Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die sechs Schwäne

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2024]

Aufbauend auf den letzten drei Märchen, möchten wir nun auch hier versuchen, in die geistige Tiefe der Symbolik einzudringen, zumal sich die meisten Symbole von „Prinz Schwan“ auch in diesem Märchen wiederfinden lassen. Und speziell im ersten Teil können wir gut darüber nachdenken, wie eigentlich der geistige Schwan zu einem irdischen Schwan geworden war. Wir empfehlen natürlich wie immer, zuerst einmal den Märchentext im Ganzen zu lesen:

Es jagte einmal ein König in einem großen Wald, und jagte einem Wild so eifrig nach, daß ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend herankam, hielt er still und blickte um sich, da sah er, daß er sich verirrt hatte. Er suchte einen Ausgang, konnte aber keinen finden.

Die Geschichte beginnt mit einem König, in dem wir wieder den herrschenden bzw. wirkenden Geist sehen können, der, wie wir später noch erfahren, seine erste Frau und Königin verloren hat. Hier könnte man daran denken, daß er als reiner Geist seine reine und ursprüngliche Natur bzw. Seele verloren hat. Das heißt, er hat sich von ihr abgewandt und damit getrennt, und Trennung bedeutet Tod und Verlust der ursprünglichen Einheit. Damit hat er sich mit seinem begrifflichen Verstand von der inneren Einheit abgewandt und der äußerlichen Vielfalt im Wald der Formen und Vorstellungen zugewandt, wo er sich dann selbst verloren und „verirrt“ hat. Das heißt dann symbolisch: Er trennte sich als Ego-Verstand von „seinen Leuten“ und jagt nun „eifrig“ im irdischen Wald der vorgestellten Formen nach „wilder“ Nahrung für seinen Körper und Verstand. Dabei verläuft und „verirrt“ er sich in diesem Wald der irdischen Welt und kann in seinem Zustand der Trennung keinen Ausgang finden, so daß ihm der Verlust seiner Herrschaft und schließlich auch der Tod droht. Kommt uns das bekannt vor?

Da sah er eine alte Frau mit wackelndem Kopfe, die auf ihn zu kam. Das war aber eine Hexe. „Liebe Frau“, sprach er zu ihr, „könnt Ihr mir nicht den Weg durch den Wald zeigen?“ „Oh ja, Herr König“, antwortete sie, „das kann ich wohl, aber es ist eine Bedingung dabei, wenn ihr die nicht erfüllt, so kommt Ihr nimmermehr aus dem Wald und müßt darin Hungers sterben.“ „Was ist das für eine Bedingung?“, fragte der König. „Ich habe eine Tochter“, sagte die Alte, „die so schön ist, wie Ihr keine auf der Welt finden könnt, und wohl verdient, Eure Gemahlin zu werden. Wollt Ihr die zur Frau Königin machen, so zeige ich Euch den Weg aus dem Wald.“

So kommt nun der König in seiner Verzweiflung wieder etwas zu sich, und sieht das uralte Wesen der äußerlichen Natur im Wald der Formen vor sich, nämlich die berühmte Hexe, die natürlich auch dafür sorgte, daß er überhaupt erst in diesen Wald kommen, hier jagen und sich verirren konnte. Über den Begriff „Hexe“ haben wir im „Trommler“ bereits nachgedacht, und auch hier liegt die Bedeutung der Zahl Sechs als griechisch „Hexa“ und lateinisch „Sex“ bezüglich der „sechs Schwäne“ nahe, wie auch die etymologische Ableitung von „Hagazussa“, die „den Zaun bewacht“, soweit sie die Trennung verursacht und die Grenzen des Waldes bewacht, aber auch der Schlüssel für die Befreiung ist. Denn der Weg, der in den Wald hineinführt, der führt auch wieder heraus.

Die Bedingung ist natürlich, daß sich der König wieder mit seiner Seele vereint, der Geist mit der Natur. Ansonsten kann die Trennung niemals überwunden werden. So bietet uns nun die Hexe als äußerliche Natur ihre Tochter als eine natürliche Seele an, die sozusagen „verhext“ ist, das heißt, an die fünf körperlichen Sinne mit dem begrifflichen Denken als sechsten in einer äußerlichen Natur der getrennten Formen gebunden wurde, so daß natürlich auch der Geist, der sich mit ihr verheiratet, an einen getrennten Körper gebunden und darin gefangen wird. In diesem Sinne könnte man im Gegensatz zur „reinen ganzheitlichen Seele“ auch von einer „getrennten egoistischen Seele“ sprechen, so daß die übliche Vorstellung von „meiner und deiner Seele“ sowie von „meinem und deinem Körper“ entsteht.

Der König willigte in der Angst seines Herzens ein, und die Alte führte ihn zu ihrem Häuschen, wo ihre Tochter beim Feuer saß. Sie empfing den König, als wenn sie ihn erwartet hätte. Und er sah wohl, daß sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie ohne heimliches Grausen nicht ansehen. Nachdem er das Mädchen zu sich aufs Pferd gehoben hatte, zeigte ihm die Alte den Weg, und der König gelangte wieder in sein königliches Schloß, wo die Hochzeit gefeiert wurde.

Eigentlich hatte der König bereits „eingewilligt“, also seinen Willen in diese Richtung gewandt, als er in diesen Wald der äußerlichen Natur auf die Jagd gegangen war. Doch nun wird er sich dessen mehr und mehr bewußt. Deshalb empfing ihn auch die Tochter der Hexe nicht unerwartet, die am Feuer saß. Und damit ist wohl nicht das Feuer der Liebe oder des Heiligen Geistes gemeint, mit dem der „Trommler“ im vorletzten Märchen den ganzen Wald der Vorstellungen verbrannt hatte, sondern das Herdfeuer der Leidenschaft, auf dem das „eifrig gejagte Wild“ aus dem Wald der Vorstellungen als schmackhafte Nahrung für Körper und Verstand zubereitet werden soll, um den Hunger zu stillen. Damit erinnert uns auch die äußerliche Schönheit dieser Seele an die weltliche Verführung, und das innerliche Grausen an eine höhere Stimme der Wahrheit, die als Weisheit und Vernunft im König immer noch anklingt. Dennoch hebt er nun diese Seele an seine Seite und reitet mit ihr gemeinsam auf seinem Pferd wieder in sein königliches Schloß. Das heißt, er reitet auf einem körperlichen Wesen als geistiger König mit seiner Königin. Und in seinem Königreich herrscht er dann in Verbindung mit der natürlichen Seele, die ihm von der „Hexe“ gegeben wurde, zumindest wieder über die äußerliche Natur, also über den Wald der Formen und Vorstellungen, wo er so gern auf die Jagd geht. Denn irgendeine Seele braucht der Geist, entweder die reine ganzheitliche Seele oder eine egoistisch abgetrennte Seele, denn ohne Natur kann der Geist nicht herrschen bzw. wirken, weil er nichts hat, worin er wirken kann. Doch daß diese Heirat noch keine reine Vereinigung von Geist und Natur war und sein konnte, zeigt der Fortgang der Geschichte:

Der König war schon einmal verheiratet gewesen und hatte von seiner ersten Gemahlin sieben Kinder, sechs Knaben und ein Mädchen, die er über alles auf der Welt liebte. Weil er nun fürchtete, die Stiefmutter möchte sie nicht gut behandeln und ihnen gar ein Leid antun, so brachte er sie in ein einsames Schloß, das mitten in einem Wald stand. Es lag so verborgen und der Weg war so schwer zu finden, daß er ihn selbst nicht gefunden hätte, wenn ihm nicht eine weise Frau ein Knäuel Garn von wunderbarer Eigenschaft geschenkt hätte. Wenn er das vor sich hinwarf, so wickelte es sich von selbst los und zeigte ihm den Weg.

Hier erfahren wir nun von der ersten Frau und Königin, die er sicherlich anfangs ebenso „über alles in der Welt“ geliebt hat, wie jetzt ihre Kinder, also eine wahre Liebe zwischen einem reinen Geist und einer reinen Natur, in der wir praktisch alle unseren Ursprung haben. Die sechs geliebten Jungen erinnern uns als reine Wesen des bezeugenden Geistes an die fünf Sinne mit dem Denken als sechsten, und das geliebte Mädchen als reine Jungfrau und Wesen der gebärenden Natur an die eine reine Seele, die natürlich immer und überall mit dabei, aber uns selten bewußt ist.

Das Symbol der „Stiefmutter“ bzw. „Ersatzmutter“ kennen wir aus sehr vielen Märchen. Es bedeutet vor allem, daß der wirkende Geist seine ursprüngliche Einheit mit der wahren Natur verloren hat und sich mit einer zweiten oder „anderen“ Natur verbindet, welche die wahre Natur ersetzen soll. Das kann natürlich nur eine illusorische Natur sein, die nicht in der Ganzheit, sondern nur in der Trennung der Gegensätze existieren kann, also in einer egoistischen Welt getrennter Formen, wie wir sie alle gut kennen. So fürchtet sie ständig die ganzheitliche Wahrheit, weil sie verschwinden muß, sobald die wahre Natur wieder da ist. Deshalb kennt sie auch keine wahre ganzheitliche Liebe, sondern kann nur ihre eigenen Formen bzw. Kinder lieben, um sich selbst zu bestätigen.

So fürchtet nun der König nicht zu Unrecht, daß die verhexte egoistische Seele, mit der nun der Geist verheiratet ist, seine wahren Kinder verderben und sogar töten könnte, weil die ganzheitliche Reinheit dieser Sinne und Seele natürlich eine Bedrohung für die verhexte bzw. illusorische Natur der äußerlichen Formen im Reich der Trennungen ist. So geht es uns allen, wenn der Egoismus in uns herrscht, der nur in einer solchen äußerlichen bzw. materiellen Natur überleben kann, obwohl wir tief in unserem Inneren noch eine wahre und reine Liebe spüren können. Doch diese ursprünglichen Kinder bzw. Sinne haben wir zusammen mit der reinen Seele tief im Wald der Vorstellungen in „ein einsames Schloß gebracht und verborgen“. Und wir hätten die Erinnerung an sie schon längst verloren, wenn es nicht auch eine „weise Frau“ in uns gäbe, eine höhere Weisheit, die uns das Seelenband in die Hände gibt, das unseren Geist mit unserer reinen Seele der wahren Natur immer noch verbindet. Und dieses mystische Band von Ursache und Wirkung können wir vor unserem geistigen Auge sozusagen abwickeln und zurückverfolgen, um zu unserem reinen Ursprung zurückzufinden.

Zu dieser „Stiefmutter“ schreibt auch Jacob Böhme 1620:
Wir sind aus unserer wahren reinen paradiesischen Mutter ausgegangen, in der wir als liebe Kinder leben sollten. Und nun sind wir in der Mutter eingeschlossen, welche die wilden Tiere gebiert, und haben tierische Eigenschaft empfangen. So handeln wir nicht anders als die wilden Tiere, denn wir haben uns einer fremden Mutter ergeben, die uns pflegt und an ihren Seilen gefangenführt. Nun müßten wir den äußeren Menschen der irdischen Mutter lassen, doch wir können nicht aus ihr entfliehen, denn sie hat uns im Fleisch und Blut gefangen, sie zieht uns in sich auf und hält uns für ihre Kinder. Aber wir haben ein teures Kleinod in uns verborgen, mit welchem wir Gottes Kinder sind. Damit laßt uns nach dem höchsten Gut streben, auf daß wir es erlangen. (Vom dreifachen Leben des Menschen, 14.2)

Der König ging aber so oft hinaus zu seinen lieben Kindern, daß der Königin seine Abwesenheit auffiel. Sie wurde neugierig und wollte wissen, was er draußen ganz allein in dem Wald zu schaffen habe. Sie gab seinen Dienern viel Geld, und die verrieten ihr das Geheimnis und sagten ihr auch von dem Knäuel, das allein den Weg zeigen könnte. Nun hatte sie keine Ruhe bis sie herausgebracht hatte, wo der König das Knäuel aufbewahrte.

Dieses „ganz Alleinsein“ weit abseits dieser Welt tief im Wald, wohin die gewöhnlichen Wege nicht reichen, erinnert uns aus geistiger Sicht an die Einkehr in unser inneres Wesen auf dem Weg der „Erinnerung“, was man auch Meditation oder Kontemplation nennt. So kommen wir an den Ursprung unseres Wesens, wo im Verborgenen noch die reine Liebe ganzheitlicher Sinne und Gedanken lebendig ist. Doch wenn man sich mit der egoistischen Seele verheiratet, ist es nur eine Frage der Zeit, daß sie unsere Gedanken mit dem Versprechen von viel Gewinn besticht, das Knäul der Lebensgeschichte ergreift und erfährt, welche Wege der wirkende Geist geht und wen er heimlich noch liebt. Dann befürchtet sie natürlich, er könnte ihr untreu werden. Was kann sie dagegen tun?

Und dann machte sie kleine weißseidene Hemdchen, und da sie von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt hatte, so nähte sie einen Zauber hinein. Und als der König einmal auf die Jagd geritten war, nahm sie die Hemdchen und ging in den Wald, und das Knäuel zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten ihr lieber Vater käme zu ihnen und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie über ein jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sie sich in Schwäne und flogen über den Wald hinweg. Die Königin ging ganz vergnügt nach Hause und glaubte ihre Stiefkinder los zu sein, aber das Mädchen war ihr mit den Brüdern nicht entgegengelaufen, und sie wußte nichts von ihm.

Hier wird nun berichtet, wie die egoistische Seele für die reinen Sinne und Gedanken kleine und engbegrenzte Hemdchen aus dem verführerischen Seidenfaden macht, der von einer gierig-gefräßigen Raupe gesponnen wurde. Und während der König bzw. Geist auf der Jagd in der äußerlichen Welt abgelenkt war, warf sie dieses Gespinst über die Sinne und Gedanken und hüllte sie damit ein, so daß sie körperlich wurden und als Schwäne aus ihrer Verborgenheit bzw. Ganzheitlichkeit heraus in die äußerliche Welt flogen. Damit erinnert uns dieses Gespinst der egoistischen Seele auch wieder an den Knäul der Lebensgeschichte, der als Seelenband von Ursache und Wirkung aufgewickelt wird, und damit auch die Sinne und Gedanken umwickelt, umhüllt und verkörpert.

Warum gerade Schwäne? Nun, sie gehören praktisch zu den größten und schwersten Vögeln, die überhaupt noch fliegen können. Und vielleicht ist damit gemeint, daß sich fliegende Vögel, die auch als Symbol für die Seele gelten, nicht noch mehr verkörpern lassen. Dazu haben sie auch die weißen Federn einer äußerlichen Reinheit, obwohl sie innerlich Tiere sind, die sehr „eigensinnig“ und aggressiv werden können, und bei Bedrohung nicht gleich flüchten, wie andere kleine Vögel. Deshalb sind sie auch schwer zu zähmen, und wer weiß nicht, was ungezähmte Sinne und Gedanken bedeuten. Schließlich sind Schwäne auch keine typischen Herdentiere wie die Gans, die gern das „Ganze“ sucht, sondern oft als Einzelgänger oder mit ihrem lebenslangen Partner unterwegs, weshalb sie gewöhnlich auch ihr Revier hartnäckig verteidigen, wie sich auch unsere Sinne gern von den anderen Sinnen getrennt sehen, ihr jeweiliges Revier verteidigen und lebenslänglich an ihre begehrten Sinnesobjekte gebunden sind.

Und warum keine schwarzen Hemdchen, um sie in die Welt der Dunkelheit und des Todes zu schicken? Nein, sie sollen leben, aber als ihre eigenen Kinder im begrenzten Licht ihrer äußerlichen Welt, denn sie kennt ja keine andere. Und damit war der egoistische Hexenzauber in diese „weißseidenen Hemdchen eingenäht“ bzw. verwebt oder verstrickt, so daß sie sich von ihrer Schwester der reinen Seele trennten und hinaus in eine Welt der äußerlichen Formen und Trennung flogen. So sind auch unsere Sinne und Gedanken an sich rein und „weiß, wie am ersten Tag“, soweit sie reine Information bzw. reines Bewußtsein sind, aber die Bewertung und Beurteilung steht dem Geist frei, entweder mit ganzheitlicher Vernunft aus göttlicher Sicht oder mit begrifflich-trennendem Verstand aus egoistischer Sicht. Auf diese Weise können die Sinne und Gedanken verhext und verzaubert werden, aber natürlich nicht die reine Seele, die der Illusion „nicht entgegengelaufen kommt“, so daß die Illusion „auch nichts von ihr weiß“. Denn, wenn auch die reine Seele bzw. Natur verunreinigt, verhext und verschwinden würde, dann wären wir wirklich hoffnungslos verloren.

Andern Tags kam der König und wollte seine Kinder besuchen. Er fand aber niemand als das Mädchen. „Wo sind deine Brüder?“, fragte der König. „Ach, lieber Vater“, antwortete sie, „die sind fort und haben mich allein zurückgelassen“, und erzählte ihm, daß sie aus ihrem Fensterlein mit angesehen habe, wie ihre Brüder als Schwäne über den Wald weggeflogen wären, und zeigte ihm die Federn, die sie in dem Hof hatten fallenlassen und die sie aufgelesen hatte. (In der ersten Version von 1812 viel kürzer: Am andern Tag kam der König in das Waldschloß, da erzählte sie ihm, was geschehen war, und zeigte ihm noch die Schwanenfedern, die von ihren sechs Brüdern auf den Hof gefallen waren.) Der König trauerte, aber er dachte nicht, daß die Königin die böse Tat vollbracht hätte. Und weil er fürchtete, das Mädchen würde ihm auch geraubt, so wollte er sie mit fortnehmen. Aber sie hatte Angst vor der Stiefmutter, und bat den König, daß sie nur noch diese Nacht im Waldschloß bleiben dürfte.

So hat nun der wirkende Geist auch die innerliche Verbindung zu seinen wahren Sinnen verloren, und die reine Seele will und kann nicht bei ihm bleiben, denn wo die Illusion herrscht, kann die Wahrheit nicht sein. Damit hat nun der wirkende Geist nicht nur die Einheit mit der wahren Natur verloren, sondern auch seine Verbindung über das Seelenband zu ihr, und ist völlig in die Körperlichkeit gefallen. Er reitet sozusagen nicht mehr auf dem Pferd als König mit seiner Königin, wie er damals in sein Reich zurückkehrte, sondern ist zum Pferd geworden, auf dem nun die Königin reitet. Man könnte auch sagen, er ist nun wie seine Sinne und Gedanken selbst zum Schwan geworden und weiß nicht mehr, wer er in Wahrheit ist, weil er von der Illusion beherrscht und gefangen wurde, die er nicht mehr erkennen kann. Wie auch der König „nicht dachte, daß die Königin diese böse Tat vollbracht hätte“.

Und wenn wir ehrlich zu uns sind, leben wir auch in einer solchen Welt. Wir denken zwar, daß unsere Sinne und Gedanken frei sind und sich wie weiße Schwäne in die Welt erheben können, doch es ist nur eine engbegrenzte körperliche Welt der Trennung im Spiel der Gegensätze. Wir versuchen natürlich alles, um diese Illusion der Freiheit mit einer schier endlosen Vielfalt an Formen durch unsere modernen Medien wie Fernsehen, Telefon und Internet oder durch Technik wie Autos, Flugzeuge und sonstige Maschinen aufrechtzuerhalten, aber diese künstlich erleuchtete Welt kann uns nicht vor einer innerlichen Dunkelheit schützen. So daß wir zwar äußerlich so „vergnügt“ wie die Königin sind, aber innerlich wie der König „trauern“ und zunehmend in Depression fallen, was mittlerweile eine weitverbreitete Volkskrankheit geworden ist. So haben wir unser Bewußtsein in eine engbegrenzte Körperlichkeit eingeschlossen und glauben nun, daß wir mit unserem Körper durch die Welt rennen, fahren und fliegen müssen, um frei zu sein, und je weiter und schneller, desto freier. Und unsere egoistische Königin wird natürlich alles tun, damit unser Geist auch so verhext bleibt, weshalb wir auch den Egoismus in unserer Welt über alles lieben.

Damit endet der erste Teil dieses Märchens, und wir haben erfahren, wie sich der reine Geist in dieser Welt verkörpern konnte, oder wie das reine, ganzheitliche und ewige Bewußtsein sich selbst vergessen und mit einer äußerlichen, getrennten und vergänglichen Form identifizieren konnte, die es sich selbst gemacht hat.

So bleibt nun die reine Seele bzw. Natur während der „geistigen Nacht“ im Verborgenen und Unbewußten, solange diese Nacht für den König dauert, bis ihm der geistige Morgen dämmert, die Sinne und Gedanken wieder befreit werden und die reine Seele wieder erkannt wird. Und was sie dort im Verborgenen macht, wie sie im Unterbewußtsein in der Tiefe der Natur wirkt, das lesen wir nun im zweiten Teil dieses Märchens, und wollen natürlich auch versuchen, die Symbolik dieses Erlösungsweges aus geistiger Sicht etwas näher zu verstehen.

Das arme Mädchen dachte: „Meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen und meine Brüder suchen.“ Und als die Nacht kam, entfloh sie, und ging gerade in den Wald hinein. Sie ging die ganze Nacht durch und auch den andern Tag in einem fort, bis sie vor Müdigkeit nicht weiterkonnte. Da sah sie eine Wildhütte, stieg hinauf und fand eine Stube mit sechs kleinen Betten, aber sie getraute nicht, sich in eins zu legen, sondern kroch unter eins, legte sich auf den harten Boden und wollte die Nacht da zubringen.

So sucht nun die reine Seele ähnlich wie im letzten Märchen vom „Prinz Schwan“ in der Nacht im Reich des Mondes und am Tag im Reich der Sonne und steigt schließlich zu einer „Wildhütte“ vermutlich ins Reich der Sterne auf, die auch an unser tierhaftes Körperhaus erinnert, das praktisch auch aus „Sternenstaub“ gemacht wurde. In diesem Haus haben die fünf Sinne und das Denken ihre sechs engbegrenzten „kleinen Betten“ und sind sozusagen zu Hause. In diese Bettchen will sich die reine Seele natürlich nicht legen, sondern legt sich ähnlich wie im letzten Märchen darunter, weil sie als Seele der Natur, die alle Lebensfäden aus Ursache und Wirkung spinnt und verwebt, natürlich auch die Grundlage der Verkörperung ist. Und das geschieht vor allem auch durch die „Müdigkeit“ bzw. Trägheit der Natur, so daß sie in bestimmten Formen förmlich erstarrt. Dort wollte sie nun warten, bis die „geistige Nacht“ des Hausbewohners vorüber ist.

Als aber die Sonne bald untergehen wollte, hörte sie ein Rauschen und sah, daß sechs Schwäne zum Fenster hereingeflogen kamen. Sie setzten sich auf den Boden und bliesen einander an, und bliesen sich alle Federn ab, und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd. Da sah sie das Mädchen an und erkannte ihre Brüder, freute sich und kroch unter dem Bett hervor. Die Brüder waren nicht weniger erfreut, als sie ihr Schwesterchen erblickten, aber ihre Freude war von kurzer Dauer. „Hier kann deines Bleibens nicht sein“, sprachen sie zu ihr: „Das ist eine Herberge für Räuber, wenn die heimkommen und finden dich, so ermorden sie dich.“ „Könnt ihr mich denn nicht beschützen?“, fragte das Schwesterchen. „Nein“, antworteten sie, „denn wir können nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen und haben in dieser Zeit unsere menschliche Gestalt, aber dann werden wir wieder in Schwäne verwandelt.“

Die Zeiten des Sonnenauf- und -untergangs waren schon immer eine besonders mystische Zeit der Wandlung zwischen Tag und Nacht, weder dies noch das, wie ein Niemandsland zwischen zwei Reichen, ein „Dämmerlicht“ und eine Zeit der Geister, die man früher gern mit Riten, Gebet und Meditation verbrachte. Noch heute kann uns ein Sonnenauf- oder -untergang zutiefst begeistern, die Gedanken beruhigen, die Sinne öffnen und das Bewußtsein erweitern. Und so konnten auch hier im Körperhaus die Sinne und Gedanken ihr enges Federhemd mit Leichtigkeit ablegen und ihr wahres Wesen zeigen, so daß sich Natur und Geist gegenseitig voller Freude in ihrer Ganzheitlichkeit wiedererkannten. Doch wie im letzten Märchen vom „Prinz Schwan“, wohnt auch in diesem Haus das gierige Ego, das sich alles aneignen will und wie ein „Räuber“ in der Welt lebt. Und am Ende des Tages kehrt das hungrige Ego wieder ins Innere des Körperhauses zurück, wo es weiter nach Nahrung in Form von Gedanken, Träumen und Erinnerungen sucht. Deshalb kann eine ganzheitliche Seele hier nicht bleiben, denn sie würde sogleich aufgefressen und „einverleibt“, weil das Ego natürlich seine eigene bzw. persönliche Seele haben will. Die reinen Sinne und Gedanken könnten sie zwar davor beschützen, aber deren Reinheit bzw. Wahrheit währt nur einen kurzen Moment im Dämmerlicht, denn sie wurden verkörpert und müssen nun dem Körper mit dem Ego-Verstand in einem engbegrenzten Bewußtseinsraum dienen, am Tag in der äußerlichen und in der Nacht in der innerlichen Traumwelt.

Das Schwesterchen weinte und fragte: „Könnt ihr denn nicht erlöst werden?“ „Ach nein“, antworteten sie, „die Bedingungen sind zu schwer. Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen, und mußt in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternenblumen zusammennähen. Kommt ein einziges Wort aus deinem Munde, so ist alle Arbeit verloren.“ Und als die Brüder das gesprochen hatten, war die Viertelstunde herum, und sie flogen als Schwäne wieder zum Fenster hinaus (erste Version von 1812: und sie waren wieder in Schwäne verwandelt).

Nun steht die Frage, wie die Sinne und Gedanken von ihren engbegrenzenden Hemden der Körperlichkeit wieder befreit bzw. erlöst werden können? Und wenn wir die Bedingungen lesen, denken wir natürlich zuerst an eine lange Zeit der Buße und Askese, so daß in anderen Versionen dieses Märchens von Hemden aus Brennesseln gesprochen wird, die das Mädchen als Leidensweg spinnen, weben und nähen sollte. Das ist ein Weg, der uns nicht nur an den Leidensweg von Christus erinnert, dem die Dornenkrone aufgesetzt wurde, sondern auch an viele andere Asketen, Eremiten, Einsiedler und Mönche und natürlich *innen, die damit ihre Körperlichkeit überwinden und die Heilung als Heiligkeit, Ganzheitlichkeit bzw. Göttlichkeit wieder erreichen konnten. Und zu diesen altbewährten Wegen der Erlösung, welche die Menschen schon seit ältesten Zeiten gehen, gehörte oft auch ein langjähriges Schweigegelübde, wie wir zum Beispiel im altindischen Mahabharata 13.10 lesen können:
Die Wege der Tugend sind äußerst subtil und können von Personen mit ungereinigter Seele kaum verstanden werden. Aus diesem Grund nehmen die Asketen ein Schweigegelübde und gehen auf den Wegen der allgemein respektierten Ordnung durch die entsprechenden Initiationen, ohne sich in Worten zu verlieren. Aus Furcht, etwas Falsches oder Unheilbringendes zu sagen, verzichten die Asketen häufig auf jegliches Reden. Denn sogar rechtschaffene Menschen, die mit jeder Tugend, Wahrhaftigkeit und Einfachheit gesegnet waren, sah man bereits große Schuld ansammeln aufgrund von Worten, die unwürdigerweise gesprochen wurden.

Doch hier sollen die Brüder Hemdchen aus „Sternenblumen“ bekommen, um den Hexenzauber zu brechen. Und Sternenblumen erinnern uns doch weniger an Schmerz und Leid, sondern mehr an eine lebendig leuchtende Blütenvielfalt der Natur, die das ganze, unvorstellbar große Reich der Sterne mit Schönheit und Freude erfüllt, also mehr an die himmlischen Blüten des Sternenlichtes als an unsere irdischen Pflanzen aus Sternenstaub.

Und das „zusammennähen“ erinnert an die Ganzheitlichkeit der Sinne und Gedanken in einem Reich der reinen Liebe, die der wirkende Geist braucht, um jede Trennung zu überwinden und damit auch die egoistische Körperlichkeit von Mein und Dein in einer Welt der Gegensätze. Wie auch der berühmte Kranz bzw. Ring, der aus „Gänseblümchen“ geflochten wird, die „Gänze“ bzw. Ganzheit versinnbildlicht, die wir uns gern auf den Kopf setzen. So sprach auch Goethe in [Faust I] von einer „Sternblume“, um Gretchen im berühmten Blütenblätterspiel „Er liebt mich, liebt mich nicht, liebt mich…“ die faustische Liebe zu verkünden: „Ja, mein Kind! Laß dieses Blumenwort dir Götterausspruch sein. Er liebt dich!“

Und bis diese göttliche bzw. ganzheitliche Sicht der Sinne und Gedanken wieder erreicht ist, sollte darüber nicht gesprochen werden, und vor allem nicht von der reinen Seele selbst, denn sobald der Ego-Verstand dieses Werk be- und ergreift „ist alle Arbeit verloren“. Denn damit wird die reine Seele zu einem „Begriff“ in der Welt der Gegensätze und kann keine Wahrheit und Ganzheit mehr sein. Wir wissen ja allzugut, wie fanatisch und verheerend der Mensch werden kann, wenn er mit dem Ego-Verstand die Worte Gottes ergreift und dann glaubt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben…“ Es geht hier also auf diesem Weg nicht um ein Begreifen im Ego-Verstand, sondern um eine direkte Erfahrung, Bewußtwerdung, Erkenntnis und Verwirklichung, sozusagen eine „Selbsterkenntnis“ und „Selbstverwirklichung“, die nicht das Ich macht, sondern die „von selbst“ in der Ganzheit von Geist und Natur geschieht.

Und warum nicht einmal lachen? Zum einen ist es eine Zeit der Trauer über die Trennung, so daß die reine Seele nicht den Anschein erwecken sollte, darüber wirklich froh und glücklich zu sein. Wer kennt sie nicht, die Krisenzeiten, in denen wir uns tief im Inneren traurig und deprimiert fühlen? Zum anderen erfordert dieses Werk höchste Ernsthaftigkeit, ohne sich von Lächerlichkeiten ablenken zu lassen.

Und dieser Prozeß der Erlösung vom Hexenzauber soll sechs lange Jahre dauern. In ähnlicher Weise spricht man auch von Zyklen aus sieben Jahren, in denen sich der Mensch vom Säugling zum Schulkind, zum Jugendlichen, zum Erwachsen usw. entwickelt und zunehmend die reine Vernunft erwachen sollte. Uns erscheinen diese Jahre relativ lang, doch die Natur selbst arbeitet hier in ganz anderen Dimensionen. So könnten diese sechs Jahre sogar die ganzen sechs Schöpfungstage bedeuten, wie sie in der Bibel beschrieben werden. Und während dieser ganzen Zeit ist die reine Seele der Natur fest entschlossen, ihre Arbeit zu vollbringen:

Das Mädchen aber faßte den festen Entschluß seine Brüder zu erlösen, und wenn es auch ihr Leben kostete. Sie verließ die Wildhütte, ging mitten in den Wald und setzte sich auf einen Baum, und brachte da die Nacht zu. Am andern Morgen ging sie aus, sammelte Sternblumen und fing an zu nähen. Reden konnte sie mit niemand, und zum Lachen hatte sie keine Lust: Sie saß da und sah nur auf ihre Arbeit.

So begibt sich nun die reine Seele in die ganze Natur, wo man sie überall finden kann, sozusagen im Baum des Lebens, wo sie in aller Stille sitzt und mit ganzem Ernst ihre Arbeit macht und nur darauf schaut. Zum Lachen hat sie keine Lust, denn sie trauert über die Trennung, und wird erst wieder froh, wenn diese Zeit vorbei ist. Damit bemüht sich nun die reine Seele der Natur voller Liebe wieder um die Ganzheit bzw. „Gänze“ unserer Sinne und Gedanken, ähnlich wie die berühmte „Gänsehirtin“ in anderen Märchen. Ist das nicht eine wundervolle und tiefgründige Sicht auf die Natur, wie sie im Inneren unerkannt von der äußerlichen Welt unermüdlich am Werk unserer Erlösung arbeitet? Auch wenn es sich oft wie Brennnesselhemden anfühlt, so ist doch das Leiden nur eins ihrer Mittel, und nicht einmal das entscheidendste: „So laß das Blumenwort dir Götterausspruch sein. Sie liebt dich!“

Als sie schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, daß der König des Landes in dem Wald jagte und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß. Sie riefen sie an und fragten: „Wer bist du?“ Sie gab aber keine Antwort. „Komm herab zu uns“, sagten sie, „wir wollen dir nichts zuleid tun.“ Sie schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie sie weiter mit Fragen bedrängten, so warf sie ihnen ihre goldene Halskette herab und dachte, sie damit zufriedenzustellen. Sie ließen aber nicht ab, da warf sie ihnen ihren Gürtel herab, und als auch dies nicht half, ihre Strumpfbänder und nach und nach alles, was sie anhatte und entbehren konnte, so daß sie nichts mehr als ihr Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab und führten sie vor den König.

Hier kommt nun wieder der König als wirkender Geist ins Spiel, ohne den die Natur nicht wirken und ihr Werk vollbringen kann. Aus geistiger Sicht ist es natürlich der gleiche König bzw. Geist wie im ersten Teil, der wieder im Wald der Welt jagt und seine Jäger ausschickt. Die Jäger wären dann wieder seine fünf Sinne mit den Gedanken, die verhext wurden und der Erlösung bedürfen. Und als jugendlicher Königssohn sucht er natürlich seine Königin bzw. Seele, so daß „seine Jäger“ mit den äußerlich materiellen Formen der Natur nicht zufrieden sind, sondern ihr „nacktes und lebendiges Wesen“ selbst be- und ergreifen wollen. Was natürlich unmöglich ist, denn hätte sie noch ihr letztes „Hemdlein“ abgelegt, dann hätten sie nur ins Leere gegriffen. So können wir mit den „verhexten“ Sinnen und Gedanken die Seele der Natur nur in äußerlichen Formen be- und ergreifen, was dann gewöhnlich wieder zu „meiner Ehefrau“ bzw. „meiner Seele“ als körperliches und geistiges Eigentum wird, vom Ego-Verstand ergriffen.

Damit finden wir hier eine wunderbare Symbolik, über die man lange meditieren kann: Mit all den Früchten, die der Baum des Lebens gibt, kann der zeugende Geist nicht zufrieden sein, denn sie sind nur goldene Ketten, Gürtel und Bänder, bis er die reine Seele der gebärenden Natur wiedergefunden, erkannt und sich mit ihr vereint hat.

Der König fragte: „Wer bist du? Was machst du auf dem Baum?“ Aber sie antwortete nicht. Er fragte sie in allen Sprachen, die er wußte, aber sie blieb stumm wie ein Fisch. Weil sie aber so schön war, so wurde des Königs Herz gerührt, und er faßte eine große Liebe zu ihr.

„Ein Blick auf unsere wahre Natur, und wir sind verliebt.“

Hier geschieht nun bereits etwas sehr Ungewöhnliches. Der Geist findet eine Seele, die keinen Namen hat, ihm seine Fragen nicht beantwortet und nicht einmal lachen kann. Und doch „schwant ihm etwas“, und er empfindet eine große Liebe zu ihr, die ihn tief im innersten Herzen berührt. Natürlich, denn es ist seine wahre Natur, die in Wahrheit immer mit ihm vereint ist und als reines Bewußtsein jede gewünschte Form annehmen kann. Doch sie kann ihm auf der Ebene des Verstandes nicht antworten, weil seine Sinne und Gedanken noch verhext sind und die reine Seele damit ihre Wahrheit und Reinheit verlieren würde. Ähnlich geht es uns mit der Liebe zu Gott. Wir kennen weder seinen Namen noch sein Wirken im Baum des Lebens, und auf unsere Fragen bekommen wir lange Zeit keine Antwort. Nur die große Liebe kann uns mit ihm verbinden und das Vertrauen in eine geistige Welt und ein ewiges Leben geben.

Er tat ihr seinen Mantel um, nahm sie vor sich aufs Pferd und brachte sie in sein Schloß. Da ließ er ihr reiche Kleider antun, und sie strahlte in ihrer Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihr herauszubringen. Er setzte sie bei Tisch an seine Seite, und ihre bescheidenen Mienen und ihre Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, daß er sprach: „Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt.“ Und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.

So legt der wirkende Geist „ihr seinen Mantel um“, und zwar seinen körperlichen, und hebt sie wieder wie im ersten Teil dieses Märchens an seine Seite, um auf dem Pferd seiner Körperlichkeit als König mit seiner Königin in sein Königreich der äußerlichen Welt zu reiten. Damals war es die egoistische Seele der Hexe, von der er wußte, woher sie stammte. Und sie war ebenfalls wunderschön, doch innerlich hatte er ein „Grausen“ und keine große Liebe zu ihr empfunden. Er hatte sich trotzdem mit ihr vermählt, weil er seine Herrschaft wiederhaben wollte. Diesmal ist es die reine Seele. Doch der weltliche Geist wird immer noch vom gleichen Egoismus beherrscht, der uns jetzt symbolisch als die „böse Mutter des Königs“ begegnet und die gleichen Fragen stellt, die auch unser Ego-Verstand gewöhnlich stellen würde:

Der König aber hatte eine böse Mutter, die war unzufrieden mit dieser Heirat und sprach schlecht von der jungen Königin. „Wer weiß, wo die Dirne her ist“, sagte sie, „die nicht reden kann: Sie ist eines Königs nicht würdig.“

Über ein Jahr, als die Königin das erste Kind zur Welt brachte, nahm es ihr die Alte weg und bestrich ihr im Schlaf den Mund mit Blut. Dann ging sie zum König und klagte sie an, sie wäre eine Menschenfresserin (1812: die Königin habe ihr eigenes Kind gefressen und sei eine Zauberin). Der König wollte es nicht glauben und litt nicht, daß man ihr ein Leid antat. Sie saß aber beständig und nähte an den Hemden, und achtete auf nichts anderes. Das nächste Mal, als sie wieder einen schönen Knaben gebar, übte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der König konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben beizumessen. Er sprach: „Sie ist zu fromm und gut, als daß sie so etwas tun könnte. Wäre sie nicht stumm und könnte sie sich verteidigen, so würde ihre Unschuld an den Tag kommen.“

So wurde nun aus der bösen Stiefmutter eine böse Schwiegermutter, die oft als Symbol für eine egoistische Mutterliebe steht und in ihrer Schwiegertochter eine Konkurrenz sieht, die ihr den Sohn wegnehmen will, den sie geboren und aufgezogen hat und nun als ihr Eigentum betrachtet. Entsprechend klagt sie auch hier ihre Schwiegertochter als eine „Menschenfresserin“ bzw. „Zauberin“ an, was sie doch eigentlich selber ist. Doch die große Liebe zwischen Geist und Seele ist immer noch stärker und läßt sich vom äußerlichen Geschehen in der Welt nicht zerstören. Ja, so ein beständiges Vertrauen ist selten, und in ähnlicher Weise fällt es uns auch schwer, einem ewigreinen Gott zu vertrauen, der in dieser Welt doch offensichtlich so viel Leid, Verlust und Tod zuläßt, seine eigenen Geschöpfe tötet und aufrißt und schließlich sogar uns selbst. Fragen wir uns manchmal, wer uns eigentlich solche schrecklichen Geschichten über die grausame Natur erzählt? Und warum? Dann könnten wir vielleicht auch diese große Gottesliebe empfinden und an seine Reinheit und Unschuld glauben, die er uns eines Tages noch offenbart. Und bis dahin „näht die Seele seiner Natur beständig an unserer Erlösung und achtet auf nichts anderes“.

Als aber das dritte Mal die Alte das neugeborene Kind raubte und die Königin anklagte, die kein Wort zu ihrer Verteidigung vorbrachte, so konnte der König nicht anders, er mußte sie dem Gericht übergeben, und das verurteilte sie, den Tod durchs Feuer zu erleiden.

So kommt es schließlich zur berühmten Feuerprüfung, die wir auch im vorletzten Märchen vom „Trommler“ auf dem Glasberg kennengelernt haben: Ist es wahre Liebe, oder nur die blinde Begierde einer egoistischen Anhaftung, welche die Wahrheit nicht sehen kann und will? Wie weit reicht so eine reine und wahre Liebe? Ja, diese Liebe kann sogar den Egoismus überwinden, und der wirkende Geist wird bereit, alles Eigentum loszulassen und „dem Gericht zu übergeben“. Ähnlich hat auch Prinz Schwan den ganzen Knäul seiner Lebensgeschichte der Mutter Natur übergeben. Denn wahre Liebe kann kein Eigentum irgendwelcher Formen haben, wie auch das reine Bewußtsein kein Eigentum kennt, sonst wäre sie Begierde, die sich in Haß verwandelt, sobald das Eigentum bedroht wird. Wahre Liebe ist daher die Macht der reinen Vergebung, die alle Gegensätze von Mein und Dein auflöst, und gleichzeitig empfängt sie auch alles wieder, denn dann gibt es nur noch eine Seele, eine Natur und einen Geist in einer Gottheit. Und so werden unsere verzauberten Sinne und Gedanken von jedem Egoismus der Trennung gereinigt und erlöst:

Als der Tag herankam, wo das Urteil vollzogen werden sollte, da war zugleich der letzte Tag von den sechs Jahren herum, in welchen sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, und sie hatte ihre lieben Brüder aus der Macht des Zaubers befreit. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten der linke Ärmel noch fehlte. Als sie nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, legte sie die Hemden auf ihren Arm, und als sie oben stand und das Feuer eben angezündet werden sollte, so schaute sie sich um, da kamen sechs Schwäne durch die Luft daher gezogen. Da sah sie, daß ihre Erlösung nahte und ihr Herz regte sich in Freude. Die Schwäne rauschten zu ihr her und senkten sich herab, so daß sie ihnen die Hemden überwerfen konnte. Und wie sie davon berührt wurden, fielen die Schwanenhäute ab, und ihre Brüder standen leibhaftig vor ihr und waren frisch und schön. Nur dem jüngsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen Schwanenflügel am Rücken.

Warum brauchen die Sinne und Gedanken neue Hemden? Warum nicht einfach die alten ablegen, wie damals in der Wildhütte während der kurzen Zeit der Dämmerung? Nun, der Weg, der in den Wald hineinführt, führt auch wieder heraus, was aufgewickelt wurde, muß wieder abgewickelt werden, oder wie es auch im „Trommler“ hieß: „Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, muß man auch auslöffeln.“ So müssen nun auch die kleinen und engen Hemdchen aus dem Gespinst der gierig-gefräßigen Seidenraupe gegen die großen und weiten Hemden aus den Blüten der Sterne ersetzt werden, also mehr mit Sternenlicht als mit Sternenstaub, um die Trennung zu überwinden, von der Bindung erlöst zu werden und die Ganzheit bzw. Heilung zu erreichen.

Und woher kamen die Schwäne? Nun, es waren immer noch die geliebten Sinne und Gedanken des Königs, die nun aus der äußerlichen Welt „durch die Luft“ zur reinen Seele zurückkehrten und von ihrem verengten Bewußtsein erlöst wurden. Damit erweiterte sich das Bewußtsein wieder, und die Trennung zwischen Geist und Natur konnte mit der Macht der Liebe überwunden werden, so daß der König die wahre Natur seiner Königin erkannte.

Und warum fehlte dem Jüngsten der linke Arm? Man sagt, die Vollkommenheit dieser Welt besteht in ihrer Unvollkommenheit. Solange wir also in dieser Welt leben, wird immer ein kleiner Anteil des tierischen Körpers an uns haften, vor allem am gedanklichen Verstand, der sozusagen unser jüngstes Kind ist. Dessen wir uns aber bewußt sein können, so daß er uns nicht beherrschen kann. Dann ist alles gut und vollkommen, und das Happy-End naht:

Sie herzten und küßten sich, und die Königin ging zum König, der ganz bestürzt war, und fing an zu reden und sagte: „Liebster Gemahl, nun darf ich sprechen und dir offenbaren, daß ich unschuldig bin und fälschlich angeklagt“, und erzählte ihm von dem Betrug der Alten, die ihre drei Kinder weggenommen und verborgen hätte. Da wurden sie zur großen Freude des Königs herbeigeholt, und die böse Schwiegermutter wurde zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu Asche verbrannt. Der König aber und die Königin mit ihren sechs Brüdern lebten lange Jahre in Glück und Frieden.

Wenn nun die Sinne und Gedanken des wirkenden bzw. zeugenden Geistes wieder rein sind, dann kann ihm die reine Seele der gebärenden Natur ihre Unschuld und reine Liebe offenbaren. Und so bekommt die Schwester ihre Brüder wieder, der König seine geliebte Königin bzw. der reine Geist seine wahre Natur, und das vereinte Paar ihre Kinder, so daß sie nun alle wieder ein Großes und Ganzes sind. Und die falsche, böse bzw. grausame Mutter-Natur verbrennt mit dem Ego-Verstand als Illusion auf dem „Scheiter-Haufen“ in ihrem eigenen Feuer, das sie der reinen Seele zugedacht hatte. Doch die reine Seele kennt kein Scheitern und kann niemals verbrannt werden, wie auch im „Trommler“ auf dem Glasberg beschrieben wurde. Nur die verhexte Körperlichkeit verbrennt hier auf Erden „zu Asche“, das heißt, zu Sternenstaub, aus dem alle unsere Körper gemacht wurden, der im Grunde natürlich auch nur reine Energie und reines Licht bzw. Bewußtsein ist. Zurück bleibt eine glückliche Familie, die sich ihrer Ganzheit bewußt ist und auch in dieser irdischen Welt viele lange Jahre in Glück und Frieden mit einem vernünftigen Geist leben kann.

Damit haben wir nun von drei prinzipiellen Arten gehört, wie wir mit dem Knäul unserer Lebensgeschichte umgehen können: 1) Man kann als wirkender Geist damit spielen, darauf reiten, sich davon tragen lassen und ihn festhalten wollen. 2) Man kann sich aber auch ganz und gar darin verwickeln und sich davon völlig einschließen, binden und überwältigen lassen. 3) Oder man kann ihn der Natur übergeben, um ihn abzuwickeln und sich selbst davon zu erlösen, indem man ihr mit der Kraft der Liebe vertraut. Denn je mehr der Geist mit dem Ego-Verstand im Wald der Vorstellungen nach den Formen der Natur jagt und greift und an den Früchten seiner persönlichen Taten anhaftet, desto mehr wird dieser Knäul aufgewickelt und desto weiter entfernt sich der wirkende Geist von seiner wahren Natur und wickelt auch seine Sinne und Gedanken immer dichter und enger in dieses Gespinst ein. Deshalb ist der Ego-Verstand prinzipiell unfähig, dieses Knäul wieder abzuwickeln. Doch weil es ein Seelenband von Ursache und Wirkung ist, muß er natürlich irgendwann wieder abgewickelt und das verengte Bewußtsein erweitert werden. Und daran arbeitet die reine Seele der Natur unermüdlich zu unserem Wohlergehen und wird erst wieder froh, wenn das große Werk vollbracht ist, wie es uns dieses Märchen auf wunderbare Weise beschreibt.

So mögen auch wir die reine Seele unserer wahren Natur im Baum des Lebens wiederfinden, welche die Kleider von Sonne, Mond und Sternen trägt, die goldenen Werkzeuge von Spinnrad, Spindel und Haspel für unseren Lebensfaden besitzt und unsere geliebten Kinder gebiert, sich selbst, die Sinne und Gedanken. Mögen wir die Liebe zu ihr in der Tiefe unseres Herzens wieder empfinden, ihr vertrauen und eine Chance geben, ihre reine Liebe und Unschuld zu offenbaren!


Wie kann man sich nun praktisch vorstellen, wie unsere Sinne dem enggestrickten Hemd entkommen und sich erweitern können? Dazu möchten wir ein Video zum Thema „Sehen ohne Augen“ vorstellen, wie leicht es Kindern fällt, auch ohne ihre körperlichen Augen diese äußerliche Welt sehen zu können. Und wenn man sich mit diesem Thema näher beschäftigt, wird schnell klar, daß vor allem unser begrifflicher Verstand das größte Hindernis ist, der vehement behauptet: „Das geht nicht!“ Hier haben es Kinder natürlich viel einfacher. Ansonsten sind solche Fähigkeiten wie das „Hellsehen“ schon lange bekannt, und auch die indischen Yogis kennen solche „Siddhis“. Doch daß es Kinder praktisch so einfach erlernen können, ist erstaunlich. Und was sagt unsere „moderne Wissenschaft“ dazu? Sie schweigt natürlich, denn was nach ihrem Weltbild nicht sein kann, das darf auch nicht sein, und wird entweder verboten oder ignoriert…


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Der Ursprung der Geschichten - (Thema: materielle und geistige Welt)
Der Okerlo „Ichmensch“ - (Thema: Seele, Körper und Ego)
Hans Dumm - (Thema: Wünsche verwirklichen)
Der Trommler - (Thema: Verstand und Erlösungsweg)
Prinz Schwan - (Thema: Seele, Geist und Erlösung)
Die sechs Schwäne (Thema: Sinne, Gedanken und Erweiterung)
Das arme Mädchen und die Sterntaler - (Thema: Armut im Geiste)
Der Tod und der Gänsehirt - (Thema: Gänse und Ganzheit)
Der Fuchs und die Gänse - (Thema: Verstand und Ganzheit)
Die Gänsehirtin am Brunnen - (Thema: Geist, Seele und Natur)
Die goldene Gans - (Thema: wahre Ganzheit erkennen)
... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[Faust I] Johann Wolfgang von Goethe, Faust Teil 1, Eine Tragödie, Tübingen 1808.
[Jacob Böhme] Alle Texte in deutscher Überarbeitung / www.boehme.pushpak.de
[2024] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 9. Mai 2024