Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Nibelungensage: Totenklage und Neubeginn

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Die klassische Nibelungenklage bezeichnet Wilhelm Wägner als „einen sehr schwachen und nur wenig belebten Nachtrag zu dem Lied“. So versuchte er, der Klage durch Hinzufügung einiger Ideen aus anderen Dichtungen mehr Sinn zu geben, was ihm nach unserer Meinung auch gelungen ist:

Wie groß das Leid auch war, das alles Volk und zumeist das Königshaus betroffen hatte, so mußte man doch an die Bestattung der Toten denken. König Etzel war so harmvoll, daß er keine Anordnungen treffen konnte. Der Held von Bern und Hildebrand, beide gehärtet durch manche Schläge des Schicksals, gaben Befehl und legten selbst Hand an das traurige Werk. Der Saal, eine Mordkammer, wie keine auf Erden, mußte geräumt, die Erschlagenen mußten herausgeschafft und aufgebahrt, und eine würdige Totenfeier hergerichtet werden. Dietrich wusch jedem seiner Gesellen Blut, Staub und Todesschweiß vom Angesicht, und manchen erblichenen Lippen gab er den letzten Kuß. Der alte Meister hob seinen Neffen, den kühnen Wolfhart, aus der Blutlache. Eine Träne rann ihm über die Wange in den grauen Bart, als er, der greise Held, den einst so kraftvollen Jüngling kalt und starr vor sich liegen sah. Der Tote hielt noch das Schwert in der Faust, und die umklammernden Finger mußten mit Gewalt aufgebrochen werden, um die Waffe herauszunehmen. Jetzt war kein grimmiger Hagen mehr da, der den Meister hinderte, dem Neffen die letzte Pflicht zu erweisen.

So geht nun die Geschichte weiter. Nach dem chaotischen Ende muß die Welt wieder in Ordnung gebracht werden und die Handlung an den Rhein als Fluß des Lebens zurückkehren. Dietrich und Hildebrand als Vernunft und Verstand übernehmen wieder die Führung, denn das Ego ist nun kein Hindernis mehr. Die Vernunft kümmert sich um die große Welt, und der Verstand um die kleine des Körpers, und auch die Toten sollten nun ihre tödlichen Waffen aus der Hand legen, womit wohl Zorn und Haß im Kampf gemeint sind.

Auch die Nibelungen verwehrten jetzt nicht mehr, den Leib des allgeliebten Rüdiger aufzubahren und in die königliche Gruft zu bringen, die ihn aufnehmen sollte. Nibelungen, Hünen, die Helden von Bechelaren und die von Amelungenland waren jetzt alle gleich, alle versöhnt und aus dem wilden Kampf des Lebens zur Ruhe des Todes gekommen.

Viele Frauen und Jungfrauen, Greise und Kinder suchten ihre Geliebten in der gräßlichen Mordkammer. Sie überwanden ihre Scheu vor dem entsetzlichen Blutdunst, der die Halle erfüllte. Sie wühlten unter Leichen und geronnenem Blut, denn die Liebe machte sie stark, auch Scheu und Ekel zu bezwingen. Sooft aber ein Freund gefunden wurde, erhob sich lauter die Klage, die bei dem traurigen Geschäft niemals schwieg. Man fand auch den Körper des kleinen Ortlieb und das abgeschlagene Haupt des Kindes, das einst die reichste Krone hatte tragen sollen und statt dessen durch frevelhafte Gewalttat eine Beute des Todes geworden war. Man legte beides, Leib und Haupt, zu der zerhauenen Leiche seiner Mutter. Etzel hatte viel gejammert und geklagt, doch nun schien die Quelle seiner Tränen versiegt, er weinte nicht mehr, wohnte der Totenfeier ohne Klage bei und folgte endlich dem Zug, der seine zweite Frau und ihr Kind in die Königsgruft brachte, wo sie neben der guten Frau Helche ihre Ruhestätte fanden. Dahin trug man auch, wie schon bemerkt, den Leichnam des guten Rüdiger. Er, der treueste und ruhmvollste Diener seines Königs, sollte auch bei den Königen ruhen. Eine große Volksmenge folgte dem Trauerzug, denn der Markgraf hatte jedem, der bedürftig oder sonst in Leid war, hilfreich die Hand geboten.

Anders war es mit dem Helden von Tronje. Als man die Könige und Recken von Burgund zu Grabe brachte, gedachte man seiner nicht. Schon waren die Totenhügel gefüllt und geschlossen, da mahnte der alte Meister an den kühnen Recken, daß man auch ihm eine Ruhestätte bereite. Also wurde für ihn ein abgesondertes Grab hergestellt, in welches man den Leichnam samt seiner Rüstung legte. Aber man gab ihm nicht Balmung mit in den Sarg, denn das gute Schwert sollte nach Kriemhilds Wunsch über den Rhein in Siegfrieds Gruft gebracht werden. Viele Hünen gingen mit dem Leichenzug, aber weinten und klagten nicht, denn sie schmähten den Mörder Ortliebs, den Stifter des Unheils, den Schlächter so vieler tüchtiger Männer. Als im nächsten Frühling liebliche Blumen die anderen Totenhügel bekleideten, da wuchsen auf Hagens Grab Disteln und Dornen, und eine giftige Natter kroch darin herum. Die Männer, welche das Gewürm näher beschauten, erzählten, es habe nur ein funkelndes Auge gehabt, wie der Tronjer, und sei sein Geist gewesen.

In der überlieferten Nibelungenklage werden Hagen, Volker und Dankwart mit Gunther, Gernot und Giselher nebeneinander begraben, was auch symbolisch Sinn macht, denn Ego, Schicksal, Gedächtnis und Verstand gehören zusammen, wie dann auch die Erinnerung im Fluß des Todes schicksalhaft ins Meer der Ursachen fließt. Wägner vereint sie hier sinnvollerweise in einem Totenhügel mit Hagen als ihren Kopf, der sie alle ins Verderben führte. Symbolisch könnte man sich auch vorstellen, daß dieser Kopf in der Donau versenkt wurde, die ins Schwarze Meer fließt.

So finden wir im Prinzip drei verschiedene Arten der Grabstätten: Die Königsgruft und zwei unterschiedliche Totenhügel. Sagt man nicht, im Tod sind alle wieder gleich? Wie es auch oben heißt, daß in der Ruhe des Todes alle wieder versöhnt und gleich sind. Sicherlich, doch die Symbolik ist gut gewählt, denn die Früchte, die aus diesen Gräbern wachsen sind dann wieder so unterschiedlich wie Vernunft, Verstand und Ego, nämlich Königsruhm, liebliche Blüten und giftige Schlangen, die uns im Kleinen bereits wieder an den großen Ego-Drachen erinnern. So wußten die Menschen schon immer, daß der Tod kein Ende ist.

Dietrich und Hildebrand konnten um die Toten nicht weitere Sorge tragen, denn die Lebenden, die Freunde und Verwandten der Erschlagenen, machten ihnen Kummer. Sie meinten, es sei wohlgetan, die Waffen und Rüstungen der kühnen Recken nach Bechelaren und über den Rhein zu senden und dazu Boten auszuwählen, die mit kluger Vorsicht die Kunde von dem großen Leid überbrächten. Sie erwählten dazu den edlen Spielmann Swemmelin, denn der wußte mit holdseliger Rede die von Kummer beschwerten Herzen zu trösten. Der gute Held übernahm willig die Botschaft. Gern hätte er seinen Gesellen Werbelin zum Gefährten auf der Reise gehabt, aber der war noch krank von der Wunde, die Hagens Schwert ihm geschlagen hatte, und konnte niemals wieder die süßen Töne greifen, womit er sonst seinen Herrn und dessen Gäste ergötzte.

Der getreue Swemmelin fuhr mit großem Gefolge und vielen Lasttieren, welche die Rüstungen der erschlagenen Helden trugen, auf wohlbekannter Straße nach Bechelaren. Da war aber in dem Zug ein stolzes Roß, das wieherte nicht dem aufsteigenden Morgen entgegen, sondern blieb oft stehen und wandte den Kopf zurück, als erwarte es seinen Herrn, den es zu tragen gewohnt war. Sonst pflegte es mit seinem Reiter dem Zug voranzuschreiten, jetzt war es unter den Trägern schier das letzte. Es war Rüdigers edler Hengst, der seinen Herrn liebte, und der nunmehr nicht ihn, sondern nur seine Rüstung heimwärts trug. „Du gutes Roß“, sprach Swemmelin, „du möchtest auch den Helden wiedersehen, aber er kehrt nicht zurück.“ Das Pferd sah ihn so traurig an, daß er wähnte, es frage ihn, wo sein Herr geblieben sei. Er wischte sich eine Träne aus den Augen und setzte seinen Weg fort.

Zu Bechelaren saßen die Markgräfin und ihre Tochter am offenen Fenster in traulichem Gespräch. Die Sonne war am Morgen glutrot aufgegangen, doch düstere Wolken hatten von Osten kommend die Königin des Tages bald umhüllt und allmählich den ganzen Himmel überzogen, und grauer Nebel verbreitete sich über die Gegend, so daß man nicht weit sehen konnte. „Ich wähne“, sprach Gotlinde, „es stehe uns ein Leid bevor, es sei unserem lieben Herrn ein großer Schaden widerfahren. Freudig, wie die Morgensonne, fuhr er mit den werten Gästen zu den Hünen. Und nun fürchte ich, er kehrt leidvoll zurück, und Giselher, der junge Held, der dich vor allen Jungfrauen auserwählt hat…“ - „Um Gottes Willen, Mutter“, rief Dietlinde, „du ängstigst mich!“ - „Ich kann es nun einmal nicht verbergen“, sprach die Mutter, „und es ist gut, wenn man sich im Glück auf ein kommendes Unglück vorbereitet. Ich war heute Nacht im Traum am königlichen Hoflager bei den Hünen. Da sah ich die gute Frau Helche, die uns während ihrer Lebenszeit so wertgehalten hatte. Auch die Burgunden und viele andere Recken standen in Waffen und schienen kampfbereit. Die Königin sprach, sie wolle alle diese Helden bei sich versammeln. Sie nahm deinen Vater und Giselher bei der Hand und führte sie mit sich, und die anderen folgten nach. Ich wollte auch folgen, aber sie winkte mich zurück. Dann verschwanden alle in einen grauen Nebel, wie er sich jetzt vor uns ausbreitet. Nur ein Hügel stieg daraus hervor, und das war…“

Es ist auffallend, daß vor allem die Frauen schicksalhafte Träume haben. Was aus symbolischer Sicht auch Sinn macht, denn die weibliche Natur bzw. Seele der Natur spinnt die Schicksalsfäden, die dann der männliche Geist verwirklicht, wie es auch in der Bibel heißt, daß es der Geist ist, der lebendig macht. So können auch die Meerfrauen und Nornen das Schicksal voraussagen. Und in diesem Schicksalstraum finden wir gleichfalls den Nibel bzw. Nebel der Nibelungen wieder, in dem alles entsteht und vergeht.

Sie konnte nicht weiterreden, denn man hörte Hufschlag und Stimmen, und darauf wurde der Trauerzug unter Swemmelins Führung sichtbar. Die Markgräfin erkannte Rüdigers Roß und seine Rüstung. Da wurde ihr die Bedeutung des Traumes klar, und der Harm um den lieben Gatten, den treuen Lebensgefährten, nahm ihr schier die Besinnung. Indessen suchte sie sich um der Tochter willen zu fassen, die bleich vor Schrecken an ihrer Seite saß.

Jetzt trat der Spielmann bei den Frauen ein. Die Markgräfin begrüßte ihn, dann fuhr sie fort: „Es bedarf nicht langer Rede, guter Held, um uns eine schlimme Botschaft anzusagen. Deine Augen reden und das treue Roß und die zerhauene Rüstung. Ja, dieses Haus ist verwaist und das ganze Land, und du, liebe Tochter, bist nun eine Waise.“ So klagte die edle Markgräfin, und Dietlinde weinte mit der Mutter. Als der erste Schrecken vorüber war, wurde Swemmelin weiter befragt. Er griff in die Saiten seiner Harfe und sang ein Lied von den Helden, die Treue gehalten und die Kämpfe des Lebens überwunden haben, wie sie zu Wodan (Odin) kommen und zu Freya, wie sie über Land und Meer ziehen und im Hauch des Windes, im Rauschen der Blätter mit den Freunden reden und ihnen Trost bringen. Die süßen Töne stillten wohl den Schmerz auf kurze Zeit. Aber als sie verhallten, wurde die Klage wieder laut, und auch die Frage, wie sich alles begeben habe. Im Laufe des Tages vernahmen die Frauen die Geschichte von der Rache Kriemhilds, von Hagens mörderischen Taten bis zum Untergang der Helden. Vergebens redete der Bote vom Schutz Etzels und der Hilfe, die der Berner Held den Frauen verheißen habe, er konnte die Jammervollen nicht trösten.

Am folgenden Tag mußte er seine Reise fortsetzen. Die Frauen blieben in ihrem Gram zurück und der zehrte wie ein Giftwurm am Leben der guten Frau Gotlinde, so daß sie siech wurde und nach wenigen Wochen starb. Die Jungfrau, in der Fülle der Jugend, ertrug das schwere Leid, und obwohl sie auch viel um Vater, Mutter und um den ihr verlobten Giselher weinte, blieb sie doch vor Siechtum verschont. Als später der kühne Held Dietrich sein Amelungenland wiedergewann, nahm er sich der Waise zu Bechelaren an, und seine Gattin, die edle Herrat, berief sie an ihren Hof zu Bern, wo ein tüchtiger Held ihre Liebe gewann und sie heimführte.

Aus geistig-symbolischer Sicht könnte man hier sagen: Wenn die ganzheitliche bzw. göttliche Vernunft als Rüdiger bzw. „Speer der Ehre“ sterben kann, dann kann natürlich auch Gotlinde als „göttlicher Lebensbaum“ sterben. Aber Dietlinde, der „menschliche Lebensbaum“ bleibt als reine Seele der Natur lebendig, trotz aller Leiden, und findet den reinen Geist im Amelungenland der Schöpfung wieder, so daß auch ihre Eltern unsterblich sind und nur ihre äußerliche Form vergänglich war.

Als Swemmelin nach Worms kam, saß die alte Frau Ute in ihrer Kammer und spann nach alter Sitte. Sie summte manchmal eine seltsame Weise, wenn die Spindel vor ihr tanzte, aber sie sprach selten. Bei ihr saß die Königin Brünhild, mit Sticken beschäftigt, und es war der Tod Balders, den sie nach alten Mustern auf den Teppich stickte. Der lichtvolle Gott war indessen dem auf der Vorlage nicht ähnlich, sondern er glich dem Helden Siegfried. „Sieh nur, Mutter Ute“, sagte sie, „nun ist das Bild wieder gegen meinen Willen dem kühnen Helden gleich geworden, wie er war, als er auf die verhängnisvolle Jagd ritt. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die sich auf Isenland begeben hat: Da wohnte einst ein großer König, der hieß Angantyr. Er hatte ein sehr gutes Schwert, Tyrfing genannt, von dem man sagte, daß es in jeder Schneide die Kraft von zwölf Männern trage. Doch fiel der kühne Recke endlich im Kampf und wurde mit Schwert und Rüstung im Hügel begraben. Seine zauberkundige Tochter Hervör zwang ihn durch ihre mächtigen Sprüche, das Tyrfing-Schwert herauszugeben, und achtete es gering, daß er ihr verkündigte, die Waffe werde ihr ganzes Geschlecht vertilgen, bis er sie wieder in seine Grabkammer zurückerhalte. Indessen ging das alles in Erfüllung, Hervör wurde eine große Königin, da sie selbst in den Schlachten als Kriegerin das Tyrfing führte. Aber ihre Söhne ermordeten einander um der guten Waffe willen bis auf den jüngsten, der das Schwert dem Ahnherrn zurückgab.

Über diese Verbindung von Krieger und Schwert kann man viel nachdenken. Von Siegfried wurde beschrieben, wie er sich sein Schwert selbst schmiedete und dann immer mehr vervollkommnete. Was dagegen passiert, wenn sich das Ego mächtige Waffen aneignet und damit kämpft, ohne deren wahre Quelle und Wesen zu kennen, kann man praktisch auch in unserer Welt vielfältig beobachten. Denken wir nur an die Soldaten, die mit Hightech Waffen kämpfen, oder an die Bauern mit ihren chemischen Waffen. Aus symbolischer Sicht sind Krieger und Schwert wie Geist und Weisheit. Und es passiert oft, daß der Ego-Verstand die Vernunft tötet und sich ihr Schwert der Weisheit aneignet. Diese Weisheit wird dann schnell zur Dummheit, denn sie kommt nicht aus der eigenen tiefen Quelle, ist daher mehr tot wie lebendig, wird mißbraucht und kann großen Schaden anrichten.

Ein wenig besser würd er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt's Vernunft und braucht's allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
(Goethe, Faust I)

Nun habe ich dir, Mutter Ute, nicht verheimlicht, daß ich dem Nibelungenhelden in keuscher Liebe zugetan war und ich den Mord nur wegen der Unehre begehrte. Ich wähnte immer, der Tote werde mein Blut zur Sühne fordern, und ging deswegen manche Nacht in die Grabkammer. Er stieg auch oftmals aus dem goldenen Sarg auf, aber nicht als gräßliches Nachtgespenst, sondern wie ehemals im Leben, und sprach: „Gib mir das Schwert Balmung wieder, oder die Burgunden fallen alle durch dieses Schwert.“ Ich denke, der grimmige Hagen sollte die geraubte Waffe zurückerstatten, wenn er mit den Königen und den anderen Recken an den Rhein heimkehrt.“ - „Sie werden nicht in das Haus heimkehren, auf welchem der Fluch ungesühnter Blutschuld ruht.“, sagte Mutter Ute, und summte wieder zum Tanz der Spindel. Die Weise klang recht schauerlich, bald wie Totenrufe um Mitternacht, bald wie Wehklage, obgleich man die Worte nicht verstand.

Hier zeigt sich nun wieder das Wesen von Brünhild als äußerliche Natur, die nie von der innerlichen getrennt ist und daher auch den gleichen reinen Geist liebt. Eine solche Trennung erscheint nur durch den begrifflichen Ego-Verstand und dessen Ehr-Begriffe von Höher und Niedriger. Daraus entstehen dann auch der Tod und die Sühne bzw. Rache oder Vergeltung. Hier kann man nun nachdenken, ob die äußerliche Natur aus Liebe tötet und ob die Vergänglichkeit aller äußerlichen Formen ein Akt reiner Liebe ist, damit der Ego-Verstand eine Chance hat, wieder zur Vernunft eines ganzheitlichen bzw. göttlichen Bewußtseins zu erwachen. In diesem Sinne würde sich die äußerliche Natur in reiner Liebe selbst opfern, wie im Folgenden noch zu lesen ist.

Mutter Ute finden wir als Erbin, Norne oder Schicksalsgöttin wieder, welche die Schicksalsfäden spinnt, mit denen die Natur die äußerlichen Bilder stickt, die der Geist dann lebendig macht und verwirklicht. Dabei geht es natürlich vor allem um Balder, das reine Licht des göttlichen bzw. ganzheitlichen Bewußtseins.

Während die Frauen noch mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, kam Swemmelin mit dem langen Trauerzug und der üblen Botschaft. Die ledigen Rosse der Helden und ihre blutigen Rüstungen ließen das Gesinde und die zusammenströmende Menge üble Nachrichten erwarten. Man fragte nach den Königen Gunther, Gernot und Giselher, nach Hagen, Volker, Dankwart und anderen Recken, aber der Bote gab keine Antwort, denn er wollte zuerst mit den Königinnen reden und wurde zu ihnen gewiesen. Er sprach von der Reise zu den Hünen, von der gastlichen Aufnahme der Burgunden bei König Etzel, dann von dem entbrannten Kampf und dem traurigen Ausgang. Kein Weinen und Klagen, auch keine Frage unterbrach den Spielmann. Als er zu Ende war, sagte Frau Ute: „Es ist ein großes Leid, wenn die Alten zurückbleiben und die Jugend hinunter zu den Toten geht. Aber es mußte so geschehen, denn viel Blut der Helden ist nötig, um den Fluch des Mordes von diesem Haus zu lösen.“ Auch Brünhild weinte nicht, sie ging mit Swemmelin in den Hof des Palastes, wo das Gefolge mit den Lastrossen harrte. Hier ordnete sie die Pflege der Gäste an und ließ sich darauf das gute Schwert Balmung reichen. Während sie die Blutspuren auf der blanken Klinge betrachtete, sprach sie: „Der grimmige Hagen raubte die Waffe aus der Totengruft. Nun will ich sie mit dem Blut des Mörders dem Helden zurückbringen, damit er in seiner Kammer ruhig schlafe.“ Sie begab sich mit dem Schwert in den Hügel und kehrte denselben Tag und die Nacht nicht zurück. Als man sie dann aufsuchte, fand man sie tot neben Siegfrieds Sarg, auf den sie Balmung gelegt hatte.

Frau Ute spann noch manchen Tag und summte dazu ein Lied vom Schlangen-Drachen und seiner Brut, die sich selbst erwürgen.

Die burgundischen Edelleute und alles Volk wehklagten viel, daß ihr ruhmvolles Königshaus verwaist, und die Blüte der Helden gefallen war. Als aber das Land wieder einen König brauchte, vereinigte man sich und erhob Siegfried, das unmündige Söhnchen von Gunther und Brünhild, auf den Thron und bestellte tüchtige Männer, die, so lange der König noch ein Kind war, an seiner Statt des Reiches und des Volkes mit Gerechtigkeit pflegten.

Unsere Klage kann
Nicht mehr helfen und versöhnen. Man lasse nun nur krönen
Das junge Königskind, dem wir treu ergeben sind.

Man gab das größte, beste und herrlichste der Feste,
Und Worms, der weite Raum, faßte die Gäste kaum.
Da konnte man herrlich sehn gekrönt den jungen König stehn,
Von dem die Reichen und Geringen auf's Neue Lehn empfingen.
Man sah da zum Teil neue Freud' und neues Heil.
(Nibelungenklage, Von der Hagen, 1852)

Damit endet die lange Nibelungensage in einem Neubeginn, der große Kreis schließt sich und ein neuer Siegfried wird nun zum heranwachsenden König von Burgund bzw. zur Vernunft im Menschen, was der Ego-Verstand von Hagen und Gunther bisher verhindert hatte. Das Ego ist besiegt, und der Verstand von Siegfried lebt symbolisch als neuer Gunther im geistigen Reich bei Großvater Siegmund, wo er nicht nach der äußerlichen bzw. körperlichen Natur greift, um sie zu besitzen und festzuhalten. So kann die ganze Welt im „Sieg-Frieden“ eines ganzheitlichen bzw. göttlichen Bewußtseins leben. Denn im Prinzip gibt es nur ein einziges Ego, das in Wirklichkeit besiegt werden muß, und das ist immer das eigene. Die Vorstellung von vielen getrennten und unterschiedlichen Egos ist bereits ein Konzept des Ego-Verstandes als trennendes Bewußtsein. Wenn das besiegt wird, ist die ganze Welt wieder heil, hell und freundlich. Damit erreicht die Nibelungensage ihr Happy-End!

Nibelungenlied Stammbaum

Und König Etzel? Auch über ihn hat sich die Nibelungenklage Gedanken gemacht und schreibt:

Denn sein Schmerz war so mannichfach, daß er selten sprach.
Er war weder hier noch dort, für seinen Schmerz fand er kein Wort;
Er war nicht tot, doch lebt' er kaum und schwebte wie im Traum.
Wie große Macht er auch besaß, man ließ ihn und vergaß
Den Stillen, Freudenlosen, obwohl Mächtigen und Großen.
Mit aller seiner Macht ließ man ihn außer acht.
Wir haben nie vernommen, wie's mit ihm gekommen,
Da jeder ihn vermied, seit Dietrich von ihm schied,
Daß niemand sagen kann, was er seitdem getan.

Nun, aus geistiger Sicht hatte er seinem Namen als „Weideland“ treu gedient und den fruchtbaren Boden bereitet, auf dem sich alle Wesen treffen und üben konnten, um den großen Kampf zu kämpfen und den „Sieg-Frieden“ zu erreichen. In diesem Sinne hatte er seine Aufgabe erfüllt und wartet nun wie König Siegmund als Vater von Siegfried, König Barbarossa als Vater von Friedrich oder der Göttervater Odin als Vater von Balder mit kampfbereiten Waffen in sich selbst ruhend auf den nächsten großen Kampf, um die Dunkelheit zu besiegen und das Licht zu befreien.

Ja, das ist sicherlich für unseren gewöhnlichen Verstand nicht das Ideal für unser Alter. Aber hier muß man vorsichtig sein. Nicht jeder alte Mensch muß noch so wild wie ein stürmischer Jüngling durch die äußerliche Welt springen. Es gibt auch eine innerliche Welt, die viel reicher sein kann. Und dazu werden hier in dieser Geschichte auch viele Figuren dargestellt, die nur der Verstand voneinander trennt und äußerlich idealisiert, um das große Spiel im Ganzen zu verstehen. Vielleicht träumt dieser alte Mann gerade unsere ganze große Welt, in der wir alle irgendeine Rolle spielen… Wer weiß?

So bestehen vielleicht auch die Totenhügel und Gräber nur aus Bewußtsein, darin die Seelenfäden wie unsere Haare wachsen. Nur der kleine Verstand spricht von einem Ende.

Und was wird aus Dietrich von Bern mit Meister Hildebrand? Das erfahren wir in der langen Hugdietrich- und Dietrichsage, die nun folgt…


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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: (Pfingsten)