohl keine andere Macht, die das bewirken kann. Der innere Geist findet den Weg durch seine innere Schau, und der äußere durch das Licht aus den Fenstern der körperlichen Sinne. Doch warum beginnen die Gänse nicht laut zu gackern, obwohl sie doch achtsamer als jeder Wachhund sind? Nun, es sind wohl keine Fremden, die hier ankommen. So herrscht nun Frieden auf dem Berg, und die Gänse bzw. Sinne und Gedanken haben sich in sich selbst zurückgezogen und schweigen. Auch Mutter Natur zeigt sich still bei ihrer Arbeit. Sie spinnt die Lebensfäden von Ursache und Wirkung und läßt sich davon nicht ablenken. Und das geschieht in vollkommener Reinheit, auch in unserem eigenen Körper, wenn wir nach innen schauen, als würden dort kleine Geisterwesen arbeiten, die auf ihrem Weg keine Unreinheit kennen. Natürlich, denn dafür hat die reine Seele auch die weißen Gänse der reinen Sinne und Gedanken gehütet. Doch wo ist sie? Hierin liegt wohl der tiefe Sinn des ganzen Märchens: Sie sehen immer noch die äußere Natur und nicht ihre eigene reine Seele.

Sie schauten das alles eine Zeitlang an, endlich faßten sie ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien sie erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich: „Nur herein, ich kenne euch schon.“ Als sie in die Stube eingetreten waren, sprach die Alte: „Den weiten Weg hättet ihr euch sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich ist, nicht vor drei Jahren ungerechter Weise verstoßen hättet. Ihr hat es nichts geschadet, sie hat drei Jahre lang die Gänse hüten müssen. Sie hat nichts Böses dabei gelernt, sondern ihr reines Herz behalten. Ihr aber seid durch die Angst, in der ihr gelebt habt, hinlänglich gestraft.“ Dann ging sie an die Kammer und rief: „Komm heraus, mein Töchterchen.“ Da ging die Tür auf, und die Königstochter trat heraus in ihrem seidenen Gewand mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war als ob ein Engel vom Himmel käme.

Das heißt wohl: Hätten wir die reine Seele in uns nicht verstoßen und in den Wald der Vorstellungen einer äußerlichen Welt verbannt, dann hätten wir uns einen langen Weg der Angst und des Leidens erspart. Doch die reine Seele „behält ihr reines Herz“ eines reinen Bewußtseins, hütet die reinen Sinne und Gedanken und „lernt dabei nichts Böses“. Wir können sie also jederzeit wiederfinden, erkennen und wieder eins mit ihr sein. Und darauf wartet die uralte Mutter Natur in ihrer Ganzheit, und wenn die Zeit reif ist, kann sie diese als ihr Töchterchen aus der Verborgenheit wieder hervorrufen. Dann öffnet sich die Tür, die wir selbst vor ihr verschlossen haben, und wir sehen die Seele der Natur in ihrem weißen Hochzeitskleid der Reinheit und Einheit, in der jede Trennung verschwindet, mit ihren goldenen Haaren der Wahrheit und ihren leuchtenden Augen eines reinen Bewußtseins, wie ein himmlisches und göttliches Wesen in vollkommen reiner und wahrer Liebe:

Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küßte sie: Es war nicht anders, sie mußten alle vor Freude weinen. Der junge Graf stand neben ihnen, und als sie ihn erblickte, wurde sie so rot im Gesicht wie eine Moosrose, und sie wußte selbst nicht warum. Der König sprach: „Liebes Kind, mein Königreich habe ich verschenkt, was soll ich dir geben?“ - „Sie braucht nichts“, sagte die Alte, „ich schenke ihr die Tränen, die sie um Euch geweint hat. Das sind lauter Perlen, schöner als sie im Meer gefunden werden, und sind mehr wert als Euer ganzes Königreich. Und zum Lohn für ihre Dienste gebe ich ihr mein Häuschen.“ Als die Alte das gesagt hatte, verschwand sie vor ihren Augen. Es knatterte ein wenig in den Wänden, und als sie sich umsahen, war das Häuschen in einen prächtigen Palast verwandelt, und eine königliche Tafel war gedeckt, und die Bedienten liefen hin und her.

So werden sich schließlich alle Tränen der Trauer um die Trennung in Tränen der Freude verwandeln, wenn die Ganzheit durch die Macht der Liebe wiedergefunden wird. Dann verschwindet die äußere Natur „vor unseren Augen“, und wir finden ein inneres bzw. geistiges Königreich, das uns kein weltlicher König geben kann. So verwandelten sich die Tränen, welche die Seele der Natur um den Geist geweint hat, der sich von ihr abgewandt und getrennt hatte, in Perlen der Liebe und Weisheit, die unser größter Reichtum sind. Und die Bibel sagt nicht umsonst, daß man diese Perlen nicht vor die Säue werfen soll, das heißt wohl, an eine äußerliche Welt verschwenden sollte, wie es die beiden älteren Schwestern der reinen Seele versuchten. Und unser kleines Körperhäuschen verwandelt sich dann in „einen prächtigen Palast“, wo kein Mangel mehr herrscht, weil es keine Trennung mehr gibt, und alles dient unserem Wohl. Ein Happy-End?

Die Geschichte geht noch weiter, aber meiner Großmutter, die sie mir erzählt hat, war das Gedächtnis schwach geworden: Sie hatte das übrige vergessen.

Das ist nun mal wieder ein besonderes Ende eines besonderen Märchens. Natürlich geht auch diese Geschichte weiter. Doch was will man noch erzählen, wenn es keine äußerliche Natur mehr gibt, die man er- und begreifen kann? Wie will man das Bild einer grenzenlosen Ganzheit zeichnen, wo alles so ist, wie es ist? Es ist kein „Zustand“ des Stillstehens in irgendeiner Form, die man „verstehen“ könnte, sondern eine höchste Beweglichkeit, Wandelbarkeit und Lebendigkeit, die niemand mehr festhalten kann und will, wie es auch oben von den Dienern im Schloß der Fülle und Ganzheit beschrieben wird.

Und trotzdem macht sich unser Ich-Verstand seine Gedanken und Vorstellungen darüber, und das ist wohl auch gut für die Phantasie der Kinder, die dieses Märchen auf ihren Lebensweg mitnehmen:

Ich glaube immer, die schöne Königstochter ist mit dem Grafen vermählt worden und sie sind zusammen in dem Schloß geblieben und haben da in aller Glückseligkeit gelebt, solange es Gott wollte. Ob die schneeweißen Gänse, die bei dem Häuschen gehütet wurden, lauter Mädchen waren (das braucht niemand übelzunehmen), welche die Alte zu sich genommen hatte, und ob sie jetzt ihre menschliche Gestalt wieder erhielten und als Dienerinnen bei der jungen Königin blieben, das weiß ich nicht genau, aber ich vermute es doch. So viel ist gewiß, daß die Alte keine Hexe war, wie die Leute glaubten, sondern eine weise Frau, die es gut meinte. Wahrscheinlich ist sie es auch gewesen, die der Königstochter schon bei der Geburt die Gabe verliehen hat, Perlen zu weinen statt der Tränen. Heutzutage kommt das nicht mehr vor, sonst könnten die Armen bald reich werden.

Warum werden unsere Tränen heutzutage keine Perlen? Vielleicht haben wir alle diese Gabe der uralten und weisen Mutter, und es liegt nur daran, daß wir um viele Dinge weinen, um die man eigentlich nicht weinen sollte. Und das, was man wirklich beweinen sollte, das beweinen wir nicht.


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Prinz Schwan - (Thema: Seele, Geist und Erlösung)
Die sechs Schwäne - (Thema: Sinne, Gedanken und Erweiterung)
Das arme Mädchen und die Sterntaler - (Thema: Armut im Geiste)
Der Tod und der Gänsehirt - (Thema: Gänse und Ganzheit)
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König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
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... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 20. Juni 2024