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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Sobald Sabene zurückgekehrt war, begann er wieder sein falsches Spiel. Er verbreitete unter dem Volk sein Märchen von Wolfdietrichs Abstammung. Er fügte noch hinzu, die Königin habe mit einem Teufel in heimlicher Verbindung gelebt, der sie auch fortwährend auf dem Turm besuchte und später die Wölfe gehindert habe, sein und Hildburgs Kind zu zerreißen. Das Volk prüfte die Geschichte nicht, sondern glaubte daran und verlangte, daß der Bastard in Meran bleibe. Auch die königlichen Brüder Wachsmuth und Bogen wußte der listige Mann zu gewinnen, daß sie das Gerücht glaubten und ihm die gewünschte Vollmacht erteilten. Er verfuhr nun rücksichtslos nach der Tücke seines Herzens: Er hieß die Königin den Palast verlassen und zu ihrem Bastard nach Meran ziehen. Nur eine Dienstfrau, ein Pferd und ihre Gewänder erlaubte er ihr mitzunehmen. Die reichen Schätze, die sie vom Vater ererbt, die Morgengabe ihres Gemahls, Krone und Kleinodien mußte sie zurücklassen. Die königlichen Brüder taten dem Verfahren keinen Einhalt, denn Sabene stellte ihnen vor, wie ihnen nun das ganze väterliche Reich zufalle, und wie sie der Schätze bedürftig seien, um die Herrschaft gegen feindliche Angriffe von Meran her zu verteidigen. Fast wie eine Bettlerin durchzog die edle Frau wüstes Land und rauhe Gebirge, bis sie nach Lilienporte kam, dem Burgsitz von Herzog Berchtung.
So zeigt sich nun immer deutlicher das trennende Ego-Bewußtsein, und wie es Wolfdietrich mit seiner Mutter und Seele als Prinzip der Verursachung in die körperliche Welt verbannt, damit es selbst mit den beiden Söhnen von Hugdietrich, die im geistigen Reich geboren wurden, als Tyrann in der geistigen Welt herrschen kann, die nun glaubt, sich gegen die körperliche verteidigen zu müssen. Diese feindliche Trennung von Natur und Geist ist typisch für das Ego-Bewußtsein.
Der Name Meran läßt sich von Mairania ableiten und erinnert an den Frühlingsmonat Mai, in dem in der Natur alles wieder wächst und sprießt. So liegt dann auch dieser Ort für das körperliche Wachstum am sonnigen Südhang der Alpen, also im Reich der Alben, Elben oder Naturgeister. Ähnlich hat dann auch der Burg-Name Lilienporte eine Bedeutung. Die Lilie wird gern als Lotusblume des Westens bezeichnet, als Symbol für die körperliche Schöpfung, die aus dem Meer der Ursachen wächst. So gleicht die Lilie im Prinzip der Linde als Lebensbaum, aber bezieht sich mehr auf den Menschen, der aus der Körperlichkeit in das geistige Reich erblühen soll.
Der geplagte Mensch im Reich der Dornen und Gedanken, mit der Lilie des ewigen Lebens, die aus seinem Herzen wächst.
Petrarca-Meister um 1520, Kap. 1.121
Der Port von Lilienporte wäre dann der Hafen auf dem Meer der Ursachen, wo die Wirkungen anlegen und ihre Fracht abladen. So entsteht die Körperburg von „Herzog“ Berchtung als begrifflicher Verstand, in der nun auch die Seele als verursachendes Prinzip wieder Zuflucht und Hilfe vor dem Ego-Tyrannen sucht:
Der alte Meister wollte ihr Anfangs keine Freistätte in seinem Haus gönnen, weil sie gegen seinen Rat den falschen Sabene wieder aufgenommen hatte. Doch überwog das Mitleid mit der unglücklichen Frau. Er führte sie in das Haus und umgab sie mit königlichen Ehren. Bald erschien sie auch im Kreis der Hausgenossen. Da standen um die fürstliche Hausfrau siebzehn kräftige junge Männer und nannten sie alle Mutter. Die Königin erkannte nicht sogleich ihren Sohn, obwohl er der größte und stattlichste unter allen war. Endlich aber sprach ihr Mutterherz, und sie eilte auf den Jüngling zu, ihn zu umarmen. Wolfdietrich wich zurück, denn auch er erkannte die Mutter nicht. Sorgen und Kummer hatten ihr Haar gebleicht, das blühende Rot von ihren Wangen gestreift, ihre Augen waren eingesunken und ihre schöne Gestalt war gebeugt, wie es sonst nur in höherem Alter geschieht. „Jungherr“, sagte der alte Meister, „es ist deine Mutter, die einst bei deiner Geburt vielen Kummer hatte und die jetzt von dir Hilfe fordert gegen den bösen Sabene und deine schlimmen Brüder.“ - „Mutter!“, rief Wolfdietrich, in ihre Arme eilend: „Du sollst Hilfe erhalten. Ich will das mir geraubte Reich wiedergewinnen und dein würdiges Haupt mit der Krone schmücken, die dir gebührt.“
Hier erkennt auch der Körper-Dietrich seine Mutterseele wieder und ist natürlich zur Hilfe bereit, denn auch darin liegt der „körperliche Schatz der Menschen“. Seine Dienstmänner sind der vernünftige Verstand Berchtung und dessen 16 Söhne, die hier nicht weiter unterschieden werden. Nur einige ihrer Namen sind in den alten Dichtungen überliefert, wie Herbrand, Hache, Berchther, Berchtung, Berchtwin, Schiltwin, Alebrand und Schildbrand. Hier kann man nun darüber nachdenken, welche Söhne der Verstand haben kann, welche Prinzipien in der Körperlichkeit wirken und vom Verstand begrifflich unterschieden werden, wie zum Beispiel die körperlichen Handlungsorgane, die Sinne und ihre Sinnesobjekte, sowie Feuereifer, Rache, Gedankenlicht, Gewinn, Abwehr, Angriff usw. Mit solchen Kräften kämpft der Verstand in der Körperburg um sein Leben, sein Glück und seine Freude.
Als der Freudenrausch vorüber war, saßen nach dem festlichen Mahl die Recken beim kreisenden Becher in der Halle versammelt und berieten, was zu tun sei. Der vielerfahrene Herzog riet zum Frieden, weil die Macht der Könige im Kaiserreich allzusehr überlegen sei. Im Land von Meran, meinte er, habe man Überfluß an allem, was zu einem frohen und ruhigen Leben gehöre. Und was er sein eigen nenne, darüber habe auch sein lieber Zögling und Herr zu verfügen. Darauf antwortete Wolfdietrich kühn nach der Dichtung:
„Wer gern liebt sein Gemach,
Der sucht selten fremdes Obdach.
Wer aber im Alter mit Gemach will leben,
Der muß in der Jugend nach dem Hausrat streben.
Du sollst mich dessen nicht irren, dieweil die Faust ich rege,
Ich versuche in meiner Jugend, was ich erwerben möge.
Es müssen auch meine Brüder meine Feinde sein,
Sie lassen mir denn mein Erbe und auch der Mutter mein.“
Und Berchtung antwortete:
„Ich habe nun schon lange geruht, wohl vierzig Jahr;
Jetzt soll ich mit dir haben im Alter Ungemach.
Gott wolle sich erbarmen, daß ich je mit Sabene sprach!
Gegen den will ich dir helfen und die Brüder dein,
Wenn sie das Recht dir weigern, und auch der Herrin mein.“
Der junge, hoffnungsreiche und kriegsfreudige Held ließ sich demnach nicht abraten, und als der Meister ihn daran erinnerte, daß er das Schwert erst mit vierundzwanzig Jahren empfangen könne, meinte er, er nehme es selbst, da er für sein und seiner Mutter gutes Recht fechten müsse. „Nun denn“, sagte der alte Meister, „so will ich dir dazu meine sechzehn Söhne beisteuern, jeden mit tausend auserwählten Recken in blanker Wehr, und mich selbst mit einer gleichen Zahl.“ Im Verlauf der weiteren Beratung wurde beschlossen, die Mannschaft solle sofort einberufen werden, mittlerweile aber solle der Herzog mit Wolfdietrich nach Konstantinopel gehen, um vorerst gütliche Verhandlung zu suchen und, wenn vergeblich, zum Kampf auf offenem Feld zu fordern.
Folgenden Tages in der Früh saßen beide Fürsten auf ihren Hengsten und ritten mit zahlreichem Gefolge nach der Kaiserstadt. Sie gelangten wohlbehalten an und traten alsbald zur Verhandlung mit Sabene und den Königen zusammen. Berchtung wurde ehrenvoll begrüßt, doch der junge Held, sein Begleiter, kaum beachtet. Als dieser sich erbot, sein rechtliches Erbe mit den Brüdern zu teilen, erwiderte Bogen, dem Bastard gehöre nicht eine Scholle von dem Vatererbe, und Sabene setzte hinzu, er solle sich vom Teufel, seinem Erzeuger, ein Reich in der Hölle geben lassen. Wolfdietrich griff nach dem Schwert, doch der alte Meister wehrte ihm und redete zum Frieden. Die Könige und ihr übler Ratgeber suchten ihn für sich zu gewinnen und boten ihm ansehnliche Güter, wenn er die verlorene Sache seines Schützlings aufgäbe. Als er darauf antwortete, die Treue, die er seinem rechtmäßigen Lehnsherrn schulde, sei nicht für Königreiche feil, schalt ihn der heftige Wachsmuth einen alten Ziegenbart, den er bei seinen grauen Haaren aus der Stadt zerren werde, wenn er nicht stracks zum Teufel fahre, der ihn wohl zum Vormund seines Sprößlings bestellt habe. Mühsam den Zorn bezähmend entfernte sich der Herzog mit dem Jungherrn. Sie sprangen auf ihre Rosse und ritten eilends nach Lilienporte, wo sie die aufgebotenen Recken und Knechte schon versammelt fanden.
Berchtung, der vernünftige Verstand, möchte natürlich Ruhe und Frieden in seiner Körperburg haben, doch der Körper-Dietrich fordert sein Erbrecht für das geistige Reich. Die Friedensverhandlung war erfolglos, und so kommt es zu einem wunderlichen Kampf: Vernünftiger Verstand gegen egoische Weisheit, Körperlichkeit gegen Geistlichkeit, Abendland gegen Morgenland und im Prinzip Natur gegen Geist und damit auch Vielfalt gegen Einheit.
Das Heer setzte sich schon nach wenigen Tagen in Bewegung. Es war wohlgerüstet zu Roß und zu Fuß und guten Mutes. Neben dem greisen Berchtung sah man den jungen, blühenden Helden Wolfdietrich frisch, freudig und siegesgewiß sein Schlachtroß tummeln. Der unverzagte Held ritt auch voraus, als man das feindliche Land erreichte und erspähte die weit überlegene Macht der Könige, die den Kriegern von Meran entgegenrückte. In einem weiten, von Wald umschlossenen Tal wurde haltgemacht. Es war Abend, und die Streiter erquickten sich mit Speise und Trank und pflegten dann der nächtlichen Ruhe.
Der Morgenstern ging auf, und bald entstieg auch die Sonne blutrot dem Nebelmeer, das über Berge und Täler gelagert war. Die Krieger erhoben, stärkten und wappneten sich auf beiden Seiten, und auf beiden Seiten ordneten sich die Scharen um ihre Führer. „Hei, wie die Fahnen und Banner im Wind flattern! Wie die Helme im Morgenschein glänzen, wie die Hörner zum Kampf einladen, zum Siegen oder Sterben!“ So rief Wolfdietrich dem alten Meister zu, der besorgt auf die überlegene feindliche Macht blickte. Der junge Held ging im Vertrauen auf seine Kraft in den Streit wie sonst zum fröhlichen Tanz. Dazu ertönte der Schlachtgesang, von vielen tausend Kriegern gesungen, wie rollender Donner, der mächtig in den Bergen widerhallte, und dann trafen die Heere aufeinander. Wurfspeere flogen hageldicht durch die Luft und hafteten in Schilden, Rüstungen und den Leibern der Männer. Lanzen brachen, Schleudersteine schmetterten auf die Rüstungen, bald blitzten Schwerter und Streitäxte in fürchterlichem Nahgefecht. Im Getümmel des Kampfes war Wolfdietrich allen voran zu sehen. Jetzt erblickte er auf einem Hügel hinter den feindlichen Heeresmassen Sabene und die beiden Brüder. „Siehst du dort?“, rief er dem alten Berchtung zu: „Ich will versuchen, ob sie dem Teufelssohn standhalten.“ Mit diesen Worten spornte er sein edles Roß und stürmte mitten in die feindlichen Heerhaufen. Berchtung, der ihn vergebens zurückzuhalten versuchte, schloß sich ihm mit seinen Söhnen und einigem Gefolge an. Wolfdietrich kämpfte wie der Todesengel, Schrecken und Niederlage verbreitend. Die feindlichen Heerhaufen wichen entsetzt, ganze Scharen wandten sich zur Flucht, Blut und verstümmelte Leichen bezeichneten seinen Weg. Schon näherte er sich dem Hügel, auf welchem seine drei Todfeinde hielten. Schon sah er, wie auch sie eilends den Rückzug suchten. Da griff der alte Meister in die Zügel seines Hengstes und hemmte den Lauf. „Siehst du nicht?“, rief der Alte: „Wir sind umringt! Der schlaue Sabene hat einen Hinterhalt gelegt, und der ist aus den Waldhöhen hervorgebrochen. Nun ist alles verloren.“ - „Wohlan, Meister!“, erwiderte der junge Recke: „So wollen wir mit Ehren sterben.“ Er wandte sich mit seinen tapferen Begleitern rückwärts, sammelte um sich her alle, welche noch zerstreut den übermächtigen Griechen Widerstand leisteten, und führte sie in fester Ordnung ins Gefecht. Es war mörderisch, fast alle Begleiter des Helden wurden erschlagen, nur der Herzog, seine Söhne und einige andere Recken schlugen sich durch die feindliche Umzingelung. Sie wurden aber verfolgt, im fortgesetzten Kampf getrennt und von ganzen Haufen einzeln angegriffen. Sechs von den sechzehn Söhnen Berchtungs fielen unter den Schwertern und Geschossen der Griechen. Ein geschleuderter Stein traf Wolfdietrich auf den Helm, daß er bewußtlos zu Boden stürzte. Indessen gelang es dem alten Meister, sich zu ihm durchzuschlagen und ihn mit Hilfe seiner noch übrigen Söhne der Gefahr zu entreißen. Die trefflichen Pferde trugen das Häuflein glücklich von der Walstatt und aus dem Bereich der Verfolger. Sie jagten fort, die Nacht hindurch, rasteten einige Stunden am Morgen, und erreichten nach mehreren Tagen die starke Burg Lilienporte, wo sich auch noch eine ziemliche Anzahl flüchtiger Krieger sammelte. „Hier wollen wir die tückischen Hunde erwarten.“, sagte der Alte: „Sie sollen sich die Zähne an unseren Steinmauern ausbeißen und mit Hohn wieder abziehen, denn wir haben Wein und Speisevorrat auf vier Jahre.“
So ziehen nun Wolf und Wölflinge in den Kampf, der Körper und der Verstand mit seinen Söhnen und ihrer Armee aus tausenden Gedanken, um das geistige Reich zu erobern, das dem Wolf-Dietrich als Erbe versprochen wurde. Ein Verstandes-Krieg gegen „Konstantinopel“, gegen ein „konstantes“, beständiges und unvergängliches Reich, wo aber der Wolf-Körper seinen Feind erkennt, der ihn aus diesem Reich vertrieben und von seinen geistigen Brüdern getrennt hatte, die nun drei „Todfeinde“ für ihn wurden. Doch auch sein Weg des Kampfes ist ein Weg des Tötens, und gegen die geistige Übermacht hat der Körper mit der Verstandes-Armee keine Chance. So richtet sich der Tod, den er mitbringt, gegen ihn selbst, und auch sechs Söhne des vernünftigen Berchtung-Verstandes werden getötet. Wer diese speziell sind, bleibt unserer Phantasie überlassen. Hier könnten wir an das Gedankenlicht und unsere fünf Sinne denken, die nach einem solchen Kampf mehr in eine tote als lebendige Welt und Natur schauen. So müssen sich Körperlichkeit und Verstand schließlich wieder in ihre materielle Burg zurückziehen, wo sich der Verstand einigermaßen sicher fühlt, weil er dort zu Hause ist.
Natürlich muß das Ego schließlich im geistigen Reich besiegt werden. Doch woher war Sabene gekommen? Diese Wurzel muß wohl zuerst erkannt und besiegt werden. Ansonsten ist auch dieser Kampf nur ein Kampf gegen Wirkungen, die immer wieder aus der Ursache wachsen. Und solange belagert nun das Ego aus der geistigen Welt die Körperburg in der körperlichen Welt:
Nach kurzer Zeit erschien das feindliche Heer vor der starken Festung. Sabene ließ die Auslieferung des Königssohnes fordern und drohte, wenn man sie verweigere, die Burg mit allem, was darin sei, zu verbrennen. Statt der Antwort tat Wolfdietrich mit einem Teil der Besatzung einen wütenden Ausfall. Er hegte noch immer die frohe Hoffnung auf endlichen Sieg. Wie tapfer er aber kämpfte, wie großen Schaden er unter den Feinden anrichtete, so überwog doch die Menge, er mußte zurückweichen und konnte kaum die nachdrängenden Belagerer vor dem Tor zurückschlagen. Seit diesem letzten Fehlschlag verlor er die bisherige jugendliche Freudigkeit. Er wurde düster und schweigsam, denn seine Zuversicht auf den Sieg der gerechten Sache war gewichen. Er hatte den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit verloren. Er war, so meinte er, einer finsteren Macht verfallen, die man Schicksal nennt.
So endet dieser Versuch des Kampfes mit einer düsteren Depression, wie wohl mancher Mensch auch heute noch im Leben erfahren kann. Doch Wolfdietrich gibt glücklicherweise nicht auf:
Bereits drei Jahre hatte die Belagerung gedauert, und noch war keine Aussicht auf irgendeine Hilfe von außen. Der Mundvorrat nahm ab, wenn sich aber der Hunger dem Feind als Bundesgenosse zugesellte, so war der Untergang der Burg und der Besatzung unabwendbar. Der alte Meister sann vergeblich auf einen Ausweg. Da trat Wolfdietrich zu ihm und sagte, er wolle in dunkler Nacht das Belagerungsheer durchbrechen, wenn es ihm gelinge, ins Lombarden-Land reiten und Ortnit, den mächtigen Kaiser des Abendlandes, zum Beistand auffordern. Der Alte widersprach und meinte, sie wollten gemeinsam ausharren, man habe noch Vorrat auf ein Jahr, und der Feind sei bereits durch Krankheiten sehr geschwächt und werde sich nicht mehr lange behaupten können. Der junge Held beharrte indessen auf seinem Vorhaben, zu dessen Ausführung er schon die nächste Nacht bestimmt hatte. Um Mitternacht nahm er dann Abschied von seinem Meister und den anderen Recken. „Gott möge dich beschützen, lieber Lehnsherr!“, sagte Berchtung, indem er ihn in die Arme schloß: „Du kommst durch die Wüste Numenei, wo keine Menschen, sondern nur reißende Tiere und spukhafte Wesen hausen. Da geht die Rauh-Else um, die vornehmlich auf junge Recken lauert. Hüte dich vor ihr, denn es ist eine zauberkundige Hagedise. Kommst du aber glücklich zu Kaiser Ortnit, dann vergiß deine elf Dienstmänner nicht, nämlich meine noch übrigen zehn Söhne und mich selbst.“ Der unverzagte Held verhieß, ihrer eingedenk, Hilfe zu schaffen. Er umarmte und küßte jeden der treuen Männer und schied von ihnen.
Nach Verabredung tat die Besatzung einen Ausfall durch das Haupttor, während Wolfdietrich, sein Pferd am Zügel führend, durch ein Hinterpförtchen schlüpfte. Er hatte schon die Mitte des Heerlagers überschritten, als er erkannt wurde. Nun schwang er sich auf seinen Hengst, zog das Schwert und hieb nieder, was ihm den Weg versperrte. Er erreichte glücklich den dunklen Wald, wo die Verfolger von ihm abließen. „Nun ist uns der Edelhirsch entronnen!“, rief Sabene, als er die Nachricht erhielt, „aber das niedere Wild, das wir noch im Garn haben, und besonders der alte Fuchs mit seinen Füchslein soll dafür büßen, und auch die Füchsin, die damals den guten Kaiser mit Zauberei bestrickt hatte.“ Der falsche Mann meinte damit Hildgund, die er so schmählich ihres Reichtums beraubt hatte. Doch die unglückliche Herrin erkrankte von der Stunde an, da ihr kühner Sohn von ihr Abschied genommen hatte, denn ihm gehörte ihre Liebe, und als er sich von ihr losriß, da brach auch ihr Mutterherz, und sie sollte den Liebling nicht wiedersehen.
Hier lesen wir nun, wie Wolfdietrich die Körperburg durch die „Hintertür“ in eine mystische Welt verläßt, also nicht durch das Haupttor in das hohe geistige Reich, sondern in die tiefe Natur der wilden Tiere und den dunklen Zauberwald der Vorstellungen spukhafter Wesen, sozusagen in das körperliche Unterbewußtsein der Burg Lilienporte. Es geht also nicht nach oben zur Blüte der Lilie, sondern hinab zur Wurzel, wohin der vernünftige Verstand nicht folgen will, weil dort Zauber und Hexen herrschen. Doch gerade dort sucht Wolfdietrich die Hilfe eines Kaisers, der über das körperliche Reich des Abendlandes herrscht und von dem wir später noch mehr erfahren werden. Entsprechend erinnert auch der Name Numenei an lateinisch „numen“ für göttlichen Willen, Auftrag und Gebot, wie auch Jesus Christus in die Wüste ging, um dort den Teufel zu besiegen. Wichtig ist wohl, daß der vernünftige Verstand darum bittet, ihn mit seinen Söhnen in der körperlichen Welt nicht zu vergessen, falls er in dieser Wüste der Numenei Hilfe findet. So verläßt der Sohn die Körperburg, und die Mutterseele stirbt an „gebrochenem Herzen“, denn Trennung bedeutet Tod. Doch weil die Seele als Wesen nicht sterben kann, so verwandelt sie nur ihre Form:
Wolfdietrich ritt indessen durch die Wildnis des öden, finsteren Waldes. Er hörte in der Entfernung Geheul, wie von Wehrwölfen, doch kam ihm keiner in den Weg. Als der Morgen anbrach, befand er sich an einem breiten Moorwasser. Wie er dem finsteren Grund entlangritt, stiegen allerlei Wundertiere daraus hervor, welche ihm den Weg zu versperren suchten. Er erlegte zwei der derselben mit Wurfspeeren, und da ließen die anderen von ihm ab. Danach irrte er drei Tage in der schauerlichen Wüstenei herum, wo weder für sein Pferd Weide, noch für ihn selbst Speise zu finden war. Er teilte mit dem treuen Tier die mitgenommenen Brotvorräte, doch waren diese endlich erschöpft, und er mußte das entkräftete Roß am Zügel führen. Am vierten Abend zwang ihn die Ermüdung, Rast zu halten. Er zündete ein Feuer an, wozu Reisig in Menge vorhanden war. Die Wärme tat ihm wohl, denn ein kalter Nebel war über die ganze Gegend gelagert. Auch eine frisch sprudelnde Quelle gewährte ihm und dem Hengst einige Labung. Auf den Sattel gelagert, dachte er über sein trauriges Schicksal nach. Schon wollte ihn der Schlaf beschleichen, da störte ihn ein Rauschen im dürren Laub. Es kroch heran, schwarz und grauenhaft dem Anblick, richtete sich riesenhaft und entsetzlich auf, redete ihn an, aber nicht mit einer menschlichen Stimme. Wie der Bär im Grimm ein dumpfes Brummen hören läßt, so waren die Laute, die der erschrockene Held vernahm. „Wie wagst du hier zu rasten?“, sprach das Ungetüm: „Ich bin Rauh-Else. Mir ist dieser Boden eigen, wie ich auch noch ein anderes weites Königreich habe. Darum hebe dich weg, oder ich lasse dich in den Moorsumpf versenken.“
Hier finden wir nun eine wunderliche und spukhafte Welt. Trotz der vielen wilden Tiere und Bäume gibt es nichts Greifbares, von dem sich die Körperlichkeit ernähren könnte. Die Symbolik erinnert uns sehr an die Kindheitsgeschichte von Siegfried in der Nibelungensage. Auch dort gab es ein Moorwasser, das uns an das Karma angesammelter Taten erinnert, in dem schreckliche Wesen herumgeistern, die wir nicht gern sehen wollen, und auch dort entfachte Siegfried ein Feuer, aber nicht, um sich zu wärmen, sondern um diese Karma-Wesen zu verbrennen und das Moor auszutrocknen. Und wie dort der Lind-Drachen zum Kampf erschien, so kroch hier an der Wurzel der Lilie ein „Lilien-Bär“ heran:
Vor Rauh-Elsen hatte Berchtung seinen Zögling gewarnt. Er wäre daher gern dem Befehl nachgekommen, aber er fühlte sich völlig erschöpft. So bat er die bärenhafte Königin nur um einige Nahrung, da er von seinen unbarmherzigen Brüdern aus seinem Erbe vertrieben und bis in die Wüstenei schonungslos verfolgt sei. „So bist du dann Wolfdietrich!“, brummte das Bärenweib: „Das Schicksal hat dich mir zum Ehegemahl bestimmt, und ich will dir in deiner Schwäche Beistand leisten.“ Sie gab ihm hierauf eine saftige Wurzel, und kaum hatte er einen Bissen davon genommen, so fühlte er, wie der alte Mut wiederkehrte, und die Heldenkraft seine Glieder durchströmte. Es war ihm, als könne er allein das feindliche Heer durchbrechen, im Siegesflug niederwerfen und seine elf Dienstmänner befreien. Auf Geheiß der Rauh-Else reichte er auch dem Hengst die Wurzel. Er schnupperte daran herum, biß ab, und sogleich begann er zu wiehern, zu scharren und zu stampfen, wie sonst, wenn sein Herr ihn bestieg, um in die Schlacht zu sprengen. - „Sprich, willst du mich minnen und lieben?“, fragte das Bärenweib und näherte sich ihm, um ihn mit ihren Tatzen zu umschlingen. „Zurück!“, rief er, nach dem Schwert greifend: „Teufelsmutter, suche deinen Ehegenossen in der Hölle, aus der du hervorgestiegen bist!“ - „Habe ich dich nicht gelabt und gekräftigt?“, sagte Rauh-Else: „Ist das des Teufels Werk? Ich habe lange auf dich gewartet, um durch deine Liebe vom bösen Zauber zu genesen. Versage nicht dein Ja, das mir Erlösung bringt!“ - Es schien dem Recken, als ob die Stimme weich und menschlich geworden wäre. „Ja, ja“, sagte er, „wenn nur die rauhe Haut nicht wäre!“ Er hatte das Ja-Wort kaum gesprochen, da sank das schwarze, haarige Fließ langsam herab, und ein Menschenhaupt, ein schneeweißer Hals und ein blendender Nacken enthüllte sich, und aus der Bärenhülle stieg eine wunderschöne Jungfrau hervor. Die Stirn der Holdseligen umgab ein schimmerndes Diadem, ihre Glieder umfloß ein meergrünes Seidengewand, ein Gürtel von Goldfäden und Edelsteinen umschlang ihre schlanke Hüfte. Sie wiederholte mit wohltönender Stimme: „Sprich, junger Held, willst du mich lieben?“ Statt der Antwort schloß er sie in die Arme und feierte mit einem Kuß die Verlobung. „Wisse denn, teurer Freund“, sagte sie, „Rauh-Else war ich hier in der Wüste, solange der Zauberbann währte. Siegminne, Königin in Alt-Troja, war ich einst und bin ich nun wieder, da dein Ja den Zauber gelöst hat. Nun aber fort nach Alt-Troja, denn dort ist mein Königreich, und dort bist du König.“
Die Rauh-Else ist ähnlich wie im Märchen „Allerleirauh“ eine Else im Tierpelz. Der Name Else erinnert an Elisabeth als „die von Gott geehrte oder geweihte“ Seele, die in pelzigen Tierkörpern eingeschlossen, gebannt und verzaubert wurde. Kann man diese Seele der Natur in jeder Form und Gestalt lieben? Ja, wenn man nicht die äußerliche Form begehrt, sondern das innerliche Wesen als Lebenskraft und Geistnahrung des reinen Bewußtseins liebt. Dagegen steht das Prinzip der Hagedise, Hexe oder auch des Teufels als trennendes Ego-Bewußtsein, das mit der Zauberkraft der Illusion die Seele der Natur in irgendwelche guten und bösen Wesen zerteilt und zu keiner ganzheitlichen Sicht fähig ist. Diese ganzheitliche Sicht der Vernunft ist dann nichts anderes als das „Ja“ zu allem, die All-Liebe, die hier an der Lilienwurzel gefordert wird, um die Seele von diesem Zauberbann zu erlösen und zur Siegminne zu werden, zum „Sieg der Liebe“. Das ist dann auch der einzig wahre Weg, um den Ego-Drachen an der Wurzelursache besiegen zu können. Damit findet hier der Körper-Dietrich, als er seine eigene Kraft fast völlig verloren hatte, die Wurzel der Lebenskraft wieder, die reine Quelle des Lebens und auch das Feuer und Licht des Bewußtseins, das den Nebel der Illusion auflöst.
Das „alte Troja“ erinnert uns an ein längst vergangenes glückseliges Reich am Mittelmeer, das aber unterging, als der schöne Paris seine Begierde nach der schönen Helena nicht zügeln konnte, die verheiratete Frau raubte, den Zorn der Griechen auf sich zog, und nach langer Belagerung die Burg Troja durch die List des „Trojanischen Pferdes“ erobert und das Reich vernichtet wurde. Hier könnte man auch in Helena das Symbol der reinen Seele als natürliche Schönheit und Harmonie sehen, die jeder wieder verlieren muß, der sie egoistisch besitzen will. Dieses Thema wurde auch von Goethe im „Faust II“ wunderbar dargestellt, als Faust in die Phantasiewelt der Antike tauchte, um dort Helena zu finden und mit ihr einige Zeit in Arkadien wie im Garten Eden in einem Reich des Glücks und der Harmonie zu leben. Ähnlich geht es nun auch Wolfdietrich:
Die beiden glücklichen Menschen schritten, gefolgt vom Pferd des Helden, durch die Wildnis. Der eisige Nebel war vergangen und ein geebneter Weg lag vor ihnen. Der freundliche Mond leuchtete durch die verschlungenen Zweige und erhellte ihren Pfad. Sie hörten das Brausen der Meeresbrandung und standen bald an einer weiten Bucht, wo ein wundersames Schiff vor Anker lag. Vorn war statt des Schnabels ein spitzer, riesiger Fischkopf, hinten als Steuerrad ein Meermann, dessen ausgestreckte Hand die Ruderpinne bildete, während der lange Fischschwanz zum Lenken diente. Statt der Segel führte das Fahrzeug Greifenflügel, die auch gegen Wind und Wellen die Fahrt beförderten. Auch der Meermann war so kunstreich aus Fichtenholz vom Libanon gefertigt, daß er ohne Zutun der Reisenden dahin steuerte, wohin ihr Herz gelüstete. Auf dem Schiff waren noch andere Kostbarkeiten: eine Tarnkappe, ein goldener Ring mit einem Siegstein, ein Hemd von Palmatseide und ähnliche Dinge. Das Hemd schien nur für ein kleines Kind gemacht, aber als es Siegminne dem Freund umhing, wuchs es zusehends und paßte ihm vollkommen. „Bewahre es sorgfältig“, sagte sie, „trage es in jeder Gefahr, denn es schützt gegen Stahl und Stein, gegen Feuer und Drachenzahn.“
Ja, die All-Liebe macht alles freundlich, schön und vollkommen. Daß die beiden Glücklichen nun zu Fuß gehen, gefolgt vom Pferd als Symbol der Körperlichkeit, erinnert uns daran, daß es jetzt wieder mehr in eine geistige Welt geht. Ja, auch an der Wurzel der Lilie gibt es wie an der Wurzel des Lebensbaumes ein geistiges Reich, wo die Meerfrauen und Nornen bzw. Schicksalsgöttinnen leben, eine innerliche Welt, wo alles gegenwärtig ist, was im Fluß von Raum und Zeit bereits vergangen scheint. So gelangten sie an das mystische Meer der Ursachen, und das wundersame Schiff in Form eines geflügelten Fisches erinnert uns an das körperliche Bewußtsein, mit dem sich auf diesem Meer alles bewegt. Das schwimmende Fischwesen wäre dann die Meerfrau als natürliche Seele, der Meermann wäre der geistige Wille, der das Schiff lenkt, die Greifenflügel wären die Wünsche und Begierden, und der Wind wäre der Geist selbst, der im Wellenspiel der Gegensätze alles belebt. In diesem Schiff des Bewußtseins findet man dann auch die Tarnkappe, mit der das formlose Bewußtsein jede Form annehmen und wieder ablegen kann, den goldenen Ring der Einheit mit dem Sieg-Stein der Weisen und dazu das formbare Seidenhemd, das den Träger unverletzlich macht, wie auch Siegfried seine Unverletzlichkeit in der Essenz des Bewußtseins gefunden hatte. Denn wer könnte das Bewußtsein selbst verletzen oder sogar töten? Andere Text-Versionen berichten vom Hemd eines Heiligen, was bezüglich des heiligen Konstantin in Erinnerung an Konstantinopel auch eine treffliche Symbolik wäre, denn das Heilige, Ganzheitliche bzw. Göttliche ist natürlich die Essenz von allem und damit unverletzlich und unsterblich. Weiter könnte man noch über das Wesen von Seide nachdenken, über ihre Eigenschaften, wie sie entsteht, verarbeitet und versponnen wird. Das Wort Seide kann uns symbolisch an „Sei da“ erinnern, das ewige und unvergängliche Dasein, das jede Form und Gestaltung annehmen kann. Und Palmat an die hohe Palme und Materie, also an das, was „über die Materie hinauswächst“. Ja, solche wundervollen Schätze kann Wolfdietrich als „körperlicher Reichtum der Menschen“ mit Siegminne als „Sieg der Liebe“ finden. Doch davon empfängt er hier zunächst nur das Seidenhemd, das ihn unverletzlich macht.
Die Reisenden fuhren mit Hilfe der Greifenflügel windschnell durch das Westmeer, das Inselmeer und landeten nach kurzer Zeit in Alt-Troja. Da empfingen die Hofleute, Bürger und Bauern ihre geliebte Königin, die ein böser Zauber ihnen geraubt hatte. Nicht minder freudig begrüßten sie den stattlichen Recken, den sie zu ihrem Gemahl erwählt hatte. Die Hochzeit wurde mit großen Festlichkeiten gefeiert, und Wolfdietrich schwamm in einem Meer von Wonne. Eine Lustbarkeit folgte der andern. An der Seite seiner schönen Gattin schwand ihm die Erinnerung an die unglücklichen Kämpfe, an die Leiden der Belagerung und selbst an seine elf Dienstmänner. Nur zuweilen, wenn er allein war, kam ihm wie im Traum das Gedächtnis zurück, und er machte sich Vorwürfe, daß er im Wonnerausch heilige Pflichten versäume. Aber wenn dann Siegminne wieder seine Hand faßte und ihn zur Tafel oder zu Spiel und Tanz führte, wenn er ihr in das strahlende Angesicht blickte, da entschwand ihm wieder die Erinnerung an seine Pflicht und den Ernst des Lebens, der zu Taten mahnte.
Einstmals rief das Horn zum fröhlichen Jagen. Jäger und Jägerinnen bestiegen die schnellen Rosse, die Jagdhunde bellten und trieben das scheue Wild auf, Hirsche, Rehe und Wildschweine wurden erlegt. Des Königs Speer verfehlte selten sein Ziel, und auch die Königin schwang mit Geschick den leichten Wurfspieß. Zur Mittagszeit war Rast unter aufgeschlagenen Zelten in einem Palmenhain. Man speiste, man leerte die Becher feurigen Weines, man plauderte, scherzte und lauschte den Weisen der Sänger und ihrem Saitenspiel. Während der heiteren Lust trabte aus dem nahen Dickicht ein wundersamer Hirsch mit goldglänzendem Geweih hervor. Er schien gar nicht scheu, besah sich die Gesellschaft und wandte sich dann wieder nach dem Wald. „Wohlauf, ihr Jagdleute!“, rief Siegminne: „Wer das Wild erlegt und mir das goldene Geweih bringt, der soll hoch in Ehren sein und einen Ring von meinem Finger zur Belohnung erhalten.“ Sogleich sprangen viele Jäger auf ihre Rosse, allen voraus aber jagte Wolfdietrich, fast den losgebundenen Hunden gleich. Immer weiter ging die wilde Jagd. Oft hatte der Held den Hirsch nah vor Augen, aber dann entschwand er ihm wieder, und endlich verloren die Jagdhunde jede Fährte. Wolfdietrich kehrte mißmutig nach den Zelten um, aber da fand er Jammer und Not, denn der furchtbare und zauberkräftige Riese Drusian war in Abwesenheit des Königs und der streitbaren Jäger mit vielen bewaffneten Zwergen gekommen und hatte die Königin geraubt. Niemand wußte, wohin er sie entführt hatte.
Nun, auch in diesem Reich der Wonne ist offenbar die Jagd noch nicht zu Ende. Das goldene Geweih erinnert uns wieder an die Lilie mit ihren vielen Blüten, die aus dem tierhaften Körper in die geistige Welt wächst, und das Gold an die Wahrheit, die darin zu finden ist. Und wer der Seele dieses Gold bringt, der bekommt von ihr den Ring der Einheit eines kaiserlichen bzw. ganzheitlichen Bewußtseins. Doch Wolfdietrich ist noch nicht erfolgreich in dieser Jagd nach der Wahrheit, und so muß er auch seine Siegminne wieder verlieren, entführt von einer Riesenkraft. Der Name Drusian erinnert uns hier an den Überdruß und die dazugehörige Trägheit in diesem Reich der Wonne, aber auch an das altdeutsche Verb „driesen“ für drängen, treiben und drohen. Und das macht dann auch dieser Riese mit Wolfdietrich.
Eine ähnliche Geschichte läßt sich im altindischen Ramayana finden. Auch hier erscheint ein goldglänzender Hirsch, den Sita, die Ehefrau des heldenhaften Ramas, begehrte. So schickte sie ihn auf die Jagd, um diesen Reichtum der Körperlichkeit zu gewinnen. Doch in der Zwischenzeit wurde Sita vom Dämon Ravana entführt, und Rama muß nun im Wald der Welt durch die Kraft der Liebe auf die weite und lange Suche gehen, um den Dämon zu finden, zu besiegen und seine Ehefrau wiederzugewinnen. (Ramayana, ab Buch 3, Canto 43)
Da stand nun der unglückliche Mann wieder so arm und elend wie damals, als er in der Wüste von Hunger und Kummer fast aufgerieben war. Er hatte keinen anderen Gedanken, als den an Siegminne. Er wollte sie durch die ganze Welt suchen und, wenn er sie nicht finde, sterben. Er vertauschte den königlichen Schmuck mit einem Pilgerkleid und verbarg sein Schwert in einem hohlen Stab, der ihm zur Stütze diente. So durchwanderte er weite Länder und forschte überall nach der Burg des Riesen Drusian. Endlich erfuhr er von einem Zwerglein, daß der Mann, den er suche, weit über dem Meer im Hochgebirge wohne und daß ihm viele Zwerge dienstbar seien. Er befragte sich genau nach dem Weg und pilgerte nun weiter, bis er ans Meer kam. Mitleidige Kauffahrer nahmen ihn mit und setzten ihn jenseits ans Land. Nun wanderte er fort auf dem bezeichneten Weg und wurde endlich im Gebirge der Burg ansichtig. Er setzte sich müde an einem Brunnen nieder und warf sehnsuchtsvolle Blicke nach dem gewaltigen Bau, der, wie er glaubte und hoffte, seine geliebte Frau umschloß. Ein Fenster wurde geöffnet, aber bald wieder geschlossen. War sie es vielleicht? Hatte sie ihn erkannt? Er hoffte und zweifelte. Vor Ermüdung schlief er ein, träumte von ihr, und war im Traum glücklich.
»Was nützt es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er dabei seine Seele verliert? Und was kann der Mensch geben, um seine Seele wiederzugewinnen? (Matth. 16.26)« - So legt nun Wolfdietrich seinen königlichen Stolz ab und geht als armer und demütiger Pilger auf eine lange Pilgerreise. Die Zwerge erinnern uns wieder an die Naturgeister, die überall in der Natur dienen, dem Menschen, aber auch den Riesen als Symbole der Übermacht natürlicher Kräfte. So findet er auch den Riesen im „Hochgebirge der Alben“, wo die Alben bzw. Zwerge der Naturgeister zu Riesen werden. Doch wer hat sie zu Riesen gemacht? Derjenige muß sie dann auch wieder besiegen, um die Seele der Natur zu befreien.
„Heda, Pilgrim! Hast genug geschnarcht! Sollst mit mir in mein Gehöft kommen und Fütterung kriegen. Mein Weib will dich sehen.“ So ließ sich eine rauhe Stimme hören, und zugleich erhielt der Pilger einen Stoß, der wohl einen Siebenschläfer aus der Ruhe aufgestört hätte. Wolfdietrich war sogleich auf den Beinen und folgte dem ungeschlachten Mann, der ihn so unsanft aufgeweckt hatte und der nun mit mächtigen Schritten vor ihm herging. Er wußte nun, daß er am Ziel seiner Wallfahrt war, und trat freudig in die weite Halle. Dort saß Siegminne mit verweinten Augen auf dem Hochsitz und starrte nach ihm hin, und ein leises Zucken verriet ihm, daß sie ihn erkannt habe. Er mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um sich nicht zu verraten.
„He, Frau!“, schnarrte Drusian: „Da ist nun der Kuttenmann, den du gewünscht hast, damit er dich mit seinem Herrgott tröste. Und noch immer das Gewinsel! Freilich, er ist stumm wie eine Eidechse. Da, Hungerwurm!“, wandte er sich an den Pilger: „Setze dich an die Feuerseite und stärke deine ausgezehrten Glieder an unserer leckeren Kost.“ Der Pilger leistete Folge, und wie weh es ihm auch ums Herz war, der Hunger nötigte ihn zuzugreifen. Zwerge trugen die Speisen auf und schenkten den lieblichen Wein ein. Das Gespräch war eben nicht ergötzlich. Der Riese fragte den Gast, woher er komme, wohin er gehe und welches sein Gewerbe sei, und erhielt kurzen Bescheid, der freilich von der Wahrheit weit entfernt war. Gegen Abend faßte der Riese die edle Frau an der Hand und zog sie gewaltsam vom Hochsitz, indem er sagte: „Du siehst, der Teufelssohn, der dich aus dem Bärenfell erlöst hat, holt dich nicht zum zweiten Mal aus meiner Gewalt. Er fürchtet einen zerklopften Schädel. Nun ist die Jahresfrist um, die du selbst begehrt hast. Also fort in die Kammer!“ Er wollte Siegminne mit sich fortführen, aber schon hatte der Pilger die Kutte zurückgeschlagen und das dem Stab entzogene Schwert in der Hand. Mit dem Ausruf „Zurück, Unhold! Das ist meine Frau!“ stürzte er auf den Riesen zu. Dieser tat einen mächtigen Sprung rückwärts, während sich mehrere Zwerge zwischen ihn und seinen Gegner warfen. „Heda, holla, Teufel!“, rief er: „Bist du der tolle Wolfdietrich, so muß ehrliches Spiel gespielt werden. Du sollst Rüstung haben und mit mir um die Frau kämpfen, wenn du den Mut dazu hast.“
Der Zweikampf wurde angenommen, und dienstbare Zwerge brachten dem Helden drei Rüstungen zur Auswahl, eine von Gold, eine andere von Silber glänzend und eine dritte, schwer von Eisen, aber alt und rostig. Er wählte die letztere, aber nicht das gebotene Schwert, sondern sein eigenes. Auch Drusian kleidete sich in feste Stahlringe und nahm seinen schweren Streithammer zur Hand. Der Kampf begann. Wolfdietrich wich geschickt den gewichtigen Hammerschlägen seines Gegners aus, endlich aber traf ein Streich seinen Schild, daß die Trümmer wie Scherben zerstoben. Der Held schien verloren, aber einem Schlag ausweichend, faßte er sein Schwert mit beiden Händen und traf den Riesen zwischen Hals und Achsel so gewaltig, daß die scharfe Klinge bis in die Brusthöhle schnitt. Kaum war der Unhold gefallen, so stürmten seine Zwerge mit Dolchmessern und zweizinkigen Spießen auf den Sieger ein, um ihren Herrn zu rächen. Die spitzen Waffen drangen in die Ringe der Rüstung, aber das palmatseidene Hemd schützte den einsamen Kämpfer gegen Verwundung, während sein Schwert so viele der winzigen Männer zu Boden streckte, daß die übrigen eilends das Feld räumten. Im blutgetränkten Saal, an der Leiche des räuberischen Riesen, reichten sich die wiedervereinten Gatten die Hände und schlossen aufs Neue den Bund der Liebe bis in den Tod. „Nun fort aus diesem Haus des Fluches!“, rief der Held: „Man kann nicht wissen, ob das Zwergenvolk nicht auf neue Tücke sinnt.“ Sie eilten in den Hof, wo alles öde und erstorben war. Sie fanden jedoch in einem Stall zwei gesattelte Pferde, bestiegen sie und ritten durch das offene Tor ins Freie.
So wird die Riesenkraft des Überdrusses und damit auch die verführerische Trägheit im Reich der Wonne besiegt, und die ihr dienenden Naturgeister werden in die Flucht geschlagen. Doch im Grunde hatte er den Riesen bereits besiegt, als er die unansehnliche eiserne Rüstung anstatt der goldenen oder silbernen wählte, denn die Wurzel des Überdrusses und der Trägheit liegt natürlich im persönlichen Stolz und in der Anhaftung an Äußerlichkeiten.
Nach einer beschwerlichen Reise erreichten sie wohlbehalten Alt-Troja. Im ganzen Reich wurde die Heimkehr der Königin und ihres tapferen Gemahls jubelnd gefeiert. Vornehmlich waren die Bürger der Hauptstadt freudetrunken, denn Siegminne übte als Herrscherin Recht und Gerechtigkeit und suchte des Landes Wohlfahrt mit mütterlicher Sorgfalt zu befördern. Sie war aber nach ihrer Heimkehr wie eine Rose, die der eisige Nordwind angeweht hatte, ihre Wangen wurden bleich, die Fülle und Frische ihrer Gestalt verschwanden sichtbar mit jedem Tag. Sie erfreute sich nicht mehr an Spiel und Tanz, noch zog sie hinaus zum fröhlichen Jagen. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Scherzen und Kosen waren vergangen, und doch war sie reizend und dabei sanfter, hingebungsvoller als zuvor. Einst saß sie in traulicher Stunde Hand in Hand mit dem Helden zusammen, da sagte sie: „Wenn ich sterbe, dann ziehe wieder in dein Vaterland. Denn hier wirst du ohne mich als eingedrungener Fremdling betrachtet, und es könnte Krieg entstehen, der das Land verwüstet.“ Er hatte nur das Wort „sterben“ gehört, und das schnitt ihm in die Seele, daß er keinen anderen Gedanken fassen konnte. Dennoch bezwang er den Schmerz, wischte eine hervorquellende Träne weg und suchte die Geliebte aufzuheitern. Er verdoppelte seine Sorge, alle Pflege wurde angewendet, aber vergeblich: Der Tod hatte die Königin zur Beute erkoren. Es ist recht traurig, wenn man ein geliebtes Wesen siechen und dem Grab entgegenwanken sieht. Niemals fühlt der Mensch mehr seine Ohnmacht, als dem unerbittlichen Schicksal gegenüber. Wolfdietrich hatte im mörderischen Kampf dem furchtbaren Riesen die Gattin abgerungen, aber gegen den Tod war seine Heldenkraft nicht ausreichend. Sie starb in seinen Armen, und bald umschloß das Grab die früh verblühte Rose.
Der trauernde Held ging oft an die Stätte des Todes, weinte manche Träne, der Geliebten gedenkend, und sang:
„Schöner als Marmor, beredter als tönendes Wort,
Zieret die Träne den stillen, den einsamen Ort.
Schlinge die Perle dir in das Haar,
Wallst du, Erstandne, in der Unsterblichen Schar.“
Natürlich, die reine Seele stirbt nie. Doch sie hatte wohl in dieser Form im glücklichen Reich der Wonne ihre Aufgabe erfüllt, der persönliche Stolz des Helden war besiegt und die Macht der Liebe gefunden. Nun erinnert er sich wieder an seine Aufgabe, die er in der körperlichen Welt noch zu erfüllen hat:
Einstmals saß der gebeugte Held an der Grabstätte, die jetzt ein prächtiges Denkmal zierte. Er gedachte der Zeit, da aus Rauh-Else Siegminne entstanden war. Da fielen ihm auch der Entschlafenen Worte ein: „Wenn ich sterbe, dann ziehe wieder in dein Vaterland.“ Und seine Mutter und seine elf Dienstmänner kamen ihm in den Sinn. Sein Vorhaben, die Hilfe des mächtigen Kaisers Ortnit anzurufen, alle bisher versäumten Pflichten traten ihm vor die Seele, wie ernste Mahnboten zu neuer Tätigkeit. „Ich werde dich niemals vergessen, teure Frau“, sagte er für sich, „aber ich wäre deiner nicht würdig, wollte ich nicht aufbrechen, um jene zu erlösen, die mir Treue bis in den Tod bewiesen haben.“
Er tat nach seinen Worten, gürtete die Rüstung um, nahm sein gutes Schwert und bestieg sein edles Roß, das ihn mit munterem Wiehern begrüßte.
So geht nun Wolfdietrich seinen Weg aus der Tiefe von der Wurzel der Lilie, sozusagen aus dem Reich des reinen Gefühls, mit der gewonnen Sieg-Liebe und dem Seidenhemd der Unverletzlichkeit des Bewußtseins wieder zurück in die Welt der Körperlichkeit, aus einer innerlichen Welt in eine äußerliche. Dazwischen kommt er zunächst in ein Reich des Glaubens an Gedanken und Vorstellungen:
Er trabte durch volkreiche Länder, wo er überall für reichliche Zahlung gute Herberge fand. Anders war es im Land der wilden Heiden, wo er oft mit Mangel, noch öfter mit Räubern zu kämpfen hatte. Nach einer mühevollen Tagesfahrt sah er abends eine Burg mit glänzenden Zinnen vor sich. Er fragte einen Wanderer nach dem Besitzer derselben, und der sagte sich bekreuzigend: „Lieber Herr, wenn ihr ein Christ seid, so reitet eilends vorüber, denn da haust der Heidenkönig Beligan, mit seiner zauberkundigen Tochter Marpilia, und der schlägt jedem Christen den Kopf ab und pflanzt ihn auf die Zinnen des Schlosses. Seht nur hin, wie oben auf den goldenen Knäufen die gebleichten Schädel grinsen. Ein Knauf ist noch frei. Hütet Euch, daß nicht Euer Haupt darauf gesteckt wird!“ Der Held versicherte, er trage einen festen Helm und stählerne Rüstung im Nacken, da müsse der Mann scharfe Messer haben, um durchzuschneiden. „Herr“, versetzte der Wanderer, „er versteht sich aufs Messerwerfen, und wenn dem stärksten Recken die Klinge im Herzen steckt, dann hilft keine Rüstung mehr.“
Die scharfen Messer erinnern uns hier an die unterscheidenden Gedanken, die wir auf andere werfen, und mit denen wir beworfen werden. Aus diesen Gedanken entsteht unsere Welt des Glaubens als eine Grundlage unserer äußerlichen, irdischen und körperlichen Welt zusammen mit den Vorstellungen von Wahr und Falsch, Gute und Böse, Mein und Dein, Leben und Tod. In diese Gedankenwelt an der Grenze zwischen Innen und Außen wird nun auch Wolfdietrich eingeladen, und es führt wohl kein Weg daran vorbei:
Der Mann ging seines Weges, und Wolfdietrich wollte gleichfalls vorüberreiten, da kam ihm aber der Burgherr mit Gefolge entgegen und lud ihn so freundlich ein, Nachtquartier bei ihm zu nehmen, daß der unverzagte Held nicht umhinkonnte, dem Gastgebot Folge zu leisten. Am Portal des Schlosses stand seine Tochter, eine schöne Jungfrau im reichsten Schmuck, und empfing den Gast mit zierlicher Rede. Sie führte ihn in die prächtige Halle, die auf beiden Seiten offen war und die Aussicht in schöne Gärten gewährte. Ein kühlender Luftzug, der hierdurch entstand, brachte immer den lieblichen Blumenduft aus den Gärten in den Saal. Mitten in der oben durchbrochenen Halle stand eine vielzweigige Linde, in der sich goldene Vögel schaukelten. Es war ein wundersames Kunstwerk, denn wenn der Wind stärker wehte, dann sangen die Vögel die schönsten Weisen. Der Held mußte sich gestehen, daß kein König auf Erden so herrlich wohnte als dieses heidnische Oberhaupt. Unter der Linde standen eine reichbesetzte Tafel und ein Hochsitz für drei Personen. Die schöne Jungfrau ließ den Gast neben sich platznehmen, ihr Vater setzte sich auf die andere Seite. Da speisten und tranken nun die drei, und es kam auch die Rede auf die Herkunft des Gastes und den Zweck seiner Reise. Der Recke berichtete, er sei ein Graf aus dem Abendland, habe seine Frau verloren und wallfahre zum Heiligen Grab, um seine Sünden abzubüßen. „Also ein Christ!“, sagte der Gastgeber mit einem hämischen Lächeln: „Je nun, da kann schon hier die Buße geschehen. Wir haben gerade noch eine hauptlose Zinne.“
Hier findet er den schönen Garten der Außenwelt wieder, wo die Linde als Lebensbaum wächst, in dessen Ästen die künstlichen Vögel der Gedanken singen, bewegt vom Wind als Symbol des belebenden Geistes. Dazu gibt es reichlich Nahrung für das Bewußtsein, und ja, das ist das Reich der Buße, die Welt der Gegensätze, und in diesem Sinne auch das irdische Grab des Heiligen und Ganzheitlichen.
Der Gast begriff den Sinn der Worte, aber stellte sich ganz unbefangen und leerte den Becher aufs Wohl des Gastgebers und seiner Tochter. Als die Schlafenszeit kam, nahm Beligan seinen Gast beiseite und sagte zu ihm, er habe Gnade gefunden in den Augen seiner Tochter Marpilia. Er wolle sie ihm zur Ehe geben samt Burg und Reich, sie sei schön und eine reine Jungfrau, und er werde glücklich mit ihr leben, aber er müsse an Machmet (den Propheten Mohammed) glauben. Der Gast bat sich Bedenkzeit aus, weil er erst zu Hause vieles ordnen müsse, bevor er zur zweiten Ehe schreite. Dagegen versetzte der Heide mit seinem früheren hämischen Lächeln, er solle nur zur Ruhe gehen, da werde er eine lange Bedenkzeit haben. Zum Schluß bot er ihm noch einen vollen Becher, warf aber unbemerkt ein graues Pulver hinein. „Trinke, Freund!“, sagte er: „Da wirst du gut und lange schlafen.“ Der Held war schon im Begriff, danach zu greifen, da riß Marpilia, die wieder eingetreten war, dem Vater den Becher aus der Hand und goß das Getränk mit den Worten aus: „Nicht so, Vater, ich werde heute Nacht den Fremdling eines Besseren belehren.“ Sie nahm daraufhin den Gast freundlich am Arm und führte ihn in ein trauliches Schlafgemach, das von einer kristallenen Ampel beleuchtet war. Die Vögel in der Halle sangen Minnelieder, und die schöne Jungfrau blickte den Helden liebeverlangend an. „Edler Gast“, sagte sie, „ich habe dich einer großen Gefahr entrissen, denn mein Vater wollte dir einen betäubenden Schlaftrunk reichen, um dir dann in der Nacht mit einem scharfen Schwert den Kopf abzuschlagen, wie er schon vielen Christen getan hat. Nun biete ich dir die Hand und das väterliche Reich an, wenn du auch nur zum Schein unseren Glauben annimmst.“
So kommt es nun an dieser Grenze zwischen der innerlichen und äußerlichen Welt zum „Glaubenskampf“. Einerseits der Glauben an das Christusbewußtsein als innerliche Quelle des ewigen Lebens und als Wurzel der Lilie, die in das geistige Reich der Ganzheit bzw. Göttlichkeit wächst. Anderseits der Glauben an den Propheten als äußerliche Quelle, der dem Menschen sagt, wie er leben soll, was richtig und falsch, zu tun und zu lassen ist. Das war offenbar im Mittelalter eine weitverbreitete Sicht auf den Islam, so daß diese Symbolik hier entsprechend verwendet wurde. Diese ganze Geschichte der Glaubenskriege ist natürlich ein Produkt des begrifflichen Ego-Verstandes, der nur in Gegensätzen denken kann und meint, wenn mein Glaube richtig ist, dann müssen alle anderen Glaubensrichtungen falsch sein. Ja, das ist ein langes und endloses Thema, das wir hier nicht weiter ausbauen wollen…
Der Name Beligan erinnert uns an den Pelikan, der in der alten christlichen Symbolik sein Blut für seine Kinder opferte. Er erscheint uns hier als männlicher Geist der äußerlichen Welt, und seine Tochter wäre dann die zauberhafte äußerliche Natur, die interessanterweise dafür sorgt, daß das innerliche Bewußtsein vom äußerlichen Geist nicht betäubt und getötet wird, sondern leben soll, aber überzeugt vom Glauben an die äußerliche Natur. Der Name Marpilia erinnert an das mittelhochdeutsche „mar“ und germanische „maro“ für einen weiblichen Geist der Illusion, der schlechte Träume verursacht, woraus dann auch das englische „nightmare“ für Alptraum wurde. Wir könnten aber auch an lat. „mare“ für Meer und „pilum“ für Wurfspieß bezüglich einer Meerfrau denken, als Seele der Verursachung im Meer der Ursachen. Wolfdietrich spürt natürlich auch in ihr die liebe Seele, doch will sich von den äußerlichen Reizen nicht verführen lassen:
Zeit und der Ort waren wohl verführerisch, aber Wolfdietrich dachte an Siegminne, und alle Frauen der Welt hätten ihm ihre Reize und Königskronen bieten können, er würde sie ausgeschlagen haben. Er verteidigte im Gegenteil seinen Glauben und versuchte, Marpilia um ihres Seelenheils willen zu bekehren. Unter solchen Gesprächen verging die Nacht.
Des Morgens kam Beligan, den Gast zum Frühstück abzuholen. Er sah die Tochter fragend an. Sie verstand ihn und sagte, er wolle nicht. „Wohlan, werter Gast“, versetzte der Heide, „so wirst du doch einen Imbiß nicht verschmähen und sodann ein Spielchen mit Messern mit mir versuchen, wie es bei uns Sitte ist. Wir stellen uns ohne andere Rüstung als einen kleinen Rundschild (Buckler) jeder auf einen Schemel und werfen uns je drei Messer zu. Ich, als der Ältere, habe die ersten drei Würfe, und dann stehe ich dir.“ Der Recke nickte bejahend, und dachte an seine elf Dienstmänner, an Meister Berchtung, der ihn einst in dieser Kunst wohl unterwiesen hatte. Er verließ sich auf seine Übung und jugendliche Gewandtheit. Sobald der Imbiß eingenommen war, ging man in den Hof, wo die Dienstmänner des Königs einen weiten Kreis schlossen. Der Held legte Rüstung und Schwert ab, empfing drei spitze, haarscharfe Dolchmesser, und der Heide stand ihm in gleicher Verfassung gegenüber. Letzterer schleuderte das erste Messer nach einem Fuß des Gegners, aber dieser vermied die Waffe durch einen geschickten Sprung. „Beim Bart des Propheten!“, rief der Heide: „Wer lehrte dich diesen Sprung? Bist du Wolfdietrich, von dem mir Unglück prophezeit wurde?“ Der Gast verneinte und stand wieder gleich einer Mauer. Der zweite Wurf schnitt ihm vom Scheitel ein Stück Haut und Haar ab, der dritte wurde vom Schild aufgefangen. Jetzt war die Reihe an dem Helden. Sein erstes Messer heftete des Gegners linken Fuß an den Schemel, das zweite streifte dessen Seite, das dritte warf er ihm mit dem Ruf „Ich bin Wolfdietrich!“ ins Herz. Der Heidenkönig lag am Boden, aber seine Dienstmänner drangen mit wütendem Geschrei auf den Helden ein.
So kommt es zum „Glaubenskampf“, sozusagen zwischen der innerlichen Quelle und dem äußerlichen Fluß mit den scharfen Messern der Gedanken. Die Zahl drei erinnert wieder an die üblichen drei Kräfte, die überall in der Natur und im Geist wirken, um irgendetwas zu bewegen, wie man im Christentum auch von Vater, Sohn und Heiligem Geist spricht, oder auch von Geist, Körper und Seele. Über den Kampf selbst kann man symbolisch viel nachdenken, wie zum Beispiel die Quelle aus dem Sockel „entspringt“, der schöpferische „Ursprung“, den Kaiser Anzius als Allvater und auch Ursprung dieser Dietrichsage einst dem Berchtung-Verstand gelehrt hatte, wie der angreifende Gedanke zuerst ins Leere fliegt, dann nur ein Stück Haut und Haar als oberflächliches Denken trifft, und wie er schließlich von einem „kleinen runden Schild“ abgewehrt wird, denn begriffliche Gedanken können nur Formen treffen, und niemals die Quelle selbst, aus der alle Formen ausfließen. Wie auch die vernünftigen Gedanken aus dieser Quelle kommen, die nun den äußerlichen Fluß zuerst an den Sockel bzw. an die Quelle heften, die Seite bzw. die Grenzen des Flusses treffen und öffnen, und schließlich in das Herz eindringen, so daß der Fluß verschwindet und wieder zur Quelle wird. Danach greifen zwar noch weitere Gedanken an, aber die sind relativ leicht zu besiegen:
Die drei Vordersten erlegte er mit den aufgerafften Messern, und als die anderen scheu zurückwichen, gewann er Zeit, Schwert und Schild zu ergreifen. Nun blitzte der Helmspalter in seiner starken Hand, fällte bald da, bald dort einen der anstürmenden Männer und trieb endlich die ganze Meute durch das offene Tor aus der Burg. Darauf legte er seine Rüstung an, zog sein Pferd aus dem Stall und wollte die Reise fortsetzen. Aber da wogte plötzlich ein breiter See um die Burg, und ein Sturmwind trieb die brausenden Wellen empor, daß kein Ausweg sichtbar war. Da erblickte er am Ufer des Gewässers, wie Marpilia mit einem Stab Kreise bald in der Luft, bald auf dem Boden beschrieb und geheimnisvolle Worte murmelte. Er ergriff und schwang sie vor sich auf sein Roß. „Muß ich ertrinken“, rief er, „dann soll mir die Hexe vorangehen.“ Mit diesen Worten spornte er sein Pferd in die wilden Fluten, die sich weiter und weiter gleich einem Meer ausdehnten. Er schien verloren, aber in der höchsten Not warf er das zauberische Weib vom Pferd herab, und sogleich fingen auch die Wasser an abzunehmen, der Sturm hörte auf, und er sah sich bald auf trocknem, festem Boden.
Auch Marpilia war nicht untergegangen. Im Glanz ihrer Schönheit stand sie vor ihm auf einer Höhe und breitete die Arme aus, als wolle sie ihn umfangen. Aber er drohte ihr mit gezücktem Schwert. Alsbald verwandelte sie sich in eine Elster, flog auf einen hohen Felsen und versuchte, ihn durch neuen Zauber zu umstricken. Bald sah er sich auf einer gläsernen Brücke, die unter ihm brach, bald befand er sich in einem brennenden Wald, bald von jähen Felsen eingeschlossen, bald wurde er von höllischen Hunden angefallen, während plötzlich das Tageslicht verschwand und nur die Augen der Ungeheuer wie Feuerbrände leuchteten. Er war bis zum Tode erschöpft und rief: „Hilf mir, dreieiniger Gott, ich verderbe!“ Als er diese Worte gesprochen hatte, verschwand die Hexe. Die Sonne leuchtete wieder über Berg und Tal und zeigte ihm den wohlgebahnten Weg, den er wandern mußte, um das Lombarden-Land zu erreichen und Hilfe für seine Dienstmänner zu finden.
Wunderbare Symbolik! Nachdem der Glauben an die innerliche Quelle des Bewußtseins verteidigt und der Glauben an die äußerliche Zauberwelt besiegt wurde, läßt sich auch die Anhaftung an die äußerliche Natur überwinden, wie es auch im vergangenen Kapitel im Kampf gegen Drusian um die Anhaftung ging. Das ist offenbar der Knackpunkt, um den es hier geht, also nicht um die Zerstörung der äußerlichen Natur, sondern um die Freiheit von Anhaftung. Diese Fähigkeit zum Loslassen drückt sich schließlich auch darin aus, daß er Marpilia auf seinem körperlichen Pferd nicht mitnimmt, sondern als Hexe erkennt und zurückläßt, um dann zur göttlichen Ganzheit Zuflucht zu nehmen, so daß auch der Hexenzauber verschwindet. Über den Begriff der „Hexe“ haben wir in unseren Märchen-Interpretationen schon viel nachgedacht und an die hexa, sex oder sechs Prinzipien erinnert, welche unsere innerliche Welt scheinbar von einer äußerlichen Welt trennen, also vor allem die fünf Sinne und das Denken.
Doch wie kommt nun Wolfdietrich wieder in die körperliche Außenwelt, nachdem er den Glauben daran besiegt und die bezaubernde Seele der Verursachung verworfen hat?
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