Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die kleine Meerjungfrau Undine

Märchentext von Undine & Jens [2025]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Wir möchten heute ein Märchen vorstellen, das nicht aus der Sammlung der Brüder Grimm stammt. Es ist unsere freizügige Nacherzählung des Märchenfilms „Die kleine Meerjungfrau“ von 2013, der uns tief berührt hat. Nicht nur, weil Undine die Hauptrolle spielt, sondern weil dieser Film das berühmte Kunstmärchen von Hans Christian Andersen auf so wunderbare Weise inszeniert, daß es ohne das „völlig Böse“ leben kann, auf das sich viele andere Märchenfilme stützen und es am Ende nur schwer und zweifelhaft auflösen können. Danke, und los geht’s:

Es waren einmal drei schöne Schwestern, die in den Tiefen des Meeres geboren wurden und dort aufwuchsen. Ihr Vater war der König des Meeres mit der Wellenkrone auf dem Kopf und dem Dreizack in der Hand. Manchmal klagte er über seine jüngste Tochter Undine, weil sie anders als ihre älteren Schwestern war. Sie hatte eine unbändige Sehnsucht, das tiefe Meer zu verlassen und in die weite Welt zu gehen. So saß Undine oft im Mondschein auf einem kleinen Felsen und sang aus tiefstem Herzen ein sehnsüchtiges Lied:

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Meeresrauschen, Nixensang,
In der Tiefe lockt der Klang.

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Zauberweise locken leise,
Mach dich auf zur weiten Reise!

Von ihrem Felsen aus beobachtete sie gern die Menschenwelt, die fleißigen Fischer auf dem Meer, die spielenden Kinder am Strand und in der Ferne ein königliches Schloß am Waldesrand. Eines Tages kam ein junger Prinz ans Ufer und wollte noch im Mondschein schwimmen. Doch ein plötzlicher Strudel zog ihn in die Tiefe hinab, und Undine wußte, daß die Menschen im Meer ertrinken und sterben müssen. Sie schwamm ihm nach, ergriff den versinkenden Körper und trug ihn wieder hinauf an den Strand. Der Prinz lag bewußtlos, und im Mondenschein betrachtete sie voller Liebe den schönen Menschenkörper, der zwei Beine und Füße hatte, um über die weite Erde zu laufen.


Die kleine Meerjungfrau, Illustration, um 1870

Mit den ersten Strahlen der Sonne wurde ihre liebevolle Versunkenheit gestört, eine Kutsche donnerte heran, Undine zog sich ins Meer zurück, und aufgeregt erschien ein Menschenmädchen, das den bewußtlosen Jüngling am Strand entdeckt hatte. Der Prinz erwachte, als sie ihn berührte, und ihr schönes Gesicht mit den dunklen Rehaugen und schwarzen Haaren prägte sich tief in ihn ein. So kehrte der Prinz in sein Schloß zurück, und der König tadelte ihn wegen seiner Unachtsamkeit, denn in zwei Tagen sollte seine Hochzeit sein, mit einer Prinzessin aus einem Nachbarreich, die er zwar noch nie gesehen hatte, aber vom König bereits in sein Sommerschloß eingeladen war. Besonders glücklich war er nicht darüber, vor allem seitdem er das schwarzhaarige Mädchen am Strand gesehen hatte, daß er für seine Retterin hielt.

Auch Undine konnte den Prinzen nicht wieder vergessen, ihre Sehnsucht nach der Menschenwelt wurde immer größer, und sie suchte die Hilfe von Hydra, der alle Wasserwesen gern aus dem Weg gehen, denn sie galt als allwissend und daher unberechenbar, und hatte schon viele gefährliche Strudel verursacht. Doch von ihr erhoffte sie, das Geheimnis zu erfahren, wie ein Wasserwesen zu einem Menschenwesen werden kann. Und wahrlich, Hydra war ihr wohlgesonnen und bot ihr einen Zaubertrank an, um Menschenfüße zu bekommen, aber unter drei Bedingungen: Die Füße werden eine schmerzliche Erfahrung sein, weil es ihr an Gewohnheit fehlt, auf fester Erde zu laufen. Sie muß ihre Sprache opfern, so daß sie nichts aus ihrer bisherigen Welt und von sich selbst erzählen kann. Und wenn ihr geliebter Mensch eine andere heiratet, dann müsse sie sich in Wellenschaum auflösen, könne niemals ins Meer zurückkehren und auch nie eine Menschenseele erlangen. Diese drei Bedingungen nahm sie gern als Opfer an, denn ihre große Liebe wog noch viel mehr. Und so begab sie sich im Mondenschein auf ihren kleinen Felsen im Meer, sang sehnsuchtsvoll ihr Lied und trank den Zauber.

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Zauberweise locken leise,
Mach dich auf zur weiten Reise!

Als die Sonne am Horizont glutrot erwachte, begab sich der Prinz mit seinen Freunden zum Meer, um den letzten Tag vor seiner königlichen Hochzeit mit einem Bad an jenem Strand zu beginnen, wo er gestern das schöne Mädchen mit den schwarzen Haaren erblickt hatte. Höchst erstaunt fand er dafür ein anderes, wunderliches Mädchen mit strahlenden Perlenaugen und langen goldenen Haaren auf einem kleinen Felsen im Meer, das dort bewußtlos lag. Er brachte es ans Ufer, wo Undine erwachte und das Gesicht ihres geliebten Prinzen erblickte. Verwundert schaute er sie an, denn sie war nackt, stumm und konnte kaum auf ihren Füßen stehen. Er gab ihr von seinen Kleidern und trug sie auf seinen Armen ins Schloß. Ein seltsamer Zauber umgab das Mädchen, den der Prinz tief im Herzen spürte. Auch im Schloß konnte sie nur mit Mühe laufen, und alles ringsherum war ihr neu und unbekannt. So verbrachte der Prinz den letzten Tag vor seiner Hochzeit mit diesem wunderlichen Mädchen, deren Namen er nicht einmal kannte, und auch Undine erfuhr bald, daß sie nur noch diesen einen Tag hatte, um ihren geliebten Menschen zu gewinnen.

Undine versuchte nun alles, um eine würdige Prinzessin zu werden, trug schöne Menschenkleider, schmückte ihr goldenes Haar, saß brav an der königlichen Tafel und aß die Speise der Menschen, übte sich im Tanzen und allem, was sie an den anderen Frauen im Schloß bewunderte. Der König mit seinen Gelehrten hätte ihr lieber die Wissenschaft der Geographie und Astronomie beigebracht, und der Prinz mit seinen Freunden das Reiten und Fechten. Doch für den Prinzen war das alles nichts Neues, und das Unbekannte, was er in Undine fühlte und ihn magisch anzog, konnte sie nicht in Worte fassen. So kamen sie sich zwar nahe, aber konnten sich nicht erreichen.

Auf diese Weise kam der große Hochzeitstag für den Prinzen, alles war geschmückt, und alle erwarteten die Braut. Dann wurde die Kutsche vorgefahren, der Prinz schloß erwartungsvoll die Augen, als die Braut ausstieg. Und als er seine Augen wieder öffnete, überwältigte ihn wonnevolle Liebe, denn vor ihm stand das schöne schwarzhaarige Mädchen, das er am Stand erblickt hatte, nachdem er aus dem Meer gerettet worden war. Und auch die Prinzessin staunte nicht schlecht, als sie den schönen Jüngling wiedererkannte, den sie bewußtlos am Meeresufer gefunden hatte. Nun wußten beide, daß sie das Schicksal füreinander bestimmt hatte. Der König und alle Anwesenden waren sehr erleichtert, als sich das Brautpaar so glücklich begrüßte, und die Hochzeit wurde gehalten.

Undine schlich sich leise davon, kehrte traurig ans Meer zurück, ging wehmütig ins Wasser, setzte sich auf ihren kleinen Felsen und sang im Inneren ihr sehnsuchtsvolles Lied:

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Meeresrauschen, Nixensang,
In der Tiefe lockt der Klang.

So erwartete sie ihr Ende als Wellenschaum des Meeres, wie es Hydra vorausgesagt hatte. Doch als der Mond aufging, erschienen ihre beiden Schwestern, die Undine nicht verlieren wollten, und übergaben ihr ein scharfes Messer, das sie von Hydra bekommen hatten. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie ihre Schwestern, mit denen sie im Wasser aufgewachsen war, denn sie hatten der Hydra ihr langes goldenes Haar geopfert, um das tödliche Messer zu bekommen. Damit sollte sie den Prinzen noch in der Hochzeitsnacht töten, und mit seinem Herzblut könne sie wieder eine Meerjungfrau werden. Sie erschrak zuerst über diesen Vorschlag, doch ließ sich schließlich von ihren beiden Schwestern überreden, während der Nacht heimlich in den Palast zurückzukehren. Dort stand sie unbemerkt am Hochzeitsbett des schlafenden Menschenpaares, hob den tödlichen Dolch und zögerte. Sie sah den schönen Prinzen vor sich, die schwarzhaarige Prinzessin und auch ihre Schwestern, ihren Vater und Hydra im Meer. Alle hatte sie lieb, und alle hatte sie in ihr Herz geschlossen. So ließ sie das scharfe Messer sinken, küßte zuerst den schlafenden Prinzen und dann die Prinzessin zärtlich auf die Stirn, segnete das Hochzeitspaar, kehrte zum Ufer des Meeres zurück und warf den tödlichen Stahl in die Tiefe.

Da tauchte an dieser Stelle Hydra aus den Wellen auf, schritt zu ihr ans Ufer und sprach: „Ja, wahre Liebe muß loslassen können! Du hast die Prüfung bestanden. Der Tod des Prinzen hätte dich niemals erlöst. Eine Seele hat, wer wahrhaft liebt, und alles andere muß wie Wellenschaum vergehen. Nun komm mit mir ins Neue und Weite! Hier und jetzt beginnt deine Reise, und ich begleite dich ein Stück.“ Da kehrte ihre Sprache zurück, und Undine fragte: „Hast du das alles schon gewußt?“ Hydra schmunzelte und flüsterte leise: „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Nun verschwanden auch die Schmerzen aus ihren Füßen, ihr Vater, der Meereskönig, lächelte zufrieden in den Wellen des Meeres, und ihre Schwestern winkten zum Gruß.

Am Horizont ging strahlend die Morgensonne auf, das junge Hochzeitspaar erwachte im Schloß, sie küßten sich voller Liebe und fanden neben sich eine wunderschöne Muschel liegen, die sie sich gegenseitig ans Ohr hielten. Und tief aus den Inneren erklang ein sehnsuchtsvolles Lied:

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Meeresrauschen, Nixensang,
In der Tiefe lockt der Klang.

Wellentanz, Mondenglanz,
Goldnes Haar und Nixenschwanz,
Zauberweise locken leise,
Mach dich auf zur weiten Reise.

Eine wundervolle Symbolik, die wir nun aus geistiger Sicht etwas näher betrachten wollen: Das Märchen beginnt mit drei Schwestern, die uns an das Dreieck der drei üblichen Kräfte der Natur erinnern, wie auch jeder Fluß zwei Ufer braucht, um in eine Richtung zu fließen. Und hier heißt die Richtung bzw. Entwicklung Undine, eine Jungfrau des Meeres, die sich sehnsuchtsvoll aus ihrer Quelle erheben will, um in der Welt ein Fluß durch Raum und Zeit zu werden. So erinnert das Meer an das große Meer der Ursachen oder Möglichkeiten, aus dem alles fließt und in das alles zurückfließt, entsteht und wieder vergeht. Der Meereskönig als Wasservater der drei Schwestern wäre dann der bezeugende Geist, der Wassergeist, dessen berühmter Dreizack wieder an die drei Kräfte bzw. Schwestern erinnert, von denen eine besonders herausragt. Diesen symbolischen Dreizack finden wir auch beim indischen Shiva wieder, dem Gott der Auflösung, beim griechischen Meeresgott Poseidon und mit etwas Phantasie auch im christlichen Kreuz. Und Hydra als Wassermutter wäre dann die gebärende Natur dieses Meeres, die Wassernatur. „Hydra“ bedeutet eigentlich nur „Wasser“, woraus in der griechischen Mythologie eine gefürchtete Wasserschlange wurde, die im Wasserelement herrscht.

Mit dieser Symbolik wird nun die wundervolle Geschichte erzählt, wie das reine und formlose Bewußtsein aus dem Meer der Ursachen voller Sehnsucht nach Formen strebt, nach denen es greifen und in denen es sich erkennen kann. Und diese „Sehnsucht“ bzw. sehende Suche kommt auch in dem Lied zum Ausdruck, das sich durch das ganze Märchen zieht:

Wellentanz, Mondenglanz, goldnes Haar und Nixenschwanz…

Der Wellentanz äußerlicher Formen, die wie Wellen mit- und gegeneinander auf dem Meer der Ursachen tanzen, wie auch Licht, Strahlung und alle Elementarteilchen unserer Materie nur Wellen auf einem Meer aus Energie sind. Der Glanz des Mondes als reflektierendes Licht der Erkenntnis. Das goldene Haar wahrhafter Gedanken, die als Intuition aus der stillen Tiefe kommen. Und der Nixenschwanz als Symbol für unser Mischwesen aus Mensch und Tier, Vernunft und Verstand, Geist und Natur.

Meeresrauschen, Nixensang, in der Tiefe lockt der Klang.

Das geheimnisvolle Rauschen des Geistes und der Gesang der Natur, Zufall und Schicksal, locken mit ihrem Klang aus der Tiefe dieses Meeres hinaus in eine äußerliche Welt der Vielfalt und auch wieder hinein in die Tiefe der Einheit.

Zauberweise locken leise, Mach dich auf zur weiten Reise!

Aus einer formlosen Quelle will auf zauberhafte Weise ein formhafter Fluß werden, der weit in Zeit und Raum fließen möchte. Und „weit“ bedeutet hier „unvorstellbar weit“, denn wir wissen ja aus der modernen Wissenschaft, wie unvorstellbar alt und weit unser Universum ist. Und dieser Fluß ist noch lange nicht verebbt. Er endet nur scheinbar im „Meeresschaum“, wie Hydra als Wassermutter voraussagt, wenn wir uns als ein getrenntes Ego erkennen, das sich dann schließlich wie Illusionsblasen auf den Meereswellen auflösen muß.

Doch solange wir in der ganzheitlichen Kraft der Liebe bleiben, vergeht unsere Seele nicht, die dann aus Liebe besteht und lebt. So fließen wir immer wieder, wie Undine, aus der reinen Quelle in die Welt der Formen: Aus hellen Perlenaugen werden dunkle Rehaugen, aus goldenen Haaren werden schwarze Haare, aus einer Quelle werden viele Flüsse, aus einer Seele werden viele Lebewesen, aus einem Licht werden viele Bilder, aus der Einheit wird die Vielfalt und bleibt doch immer ein Ganzes. Wassernatur und Wassergeist begleiten uns als Wassermutter und Wasservater ein Stück auf dieser Reise, bis wir selbst zur Mutter werden und Formen gebären, zum Vater werden und Formen bezeugen, und schließlich Natur und Geist als Fluß und Quelle, wieder eins werden, formhaftes und formloses Bewußtsein vereint.

Was bedeute dann die Rettung des Prinzen? Hier können wir in der Rolle von Undine die Kraft der Schöpfung sehen, die alles aus dem Meer der Ursachen „schöpft“, wohin auch alles wieder zurückkehren muß. Und man kann darüber nachsinnen, ob die „Geschöpfe“ das Meer wirklich im Fluß durch Raum und Zeit verlassen haben, oder nur scheinbar. Und wenn Undine die natürliche Kraft der Schöpfung ist, dann wären ihre beiden Schwestern die Kraft der Erhaltung im Fluß durch Raum und Zeit und die Kraft der Auflösung bzw. Erlösung im Meer der Ursachen und Möglichkeiten. So findet man wieder ein Dreieck aus Schöpfung, Erhaltung und Auflösung, das auch in der indischen Philosophie eine große Rolle spielt und von den drei großen Göttern Brahma, Vishnu und Shiva mit ihren Göttinnen Saraswati, Lakshmi und Parvati versinnbildlicht wird. Saraswati wäre dann die Göttin des Lernens, wie auch Undine in der Menschwelt viel lernen will, was wir heute auch „Information“ nennen, eine natürliche Kraft der innerlichen Formgebung, ein Zauberklang aus der Tiefe.

Was bedeutet dann der „Zaubertrank“ der Wassermutter, der alles verwandeln kann und sogar Menschenfüße wachsen läßt? Unsere moderne Wissenschaft spricht von Genen in den Zellen, lange Ketten aus Milliarden Molekülen, wie ein riesiges Handbuch für den Bau eines Lebewesens. Und wenn man darin tiefer sucht, erscheint auch hier wieder der mystische Begriff der „Information“, eine Kraft der innerlichen Formgebung. Doch was diese Kraft genau ist, kann keiner sagen. Wie eine Sprache, die uns zwar in dieser Form ausspricht, aber die wir selbst nicht sprechen können. Oder doch? Zumindest versuchen wir, an den Genen herumzuschrauben, was allerdings wieder der typische Weg unserer heutigen Zeit ist: Wir versuchen, die Probleme körperlich zu lösen, die wir eigentlich geistig lösen sollten. Wie wir auch in Blechkisten über die Erde fahren, durch die Luft fliegen und uns sogar ins Weltall schießen lassen, um die weite Welt zu erkunden und zu erkennen. Auch die Hindernisse, die uns im Weg stehen, wollen wir lieber körperlich töten, als geistig lösen. Denken wir nur an die vielen Gifte auf unseren Feldern oder die Kriege zwischen den Menschen. Ja, so müssen auch wir unsere langen goldenen Haare bzw. tiefgründig wahrhaften Gedanken für die materielle Welt opfern, um das tödliche Messer der Unterscheidung und Trennung zu erhalten, anstatt in die wahre geistige Weite einer Ganzheit zu kommen.

So heißt es im Märchen: „Mach dich auf zur weiten Reise!“ Und damit ist wohl gemeint: Mach dich auf, also öffne dich aus dem engen Ego-Verstand ins weite Bewußtsein einer ganzheitlichen Vernunft! Und wie diese „weite Reise“ im Prinzip geschieht, finden wir symbolisch in diesem wundervollen Märchen wieder. Ja, eine solche weite Reise beginnt oft schmerzlich, was gewöhnlich auch der Antrieb dazu ist. Am besten ist natürlich der Schmerz, den man aus Liebe auf sich nimmt. Denn die Wege, die schmerzlich beginnen und glücklicher werden, sind doch besser als die Wege, die glücklich beginnen und immer schmerzlicher werden, wie auch jeder in der Welt erfahren kann, der den Schmerz zu seinem Feind macht und mit Haß in Leiden verwandelt, während ihn die Liebe in Glück verwandeln kann, weil seine Ursache verschwindet. Und daß wir stumm aus diesem Meer der Ursachen kommen und nicht viel erzählen können, ist auch verständlich, denn man kann nur über Formen etwas erzählen und nicht über das Formlose. Und doch weiß natürlich das Meer der Ursachen schon alles, was geschehen wird, denn ohne Ursache geschieht nichts. Trotzdem geht diese Reise auch immer wieder ins „Neue“, soweit unser Bewußtsein frei ist, jede Form anzunehmen, und nicht am „Alten“ anhaftet. Denn wer nur an einer bestimmten Form anhaftet, daran festhalten will und andere Formen als Feinde betrachtet, der muß natürlich wie Wellenschaum vergehen.

Das ist dann auch die große Prüfung, von der Hydra als Wassermutter im Reich der Natur spricht: Ist es wahre Liebe oder leidenschaftliche Begierde? Verengt oder weitet sich das Bewußtsein? Vermehrt oder vermindert sich der Egoismus? Wandeln wir ins Licht oder in die Dunkelheit, in den Himmel oder in die Hölle bzw. Höhle, in das Leben oder in den Tod? Undine kann diese Prüfung bestehen, und das bist Du selbst, das zauberhafte Wunder dieser wundervollen Geist-Natur unserer Welt, ein Happy-End in sich selbst.

Zugegeben, kein einfaches Happy-End, wie wir es von den Grimmschen Märchen gewöhnt sind. Doch gerade darin liegt die große Botschaft und auch Herausforderung, daß es im Grunde mehr um ein „Happy-Beginning“ geht, wie auch die Wahrheit im Ursprung zu finden ist, sozusagen in dem, was war, bevor etwas wurde. Wer also immer noch traurig ist, weil Undine ihren geliebten Menschen nicht heiraten und Königin werden konnte, obwohl sie ihn doch aus dem Meer gerettet hatte, der sei daran erinnert: Wir alle wurden von dieser Undine-Kraft aus dem Meer in diese Erdenwelt gebracht, um uns gemeinsam zu entwickeln. Traurig sein sollten wir nur, weil wir uns dessen nicht mehr bewußt sind, sondern glauben, allein von irdischen Eltern geboren zu sein, weil sie die ersten Bilder waren, die sich in uns einprägten, als wir am irdischen Ufer dieser Welt die Augen öffneten. Anstatt nur mit einem Menschen verheiratet zu sein, ist Undine nun mit allen vereint, denn sie hat die wahre Liebe gefunden, die nirgends anhaftet und alles werden kann, ohne etwas behalten zu müssen. Das heißt: „Eine Seele hat, wer wahrhaft liebt.“ Und vielleicht sogar eine ewige…


Der Märchenfilm „Die kleine Meerjungfrau“ von 2013 ist noch bis 16.02.2030 in der ARD-Mediathek / Kika verfügbar:


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
Der Hase und der Igel - (Thema: Ich bin schon da)
Hans mein Igel - (Thema: Vernunft und Natur)
Der Dummling - (Thema: Wesen des Meeres)
Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)
Die Nixe im Teich - (Thema: Wasserwesen)
Die kleine Meerjungfrau Undine (Thema: Wellentanz)
Ritter Peter und die Meerfee - (Thema: Ritterliebe)
Der Petrusschlüssel - (Thema: reines Bewußtsein)

Lied und Textinspiration: Die kleine Meerjungfrau, 2013, ARD/Kika
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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