Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Nibelungensage: Siegfrieds Brautwerbung

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Es wuchs im Land der Burgunden eine edle Jungfrau, die hieß Kriemhild, die Tochter des reichen Königs Dankrat und seiner Ehegenossin, der verständigen Frau Ute, die das Kind mit mütterlicher Sorge pflegte. Zwar war der Vater schon lange heimgegangen, aber seine drei Söhne Gunther, Gernot und der noch nicht völlig zum Recken erwachsene Giselher, genannt das Kind, hielten die schöne Schwester höher als die köstlichste Perle in ihrer Krone. Die königlichen Brüder waren von kühnen Recken umgeben, welche die Furcht nicht kannten. Allen voran stand der grimmige Hagen von Tronje, unschön von Angesicht und einäugig, aber durch Heerfahrten und Kämpfe in deutschen und welschen Landen wie bei den Heunen (Hunnen bzw. Hünen) wohlbekannt und gefürchtet. Auch als Oheim der Könige genoß er große Ehren, nicht minder sein Bruder der Marschall Dankwart, dann der Truchseß Ortwin von Metz, die Markgrafen Gere und Eckewart, der Küchenmeister Rumold, der treue Spielmann Volker von Alzey, der Mundschenk Sindold und der Kämmerer Hunold. Diese und andere tüchtige Recken dienten den drei Königen und beschirmten ihr Reich.

Bereits bei dieser ersten kurzen Beschreibung der mächtigen Recken und ihrer Rollen in Burgund liegt die Vermutung nahe, daß es hier auch um die „Burg“ eines Menschenkörpers geht, dem Kampf um diese Burg, denn altdeutsch „gund“ bedeutet Kampf, und welche Kräfte, Funktionen und Prinzipien man darin finden kann. Als würden in einem Menschen viele kleine Wesen wohnen, arbeiten, kämpfen und dem ganzen Menschen dienen, den Körper beschützen und den Geist entwickeln. Ja, das sind in unserem Inneren alles große Helden, die mehr oder weniger eng miteinander verwandt sind und sozusagen eine große „Vetternwirtschaft“ bilden. Die offiziellen Rollen werden hier kurz genannt, aber ihre tiefere Bedeutung und wie man diese „Seelen-Kräfte“ dann auch in sich selbst finden und beobachten kann, wird erst im Verlauf der nachfolgenden Geschichte klarer. Auch die altdeutschen Namen deuten das tiefere Wesen an, sind uns aber heute nicht mehr geläufig, was das Verständnis erschwert, so daß es doch eine große Herausforderung für den heutigen Leser ist, die vielen verschiedenen Rollen zu durchschauen, miteinander zu verbinden und in sich selbst zu finden. In dieser Hinsicht möchten wir nun auch die folgende Geschichte etwas näher untersuchen und versuchen, den „Nibelungen-Nebel“ etwas zu lichten. Wir beginnen mit Kriemhild und ihrer Mutter Ute:

Die junge Kriemhild erschien selten im Kreis der Männer. Wie ein zartes Röslein, das kaum aus der Knospe hervorgeblüht ist, gleichsam verschämt wegen ihrer Schönheit und ihres süßen Duftes sich niederneigt, so senkte die Jungfrau schamhaft ihr Angesicht, wenn die Augen der Recken auf ihr ruhten. Sie entschlüpfte dann eilends dem geselligen Kreis und suchte Schutz vor der fremden Berührung in der einsamen Kammer oder im Garten unter den schattigen Bäumen. Deshalb liebte sie auch nicht die Turniere und die wilde Jagd. Nur einmal hatten die Brüder sie überredet, auf zierlichem Rösslein dem Hörnerklang durch Wald und Heide zu folgen. Als aber ein Reh, vom Jagdspieß durchbohrt, zu ihren Füßen verendete, floh sie scheu zurück und jagte nicht wieder. Der Vogelgesang im Garten erfreute sie mehr als der Klang der Hörner und das Fiedeln der Spielleute beim Gelage. So erblühte die Jungfrau unter dem Lärm des Hofes wie eine liebliche Blume in einem stillen und einsamen Tal.

Einstmals trat Mutter Ute früh am Morgen in ihr Gemach und fand sie verstört und traurig. Sie forschte nach der Ursache ihrer Betrübnis. Da erzählte ihr die Jungfrau, es habe ihr geträumt, daß sie einen edlen Falken aufgezogen, der ihr gar liebgeworden sei. Als er aber einstmals ausgeflogen war, hätten ihn zwei tückische Aare (Adler), aus einer Felsenkluft hervorbrechend, vor ihren Augen erwürgt. „Mein Kind“, sagte die Mutter ernst, „der Falke ist der edle Held, dem du einstmals deine Liebe zuwendest. Die Aare aber bedeuten zwei mordsüchtige Recken, die ihn mit arger List zu töten suchen. Möge Gott dir seinen Beistand leihen, daß du die mörderischen Anschläge vereitelst!“ - „Mutter“, sagte Kriemhild, „rede mir nicht von Männern. Es ängstigt mich, wenn ich unter sie treten muß. Gäbe es doch nur gar keine Männer in der Welt, da würde man nichts von Streiten, von Krieg und Blutvergießen hören.“ - „Wer weiß“, versetzte Frau Ute lächelnd, „Weiber vergießen oft durch ihre Zungen mehr Blut und schlagen tiefere Wunden als Männer mit ihren Schwertern. Aber auch für dich wird die Stunde kommen, in der du einem edlen Recken die Hand zum Bunde reichst.“ - Niemals“, rief die Jungfrau, „Mutter, du ängstigst mich mehr als der schlimme Traum.“ Beide Frauen sprachen noch viel miteinander und gingen dann in den Garten, wo Kriemhild ihre schönen Blumen pflegte und ihre weißen Tauben fütterte.

Der Name Kriemhild läßt sich auf das altdeutsche „griem“ als Helm und „hilta“ als Kämpferin zurückführen und bedeutet damit „die mit dem Helm kämpft“, im Gegensatz zur Brünhild, „die mit dem Brustpanzer kämpft“. Und wie wir in Brünhild ein Symbol für die äußerliche Natur gesehen haben, so können wir nun in Kriemhild die innere Seele der Natur erkennen, die in der Körper-Burg verborgen lebt und dort von allen männlichen bzw. geistigen Wesen beschützt wird, denn ohne die Seele, die innerlich für die Verkettung von Ursache und Wirkung sorgt, gibt es keinen lebendigen Körper. So ist die Symbolik mit dem gepanzerten Helm gut gewählt, denn ihr Herz ist weit und offen, weil sie im Grunde die Liebe selbst ist, aber ihr Wille bezüglich der Ketten von Ursache und Wirkung ist in der Natur unbesiegbar, wie wir in der folgenden Geschichte noch lesen werden und auch viele Naturwissenschaftler sagen, daß in der Natur alles nach unumstößlichen Gesetzen abläuft. Und während die äußerliche Natur den begrifflichen Verstand der Männer bzw. des Geistes anzieht, so will diese reine Seele der Natur lieber nicht vom Verstand begriffen und erobert werden, denn sie weiß sehr gut, wie diese Liebe zur Leidenschaft im wahrsten Sinne des Wortes wird. So sucht sie als reine Seele der Natur auch einen reinen Geist, wie sie auch im Garten der Natur „ihre schönen Blumen pflegte und ihre weißen Tauben fütterte“.

Ihre Mutter ist die alte Königin und trägt den Namen Ute, der sich von „ot“ als Erbe ableiten läßt. Das bekräftigt die seelische Verkettung von Ursache und Wirkung, erinnert an die Erbsünde als Trennung von der Ganzheit bzw. Gottheit und erklärt auch die Intuition zur Traumdeutung. Einen Falken benutzten damals die Könige gern auf der Jagd, wie sich später auch Siegfried für die Kämpfe der Könige in der äußerlichen Welt benutzen läßt. Und die tückischen Adler als Greifvögel, die Gunther und Hagen andeuten, sind wohl nur äußerlich königliche Vögel und keine „weißen Tauben“ als Symbol für einen reinen und heiligen Geist.

Der alte König und Ehemann von Ute war schon lange tot. Sein Name war Dankrat, der sich von Denken und Ratgeber ableiten läßt, wie auch ein König sein sollte, der sich von Gedanken beraten, aber nicht beherrschen läßt, denn nur das ist ein freier und unabhängiger König, vereint mit der Intuition seiner Königin. Doch dieser König, der auch an die Vernunft erinnert, die im Menschen herrschen sollte, war tot, und so wurden seine drei Söhne Gunther, Gernot und der junge Giselher zu Königen, von Gunther angeführt, der wohl der Älteste war. Ob es König Dankrat ähnlich erging, wie dem Falken im Traum seiner Tochter, bleibt der Phantasie überlassen. Zumindest wiederholen sich alle ungelösten Probleme im Leben immer wieder.

Gegen Mittag entstand ein ungewöhnliches Hin- und Herlaufen im Palast. Man hörte Hörner schmettern und Hufschlag von Rossen. Die Königin ging eilends hin, sich zu befragen, was die Ursache des Getümmels sei. Sie kehrte bald zurück und sagte der Tochter, fremde Recken seien angekommen, ihre Gewänder und Rüstungen strahlten von Gold und edlem Gestein und selbst ihre Rosse seien königlich geschmückt. Sie lud die Jungfrau ein, ihr zu folgen, damit sie mit eigenen Augen die reichen Häuptlinge sähe. Doch ihre Mahnung war vergeblich, denn der stille Garten dünkte der Tochter erfreulicher als das Schauspiel kriegerisch gerüsteter Recken. Daher ging Frau Ute allein auf den Söller, wo man die fremden Gäste sehen konnte. Auch König Gunther, der mit seinem Bruder Gernot und manchem kühnen Helden in der Halle würzigen Wein trank, hatte Kunde von der Ankunft fremder Gäste erhalten und sah nun durchs Fenster, wie sie in den Burghof ritten. Besonders ragte der Führer mit gekröntem Helm auf schneeweißem Roß hervor. Doch niemand kannte die Ankömmlinge. Da befahl der König, seinen Oheim Hagen Bescheid zu geben, denn der sei aller Lande kundig und werde wohl auch jetzt klugen Rat wissen. Alsbald erschien der tapfere Recke und erklärte, der Held an der Spitze der Schar sei kein anderer als Siegfried aus Niederland, der schon als Knabe einen grimmigen Drachen und den starken Schmied Mimer erschlagen, dann zum Manne gereift das Reich der Nibelungen durch ruhmvolle Taten erworben habe. Er riet ferner, der König und die anderen Recken sollten ihm entgegengehen und ihn mit Ehren empfangen. Denn wenn man ihn zum Freund und Heergenossen erwerbe, so habe man in den Landen der Burgunden keine feindliche Heerfahrt zu scheuen.

Wie nun in jedem Menschen irgendwann die reine Vernunft erwacht, erscheint und an die Tore der Sinne und Gedanken klopft, so kommt nun auch Siegfried in diese Burg und erregt zunächst einige Unruhe, denn er erscheint zuerst wie etwas Fremdes und oft sogar Bedrohliches. Nur einer kennt ihn, und das ist Hagen von Tronje. Der Name läßt sich vom altdeutschen „hag“ als Umzäunung ableiten und deutet damit auf ein trennendes Bewußtsein hin, dem man hier in der Geschichte auch die Rolles des Egos innerhalb der Körperburg zuschreiben kann, das mit allen Mitteln die Burg mit ihrem Königreich beschützen und den äußerlichen Ruhm der Person bewahren will. Ein Tronje ist im Niederländischen ein „Charakterkopf“. So wird er auch als grimmig und einäugig beschrieben, was an seinen Haß gegen alle bedrohlichen Feinde und seine einseitige Sicht erinnert. In dieser Nacherzählung von Wägner wird Hagen auch als Oheim von Gunther bezeichnet, was dann ein Bruder von Königin Ute wäre, aber davon berichtet das Nibelungenlied nichts. Obwohl es auch uns bezüglich seiner Rolle in der Geschichte plausibel erscheint, denn er hat ähnlich wie Ute eine gute Intuition und wurde mit dem Tod des alten Königs Dankrat nicht offiziell zum König, aber zum übermächtigen Berater, der nun praktisch die Burg und das Reich zusammen mit seinem Bruder Dankwart regiert.

Der Name Dankwart läßt sich von Denken und Wächter bzw. Hüter ableiten, der im Gegensatz zum Dankrat versucht, die Gedanken persönlich festzuhalten und damit zum Gedächtnis wird. Und wie er als Marshall die Armee der Krieger hütet, so hütet auch unser Gedächtnis die Armee der Gedanken. Mit seiner Hilfe kann sich wohl auch sein Bruder Hagen an so vieles erinnern, was ein gewöhnlicher Mensch als seine Lebensgeschichte festzuhalten versucht.

So weiß nun Hagen intuitiv, wer Siegfried ist und daß er ihn im Kampf niemals besiegen kann, denn die Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein wird immer über das Ego als trennendes Bewußtsein siegen, sofern es sich zum Kampf stellt. Doch davor hütet sich das Ego in einem heranwachsenden Menschen und möchte die Vernunft, die nun in der Körperburg erscheint, lieber zu einem Freund haben, der ihm mit seiner Macht dienen soll. Ja, im Prinzip ist auch das Ego nur eine Form des Bewußtseins, der das reine Bewußtsein dient, denn was wäre ohne Bewußtsein noch da?

Die Rede Hagens deuchte König Gunther klug und heilsam. Er ging mit allen Recken dem fremden Gast entgegen, hieß ihn willkommen und bot ihm Herberge im Palast. Auf seinen Wink eilten Knechte herzu, den Gästen Waffen und Rosse abzunehmen. Aber Siegfried wies sie zurück. Er sei, sagte er, zu den Burgunden gefahren, um zu versuchen, ob sie wirklich so tapfere Recken seien, wie man allerwärts von ihnen rühme. Er wolle das Reich und den Schatz der Nibelungen als Preis des Sieges einsetzen. Auch scheue er nicht eine doppelte und dreifache Zahl von Kämpfern, wenn die Könige dagegen das Land der Burgunden wagen wollten. Dem widerstrebte der kühne Ortwin und sprach, das sei eine gar vermessene Rede, und er vermeine allein dem fremden Helden Rüstung und Reich abzugewinnen. In gleicher Weise vermaßen sich noch andere burgundische Recken. Sofort sprang Siegfried in den Sattel und erhob die gewaltige Lanze.

Aber König Gernot trat mit gütlichen Worten zwischen die kampfesfrohen Recken. „Herr Siegfried“, sagte er, „wir begehren von dir weder Gut noch Blut. Wir wollen dich als werten Gast bei uns aufnehmen und deine tüchtigen Helfer und Gesellen sein, sofern du das Gleiche gelobst.“ Er bot ihm zugleich die Hand, und der von Niederland ergriff die gebotene Rechte, indem er hinzufügte: „Davor behüte mich Gott, daß ich dazu Nein sage. Ich bin euer Gast und Helfer. Und fahrt ihr einmal zu mir, dann heiße ich euch nicht minder als werte Gesellen willkommen.“ Die Gäste gingen darauf (auf Wunsch von Giselher) mit ihrem Gastgeber und seinen Dienstmannen in den Königssaal, wo sie bei Schmaus und Becherklang den Gesellenbund fester schlossen.

So bietet uns nun die Vernunft im Menschen an, alle Kräfte zu besiegen und selbst zum König und Herrscher über alles zu werden. Dafür muß man natürlich alles hingeben, um auch alles zu gewinnen. Meister Eckhart beschreibt es so:
Du mußt wissen, daß sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, daß er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb an, und laß dich dies alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst.

Denn dann herrscht der „Sieg-Frieden“. Einige Recken waren dazu bereit, aber nicht Hagen und die drei Könige mit Gunther an der Spitze, die uns hier zusammen an den Ego-Verstand erinnern, der gewöhnlich im Menschen herrscht und sich natürlich nicht überwinden lassen und sein vermeintliches Eigentum aufgeben will.

Der Name Gunther läßt sich aus „gund“ für Kampf und „heri“ für Heer ableiten und bedeutet damit „der mit dem Heer kämpft“. Gernot läßt sich aus „ger“ für Speer „khnoton“ für das Schwingen zusammensetzen und bedeutet damit „der den Speer schwingt“. Giselher läßt sich aus „gisel“ für Geisel und „heri“ für Heer ableiten und bedeutet damit „der Geiselnehmer oder Einnehmende im Heer“. So kann man in diesen drei geistigen Wesen den begrifflichen Verstand sehen, der unter der Führung des Egos darum kämpft, die Körper-Burg zu erhalten. Gunther folgt dem Rat des Egos, Gernot verhindert und unterdrückt die Kräfte, die sich der Vernunft stellen wollen, und Giselher lädt sie als Freund zum Trinken und Schmausen ein. Wahrscheinlich sagt dazu auch unser Verstand, daß dies eine gute und richtige Entscheidung war. Nun, wir werden sehen…

Nibelungenlied Stammbaum Dankrat, Ute, Hagen, Dankwart, Gunther, gernot, Giselher, Kriemhild, Siegmund, Sieglinde, Siegfried

In diesem Stammbaum der gegenwärtigen Hauptdarsteller finden wir noch Ortwin von Metz, dessen Name sich von altdeutsch „ort“ für Schwertspitze und „wini“ für Freund oder Gewinn ableiten läßt. Metz bedeutet Messer und erinnert an einen Metzger. Im Nibelungenlied spricht er Hagen als Oheim an und wird auch als Schwestersohn von Hagen und Neffe von Dankwart bezeichnet, der in der Burg das Amt des Truchsesses bzw. Speisemeisters hat, aber auch als ein kampfeslustiger Held erscheint, der beim Auftauchen von Siegfried „nach den Schwertern ruft“. Die Schwester selbst und ihr Ehemann scheinen keine Rolle mehr zu spielen und sind vielleicht schon tot.

Als „Speisemeister“ hat er natürlich großen Einfluß auf die Ernährung eines Menschen. Aus geistiger Sicht könnten wir hier darüber nachdenken, ob sich der Mensch von der Schwertschneide als Symbol der Trennung und damit vom Baum der Gegensätze ernährt oder von der Schwertspitze als Symbol der Einheit vom Baum des ganzheitlichen Lebens. Entsprechend ist Ortwin als Speisemeister auch symbolisch über eine Schwester als Seele der Natur mit Hagen und Dankwart als Ego und Gedächtnis verwandt.

Dem kühnen Helden von Niederland gefiel es wohl in diesem Rosen- und Rebengarten am Rhein, und er ging oft mit seinen burgundischen Gesellen bald zur Lust, bald zum Jagen stromauf- und abwärts in die grünenden Hügel und aufragenden Burgen, und leerte manchen Becher edlen Rheinweins. Auch Kampfspiele und Turniere erfreuten ihn, denn er blieb allezeit Sieger. Er trug aber noch einen Wunsch in der verschwiegenen Seele mit sich herum, den er nicht lautwerden ließ. Er sehnte sich nämlich, die holdselige Kriemhild einmal von Angesicht zu sehen. Doch diese Wonne wurde ihm nicht zu Teil. Er hörte von ihrem Liebreiz, ihrer Sittsamkeit und Sanftmut, und das vermehrte nur sein Verlangen nach dem, was ihm versagt war.

Auch die Jungfrau hörte viel von dem fremden Gast, von der Pracht seiner Gewandung, von seiner Heldengestalt, selbst seine Reden wurden ihr hinterbracht. Das erregte doch die weibliche Neugier. Schüchtern wagte sie einst, als die Recken vor dem Palast turnierten, hinter dem wenig geöffneten Laden hervor zu lugen. Da erblickte sie den Helden, überstrahlend die anderen Recken, wie am nächtlichen Himmel der Mond die Sterne. Er schien ihr dem Lichtgott Balder vergleichbar, von dessen Schönheit und Herrlichkeit die Väter so viel zu erzählen wußten. Jetzt richtete er die strahlenden Augen aufwärts. Hatte er sie vielleicht wahrgenommen? Sie floh erschrocken vom Fenster. Aber nein, er hatte die schüchterne Jungfrau nicht bemerkt oder nicht beachtet, denn das Turnier währte fort. Sie kehrte an ihr verdecktes Schaufenster zurück und sah nun, wie er den Speer schoß, daß er durch einen dicken Eichenbalken fuhr, während andere Speere wirkungslos abprallten oder kaum mit der äußersten Spitze in das harte Holz eindrangen. Sie sah ihn im Ringkampf mühelos und lachend zwei und drei Kämpfer zu Boden werfen. Selbst der starke Hagen strengte vergebens alle seine Kraft an, den unbezwinglichen Mann zu erschüttern. Auch er mußte zuletzt, blutrot im Angesicht vor Anstrengung und erschöpft, in den Staub sinken. „Hei, tüchtiger Recke“, rief der Sieger, „du hast mir mehr Arbeit gemacht als die Könige der Nibelungen mit ihren Zwergen und Riesen. Aber schau her, guter Geselle, für deine Mühsal reiche ich dir einen schweren Goldreif, daß du meiner in Liebe gedenkst, wenn ich nun bald heimfahre.” - „Burgunder sind reich genug, sie bedürfen der Goldgaben nicht“, antwortete Hagen mürrisch mit einem schielenden Blick auf den Geber, und ging seines Weges.

Kriemhild hätte schier dem Oheim zürnen mögen für seine schnöde Erwiderung. Aber noch mehr beschäftigte sie der Gedanke, daß der Held bald heimfahren wolle. Sie wünschte, er möge noch recht lange zu Worms bleiben, er möge gar nicht von Worms scheiden. Sie stand seit dieser Zeit immer an dem verdeckten Fenster, wenn die Recken turnierten, und die Gestalt Siegfrieds und seine Gesichtszüge, alle seine Bewegungen standen ihr bald so lebhaft vor Augen, daß sie selbst in den Gebilden ihrer Stickereien zu erkennen waren.

So wohnt‘ er bei den Herren · das ist alles wahr,
In König Gunthers Lande · völliglich ein Jahr,
Daß er die Minnigliche · in all der Zeit nicht sah,
Durch die ihm bald viel Liebes · und auch viel Leides geschah.
(Nibelungenlied, Das Heldenbuch, Band 2, Simrock, 1864)

Doch bald unterbrach eine Botschaft aus Dänen- und Sachsenland die Lustbarkeiten am Hofe zu Worms. Die Könige Lüdegast und Lüdeger ließen nämlich Fehde ankündigen und drohten mit großer Heeresmacht im Burgundenland einzufallen, wenn ihnen nicht wie in früherer Zeit Zins gezahlt werde. Im Falle der Weigerung wollten sie ungesäumt die Schatzung selbst in Worms abholen und Burgen und Städte verwüsten. Der König hieß die Boten gastlich pflegen, wie es allezeit Sitte war. Dann beriet er sich mit seinen Mannen, was zu tun sei. Man wußte, wie groß die Macht der feindlichen Häuptlinge, wie grimmig ihr Mut und die Wildheit ihres Kriegsvolkes war. Hagen meinte, man könne in so kurzer Frist keine genügende Streitmacht aufbringen, um dem Sturm zu begegnen. So geschah es, daß man keinen Entschluß fassen konnte. König Gunther schritt sorgenvoll durch die reich bestellten Felder der Stadt, die vielleicht bald eine Stätte für Wölfe sein sollten. Da fand er Siegfried, der gerade mit einem Habicht auf der Hand von der Vogeljagd zurückkehrte. Auf dessen Frage, was ihm Kummer mache, gab er ihm Auskunft von der unwillkommenen Botschaft und der drohenden Verwüstung. „Hei, König Gunther“, rief der kühne Held, „hast du nicht Freunde und Brüder, die allezeit in Rüstung sind? Bin ich nicht selbst ein treuer Geselle? Und wenn wir nur tausend tüchtige Männer in Waffen haben, dann mögen wir doch die räuberischen Wölfe wohl bestehen. Sei getrost und sage den Boten, wir wollten ihren Herren die weite Reise nach Worms wohl ersparen und in ihrem eignen Land ihre Gäste sein.“ Davon wurde der König wieder froh, und er tat, wie ihm sein werter Gast geraten hatte.

Inwieweit Hagen für diesen feindlichen Angriff gesorgt hatte, bleibt unserer Phantasie überlassen. Zumindest fördert das Ego als trennendes Bewußtsein prinzipiell solche Angriffe heraus, und es wird im Nibelungenlied auch berichtet, daß den Burgundern so etwas lange Zeit nicht geschehen war. Hagen spricht nach allgemeinem Zweifeln das ausschlaggebende Wort, welches dann Siegfried auf den Plan bringt. Der nimmt natürlich die Herausforderung an, die nun für ihn vor allem darin besteht, seinen reinen Geist zu bewahren und in diesem Kampf an der Spitze mit Hagen im Rücken nicht in den Ego-Verstand zu fallen. Ähnlich wie die beiden Brüder im Nibelungenreich, so fordern ihn auch hier zwei königliche Brüder heraus. Ihre Namen erinnern an das mittelhochdeutsche „lûden“ im Sinne von rauben, und wir werden nun sehen, ob sich Siegfried die Vernunft rauben läßt oder wieder den Sieg-Frieden erringt:

Die Heerhörner klangen durch Burgundenland, das Kriegsvolk sammelte sich zu Hauf, die Recken bereiteten ihre Sturmgewänder, Speere, Lanzen und Schwerter. Da standen in strahlenden Rüstungen Hagen, Dankwart, Volker, Ortwin, Sindold, Hunold, der streitbare Rumold, auch König Gernot mit seinen Mannen und viel des Volkes und Gesindes, wohl etliche Tausende, aber unter ihnen strahlte der Nibelungenheld mit seinen zwölf Recken hervor. Ohne auf weitere Hilfe zu warten, zog das kleine Heer zu Felde über den Rhein und eilig weiter nach Sachsenland, wo manche Burg gebrochen, manches Gehöft verwüstet wurde, bevor die gewaltige Macht der feindlichen Heerkönige Einhalt tun konnte. Als die Späher verkündigten, daß wohl vierzigtausend Dänen und Sachsen daherkamen, wurde Lagerung genommen, und der grimme Hagen als Scharmeister ordnete die Heerhaufen. Derweilen ritt der kühne Siegfried nach einer Warte, wo ein dänischer Recke in hellleuchtender Rüstung das Lager der Burgunden beschaute. Er wurde sofort von demselben angegangen, und der Stoß war von beiden Seiten so kräftig, daß die Lanzen zersplitterten und die Rosse sich aufbäumten.

Die mächtigen Helden wankten nicht im Sattel. Als aber der Schwertkampf begann, konnte der Däne nicht lange bestehen. Durch Schild, Helm und Brustpanzer drang das furchtbare Schwert Balmung, und der Recke sank, aus drei Wunden blutend, zu Boden. Siegfried sprang vom Pferd, um ihm den Todesstreich zu geben, aber da rief er, er sei König Lüdegast und wolle sein Haupt mit Gold auslösen. Indessen rannte eine große Zahl seiner Dienstmannen heran, um ihrem gefällten Könige Hilfe zu bringen. Der Held von Niederland erwehrte sich ihrer, und Rosse und Reiter sanken unter der Wucht seiner Streiche. „Das ist der üble Teufel!“, riefen die noch übrigen Kämpfer und suchten ihr Heil in der Flucht.

Den Stolz und Übermut von Lüdegast als König von Sachsen besiegt Siegfried mit drei Wunden, ähnlich wie früher den Ego-Drachen mit drei Keulenschlägen. Damit ergibt sich der König, und seine Kräfte lassen sich leicht besiegen.

Siegfried kam mit seinem Gefangenen ins Lager, wo er ihn zur Pflege und Verwahrung dem Heergesinde übergab. Es war auch nicht mehr Zeit vergönnt, den Recken zu befragen, denn die feindliche Macht war im Anzug, und ihre Schlachthaufen breiteten sich unabsehbar aus. Kaum gelang es dem Scharmeister, die Recken der Burgunden in Ordnung zu stellen, schon begann der Angriff. Eisenspeere, Steinhämmer und Pfeile flogen hinüber und herüber, Schilde und Helme brachen, das Blut floß in Strömen. Streitäxte und Schwerter wurden zu tödlichen Streichen geschwungen. Doch wie auch das schwache Heer der Burgunden um Siegesruhm kämpfte, die feindliche Übermacht drängte immer gewaltiger. Da schaffte sich der Nibelungenheld freie Bahn. Er durchbrach mit siegender Gewalt die feindlichen Reihen. Zerhauene Schilde, Helme, Brünnen und Leichname bezeichneten den blutigen Weg, den er sich öffnete. Gegen ihn lenkte der streitbare König Lüdeger seinen Streithengst, umgeben von seinen Gefolgsmännern. Siegfried suchte ihn zu erreichen, doch immer mutiger umdrängten ihn die kühnen Sachsen. Sein Schild wurde zerhauen, sein Roß sank unter ihm, doch stand er unerschüttert wie ein Fels im Meer, an dem sich die schäumenden Wellen brechen. Zuerst arbeitete sich der grimme Hagen durch die feindliche Menge, dann auch Volker, Sindold, Hunold, und als sie ihm den Rücken deckten, drang er unwiderstehlich gegen den König der Sachsen vor. Die ganze Wucht des Kampfes ballte sich um ihn, aber vergebens, schon stand er vor Lüdeger und schwang das Schwert. Da rief dieser: „Hei, Siegfried von Niederland, dich hat der Teufel hergeführt. Ich muß dein Gefangener sein.“

Er gebot die Fahnen · zu senken in dem Streit.
Friedens er begehrte · der ward ihm nach der Zeit;
Doch mußt‘ er Geisel werden · in König Gunthers Land:
Das hatt‘ an ihm erzwungen · des kühnen Siegfriedes Hand.


Die Gefangennahme von König Lüdeger

Die Schlacht war zu Ende. Rosse und Rüstungen, viele Gefangene und das feindliche Lager mit reichen Schätzen waren die Beute der Sieger, die sofort heimwärts nach dem Rhein fuhren. Sie zogen festlich geschmückt in Worms ein, wo man sie mit großem Jubel empfing. Im ganzen Lande pries man ihre Taten, aber Siegfrieds Name ging von Mund zu Munde, und die Sänger sangen sein Lob, und die Frauen erzählten ihren Kindern von dem wundersamen Helden aus Niederland. König Gunther ordnete eine große Siegesfeier an, doch erst nach mehreren Wochen, damit die wunden Kämpfer, die bis dahin geheilt wären, daran teilnehmen könnten. Es geschah nach seinem Gebot, und er ließ auch reiche Gaben unter die kühnen Streiter verteilen, da nicht alle sich Beutestücke erworben hatten. Desgleichen wurde mit Lüdeger und dem von seinen Wunden genesenen Lüdegast unterhandelt. Sie boten großes Lösegeld. Als man davon redete, daß ein Königshaupt wohl um höheren Preis zu lösen sei, rief Siegfried: „Ein Königshaupt ist für Gold, Silber und Edelstein weder zu kaufen noch zu lösen, wohl aber in Liebe durch Wohltat zu gewinnen. Man lasse die gefangenen Könige frei und ledig, wenn sie den Burgunden Hilfe in Kriegsnot versprechen.“

Als die festlichen Tage vorüber waren, nahmen die reichlich beschenkten Gäste Abschied, und auch der Nibelungenheld wollte heimfahren. Auf Ortwins Rat bat ihn aber der König, noch zu verharren, weil auch die Frauen ihren Dank bezeigen wollten. Er beschied sie daher auf den folgenden Tag in die Königshalle. Insbesondere sagte er zu Siegfried, seine Schwester Kriemhild werde ihm für die geleisteten Dienste mit einem Händedruck lohnen, da man ihm kein Geld bieten könne. Wie ein Lichtstrahl zuckte die Freude über das Angesicht des Helden, indem er sagte: „Ja, sicherlich, ich bleibe noch dein Gast.“

Als der König zu den Frauen ging, um ihnen kundzutun, was er verheißen habe, fürchtete er von der Schwester Widerspruch. Doch obwohl sie errötete, fügte sie sich in seinen Willen. An der Hand von Frau Ute trat sie zur bestimmten Stunde im reichsten Schmuck in die festliche Halle, wo die Helden versammelt waren, was im Lied so ausgedrückt ist:

Da kam die Minnigliche · wie das Morgenrot
Tritt aus trüben Wolken · Da schied von mancher Not,
Der sie (Kriemhild) im Herzen hegte · was lange war geschehn.
Er sah die Minnigliche · nun gar herrlich vor sich stehn.

Von ihrem Kleide leuchtete · mancher edle Stein.
Ihre rosenrote Farbe · gab wonniglichen Schein.
Was jemand wünschen mochte · er mußte doch gestehn,
Daß er hier auf Erden · noch nicht so Schönes gesehn.

Er sann in seinem Sinne · „Wie dacht' ich je daran,
Daß ich dich minnen sollte? · das ist ein eitler Wahn;
Soll ich dich aber meiden · so wär' ich sanfter tot.“
Er ward von den Gedanken · oft bleich und wieder rot.

Als sie den Hochgemuten · vor sich stehen sah,
Seine Farbe ward entzündet · die Schöne sagte da:
„Willkommen, Herr Siegfried · ein edler Ritter gut.“
Da ward ihm von dem Gruße · gar wohl erhoben der Mut.

Er neigte sich ihr eifrig · sie faßte ihn bei der Hand.
In minniglicher Anmut · er bei der Fürstin stand.
Mit liebem Blick der Augen · sahn einander an
Der Held und auch das Mägdelein · das ward verstohlen getan.

Der Gruß, der Händedruck, der Liebesblick Aug‘ in Auge, das waren die Wahrzeichen, daß zwei edle Menschenherzen sich gefunden, daß sie den Bund auf Leben und Sterben miteinander geschlossen hatten. Und niemand in der glänzenden Versammlung nahm das Geheimnis wahr, als Frau Ute, die daran große Freude hatte, weil sie die zwei Menschen mütterlich liebte. Sie schaffte es auch, daß beim Gastmahl der Held neben jener gesetzt wurde, die er schon so lange im Herzen trug, so daß er auch nachher, als das Gelage begann, im Garten mit ihr lustwandelte und ihre Blumen betrachtete, deren Namen und Bedeutung sie mit tiefem Sinne erklärte. Sie sprach:

„Die Blumen haben Seelen, sie reden oft zu mir,
Vom Himmel sie erzählen, der schon auf Erden ist hier.“

Er antwortete:

„Der Himmel ist die Minne, der Liebe Lust und Leid;
Die stirbt im Herzen nimmer durch alle Ewigkeit.“

Siegfried ging selig in seine Herberge und hatte des Nachts frohe Träume.

So erkennt man nun deutlich, wie sich für einen „Siegfried“, der mit reiner Vernunft handelt, alles irgendwie zum Guten entwickelt. Sogar dieser schreckliche Krieg zwischen den stolzen und überheblichen Königen wandelte sich in einen Frieden, und er erreicht auch das große Ziel, Kriemhild zu sehen, zu sprechen und sogar zu berühren. Aus geistiger Sicht kann man hier an die innerlich verborgene Seele denken, die man mit einem gereinigten Geist und viel Geduld irgendwann erkennen, wahrnehmen und sogar körperlich berühren kann. Das ist ein wahrlich großer Sieg der Liebe, und man möchte meinen, diese ganze Welt mit ihren großen und kleinen Ereignissen ist nur dafür da, um den reinen Geist wieder mit der reinen Seele der Natur zu vereinen und in dieser mystischen Hochzeit die Vollkommenheit zu erreichen.

In dieser Nacht hatte auch König Ute einen frohen Traum. Sie sah ihr liebes Kind königlich geschmückt an der Seite des Helden aus Niederland auf einem schwankenden Kahn, der zwischen den Ufern des ruhigen Rheinstroms dahinfuhr. Es schien ihr ein freundliches Bild vom Glück zweier Menschen, an deren Schicksal sie den wärmsten Anteil nahm. Sie erwachte in freudiger Aufregung. Als sie dann aber wieder einschlummerte, zeigte sich zwar am Anfang das gleiche Bild, doch bald verdüsterte sich der Himmel, der Strom geriet in heftige Bewegung, und aus seinen Wellen erhob sich eine Hand, die einen Speer schwang und damit rücklings Siegfried durchbohrte. Frau Ute erwachte ein zweites Mal, und die Angst über die Erscheinung ließ sie nicht wieder einschlafen. Sie kleidete sich an und schritt schon früh am Morgen in einen düsteren Kiefernwald, wo sich viele Totenhügel burgundischer und gallischer Recken befanden, die sich hier bekämpft hatten, aber nun friedlich nebeneinander ruhten. In der Mitte dieses Gräberfeldes war ein Brunnen von unergründlicher Tiefe, der nach einer Sage an der Stelle hervorquoll, wo der Sohn einer zauberkundigen Frau in unvordenklicher Zeit ermordet worden war. Dahin pflegte die Königin zu gehen, wenn sie Auskunft über die Zukunft zu erhalten wünschte, denn sie kannte die Sprüche, welche den Geist der Tiefe zwangen, die Rätsel der Zukunft zu enthüllen. So lenkte sie ihre Schritte zu diesem Quell bei den Gräbern und begann ihre Beschwörung. Sie wollte Kunde haben, ob sich der Nibelungenheld mit der holden Jungfrau in treuer Liebe verbinde und ob aus der Verbindung ein ruhmvolles Königsgeschlecht erblühen werde. Da erhob sich das Wasser silberhell, und aus der Tiefe ertönten Fiedel und Schalmaien zum Hochzeitstanz. Bald aber trübte sich der Wasserspiegel, aus seiner Mitte schoß ein Strahl aus Blut hervor, und aus dem Abgrund erscholl Kriegsgeschrei und Waffenklirren. Zugleich schienen sich die Grabhügel ringsherum zu bewegen und zu öffnen, als ob die erschlagenen Recken heraussteigen wollten. Angst und Entsetzen ergriff die Königin. Sie eilte fort, als werde sie von den Gespenstern der Krieger verfolgt und erreichte mit Mühe die Königsburg, wo sie alles in großer Unruhe und Aufregung fand.

Hier zeigt sich wieder das Wesen von Königin Ute als „Erbin“ des seelischen Schicksals in der äußeren Welt der vielfältigen Natur. Diese Formen und Gestalten können uns als Gespenster bzw. Gespinste wirklich „Angst und Entsetzen“ bringen, wenn wir nur die Formen betrachten, die aus der Quelle hervorströmen, und nicht das vollkommene Wesen der Quelle selbst erkennen. Deshalb bleibt im Gegensatz zur Königin der Traum von Siegfried ein froher und heiterer Traum, weil er mit ganzheitlicher Vernunft und dem Schwert der Weisheit die äußeren Formen durchdringen und durchschauen kann und mit dieser tiefen und weiten Sicht erkennt, daß nicht nur in der Einheit des Geistes, sondern auch in der Vielfalt der Natur alles rein und vollkommen ist und am Ende der Frieden und die Liebe siegt.


.....
Die Nixe im Teich - (Thema: Wasserwesen)
Die kleine Meerjungfrau Undine - (Thema: Wellentanz)
Ritter Peter und die Meerfee - (Thema: Ritterliebe)
Der Petrusschlüssel - (Thema: reines Bewußtsein)
Nibelungensage: Siegfrieds Kindheit und Jugend
Nibelungensage: Siegfrieds Brautwerbung
Nibelungensage: Siegfrieds und Gunthers Hochzeit
Nibelungensage: Siegfrieds Ermordung
Nibelungensage: Kriemhilds Racheplan
Nibelungensage: Kriemhilds Rache
Nibelungensage: Totenklage und Neubeginn
... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[Eckhart] Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1979
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: