Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Tod und der Gänsehirt

Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Es ging ein armer Hirte an dem Ufer eines großen und ungestümen Wassers, hütend einen Haufen weißer Gänse. Zu diesem kam der Tod über Wasser, und er wurde von dem Hirten gefragt, wo er herkomme und wo er hinwolle? Der Tod antwortete, daß er aus dem Wasser komme und aus der Welt wolle. Der arme Gänsehirt fragte ferner: Wie man doch aus der Welt kommen könne? Der Tod sagte, daß man über das Wasser in die neue Welt müsse, welche jenseits gelegen. Der Hirte sagte, daß er dieses Lebens müde, und bat den Tod, er sollte ihn mit hinübernehmen. Der Tod sagte, daß es noch nicht Zeit ist, und er jetzt anderes zu verrichten hätte.

Denn es gab unfern davon einen Geizhals, der trachtete des Nachts auf seinem Lager, wie er noch mehr Geld und Gut zusammenbringen möchte. Den führte der Tod zu dem großen Wasser und stieß ihn hinein. Weil er aber nicht schwimmen konnte, ist er zu Grunde gesunken, bevor er an das Ufer kommen konnte. Und seine Hunde und Katzen, die ihm nachgelaufen waren, sind auch mit ihm ersoffen.

Etliche Tage hernach kam der Tod auch zu dem Gänsehirten, fand ihn fröhlich singen und sprach zu ihm: „Willst du nun mit?“ Er war willig und kam mit seinen weißen Gänsen wohl hinüber, welche alle in weiße Schafe verwandelt wurden. Der Gänsehirt betrachtete das schöne Land und hörte, daß die Hirten dort zu Königen würden, und indem er sich recht umsah, kamen ihm die Erzhirten Abraham, Isaac und Jacob entgegen, setzten ihm eine königliche Krone auf und führten ihn in der Hirten Schloß, allda er noch zu finden ist.

Nachdem wir nun so viel über die Bedeutung der Schwäne nachgedacht haben, möchten wir uns auch den Gänsen zuwenden, und vor allem den Gänsehirten und -hirtinnen. Damit wollen wir nicht in den derzeitigen Genderwahn verfallen, sondern das Hüten der Gänse aus verschiedenen Richtungen betrachten, aus männlicher Sicht des bezeugenden Geistes und aus weiblicher Sicht der gebärenden Natur bzw. Seele. Diesbezüglich werden auch in den alten indischen Geschichten viele heilige Asketen als „Hamsa“ bezeichnet, was gern als „Schwan“ übersetzt wird, aber eigentlich eine männliche Gans bedeutet, also einen Ganter bzw. Ganser. Und im Prinzip ist damit auch ein Gänsehirte gemeint, der die „weißen Gänse“ als seine Sinne und Gedanken achtsam hütet und beherrschen kann, damit sie sich nicht zerstreuen, so daß er von ihnen beherrscht und getrieben wird, sondern als Herde in ihrer „Ganzheit“ bewahrt bleiben. Und natürlich auch nicht vom Wolf oder Fuchs gefressen werden, das heißt, von der Begierde erfaßt und vom begrifflichen Verstand getötet, so daß sie ihre Lebendigkeit verlieren und in einer materiellen Welt förmlich zu Tode erstarren. Aus dieser Sicht möchten wir nun auch dieses Märchen betrachten:

Es ging ein armer Hirte an dem Ufer eines großen und ungestümen Wassers, hütend einen Haufen weißer Gänse. Zu diesem kam der Tod über Wasser, und er wurde von dem Hirten gefragt, wo er herkomme und wo er hinwolle? Der Tod antwortete, daß er aus dem Wasser komme und aus der Welt wolle.

Über die Armut des „armen Hirten“ haben wir im letzten Märchen von den „Sterntalern“ aus der Sicht einer reinen Seele bereits ausführlich nachgedacht. Auch hier wird damit eine gewisse geistige Reinheit angedeutet, so daß er auch „weiße Gänse“ hütet. Das „große und ungestüme Wasser, über das der Tod kommt“ erinnert uns zunächst an den berühmten Totenfluß von Acheron oder Styx aus der griechischen Mythologie als Trennung zur jenseitigen Welt. Doch weil der Hirte an diesem Fluß noch lebendig seine Gänse hütet, könnten wir auch an den großen Fluß des Lebens denken, der vor unseren Sinnen und Gedanken dahinläuft, und das oft sehr ungestüm.

Hermann Hesse beschreibt in seinem Buch „Siddhartha“ einen ähnlichen Fluß:
Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden Wasser erschienen ihm Bilder… und flossen ineinander über, wurden alle zum Fluß, strebten alle als Fluß dem Ziele zu, sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses Stimme klang voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von unstillbarem Verlangen. Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein Neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluß, strebte aufs Neue, floß aufs Neue… Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluß, diesem tausendstimmigen Lied lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alles hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß OM: die Vollendung…

Woher kommt dann der Tod? Warum kommt der Tod „über und aus dem Wasser“? Man sagt: Trennung ist Tod, Verbindung ist Leben, und Vereinigung ist Überleben. Auch Platon sagte schon: „Der Tod ist offenbar nichts anderes als die Trennung zweier Dinge voneinander, der Seele und des Leibes.“ So kannte man früher auch den Sensenmann oder Schnitter als ein männliches bzw. geistiges Wesen, der Verbindungen abschneidet und trennt, während das ganzheitlich Eine niemals getrennt werden kann. Deshalb erscheint uns dieser schneidende Tod als Trennung und Verlust nur dann, wenn wir an irgendeiner Form in diesem Fluß festhalten wollen und uns damit identifizieren, denn diese Form muß irgendwann vergehen und sterben, weil sie ja in diesem Fluß entstanden ist und geboren wurde. Was bleibt, ist der Beobachter, der sozusagen am Ufer sitzt und als Bewußtsein den Fluß der Welt wahrnimmt, den Fluß hört, fühlt, sieht, schmeckt, riecht und denkt.

Wohin will der Tod? Warum will er „aus der Welt“? Wenn der Tod Trennung ist, dann liegt der Sinn jeglicher Trennung natürlich darin, wieder überwunden, vereint und geheilt zu werden:

„Es ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft?“ - „Dies ist es“, sagte Siddhartha. „Und als ich es gelernt hatte, da sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluß, und es war der Knabe Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur durch Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas frühere Geburten keine Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft. Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.“

Der arme Gänsehirt fragte ferner: Wie man doch aus der Welt kommen könne? Der Tod sagte, daß man über das Wasser in die neue Welt müsse, welche jenseits gelegen. Der Hirte sagte, daß er dieses Lebens müde, und bat den Tod, er sollte ihn mit hinübernehmen. Der Tod sagte, daß es noch nicht Zeit ist, und er jetzt anderes zu verrichten hätte.

Was bedeutet das jenseitige Ufer dieses Wassers? Über diese Symbolik kann man natürlich viel nachdenken, und das sollte man auch tun. Warum soll das jenseitige Ufer anders und sogar besser sein? Hier könnten wir uns zum Beispiel vorstellen, daß der Fluß ein Ring ist, der uns umgibt, wie eine Insel oder Blase des Bewußtseins, wo der Beobachter im Mittelpunkt steht, als das „Ich bin“. Und je mehr sich diese Blase zusammenzieht und mit den Vorstellungen von Eigentum umschließt und einmauert, desto kleiner und dunkler wird diese Insel, und wir befinden uns auf der dunklen Seite vom Fluß des Lebens wie in einer Höhle oder sogar Hölle. Im „Jenseits“ würde man diesen Fluß sozusagen von „der anderen Seite“ betrachten, so daß sich für den Betrachter fast alles umkehrt, als würde er mittels seiner Sinne und Gedanken nicht mehr in einen Spiegel, sondern direkt schauen: Aus der begrenzten Insel wird die Unendlichkeit, aus dem Dunkel das Licht, aus der Trennung die Ganzheit, aus dem Tod das Leben, aus gebundener Materie freier Geist, aus dem Ich ein Selbst, aus dem Nichts ein Alles, aus der Zeit eine Ewigkeit und so weiter. Man könnte auch sagen: Was hier aus unserer Sicht auf dem Kopf des dunklen Ego-Verstandes steht, wird im „Jenseits“ wieder auf die Füße der Ganzheit im göttlichen Licht gestellt.

So könnte sich das Bewußtsein über alle Formen hinaus ausdehnen, wenn es nicht mehr an bestimmten Formen in Raum und Zeit festhält und anhaftet. Diese „Armut im Geiste“ hatte wohl der Hirte erreicht, weil er seine Sinne und Gedanken wohlgehütet und reingehalten hat. So wird ihm der Tod zum Freund, und er ist bereit, sich auch von seinem „letzten Hemd“ zu trennen, von der eigensinnigen Körperlichkeit, deren er nun „müde“ geworden ist, und damit auch von diesem dunklen Ufer am Wasser des Lebens. Das kann natürlich nicht mehr der Ego-Verstand tun, sondern er wartet bewußt und gelassen ab, bis die Zeit reif ist.

Jacob Böhme schreibt dazu um 1622 in seinem Text „Vom übersinnlichen Leben“:
Wenn sich der Wille bis zum Grund Gott ergibt, dann versinkt er jenseits seiner selbst, jenseits von allem Grund und aller Stätte, wo allein Gott offenbar ist, wirkt und will. So wird er sich selbst ein Nichts nach seinem eigenen Willen. Dann wirkt und will Gott in ihm, und Gott wohnt in seinem gelassenen Willen. Dadurch wird die Seele geheiligt, so daß sie in göttliche Ruhe kommt. Wenn nun der Leib vergeht, dann ist die Seele von göttlicher Liebe durchdrungen und von Gottes Licht durchleuchtet, wie das Feuer ein Eisen durchglüht, dadurch es seine Finsternis verliert…

Wie nun der Gänsehirte bewußt abwartet, gelassen und zufrieden, um sich vom Tod ins ewige Leben führen zu lassen, so gibt es aber auch andere Wesen, die den Tod unbewußt regelrecht drängen und herbeirufen, begierig und unzufrieden:

Denn es gab unfern davon einen Geizhals, der trachtete des Nachts auf seinem Lager, wie er noch mehr Geld und Gut zusammenbringen möchte. Den führte der Tod zu dem großen Wasser und stieß ihn hinein. Weil er aber nicht schwimmen konnte, ist er zu Grunde gesunken, bevor er an das Ufer kommen konnte. Und seine Hunde und Katzen, die ihm nachgelaufen waren, sind auch mit ihm ersoffen.

Das ist nun der körperlich Anhaftende als „Geizhals“, der „des Nachts auf seinem Lager“, das heißt, im verdunkelten Geist in seinem Körper, begierig nach den Formen im Fluß des Lebens greift und sie festhalten will. Zu ihm kommt der Tod als ein Feind in Gestalt von Verlust und Trennung und läßt ihn in diesem Meer der Formen untergehen, weil er mit all seinem „Eigentum an Geld und Gut“ viel zu schwer geworden ist, um darauf zu schwimmen und das jenseitige Ufer zu erreichen. Auf diese Weise verengt und verdichtet sich das Bewußtsein immer mehr, und er fällt noch weiter in die Dunkelheit, denn „seine Hunde und Katzen“ folgen ihm nach, die vielleicht als Mäusejäger und Wachhunde an seine geistigen Neigungen von Begierde und Haß erinnern sollen.

Und Jacob Böhme schreibt weiter:
Aber die gottlose Seele will in dieser Zeit nicht in die göttliche Gelassenheit ihres Willens gehen, sondern geht nur stets in eigene Lust und Begierde, in die Eitelkeit und Falschheit, in des Teufels Willen: Sie faßt nur Bosheit, Lüge, Stolz, Geiz, Neid und Zorn in sich und ergibt ihren Willen darin. Diese Eitelkeit wird in ihr auch offenbar und wirkend und durchdringt die Seele ganz und gar, wie ein Feuer das Eisen. So kann sie nicht zu göttlicher Ruhe kommen, denn Gottes Zorn ist in ihr offenbar. Und wenn sich nun der Leib von der Seele scheidet, dann beginnt ewige Reue und Verzweiflung, denn sie empfindet, daß ihr durch Eitelkeit solch ängstliche Greuel geworden ist. Dann schämt sie sich, mit ihrem falschen Willen zu Gott einzugehen, ja sie kann auch nicht, denn sie ist im Grimm gefangen, und sie ist selber nur ein Grimm und hat sich damit durch ihre falsche Begierde eingeschlossen, welche sie in sich erweckt hat. Und weil Gottes Licht nicht in ihr scheint und seine Liebe sie nicht berührt, so ist sie eine große Finsternis und eine leidvolle, ängstliche Feuerqual, und sie trägt die Hölle in sich und kann Gottes Licht nicht sehen. So wohnt sie in sich selber in der Hölle und bedarf keines Einfahrens. Denn worin sie ist, dort ist sie in der Hölle. Auch wenn sie sich viele hunderttausend Meilen von ihrer Stätte schwingen könnte, so ist sie doch in solcher Qual und Finsternis.

Etliche Tage hernach kam der Tod auch zu dem Gänsehirten, fand ihn fröhlich singen und sprach zu ihm: „Willst du nun mit?“ Er war willig und kam mit seinen weißen Gänsen wohl hinüber, welche alle in weiße Schafe verwandelt wurden. Der Gänsehirt betrachtete das schöne Land und hörte, daß die Hirten dort zu Königen würden, und indem er sich recht umsah, kamen ihm die Erzhirten Abraham, Isaac und Jacob entgegen, setzten ihm eine königliche Krone auf und führten ihn in der Hirten Schloß, allda er noch zu finden ist.

So kommt nun der Tod als Freund zum armen Gänsehirten und führt ihn über den Fluß der Formen in die jenseitige Welt, wo nicht mehr der arme Hirte seine Gänse hütet, sondern ein reicher König seine reinen Schafe, denn auch seine geistige Neigung folgt ihm nach, wie eine Welle auf dem Meer des Bewußtseins.

Warum Schafe? Meister Eckhart sagt dazu:
Das Schaf ist einfaltig; so auch sind jene Leute einfaltig, die zur (inneren) Eins (zusammen-) gefaltet sind. Ein Meister sagt, man könne des Himmels Lauf nirgends so gut erkennen wie an einfaltigen Tieren: die erfahren auf einfaltige Weise den Einfluß des Himmels; ebenso die Kinder, die haben keinen eigenen Sinn. Die Leute aber, die da weise sind und viele Sinne haben, die werden beständig nach außen gerichtet in mannigfaltigen Dingen. (Predigt 56)

So könnte man sich nun vorstellen, daß der Gänsehirt in der Ganzheit selbst zum Erzhirten wird, zum ersten und ursprünglichen Hirten, und wenn man so will, zu Christus oder Gott selbst. Denn in diesem ganzheitlichen bzw. göttlichen Christusbewußtsein hütet er nun selbst die Gänsehirten, die wiederum ihre Sinne und Gedanken hüten. Das kann man natürlich aus körperlicher Sicht nicht verstehen, doch aus jenseitiger Sicht, wo das ganzheitliche Bewußtsein die Grundlage von allem ist, wäre das sozusagen selbstverständlich.

Und warum wurde er ein König? Nun, er hat das, was ihm als Mensch gegeben wurde, wohlbehütet und den Schatz Gottes vermehrt, das heißt, das Bewußtsein wachsen lassen, erweitert und rein bewahrt. Und ähnlich spricht Meister Eckhart auch zum biblischen Gleichnis über die anvertrauen Talente und den treuen Knecht:
»Wohlan, geh ein, guter, getreuer Knecht, in die Freude deines Herrn! Weil du getreu gewesen bist über Kleines, darum will ich dich setzen über all mein Gut« (Matth. 25,21 + 24,47)

Wohlan, nun achtet darauf, was das »Kleine« sei, über das dieser Mensch getreu gewesen ist. Alles, was Gott geschaffen hat im Himmel und auf Erden, was nicht er selbst ist, das ist klein vor ihm. Über alles dies ist dieser gute Knecht getreu gewesen. Wieso dem so sei, das will ich euch dartun: Gott hat diesen Knecht gesetzt zwischen Zeit und Ewigkeit. Keinem (von beiden) war er übereignet, sondern er war frei in der Vernunft und im Willen und auch allen Dingen gegenüber. Mit seiner Vernunft durchschritt er alle Dinge, die Gott geschaffen hat; mit seinem Willen ließ er ab von allen Dingen und auch von sich selbst und von alledem, was Gott geschaffen hat, was nicht Gott selbst ist. Mit seiner Vernunft nahm er sie auf und gab Gott dafür Lob und Ehre und überantwortete sie Gott in seine unergründliche Natur und dazu sich selbst, sofern er geschaffen ist. Dort ließ er sich selbst und alle Dinge, so daß er weder sich selbst noch irgendein geschaffenes Ding mit seinem geschaffenen Willen je (wieder) berührte. (Meister Eckhart, Predigt 27)

Und in welchem Reich wurde er ein König, vereint mit den „Erzhirten Abraham, Isaac und Jacob“? Es gibt wohl kein größeres Reich und keinen größeren Reichtum, als das göttliche bzw. ganzheitliche, reine und freie Bewußtsein. Auch dazu spricht Meister Eckhart in einer anderen Predigt:
»Wissen sollt ihr« nun zum ersten, wie »das Reich Gottes uns nahe« ist… Denn wäre ich ein König, wüßte es aber selber nicht, so wäre ich kein König. Hätte ich aber den festen Glauben, daß ich ein König wäre und meinten und glaubten das alle Menschen mit mir und wüßte ich für gewiß, daß alle Menschen es meinten und glaubten, so wäre ich ein König, und so wäre der ganze Reichtum des Königs mein, und nichts davon gebräche mir… Nichts hindert die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum sind Stücke, Gott aber ist Eines. Soll daher die Seele Gott erkennen, so muß sie ihn erkennen oberhalb von Zeit und Raum; denn Gott ist weder dies noch das, wie diese (irdischen) mannigfaltigen Dinge (es sind): denn Gott ist Eines. Soll die Seele Gott sehen, so darf sie auf kein Ding in der Zeit sehen; denn solange die Seele der Zeit oder des Raums oder irgendeiner Vorstellung dergleichen bewußt wird, kann sie Gott niemals erkennen…

Der Prophet spricht: »Gott führt die Gerechten durch einen engen Weg in die breite Straße, auf daß sie kommen in die Weite und in die Breite« (Weish. 10,10 ff.), das heißt: in die wahre Freiheit des Geistes, der mit Gott ein Geist geworden ist.

Daß wir ihm alle folgen, auf daß er uns bringe in sich, wo wir ihn wahrhaft erkennen, dazu helfe uns Gott. Amen. (Meister Eckhart, Predigt 36)



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[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812
[Jacob Böhme] Alle Texte in deutscher Überarbeitung / www.boehme.pushpak.de
[Siddhartha] Siddhartha - Eine indische Dichtung, Hermann Hesse, Suhrkamp, 1974
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 18. Mai 2024