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Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Sie war aber gut und fromm. Und weil sie so von aller Welt verlassen war, ging sie im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihr ein armer Mann, der sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.“ Sie reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte „Gott segne dir’s“, und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: „Es friert mich so an meinem Kopf, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.“ Da nahm sie ihre Mütze ab und gab sie ihm. Und als sie noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab sie ihm ihres. Und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab sie auch von sich hin. Endlich gelangte sie in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch ein Kind und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben“, und zog das Hemd aus und gab es auch noch hin. Und wie sie so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler. Und ob sie gleich ihr Hemdlein weggegeben, so hatte sie ein neues an und das war von allerfeinsten Leinen. Da sammelte sie sich die Taler hinein und war reich für ihren Lebtag.
Nachdem wir nun in den letzten drei Märchen viel über unsere Seele und das Reich der Sterne nachgedacht haben, darf natürlich dieses wunderschöne Märchen nicht fehlen, das zwar sehr kurz ist, aber uns tief im innersten Herzen berühren kann. Daß unsere Erde, unser Körper und letztlich auch all unser Geld aus „Sternenstaub“ gemacht wurde, weiß ja mittlerweile auch unsere moderne Wissenschaft, denn diese scheinbar so feste Materie wurde durch Kernfusion in den Sternen sozusagen ausgebrütet. Doch wir möchten hier nicht so sehr auf den Sternenstaub schauen, sondern mehr auf das „Sternenlicht“ des Bewußtseins, und versuchen, auch dieses Märchen aus geistiger Sicht zu deuten und die tiefere Symbolik auszuloten. Also, gut Mut!
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.
Das „Mädchen“ als reine Jungfrau erinnert uns wieder an die reine Seele der Natur, die in Wahrheit gar keine Eltern hat, weil sie selbst der Ursprung ist. Nur in dieser Welt der „Wirklichkeit“ in Zeit und Raum, wo die reine Seele vielfältige Formen annehmen kann, können wir von Vater und Mutter sprechen, und zwar bezüglich der Seelenbänder von Ursache und Wirkung. Daß diese Eltern „gestorben“ waren, deutet auf eine Trennung hin, denn Tod ist nichts anderes als Trennung. Und wovon kann die reine Seele getrennt sein? Eigentlich nur vom ganzheitlichen Geist, und das auch nur bezüglich einer Illusion oder eines Traums von Eigentum und damit eigener Körperlichkeit.
Dadurch erscheinen uns viele getrennte Seelen, die sich unterschiedlich verkörpern, jeweils ein „Kämmerchen, Bettchen und Kleider auf dem Leib“ haben und sich von leiblicher Nahrung ernähren, die äußerlich „aus Mitleid“ dem hungrigen Körper gegeben wird. Wäre die reine Seele der Natur mit einem reinen Geist ganzheitlich vereint, dann könnten wir von einem leidfreien und reinen Bewußtsein sprechen, das keine Trennung kennt, an keiner Form anhaftet und damit vollkommen frei ist, jede Form anzunehmen.
Daß unser Bewußtsein der Grund aller Schöpfung ist, ist mittlerweile auch aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht so weit hergeholt, wenn sogar der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger sagt: „Information ist der Urstoff des Universums.“ Ähnlich sagt auch die Bibel: „Am Anfang war das Wort…“ Und Bewußtsein als „Be-Wußt-Sein“ bedeutet ja nichts anderes als bewegtes Wissen, das im Sein aufeinander wirkt. Doch wie kann reines Bewußtsein eine Form annehmen und sogar feste Materie werden? Nun, einfach und kurz gesagt, geschieht dies durch ein „Festhalten“ von Wissen bzw. Information, also durch ein Eigentum in Zeit und Raum, wenn sozusagen die drei Komponenten des „Be-Wußt-Seins“ zu einem „Dreikomponenten-Klebstoff“ werden. Wer sich mit der Physik des Lichtes beschäftigt, wird ähnliches finden. Denn das Licht selbst ist frei von Zeit und Raum, und nur durch Beobachtung wird es daran gebunden und bekommt Geschwindigkeit und Masse. Und was macht ein Beobachter? Klar, natürlich Information bzw. Wissen ergreifen und festhalten.
So fragt sich nun der Mensch schon lange, woher er eigentlich kommt und was er ist? Und damit stand auch immer schon die Frage, was der Mensch wäre, wenn er alles Eigentum verliert, das er in dieser Welt ergriffen hat und festhalten will? Und davon handelt auch dieses Märchen.
Nun ist es in einer materiell so reichen Welt, wo wir im Überfluß leben und doch nie zufrieden sind, bereits sehr schwer, von materieller Armut zu sprechen, und von geistiger Armut noch um vieles schwerer. Wir wollen deshalb einen berühmten alten Meister zu Wort kommen lassen, und zwar Meister Eckhart in seiner überaus tiefgründigen Predigt Nr. 32 über die „Armut im Geiste“, die schon vor über 700 Jahren entstand:
Die Seligkeit tat ihren Mund der Weisheit auf und sprach: »Selig sind die Armen im Geiste, das Himmelreich ist ihrer. (Matth. 5.3)« Alle Engel und alle Heiligen und alles, was je geboren wurde, das muß schweigen, wenn diese ewige Weisheit des Vaters spricht; denn alle Weisheit der Engel und aller Kreaturen, das ist ein reines Nichts vor der grundlosen Weisheit Gottes. Diese Weisheit hat gesprochen, daß die Armen selig seien.
Nun gibt es zweierlei Armut. Die eine ist eine äußere Armut, und die ist gut und sehr zu loben an dem Menschen, der sie mit Willen auf sich nimmt aus Liebe zu unsern Herrn Jesus Christus, weil der sie selbst auf Erden gehabt hat. Von dieser Armut will ich nicht weiter sprechen. Indessen, es gibt noch eine andere Armut, eine innere Armut, die unter jenem Wort unseres Herrn zu verstehen ist, wenn er sagt: »Selig sind die Armen im Geiste.«
Nun bitte ich euch, ebenso (arm) zu sein, auf daß ihr diese Rede versteht; denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Wenn ihr dieser Wahrheit, von der wir nun sprechen wollen, nicht gleicht, so könnt ihr mich nicht verstehen.
Sie war aber gut und fromm. Und weil sie so von aller Welt verlassen war, ging sie im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihr ein armer Mann, der sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.“ Sie reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte „Gott segne dir’s“, und ging weiter.
So lesen wir zuerst von den Eigenschaften, die eine Seele wieder benötigt, die in Trennung gefallen ist und „von aller Welt verlassen wurde“, das heißt, vom ganzheitlichen Geist. Mit diesen Eigenschaften von „gut und fromm im Vertrauen auf den lieben Gott“ begibt sie sich zunächst „hinaus ins Feld“, also in die Welt der Menschen, wo wir unsere Nahrung suchen und produzieren. Hier können wir bereits an die erste Komponente des „Be-Wußt-Seins“ denken, nämlich das Bewegen, Behandeln oder Bewirken. Und darin liegt auch unser Wille, mit dem wir uns ernähren: Entweder ein eigener egoistischer Wille für das Festhalten und Ansammeln von Eigentum, oder ein ganzheitlicher bzw. göttlicher Wille, um der Ganzheit bzw. Gott zu dienen. So sollte man also auf diesem Weg der „Hingabe“ zur geistigen Armut, zuerst die eigene Ego-Nahrung hingeben. Und der „arme Mann“ erinnert uns an Gott selbst als Vater der Schöpfung, der bereits die vollkommene Armut ist, weil er in seiner ganzen großen Schöpfung nichts als Eigentum festhalten will, also reines Bewußtsein ist, das nicht an irgendeiner Form festklebt, sondern jede Form annehmen kann. Und die gleiche Hingabe erbittet er von uns bzw. von seinem Sohn.
So spricht auch Meister Eckhart weiter:
Etliche Leute haben mich gefragt, was (denn) Armut in sich selbst und was ein armer Mensch sei. Darauf wollen wir antworten. Bischof Albrecht sagt, das sei ein armer Mensch, der an allen Dingen, die Gott je erschuf, kein Genügen habe, und das ist gut gesagt. Wir aber sagen es noch besser und nehmen Armut in einem (noch) höheren Verstand: Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich sprechen, und ich bitte euch um der Liebe Gottes willen, daß ihr diese Wahrheit versteht, wenn ihr könnt. Versteht ihr sie aber nicht, so bekümmert euch deswegen nicht, denn ich will von so gearteter Wahrheit sprechen, wie sie nur wenige gute Leute verstehen werden.
Zum ersten sagen wir, daß der ein armer Mensch sei, der nichts will. Diesen Sinn verstehen manche Leute nicht richtig: Es sind jene Leute, die in Bußübung und äußerlicher Übung an ihrem selbstischen Ich festhalten, was diese Leute jedoch für groß erachten. Erbarm‘s Gott, daß solche Leute so wenig von der göttlichen Wahrheit erkennen! Diese Menschen heißen heilig auf Grund des äußeren Anscheins, aber von innen sind sie Esel, denn sie erfassen nicht den (genauen) eigentlichen Sinn göttlicher Wahrheit. Diese Menschen sagen zwar (auch), das sei ein armer Mensch, der nichts will. Sie deuten das aber so: daß der Mensch so leben müsse, daß er seinen (eigenen) Willen nimmermehr in irgend etwas erfülle, daß er (vielmehr) danach trachten solle, den allerliebsten Willen Gottes zu erfüllen. Diese Menschen sind wohl daran, denn ihre Meinung ist gut; darum wollen wir sie loben.
Gott möge ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich schenken. Ich aber sage bei der göttlichen Wahrheit, daß diese Menschen keine (wirklich) armen Menschen sind noch armen Menschen ähnlich. Sie werden als groß angesehen in den Augen (nur) der Leute, die nichts Besseres wissen. Doch ich sage, daß sie Esel sind, die nichts von göttlicher Wahrheit verstehen. Wegen ihrer guten Absicht mögen sie das Himmelreich erlangen; aber von der Armut, von der ich jetzt sprechen will, davon wissen sie nichts.
Wenn einer mich nun fragte, was denn aber das sei, ein armer Mensch, der nichts will, so antworte ich darauf und sage so: Solange der Mensch dies noch an sich hat, daß es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen. Denn dieser Mensch hat (noch) einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will, und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muß er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er‘s war, als er (noch) nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt.
Als ich (noch) in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst. Ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuß der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst: Was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich. Und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. Als ich aber aus freiem Willensentschluß ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Kreaturen waren, war Gott (noch) nicht »Gott«: Er war vielmehr, was er war. Als die Kreaturen wurden und sie ihr geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht in sich selber Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott.
Nun sagen wir, daß Gott, soweit er (lediglich) »Gott« ist, nicht das höchste Ziel der Kreatur ist. Denn so hohen Seinsrang hat (auch) die geringste Kreatur in Gott. Und wäre es so, daß eine Fliege Vernunft hätte und auf dem Wege der Vernunft den ewigen Abgrund göttlichen Seins, aus dem sie gekommen ist, zu suchen vermöchte, so würden wir sagen, daß Gott mit alledem, was er als »Gott« ist, nicht (einmal) dieser Fliege Erfüllung und Genügen zu schaffen vermöchte. Darum bitten wir Gott, daß wir »Gottes« ledig werden und daß wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind, dort, wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte. So denn sagen wir: Soll der Mensch arm sein an Willen, so muß er so wenig wollen und begehren, wie er wollte und begehrte, als er (noch) nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will.
Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: „Es friert mich so an meinem Kopf, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.“ Da nahm sie ihre Mütze ab und gab sie ihm. Und als sie noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab sie ihm ihres. Und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab sie auch von sich hin.
Hier lesen wir von drei äußerlichen Kleidungsstücken der Seele, die uns aus geistiger Sicht an das begriffliche Wissen erinnern mit all den vielen Vorstellungen, mit denen wir uns umhüllen und schließlich auch einmauern und verkörpern. Bezüglich der drei Kleidungstücke von Oben, Mitte und Unten könnte man an unser Wissen über Himmel, Erde und Hölle sozusagen zwischen reinem Licht und bloßer Dunkelheit denken, wenn das Mädchen steht, und wenn es liegt an unser Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das mag weit hergeholt sein, führt uns aber zum symbolischen Kreuz des begrifflichen Verstandes in Raum und Zeit, an das wir die ganzheitliche Vernunft festnageln wollen, wie wir es auch von der Kreuzigung des Christusbewußtseins kennen. Aus dieser Sicht können uns die drei frierenden Kinder an den Heiligen Geist erinnern, der jede Dreifalt zur Einheit macht und unsere Hingabe erbittet, als Wärme des Mitgefühls, Feuer der Reinigung und Licht der Liebe, das alles heilt und vereint. Und damit kommen wir auch zur zweiten Komponente des „Be-Wußt-Seins“, dem Wissen bzw. der Information.
Meister Eckhart spricht weiter:
Zum andern Male ist das ein armer Mensch, der nichts weiß. Wir haben gelegentlich gesagt, daß der Mensch so leben sollte, daß er weder sich selber noch der Wahrheit noch Gott lebe. Jetzt aber sagen wir‘s anders und wollen weitergehend sagen: Der Mensch, der diese Armut haben soll, der muß so leben, daß er nicht (einmal) weiß, daß er weder sich selber noch der Wahrheit noch Gott lebe. Er muß vielmehr so ledig sein alles Wissens, daß er nicht wisse noch erkenne noch empfinde, daß Gott in ihm lebt, - mehr noch: Er soll ledig sein alles Erkennens, das in ihm lebt. Denn, als der Mensch (noch) im ewigen Wesen Gottes stand, da lebte in ihm nicht ein anderes: Was da lebte, das war er selber. So denn sagen wir, daß der Mensch so ledig sein soll seines eigenen Wissens, wie er‘s tat, als er (noch) nicht war, und er lasse Gott wirken, was er wolle, und der Mensch stehe ledig.
Alles, was je aus Gott kam, das ist gestellt auf ein lauteres Wirken. Das dem Menschen zubestimmte Wirken aber ist: Lieben und Erkennen. Nun ist es eine Streitfrage, worin die Seligkeit vorzüglich liege. Etliche Meister haben gesagt, sie liege in der Liebe, andere sagen, sie liege in der Erkenntnis und in der Liebe, und die treffen‘s (schon) besser. Wir aber sagen, daß sie weder in der Erkenntnis noch in der Liebe liege. Es gibt vielmehr ein Etwas in der Seele, aus dem Erkenntnis und Liebe ausfließen. Es selbst erkennt und liebt nicht, wie es die Kräfte der Seele tun. Wer dieses (Etwas) kennenlernt, der erkennt, worin die Seligkeit liegt. Es hat weder Vor noch Nach, und es wartet auf nichts Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Deshalb ist es auch des Wissens darum, daß Gott in ihm wirke, beraubt. Es ist vielmehr selbst dasselbe, das sich selbst genießt in der Weise, wie Gott es tut.
So quitt und ledig also, sage ich, soll der Mensch stehen, daß er nicht wisse noch erkenne, daß Gott in ihm wirke, und so kann der Mensch Armut besitzen.
Die Meister sagen, Gott sei ein Sein und ein vernünftiges Sein und erkenne alle Dinge. Ich aber sage: Gott ist weder Sein noch vernünftiges Sein noch erkennt er dies oder das. Darum ist Gott ledig aller Dinge - und (eben) darum ist er alle Dinge. Wer nun arm im Geiste sein soll, der muß arm sein an allem eigenen Wissen, so daß er von nichts wisse, weder von Gott noch von Kreatur noch von sich selbst. Darum ist es nötig, daß der Mensch danach begehre, von den Werken Gottes nichts zu wissen noch zu erkennen. In dieser Weise vermag der Mensch arm zu sein an eigenem Wissen.
Endlich gelangte sie in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch ein Kind und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben“, und zog das Hemd aus und gab es auch noch hin.
In seiner nachfolgenden Predigt Nr. 33 spricht Meister Eckhart diesbezüglich:
Die Seele, die Gott lieben soll und der er sich mitteilen soll, die muß so völlig entblößt sein von Zeitlichkeit und von allem Geschmack der Kreaturen, daß Gott in ihr nach seinem eigenen Geschmack schmecke. Die Schrift sagt: »Zur Zeit der Mitternacht, als alle Dinge im Schweigen waren, da kam, Herr, dein Wort herab von den königlichen Stühlen. (Weis. 18.14)« Das heißt: In der Nacht, wenn keine Kreatur (mehr) in die Seele leuchtet noch lugt, und im Stillschweigen, wo nichts mehr in die Seele spricht, da wird das Wort (ein-) gesprochen in die Vernunft. Das Wort eignet der Vernunft und heißt verbum (Tätigkeitswort), so wie es in der Vernunft ist und steht.
Ich erschrecke oft, wenn ich von Gott reden soll, wie völlig abgeschieden die Seele sein muß, die zu jener Einswerdung kommen will. Das aber darf niemandem unmöglich dünken. Es ist der Seele nicht unmöglich, die Gottes Gnade besitzt. Keinem Menschen fiel je etwas leichter, als der Seele, die Gottes Gnade besitzt, alle Dinge zu lassen…
So können wir nun auch in unserem Märchen lesen, wie die Seele das „Feld“ bzw. Reich der begrifflichen Verstandesmenschen verläßt und das äußere Licht der Welt schwindet, so daß man die Seele nicht mehr in äußerlicher Form sehen kann. Und hier geht es nun an das Unterhemd, das berühmte „letzte Hemd“ des Daseins. Entsprechend könnten wir bei dem „Kind, das da noch kam,“ an das Christuskind als Sohn Gottes oder auch Wort Gottes denken, das Christusbewußtsein bzw. reine Bewußtsein selbst, dem wir unser ganzes Dasein hingeben können. Und damit geht es nun schließlich auch um die letzte Komponente des „Be-Wußt-Seins“, das Sein selbst, so daß die Seele nichts Eigenes mehr hat, ja, nicht einmal mehr eine Eigenschaft. Das wäre die vollkommene Hingabe oder wahre Vergebung im ganzheitlichen Sinne. Also ein Geben ohne Verlieren, denn dann heißt es: Was ich hingebe oder vergebe, das gebe ich mir selbst.
Meister Eckhart spricht weiter in seiner Predigt Nr. 32 über die „Armut im Geiste“:
Zum dritten ist das ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben gesagt, das sei Vollkommenheit, daß man nichts an materiellen Dingen der Erde (mehr) besitze, und das ist wohl wahr in dem Sinne, wenn‘s einer mit Vorsatz so hält. Aber dies ist nicht der Sinn, den ich meine. Ich habe vorhin gesagt, das sei ein armer Mensch, der nicht (einmal) den Willen Gottes erfüllen will, der vielmehr so lebe, daß er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so ledig sei, wie er‘s war, als er (noch) nicht war. Von dieser Armut sagen wir, daß sie die höchste Armut ist. - Zum zweiten haben wir gesagt, das sei ein armer Mensch, der (selbst) vom Wirken Gottes in sich nichts weiß. Wenn einer des Wissens und Erkennens so ledig steht, so ist das die reinste Armut. - Die dritte Armut aber, von der ich nun reden will, die ist die äußerste: Es ist die, daß der Mensch nichts hat.
Nun gebt hier genau acht! Ich habe es (schon) oft gesagt, und große Meister sagen es auch: Der Mensch solle aller Dinge und aller Werke, innerer wie äußerer, so ledig sein, daß er eine eigene Stätte Gottes sein könne, darin Gott wirken könne. Jetzt aber sagen wir anders. Ist es so, daß der Mensch aller Dinge ledig steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, steht es aber noch so mit ihm, daß Gott in ihm eine Stätte zum Wirken findet, so sagen wir: Solange es das noch in dem Menschen gibt, ist der Mensch (noch) nicht arm in der eigentlichsten Armut. Denn Gott strebt für sein Wirken nicht danach, daß der Mensch eine Stätte in sich habe, darin Gott wirken könne; sondern das (nur) ist Armut im Geiste, wenn der Mensch so ledig Gottes und aller seiner Werke steht, daß Gott, dafern er in der Seele wirken wolle, jeweils selbst die Stätte sei, darin er wirken will, - und dies täte er (gewiß) gern. Denn, fände Gott den Menschen so arm, so wirkt Gott sein eigenes Werk und der Mensch erleidet Gott so in sich, und Gott ist eine eigene Stätte seiner Werke; der Mensch (aber) ist ein reiner Gott-Erleider in seinen (=Gottes) Werken angesichts der Tatsache, daß Gott einer ist, der in sich selbst wirkt. Allhier, in dieser Armut erlangt der Mensch das ewige Sein (wieder), das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewiglich bleiben wird.
Es gibt ein Wort Sankt Pauls, in dem er sagt: »Alles, was ich bin, das bin ich durch die Gnade Gottes« (1.Kor. 15.10). Nun aber scheint diese (meine) Rede (sich) oberhalb der Gnade und oberhalb des Seins und oberhalb der Erkenntnis und des Willens und alles Begehrens (zu halten). Wie kann denn (da) Sankt Pauls Wort wahr sein? Darauf hätte man dies zu antworten: Daß Sankt Pauls Worte wahr seien. Daß die Gnade in ihm war, das war nötig, denn die Gnade Gottes bewirkte in ihm, daß die »Zufälligkeit« zur Wesenhaftigkeit vollendet wurde. Als die Gnade endete und ihr Werk vollbracht hatte, da blieb Paulus, was er war.
So denn sagen wir, daß der Mensch so arm dastehen müsse, daß er keine Stätte sei noch habe, darin Gott wirken könne. Wo der Mensch (noch) Stätte (in sich) behält, da behält er noch Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, daß er mich Gottes quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Beginn der Kreaturen fassen. In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber (willens), diesen Menschen (=mich) zu schaffen. Und darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben. Was ich meiner Geborenheit nach bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit verderben. In meiner (ewigen) Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge. Wäre aber ich nicht, so wäre auch »Gott« nicht: Daß Gott »Gott« ist, dafür bin ich die Ursache. Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht »Gott«. Dies zu wissen ist nicht not.
Ein großer Meister sagt, daß sein Durchbrechen edler sei als sein Ausfließen, und das ist wahr. Als ich aus Gott floß, da sprachen alle Dinge: »Gott ist.« Dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur. In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder »Gott« noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. Da empfange ich einen Aufschwung, der mich bringen soll über alle Engel. In diesem Aufschwung empfange ich so großen Reichtum, daß Gott mir nicht genug sein kann mit allem, was er als »Gott« ist, und mit allen seinen göttlichen Werken. Denn mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, daß ich und Gott eins sind. Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Allhier findet Gott keine Stätte (mehr) in dem Menschen, denn der Mensch erringt mit dieser Armut, was er ewig gewesen ist und immerfort bleiben wird. Allhier ist Gott eins mit dem Geiste, und das ist die eigentlichste Armut, die man finden kann.
Und wie sie so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler. Und ob sie gleich ihr Hemdlein weggegeben, so hatte sie ein neues an und das war von allerfeinsten Leinen. Da sammelte sie sich die Taler hinein und war reich für ihren Lebtag.
So findet nun die reine Seele der Natur ihren reinen Geist wieder, überwindet jede Trennung und wird zum ganzen und unvorstellbar großen Reich der Sterne, die nun der Seele vom Himmel „zufallen“ und einen neuen ganzheitlichen Körper vom „Allerfeinsten“ geben, sozusagen das Hemdlein des ganzen Universums mit allem Reichtum, denn im Ganzen gibt es kein Verlieren, kein Mein und Dein und damit auch keinen Tod. Und das nicht nur als Sternenstaub, sondern vor allem als Sternenlicht, als ein reines Bewußtsein, das jede Form annehmen kann.
Eine ähnliche Sicht der kosmischen Einheit als ein lebendiges Wesen in einem ganzheitlichen Geist finden wir zum Beispiel auch in der berühmten Bhagavat-Gita im altindischen Mahabharata, Buch 6, Kapitel 35, wo es heißt:
Mit diesen Worten, oh Monarch, offenbarte Hari, der mächtige Herr der Yogakraft, dem Sohn der Pritha seine göttliche Herrschergestalt mit vielen Mündern und Augen, mit zahllosen wunderbaren Gesichtern, mit vielen himmlischen Ornamenten und erhobenen, himmlischen Waffen, mit himmlischen Girlanden und Roben, mit himmlisch duftenden Salben, voll jeglicher Wunder, strahlend, unendlich, und mit Augen, die nach allen Seiten gerichtet sind. Würden am Himmel tausend Sonnen gleichzeitig erscheinen, dann wäre diese Herrlichkeit vielleicht dem Glanz dieser mächtigen Erscheinung ähnlich. So sah der Sohn des Pandu das ganze Universum, mit all den vielfältigen Gestaltungen im Körper der Gottheit vereint.
Soweit kann sich das Bewußtsein ausdehnen, wenn es sich durch Hingabe von seiner Begrenzung löst, die durch Festhalten und Anhaftung an äußerliche Formen entsteht. Und so sollten wir auch bei den „harten blanken Talern“ nicht so sehr an irgendwelche Geldmünzen denken, die als Segen vom Himmel fallen und alle unsere Probleme lösen sollen. Mag das auch für Kinder zu Zeiten eine nützliche Vorstellung sein, so sollten doch Erwachsene mehr Vernunft entwickeln und weiter schauen können. Wir denken hier mehr an das reine Gold vom berühmten „Stein der Weisen“, den wir auf diesem Weg finden können, eine unvergängliche Weisheit einer ganzheitlichen Vernunft, das ewige Wort Gottes und ein unvergängliches Bewußtsein, auf das man sich wirklich verlassen kann und das jeglichen Reichtum für den ganzen „Lebtag“ in sich hat, solange es bewußtes Leben gibt. Oder wie Meister Eckhart oben sagte: „Ein so großer Reichtum, daß Gott mir nicht genug sein kann mit allem, was er als (begrifflicher) »Gott« ist, und mit allen seinen göttlichen Werken.“ Diese reine Hingabe und Armut ist also keine Frage des begrifflichen Verstandes, sondern der direkten Erfahrung. Damit schließt sich auch unser Märchenkreis zum „Trommler“, bei dem wir mit drei ähnlichen „Auf-Gaben“ auf dem Glasberg begonnen hatten.
Und Meister Eckhart schließt seine Predigt mit den Worten, die wir nur bestätigen können:
Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.
Daß wir so (wahrhaftig) leben mögen, daß wir es ewig erfahren, dazu helfe uns Gott. Amen.
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[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857 |