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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
„König Gunther“, sprach eines Tages Brünhild zu ihrem Gemahl, „warum kommt dein Schwager Siegfried nicht gleich anderen untertänigen Fürsten an unseren Hof? Ich sähe ihn gern hier und auch seine Ehefrau Kriemhild, deine Schwester. Gebiete ihnen, daß sie zu Hofe fahren!“ - „Ich sagte dir schon“, antwortete der König, „der Schwager ist wie ich ein mächtiger König, Oberhaupt der Nibelungen und nun auch von Niederland.“ - Sie sprach: „Hörte ich ihn doch in Isenland selbst bekennen, er sei dein Dienstmann. Wirst du solches leugnen?“ - „Das geschah nur zum Schein, um meine Werbung zu fördern“, versetzte er unmutig. - „Du leugnest es nur“, versetzte sie, „um deine Schwester hoch zu stellen. Aber ich will die beiden wieder an unserem Hofe sehen.“ - „Wohl“, sprach er begütigend, „ich werde Boten senden, welche unsere lieben Verwanden zum Fest der Sommersonnenwende berufen, was sie nicht verweigern werden.“ Er ging und tat, wie versprochen. Brünhild blieb allein zurück und dachte bei sich: „Da wandelt er hin, der Mann, der einst so kraftvollen Jungfrau, die gewähnt hatte, der Schlachten Ausgang zu entscheiden, wie die Walküren zu der Väter Zeit. Und er, ein schwankendes Schilfrohr, das jeder Lufthauch hin und her bewegt! Hei, wie Siegfried hervorragt, ein Held, dem die Welt gehört! Aber ein höriger Mann! Freilich, der durfte niemals die Augen zur Königin von Isenland erheben, und sie hätte ihn verschmäht und würde ihn noch zu dieser Stunde verschmähen.“
Ja, die Zweifel von Brünhild, ob sie wirklich den richtigen Ehemann geheiratet hat, verschwinden auch im Laufe der Zeit nicht. Sie erkennt die Schwäche in Gunther, wie der Verstand hin- und herschwankt, denn was die äußere Natur vor ihn hinstellt, das glaubt er, heute dies und morgen das. So erinnert sie sich immer wieder an die beständige Stärke von Siegfried, und wünscht, den Helden wiederzusehen. Das sind wohl die üblichen Selbstzweifel, die in jedem gewöhnlichen Menschen nagen, der vom Ego-Verstand regiert wird: Wer bin „Ich“, König oder Knecht? Dafür ist auch die „Sommersonnenwende“ ein treffliches Symbol, denn wie die körperliche Sonne zwangsläufig auf- und untergehen, sowie zu- und abnehmen muß, so hat doch der menschliche Verstand die Freiheit, ob er sich der ganzheitlichen Vernunft und dem Licht des Lebens zuwendet, oder dem trennenden Ego und der Dunkelheit des Todes. So wollen wir nun sehen, wohin sich zur Sommersonnenwende das scheinbar glückliche Leben des Verstandes-Menschen wendet:
Die werten Gäste von Niederland kamen zum Fest der Sommersonnenwende und wurden mit Freuden empfangen. Da war der Gelage, Turniere, festlichen Umzüge und des Sanges und Saitenklanges kein Ende. Der greise Sigmund wurde, wie er gesagt hatte, wieder jung, wenn er von seinen Kämpfen erzählte und mit Frau Ute, die er schon als Jungfrau gekannt hatte, von der guten alten Zeit redselig plauderte. Die jungen Königinnen sah man allezeit zusammen. Sie gingen Arm in Arm in die Kirche, zum Festmahl oder zum Schauen, wenn die kühnen Recken im Turnierspiel ihre Kräfte versuchten. Nur zum Jagen begleitete Kriemhild ihre Schwägerin nicht, denn sie konnte es nicht mit ansehen, wenn das scheue Wild von den Hunden gehetzt und den Recken mit Speeren erlegt wurde.
Einstmals schaute sie vom Söller herab mit Brünhild dem Wettkampf zu, wo Siegfried im Stoßen des Steins, im Speerwurf, im Sprung und Lauf die anderen Recken weit übertraf. Da sprach sie in der Freude ihres Herzens: „Hei, wie mein Siegfried so herrlich unter den Recken steht, gleich wie der Mond unter den bleichen Sternen! Seine Augen strahlen wie Sonnenlicht, sein edles Haupt, seine kraftvolle Gestalt verrät den königlichen Helden.“ - „Wohl verdient er dein Lob“, versetzte Brünhild, „doch muß er meinem Mann weichen.“ - „Auf Treue“, antwortete Kriemhild, „mein Bruder ist ein kühner Held, aber im Kampfspiel kann er meinem Gemahl nicht gleichen.“ - „Wie“, sprach Brünhild, „hat er nicht den Preis auf Isenstein erworben, wo Siegfried lieber zum Schiff ging?“ - „Willst du den Nibelungenhelden, den Überwinder des höllischen Drachen, der Feigheit bezichtigen?“, rief die junge Frau mit Unmut. - „Er muß vor dem König der Burgunden weit zurückstehen“, antwortete Brünhild, „denn er ist ein Dienstmann meines Ehegemahls.“ - „Du lügst, stolzes Weib!“, fuhr Kriemhild vor Unwillen erglühend, auf: „Du lügst aus Übermut! Wie hätte mein Bruder mich einem hörigen Mann gegeben! Siegfried ist freier König von Nibelungen und Niederland. Das eine Reich hat er mit seiner Hand erworben, das andere ererbt, und ich, seine Königin, darf das Haupt so hoch tragen, wie du selbst.“ - „Wage es nur, schwatzhaftes Weib eines Dienstmannes! Ich werde vor dir in die Kirche gehen.“ Mit diesen Worten verließ Brünhild den Söller.
Aus geistiger Sicht können wir hier einen Streit zwischen der innerlichen Seele der Natur und der äußerlichen Natur sehen, was es in Wahrheit gar nicht geben kann, weil sie eigentlich ein Ganzes sind, wie sie sich auch anfangs vertraut und liebevoll verhielten, sozusagen wie ein Leib und eine Seele. Lüge, Trennung und Streit entstehen erst durch den begrifflichen Gunther-Verstand, der die Illusion bewahren will, daß er König ist und die wunderschöne Natur erobert, besiegt und gewonnen hat, obwohl er weiß, daß dieser Sieg nur mit Hilfe der Siegfried-Vernunft möglich war.
„Dienstmann! Mein geliebter, in allen Landen gefeierter Gatte ein Dienstmann! Ihn hat sie geschmäht, und sie soll dafür büßen“, sprach Kriemhild für sich. Es war das erste Weh, das die sonst arglose und harmlose Frau traf, und das konnte sie nicht verwinden. Sie begab sich in ihre Gemächer, legte ihre kostbarsten Gewänder an, fügte funkelndes Geschmeide hinzu, das dem Nibelungenschatz entnommen war, und schritt mit zahlreichem Gefolge von Frauen, Jungfrauen und Dienstmannen zur Kirche. Da stand schon Brünhild mit Gefolge, ihrer wartend. Sie wollte schweigend an der stolzen Frau vorübergehen, aber diese rief ihr zu: „Harre hier, Frau des Dienstmannes, bis deine Königin hineingegangen ist!“ - „Hättest du geschwiegen“, sprach Kriemhild, es wäre dir besser gewesen, denn die Frau eines Königs geht doch wohl einer Kebse (Nebenfrau des Königs) voran.” - „Bist du des Witzes bar worden?“, entgegnete Brünhild, „Wen willst du hier zur Kebse machen? Das sollst du gestehen!“ - „Das tue ich dir“, sprach Kriemhild, „und ich will es auch beweisen, wenn ich aus der Kirche zurück bin.“ Sie schritt an der Todfeindin vorüber in das Gotteshaus.
Hier geht es nun darum, in der Öffentlichkeit und am Kirchentor auch vor Gott zu beweisen, wer von beiden über der anderen steht. Noch heute behaupten viele Naturwissenschaftler, was auch die meisten Menschen glauben, daß die Materie über Leben und Bewußtsein steht, welche aus der Materie entstanden wären, von ihr abhängig sind und ohne Materie nicht sein könnten. Das nennt man dann „Materialismus“ im Gegensatz zum „Idealismus“. Ja, besser wäre es gewesen, wenn innere und äußere Natur weiterhin Hand in Hand als Einheit in die Kirche als Gotteshaus der Ganzheit gegangen wären. Aber solange der begriffliche Ego-Verstand regiert, will er die beiden unterscheiden, bis diese Trennung eskaliert:
Brünhild, die stolze Königin, blieb weinend vor dem Eingang stehen. Scham und Zorn kämpften in ihrer Brust, daß sie kaum das Ende des Chorgesangs abwarten konnte. Endlich ging die Pforte auf und Kriemhild erschien. „Steh mir Rede!“, rief sie die Verhaßte an: „Steh mir Rede, Weib eines Knechts, zu rechtfertigen die Schmähungen, die du mit giftiger Zunge gegen mich ausgestoßen hast!“ - „Weib eines Knechts“, wiederholte Kriemhild, als ob sie die anderen Worte nicht gehört hätte, „kennst du das Goldringlein an meiner Hand hier, wie eine Schlange gewunden?“ - „Hei, mein Gold“, rief Brünhild, „das ich lange vermißt habe. Nun weiß ich, wer es mir gestohlen hat.“ - „Wohl“, fuhr jene fort, „du wirst auch des Gürtels gedenken, den ich umgeschlungen habe, Seide von Ninive mit Goldbuckeln und edlem Gestein. Goldring und Gürtel entriß dir mein Mann, als er, nicht Gunther, nächtlich dich bezwang.“ - Und wie ein Held nach siegreicher Schlacht, so setzte Kriemhild ihren Weg fort.
Nun wird sich unser Verstand vielleicht fragen: Warum hat Siegfried seiner Frau davon erzählt? Und warum kann Kriemhild ihren Mund nicht halten? Ja, unser Verstand glaubt wirklich daran, daß er mit Lüge und Betrug durchkommt, wenn es nur keiner erfährt, weshalb er die Mitwisser gern zum Schweigen verpflichtet. Doch das ist nicht das Wesen von Siegfried, daß er seiner Ehefrau irgendetwas verschweigt. Einerseits sind sie nach der mystischen Hochzeit ein ganzheitliches Wesen geworden, und anderseits hat er den Ego-Drachen besiegt, so daß er weder persönlichen Gewinn sucht noch befürchtet, irgendetwas zu verlieren. Und Kriemhild als Seele der Natur ist natürlich dafür da, daß sich die Ketten von Ursache und Wirkung in der Welt entsprechend auswirken, weshalb ihr auch von der Siegfried-Vernunft der Ring der Wahrheit und der Gürtel der Bindung gegeben wurden. Wie sonst könnte der Mensch aus seinen Taten lernen, wenn es keine Bindung zwischen Ursache und Wirkung gäbe?
Brünhild, die stolze Königin, blieb gebeugten Hauptes wie festgebannt an der Stelle stehen, wo sie die Schmach erlitten hatte. „Man berufe den König vom Rhein hierher“, befahl sie, „daß er vernehme, was geschehen ist, und den Übermut strafe.“ - Gunther kam sogleich und forschte, warum sie so in Trauer sei. Als er von dem Vorfall Kunde erhalten, versprach er der harmvollen Frau, er werde Siegfried rufen, um von ihm zu erfahren, ob er zu der Schmähung Anlaß gegeben habe. Im Königssaal vor vielen tüchtigen Recken empfing er den Helden und gab ihm Bericht von dem Vorkommnis. Sogleich erklärte der Held in guter Treue, er habe niemals Unehrbares von der Königin geredet, und man solle nicht übeldeuten, was Weiberzungen im Zorn sprächen. Er erbot sich, durch teuren Eid seine Aussage zu bestätigen. Schon erhob er im (Gerichts-) Ring stehend die Hand zum Schwur, da sprach Gunther, er entlasse ihn des Eides, da sein gesprochenes Wort allezeit wahr und wahrhaftig sei. „So hört denn, ihr Männer von Burgunden“, sagte der Held, „daß ich ohne Schuld bin der Schmähungen, die eure Königin erduldet, daß ich sie allezeit als guter Zucht beflissen und ohne Makel gefunden habe. Du aber, lieber Geselle Gunther, erziehe dein Weib, wie ich das meine erziehen werde, damit sie zukünftig nie mehr durch klatschende Rede unseren Frieden brechen.“ Also sprach der tüchtige Held und verließ den Saal. Trotzdem meinte mancher burgundische Mann, der Königin sei schweres Leid angetan worden.
Wie kann sich die ganzheitliche Vernunft gegenüber dem begrifflichen Verstand rechtfertigen? Sie kann nur treuherzig erklären, daß sie niemals etwas Bösartiges, Unehrenhaftes oder anderweitig Gegensätzliches will, denn sie ist auf die Vollkommenheit und Ganzheit gerichtet. Darin liegt dann auch das große Ziel der „Erziehung“ in der Ehe, das man leicht mißverstehen kann. Es geht natürlich nicht darum, sich über den anderen zu erheben, sondern um das trennende Ego zu besiegen, wie Siegfried auch Kriemhild vom Ego-Drachen befreit hatte. Für den Gunter-Verstand heißt das nun, sich nicht vom Hagen-Ego, sondern von der Siegfried-Vernunft führen zu lassen, um sich von der Trennung ab und der Ganzheit zuzuwenden. Denn wohin sich der Verstand wendet und kehrt, in diese Richtung geht er dann auch, entweder ins Licht des Lebens oder in die Dunkelheit des Todes. Und in diesem Sinne „erzieht“ der Mensch auch seine Seele, die als Prinzip der Verursachung sein zukünftiges Schicksal bestimmt. Ja, diese Freiheit hat der Mensch.
Brünhild berief folgenden Tages ihre Mägde und Knechte aus Isenland. Sie gebot ihnen, sich zur Fahrt in die Heimat zu rüsten, wozu sie auch alsbald bereit waren. Diese Geschichte wurde dem König hinterbracht. Er begab sich mit seinen Brüdern, Hagen und anderen Recken zu der Frau, die in ihrem Kummer kein Wort sprach. Er sagte ihr, wie sich der König von Niederland gerechtfertigt habe und wie nun die Schmähung seiner Ehefrau als unwahr erfunden sei. Er redete noch viel von ihrem Ruhm, der in allen Ländern verbreitet sei, und auch andere Recken versuchten sie zu trösten. Sie meinten alle, es sei eine Unehre für die Burgunden, wenn die Königin aus dem Reich entweiche, wo sie manches Jahr in Freude gewohnt und an der Seite des Königs geherrscht habe. Doch sie saß da, starren Blickes, unbewegt, stumm, wie ein steinernes Bild, das die Gläubigen um Hilfe anrufen. „Wir lassen dich nicht von hinnen fahren!“, rief der König: „Wir bieten dir jeden Preis zur Sühne der unbedachten Rede meiner Schwester. Sprich, was begehrst du?“ Sie erhob sich, blickte im Kreis herum und sprach mit hohler, unheimlicher Stimme: „Blut!“ Die Burgunden sahen einander bestürzt an, und keiner wagte das Wort zu deuten. Sie fuhr unbeirrt fort: „Nicht die Flut des Rheins, wenn ich mich hineinversenkte, wäscht den Flecken von meiner Ehre. Das tut nur eines Mannes Herzblut.“ Die Unruhe, die Bestürzung unter den Recken wurde immer größer. Da trat Hagen vor und sagte: „Sind die kühnen Burgunden altersschwach, sind sie wieder Kinder geworden! So will ich die Rede deuten. Unsere Königin begehrt Siegfrieds Herzblut! Hei, wie sie erschrecken, wie sie zurückweichen vor dem Wort!“
Dafür kennen wir heute den Begriff der „Rache“, der schon sehr nach „Rachen des Drachen“ klingt, vor allem, wenn es um „Blutrache“ geht, woraus dann auch das rituelle Duellieren um eine vermeintliche Ego-Ehre wurde. Darin zeigt sich im Grunde die Funktion der Natur und vor allem der Seele, um das Gesetz von Ursache und Wirkung zu bewahren, so daß sich alle Taten mit Körper, Rede und Denken auch irgendwie auswirken müssen, was man im indischen Sanskrit „Karma“ nennt. Es muß also geschehen, ähnlich dem Energieerhaltungssatz, den die moderne Physik kennt. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied, ob die Vernunft oder ob der Ego-Verstand diese „Rache“ ausübt bzw. auswirkt, denn der eine Weg vermehrt den Frieden und führt zum Licht des Lebens, und der andere vermehrt den Krieg und führt in die Dunkelheit des Todes, je nachdem, ob ein ganzheitliches oder trennendes Bewußtsein wirkt.
Da sprachen die Burgunden untereinander: „Niemand in aller Welt vermag den Nibelungenhelden zu bestehen. Wer ihn zum Kampf fordert, hat den Tod an der Hand! Und er ist der Dinge nicht schuldig, deren man ihn bezichtigen will.“ Da trat der grimmige Hagen vor Brünhild und sprach: „Frau, ich wollte nie, daß Gunther nach Isenland werben ging. Nun du aber unsere Königin bist, sollst du in Ehren bleiben, und ich will dir schaffen, was du begehrst.“ Ihm erwiderte der junge Giselher: „Übeltat für Wohltat, ist das Sitte in Burgund? Hat uns nicht Siegfried in Kampfesnot treu gedient, uns Sieg und Ruhm gebracht? Ich habe keinen Anteil an solchem Rat.“ - „Sollen wir Kuckucks-Kinder aufziehen und auf unseren Königsthron erheben?“, entgegnete Hagen: „Ich schaffe das Werk heimlich, so daß er sein Schwert Balmung nicht gegen mich schwingen kann. Und du, Volker, wirst mein Geselle sein.“ - „Dein Geselle in allen rechten Dingen“, sprach der Spielmann, „das habe ich gelobt, als wir im Mohrenland Schild an Schild kämpften. Doch zum Meucheldienst wirb dir einen anderen Gesellen.“ - „Der will ich selber sein“, sprach Ortwin der Recke: „Siegfried gab Ring und Gürtel seinem Weib, und dessen ist er schuldig, denn damit wurde unserer Königin Schmach angetan.“ - „Ich wähne das Werk ohne Helfer durchzuführen“, sagte Hagen. „Dazu will ich widerreden“, nahm Gunther das Wort, „solcher Mord ist Unehre für ganz Burgundenland, und die muß der König abwehren.“ - „König am Rhein“, rief Brünhild aufstehend, „drei Tage gebe ich Frist, dann fahre ich nach Isenland, oder du gewährst mir Sühne.“ Sie verließ die versammelten Recken, die sich noch weiter berieten. „Den Helden schädigt weder Speer noch Schwert“, meinte Markgraf Gere, „er hat sich in Drachenblut gebadet, und nur an einer Stelle, die ein Lindenblatt bedeckte, kann er verwundet werden.“ - „Wird er der Übeltat inne“, fügte Hunold, der Kämmerer, hinzu, „dann gewinnt er mit seinen tausend Nibelungen unser ganzes Reich.“ - „Ich gedenke es mit List anzurichten, daß wir alle heil bleiben und unsere Königin ihre Sühne erhält“, so sprach der grimmige Hagen. Aber der König war unsicheren Mutes. Er wollte und wollte auch nicht, und so gingen die Recken unschlüssig auseinander.
Nun, die Natur fordert eine Entscheidung und droht, sich aus dem Menschen zurückzuziehen, was für den begrifflichen Verstand den Tod bedeutet, wenn die körperliche Materie geht, die er sich zur Königin gemacht hat. Das Ego ist sogleich bereit, die Vernunft, die schon immer sein bedrohlichster Feind war, hinterhältig zu töten, um die äußerliche bzw. körperliche Ehre des Verstandes und damit vor allem seine eigene Macht zu schützen. Und der Verstand schwankt zwischen Ego und Vernunft. Der Spielmann Volker hält sich noch raus, und so ist auch das Schicksal noch offen, wofür sich der Verstand im Menschen entscheiden kann.
Brünhild blieb in ihrer Kammer verschlossen. Vergebens pochte Gunther an die Pforte, vergebens Kriemhild, die unter Tränen flehte, sie möge ihr Einlaß gewähren, denn sie wolle ihr Unrecht vor allem Volk eingestehen. Nur der grimmige Hagen erhielt Zutritt und redete lange mit der Königin. Darauf begab er sich zu Gunther und sprach: „König am Rhein, es gibt keinen anderen Ausweg, wenn deine Königin uns erhalten bleiben soll, als daß du in meinen Rat einwilligst. Er oder ich, so sprach sie zu mir, und sie hat kühnen Mut, daß sie allezeit tut, was ihr rätlich dünkt.“ Der König schwankte noch immer. Als er aber am dritten Tag erfuhr, Brünhild rüste zur Fahrt, da willigte er in den üblen und hinterlistigen Rat seines Oheims ein.
„Nicht doch,“ sprach da Hagen · „da dürft ihr ruhig sein:
Wir leiten in der Stille · alles sorglich ein.
Brunhildens Weinen · soll ihm werden leid.
Immer sei ihm Hagen · zu Haß und Schaden bereit.“
Da sprach der König Gunther · „Wie möcht' es geschehn?“
Zur Antwort gab ihm Hagen · „Das sollt ihr bald verstehn:
Wir lassen Boten reiten · her in dieses Land,
Uns offnen Krieg zu künden · die hier niemand sind bekannt.
Dann sagt ihr vor den Gästen · ihr wollt mit euerm Lehn
Euch zur Heerfahrt rüsten · Sieht er das geschehn,
So verspricht er euch zu helfen · dann geht's ihm an den Leib,
Erfahr' ich nur die Märe · von des kühnen Recken Weib.“
Der König folgte leider · seines Dienstmanns Rat.
So huben an zu sinnen · auf Untreu und Verrat,
Eh' es wer erkannte · die Ritter auserkoren:
Durch zweier Frauen Zanken · ging da mancher Held verloren.
Da erschienen plötzlich am Hofe zu Worms Boten von Lüdegast und Lüdeger, die neue Fehde ankündigten. Beide Könige wollten mit unbezwinglichem Heer Burgund überziehen und Rache nehmen für ihre letzte Niederlage. Die Boten trugen dänische und sächsische Rüstungen, und niemand zweifelte, daß sie aus Dänen- und Sachsenland kämen. Sofort wurde beschlossen, die Dienstmannen des Reiches aufzubieten. Doch meinte Siegfried, er wolle mit den Recken am Hofe und seinen Nibelungen die feindliche Macht wohl allein bestehen.
Ja, Feindbilder zu erzeugen ist ein typisches Mittel für das trennende Ego-Bewußtsein. Damit wurden schon so viele Kriege geführt, nicht nur die großen Religions- und Weltkriege, sondern auch die vielen kleinen, die man überall in der Menschenwelt findet. Daraus zieht das Ego seine Macht und versucht, sich selbst zu bewahren. Und wieder hat der Verstand die Freiheit, sich entweder für das ganzheitliche Bewußtsein der Vernunft oder das trennende Bewußtsein des Egos zu entscheiden. Im Gegensatz zur Natur, die in ihrer Wahl gebunden ist:
Man bat auch die Frauen, die Streitgewänder den Helden zu bereiten, was die edle Kriemhild mit großen Sorgen tat. Sie saß bei der Arbeit traurigen Mutes. Da kam Hagen zu ihr und ihren Jungfrauen, und hieß sie getrost sein, da ja des starken Siegfrieds Leib in Drachenblut gebadet von Waffen nicht verletzt werde. „Guter Held“, sagte sie, „mein Siegfried ist so kühn, daß er mitten durch die Feinde bricht. Da könnte ihn leicht ein Speer im Sturm des Gefechtes an der einen Stelle treffen, wo er verwundbar ist.“ Da bat er sie, das Streitgewand an dieser Stelle mit einem Kreuz zu bezeichnen, und er wolle dann mit seinem Schild den Heergesellen treulich behüten. Sie versprach nach seinen Worten zu tun und stickte sofort mit Silberfäden ein Kreuzlein auf das Gewand. Indessen war ihr Kummer vergeblich, denn schon folgenden Tages erschienen andere Boten, welche aussagten, daß die Könige den gelobten Frieden zu halten gedächten, wenn man es ihnen vergönnen wolle. So war die kriegerische Rüstung unnötig geworden, und Gunther hieß statt zu der Heerfahrt die Recken zu einer großen Jagd über den Rhein nach dem Odenwald einladen, wo sich viele Raubtiere und besonders Edelwild aufhielten.
Nun könnte der Verstand wieder sagen: Hätte doch Kriemhild geschwiegen! Und doch ist es die Aufgabe der Seele, jeden Körper, der in der Natur entstanden ist, auch wieder vergehen zu lassen. Nur sie kann das durch die Bindung von Ursache und Wirkung, und muß es auch tun, ob sie will oder nicht, und zwar aus reiner Liebe. Ansonsten würde wohl der Mensch ewig an seinem Körper festhalten wollen. Doch wer tötet ihn? Im Prinzip immer das Ego als trennendes Bewußtsein, weil auch der Tod nichts anderes ist als das Bewußtsein einer Trennung. Und der begriffliche Verstand hilft dabei, wenn er sich dem Ego und nicht der Vernunft unterordnet, wodurch schließlich auch die Vernunft getötet wird.
Und warum spielt die Vernunft mit und scheint das hinterlistige Spiel nicht zu durchschauen? Das ist eine große Frage, wie man auch oft fragt, warum ein allmächtiger Gott das Zerstörende und Tödliche in dieser Welt zuläßt, das wir gern das Böse nennen? Doch was hat jemand zu verlieren, der von keinem Ego mehr beherrscht wird, das irgendetwas besitzen will? Und was kann für ein ganzheitliches Bewußtsein überhaupt verlorengehen? Deshalb bleibt die Vernunft immer heiter und ohne Sorgen, heil wie der Himmel über allem:
Rotglühend stieg die Sonne hinter den Bergen auf und färbte die Fluten des Rheins, daß sie wie Blut dahinrollten. Kriemhild fuhr aus dem Schlaf auf, denn sie hatte ängstliche Träume gehabt. An ihrem Lager stand Siegfried, heiter und sorgenlos, wie immer. Er wollte jagen gehen, und unten im Hof wieherten bereits die mutigen Hengste. „Siegfried“, rief sie, „geh nicht zur Jagd, nur heute nicht! Mir träumte, zwei grimmige Eber hatten dich verfolgt. Dann sah ich dich nicht mehr, sondern einen Strom von Blut, der über die Heide floß. Ein Grausen ergriff mich, daß ich wie im Fieber zitterte und erwachte. Als ich dich ruhig atmen hörte, versuchte ich wieder einzuschlafen. Kaum aber war dies geschehen, so sah ich dich abermals, denn nur an dich denke ich bei Tag und bei Nacht. Du rittest durch eine Kluft zwischen zwei Bergen. Da bebte die Erde und die Berge fielen über dir zusammen und wölbten sich zu einem Totenhügel. Du weißt, wie ich erschrocken emporfuhr und zitterte, bis ich dich vor mir sah, heil, wie der Himmel über uns.“ - „So werde ich auch vom Jagen zu dir heimkehren, meine traute Liebe“, sagte Siegfried, indem er die Liebliche in die Arme schloß. Sie entwand sich ihm, blickte ihm voller Sorge und Liebe in die sonnenglänzenden Augen und fuhr fort: „Die Träume bedeuten ein schweres Unglück, das dich betreffen wird. Und du bist doch mein einziges Gut, für das ich alle Reiche der Welt, den Nibelungenhort und alle Schätze hingeben würde, wenn nur du mir erhalten bleibst. So will ich dir in ferne, wüste Länder folgen und müßte ich auch eine Bettlerin sein. Gehe nicht auf die Jagd. Bleibe nur heute bei mir!“ Wieder umarmte sie der Held und küßte sie, und sie klammerte sich an ihn, als wollte sie den teuren Mann nimmer von sich lassen. „Sei getrost, liebe Frau“, sagte er, „ich bin ja unter werten Gesellen und Freunden, wo mir kein Unfall zustoßen wird. Auch führe ich Balmung bei mir und einen scharfen Speer. Hei, den möchte ich schauen, der mich zu bestehen wagte!“
Da riefen die Jagdhörner zum fröhlichen Jagen, und Siegfried sprach: „Hörst du, wie die Hörner rufen? Die Gesellen würden meiner spotten, wenn ihnen jemand sagte, ich sei um eines Traumes willen vom Weidwerk ferngeblieben.“ Er küßte nochmals das liebende Weib und eilte fort. Sie sah ihm vom Fenster herab nach, sie winkte, und er rief ihr mit tönender Stimme einen Gruß zu, wie er, den Jagdleuten voraus, durch die Pforte trabte. „Die Hörner rufen“, sagte sie, „ja, sie rufen zum Tod!“ Da erschrak sie über ihre eigenen Worte.
So wandelt sich nun der vom Ego inszenierte Krieg mit den Nachbarn, um Burgund bzw. den menschlichen Körper zu verteidigen, in eine tierische Jagd im Odenwald bzw. „Sagenwald“ der Nebel-Welt jenseits des Rheins, um zu töten, und besonders die Vernunft. Und wie Kriemhild als reine Seele der Natur aus reiner Liebe für die Geburt und den Tod aller Körper sorgt und sogar für den körperlichen Tod ihres eigenen Ehemannes, so können wir nun in der folgenden Jagd-Geschichte aus männlicher bzw. geistiger Sicht sehen, wie ihr die Vernunft mit ihrer ganzheitlichen Macht dabei hilft, und lernen auch Siegfried als einen unschlagbaren Jäger im Wald der Nebel-Welt kennen, der nicht umsonst auch König im Nebel- bzw. Nibelungenreich ist:
Es war ein fröhlicher Ritt durch blühende Felder und finsteren Tannenwald und weiter in die grünen Berge hinein bis in das Revier, wo die Jagd beginnen sollte. Die Jäger verteilten sich, die Jagdhunde und starken Schweißhunde wurden losgelassen, um das scheue Wild aufzutreiben. Siegfried war bald im Dickicht, bald auf einer Waldlichtung. Seine Pfeile und sein Speer trafen auf unglaubliche Entfernung Hirsche und Rehe, wie auch Wölfe und grimmige Bären. Manchen Isegrim (Wolf) erlegte er mit dem Schwert, und einen heranstürmenden Auerstier warf er mit gewaltiger Faust zu Boden. Die Jäger befürchteten bald, er werde alles Wild im Wald ausrotten. Indessen fanden auch die anderen Recken noch reichliche Beute. Als man nachmittags zur Mahlzeit rief, rannte noch ein Bär vorüber. Der Held setzte ihm nach, überwältigte, knebelte und brachte das starke Tier zu den versammelten Recken.
Hier löste er die Bande und ließ den Bären frei, um die Freunde mit Kurzweil zu ergötzen. Daraufhin hetzte König Gunther seine bellenden Jagdhunde los, aber Meister Petz schlug so kräftig mit seinen Tatzen, daß die Hunde heulend entwichen und eine heillose Verwirrung entstand. Der Bär geriet unter das Kochgeschirr, warf Töpfe, Kessel und Pfannen durcheinander und rannte dann grimmig nach dem Waldesdickicht. Dort überholte ihn Siegfried und erlegte ihn mit dem Schwert.
Da sprang von den Sitzen · Herr und Knecht zumal.
Der Bär begann zu zürnen · der König gleich befahl
Der Hunde Schar zu lösen · die an den Seilen lag;
Und wär' es wohl geendet · sie hätten fröhlichen Tag.
Der Bär erscheint uns hier als ein Symbol für die körperliche Stärke der Natur. Und das war nun wieder eine Chance für den Verstand, auf die Macht der Vernunft zu vertrauen und sich zum Tag bzw. Licht des Lebens zu wenden, anstatt seine bellenden und bissigen Gedanken gegen die Stärke der Natur zu hetzen.
Die Recken saßen beim Mahl. Gebratenes und geschmortes Wildbret, blaugesottene Forellen, auch Hechte und Karpfen wurden aufgetragen, aber die Schenken brachten keinen Wein. Sie sagten, Hagen habe ihn jenseits in das entlegene Tiefental tragen lassen. „He, ungetreuer Geselle“, sagte Siegfried zu dem Recken, „willst uns vor Durst verschmachten lassen! Wären wir nur am Rhein geblieben, denn der hätte uns nach des Jagens Hitze reichlich getränkt.“ - „Das ist ohne mein Verschulden geschehen“, sprach Hagen: „Ich dachte, wir würden drüben, jenseits der Berge rasten und ließ dorthin den Wein bringen. Aber ich weiß in der Nähe eine Quelle köstlichen Wassers, dort am Wiesengrund, wo die Linden über das Dickicht emporragen und die Blumen frischer blühen. Ich möchte wohl versuchen, ob ich nicht im Wettlauf früher dort angelangte als der schnelle Siegfried.“ - „Du bist ein tüchtiger Recke“, sagte der Held von Niederland, „doch ich glaube, du wirst mir wohl nicht zuvorkommen. Und dazu will ich noch Schwert, Köcher und Speer tragen, während du ihrer ledig sein magst.“
Als sie von dannen wollten · zu der Linde breit,
Da sprach von Tronje Hagen · „Ich hörte jederzeit,
Es könne niemand folgen · Kriemhilds Gemahl,
Wenn er rennen wolle · hei! schauten wir das einmal!“
Da sprach von Niederlanden · der Degen (Held) kühn und gut:
„Das mögt ihr wohl versuchen · wenn ihr mit mir tut
Einen Wettlauf nach dem Brunnen · Ist dies dann geschehn,
Dem soll man's zuerkennen · den wir als den Sieger sehn.“
„Wohl, laßt es uns versuchen“ · sprach Hagen der Degen.
Da sprach der starke Siegfried · „Dann will ich mich legen
Hier vor eure Füße · nieder in das Gras.“
Als er das erhörte · wie lieb war König Gunther das!
Beide Recken stürmten den Wiesengrund aufwärts nach den Linden. Die Wiesenblumen versuchten, den kühnen Siegfried zu hemmen, die Zweige der Bäume winkten ihm rückwärts, und die Vögel in den Linden sangen so traurig, als wollten sie sagen: „Kehre dich um, edler Held, dein Verräter ist hinter dir.“ Doch Siegfried beachtete die Sprache der Blumen, Bäume und Vögel nicht, denn er vertraute auf die Freunde und auf sich selbst. „Hei, wie langsam du kriechst, gleich einer Blindschleiche!“, rief er dem keuchend nachkommenden Hagen entgegen: „Aber wahrlich, du bist doch ein guter Läufer, und es wird dich kein anderer in Burgundenland überholen. Hier ist nun der helle Quell, der den wegmüden Recken willig sein klares Wasser spendet. Indessen soll des Landes König den ersten Trunk schlürfen. So wollen wir im kühlen Schatten unter den Linden auf ihn warten und der Ruhe pflegen.“
Der inszenierte Durst und der Wettlauf zur Quelle gehören natürlich auch zum Plan von Hagen. Denn er weiß nur allzugut, daß er Siegfried nicht im offenen Kampf, das heißt, die Vernunft in ihrer Wirkung besiegen kann. Deshalb versucht er es an der Quelle bzw. Ursache, wo alle drei, Vernunft, Verstand und Ego, noch eins sind und auch Siegfried seine weltlichen Waffen ablegt, sogar das Schwert der Weisheit. Und der Wettlauf war wohl nötig, damit alle anderen Kräfte nicht sogleich folgen konnten, um den Mord zu bezeugen oder sogar zu verhindern. Im Nibelungenlied wird von einem Brunnen unter einer Linde gesprochen, der uns an den berühmten Schicksalsbrunnen unter dem Weltenbaum Yggdrasil erinnert, und damit auch an Mutter „Sieglinde“ und den Baum des Lebens, von dem das Lindenblatt auf die Schulter von Siegfried herabgefallen war, wo nun sein Körper verwundbar ist. Auch hier zügelt Siegfried seinen Durst, um auf den Verstand zu warten, der am langsamsten hinterherkommt. Und hier hat der Verstand seine letzte Chance, sich der Vernunft unterzuordnen und dem „Sieg-Frieden“ den Vortritt zu lassen:
Siegfried legte Schwert, Köcher und Speer ab und lagerte sich behaglich auf den blumigen Rasen. „Bist heute ein mürrischer Geselle“, fuhr er zu Hagen gewendet fort, „und die Sonne scheint doch so hell, und Himmel und Erde lachen uns an, als freuten sie sich auch über unser lustiges Weidwerk. Wir haben wacker aufgeräumt unter dem wilden Getier, das die Herden und Früchte der Bauern verwüstet. Hei, nun kommen sie endlich, die tüchtigen Gesellen! Wohlan, Gunther, lieber Schwager, du sollst den ersten Trunk tun aus dem hellen Quell, der aus dem Berg kommt.“ - Gunther neigte sich nieder, und schlürfte das frische Wasser. Dann trat Siegfried hinzu und sprach: „Ich gedenke einen tieferen Trunk zu tun. Aber habt keine Sorge, ihr edlen Recken, der Quell nimmt nicht ab, denn es rinnt immer reichlich Wasser nach. Es ist wie die Menschenwelt: Ein Teil geht nieder in die Erde, und ein Teil tritt wieder hervor ans Tageslicht. Das nimmt kein Ende.“ - „So ist es“, sprach Hagen, „was liegt an einem Menschenleben!“ Unterdessen hatte sich der Nibelungenkönig zum Brunnen niedergebeugt und trank in durstigen Zügen. Hagen dagegen trug eilends Schwert und Köcher des Helden weg, ergriff dessen Speer, zielte und schoß ihn gerade in das von Kriemhild sorglich gestickte Kreuz auf dem Mantel zwischen den Schultern, daß die Spitze durch Rücken und Brust stürmend vorn herausragte. Der todwunde Mann sprang auf, suchte nach dem Schwert, nahm, da er es nicht fand, den Schild und schlug damit den Meuchelmörder zu Boden. Mehr vermochte er nicht zu tun. Seine Farbe war erblichen, denn des Todes Waffe schnitt scharf. Der königliche Held sank nieder in die duftigen Blumen, die sich vom strömenden Blut rosenrot färbten, und rot wurde auch der Quell, der sonst silberhell strömte, rot der Himmel von der untergehenden Sonne. Es war, als erröte er wegen der geschehenen Untat.
So tötet nun der begriffliche Ego-Verstand die ganzheitliche Vernunft. Ja, die Vernunft an der Quelle bzw. Wurzel hinterlistig zu töten, das gelingt wohl auch noch unseren heutigen Königen. Denn kaum jemand kennt überhaupt noch den Unterschied zwischen Vernunft und Verstand. Alle loben nur den menschlichen Verstand, und Begriffe wie „Geist“ oder „Gott“ sind für viele fast schon Schimpfworte, so daß auch die meisten Wissenschaftler davor zurückschrecken, wie vor einem Teufel. So sind wir Ego-Meister geworden im Töten der Vernunft, färben entsprechend den Schicksalsbrunnen, aus dem alle Wesen trinken, und verdunkeln die Sonne des Bewußtseins, die allen Wesen scheint. Dennoch kann man auch heute noch die Botschaft von Siegfried hören, soweit man sie hören will:
Noch einmal richtete der Held sein schönes Haupt empor und sagte im Kreis umherblickend: „Mordsüchtige Schurken, welches Leid habe ich euch angetan?! Ich war euch stets gewogen und sterbe nun daran. So habt ihr an eurem Freund übelgetan. Ein Höllengeist hat euch die arge List eingegeben, da ihr nicht wagtet, mir im offenen Kampf ins Angesicht zu schauen, und Hagen, der feige Wolf, mußte den bösen Rat ausführen. Eure Namen wird man in später Zeit noch nennen, wenn man von feigen Verrätern spricht. Wankelmütiger König Gunther, der du ehrlos bist durch Missetat, höre das Wort des Sterbenden: Schütze mein Weib, denn sie ist deine Schwester! Schütze mein jammervolles Weib vor Hagen!“ Das waren die letzten Worte des königlichen Helden.
„Wohl nimmer hat begangen · so großen Mord ein Mann,“
Sprach er zu dem König · „als ihr an mir getan.
Ich erhielt euch unbescholten · in großer Angst und Not;
Ihr habt mir schlimm vergolten · daß ich so wohl es euch bot.“
Umher im Ring standen die Recken schweigend. Die Untat und die Worte des Sterbenden waren in ihre Herzen gedrungen, die nun wie lodernde Brände schmerzten.
Da sprach der grimme Hagen · „Ich weiß nicht, was euch reut:
Nun hat doch gar ein Ende · was uns je gedräut.
Es gibt nun nicht manchen · der uns darf bestehn;
Wohl mir, daß seiner Herrschaft · durch mich ein End' ist geschehn.“
Gunther nahm endlich das Wort: „Wir wollen bei dem Volk, das den Erschlagenen liebte, vorgeben, Räuber hätten ihn ermordet. Da wird uns auch Kriemhild ohne Schuld wähnen.“ - „Davon will ich abraten!“, sprach Hagen: „Ich hehle nicht, was meine List und meine Hand vollbracht haben. Nun hat unsere Königin die Sühne, die sie begehrt und die ihr gebührt, und wir sind in Burgund vor allen Feinden sicher. Denn kein Held ist und wird in der Welt geboren, der Siegfried gleich wäre und uns bestehen könnte. Was bekümmert mich das Geschrei des Volkes und die Klage eines Weibes! Man beschaffe eine Bahre aus Baumzweigen, daß man den toten Recken nach Worms bringe. Hei, da ist Balmung, sein gutes Schwert, das tut nun den letzten Dienst seinem alten Herrn und den ersten seinem neuen.“ Der Recke hieb rüstig Äste von der Linde ab und flocht eine Bahre, weil kein anderer Hand anlegte. Er hob auch unverzagt die Leiche darauf, und dann setzte sich der Trauerzug in Bewegung.
So bleiben nun der ängstliche Verstand und das stolze Ego übrig, das der Meinung ist, jetzt müsse jeder auch erfahren, daß er die unbesiegbare Vernunft besiegt hat, und er nun der größte Held in der ganzen Welt ist. Auch das hat wohl nicht viel mit Ehrlichkeit zu tun, und der blutgefärbte Fluß aus der Schicksalsquelle wird in die Welt fließen, wie wir noch lesen werden. Dagegen kann ihn auch das Schwert der Weisheit nicht beschützen, das er sich von der getöteten Vernunft aneignen will, denn er kann es doch nur mit trennendem Bewußtsein gebrauchen, wie er damit auch die Äste vom Baum des Lebens abschlägt. Was praktisch geschieht, wenn sich das Ego das Schwert der Weisheit aneignet, haben wir in der Welt schon oft erfahren. Denken wir nur an die tiefgründigen Erkenntnisse der Kernphysik, aus denen sogleich schreckliche Atombomben gebaut wurden, um größtes Leiden zu schaffen und auch heute noch die ganze Erde zu bedrohen. So wird das Ego niemals das Schwert der Weisheit mit seiner wahren Kraft gebrauchen können, wie ihm auch die Tarnkappe nutzlos bleibt.
In später Nacht kamen die Jagdmänner in die Stadt und zum Palast. Es war, als ob ein Grauen von dem toten Helden ausginge. Weder Recke noch Knecht wagte, ihn zu berühren. Hagen schalt sie feige Buben, lud allein die teure Bürde auf seine Schultern, trug sie in den Palast und legte sie verstohlen vor Kriemhilds Tür. Am Morgen wollte die Königin früh in das Heiligtum gehen. Sie rief einen Kämmerling, und als derselbe einen toten Mann, den er in der Dämmerung nicht erkannte, am Eingang liegen sah, verkündigte er es der harmvollen Frau. Sie schrie laut auf: „Es ist Siegfried! Brünhild ist die Anstifterin, und Hagen der Täter des Mordes!“ Man brachte Licht und sah, daß sie wahr gesprochen hatte. Der jammervolle Schmerz des unglücklichen Weibes war unsäglich. Sie fiel über des Gatten Leiche hin, und ihre Tränen flossen so reichlich, daß sie damit sein Angesicht von dem anklebenden Blut reinwusch. Da lag er nun, der freudig kühne Held, vor ihr kalt, starr, bleich und regungslos, er, der sie sonst in die Arme geschlossen hatte, lächelte ihr nie, nie mehr entgegen! Nie mehr! Das entsetzliche Wort kam ihr immer wieder in den Sinn. Wie gern wäre sie mit ihm gestorben, mit ihm in die Grube gegangen, oder, nach dem Glauben der Väter, mit ihm in Freyas Halle (der Ehe- und Liebesgöttin).
Auch der greise Sigmund erhielt Kunde von dem entsetzlichen Ereignis. Er kam und sah den einzigen Sohn, entstellt und gefällt, nicht im Sturm des Gefechts, nein, durch Mörderhand. Er klagte nicht, aber sein Herz wollte ihm brechen. Er deckte die klaffenden Wunden auf und küßte sie, als ob er hoffte, den Toten zu erwecken. Dann richtete er sich auf, der alte Mut erwachte in ihm und rief: „Mord! Rache! Auf, ihr Nibelungen, auf, euren Helden zu rächen!“ Mit diesem Ruf eilte er in den Hof, und die Nibelungen hörten das Wort und eilten herzu, sammelten sich in Waffen um den Greis, der Schwert und Rüstung forderte. Aber die Waffe entfiel seinen zitternden Händen, und er sank, von Schmerz und Anstrengung erschöpft, ohnmächtig zu Boden. Und ringsherum starrten Waffen in den Händen der Burgunden, und der grimmige Hagen führte neue Scharen her. So kehrten die Nibelungen zähneknirschend in ihre Herberge zurück.
Nun überschlagen sich die Symbole, über die man viel nachdenken kann. Und vor allem steht die Frage: Wer wird nun den Ego-Drachen Hagen besiegen? Es scheint nicht die Aufgabe von Großvater Siegmund und den mächtigen Helden aus der Nebel-Welt zu sein, und im Nibelungenlied rät ihm auch Kriemhild davon ab. Nicht umsonst wurde Siegfrieds Leiche vor Kriemhilds Tür gelegt, die nun zusammen mit der Seele der Natur ihren Lauf nimmt:
Am dritten Tag wurde die teure Leiche in das Heiligtum gebracht, um durch Priesterhand gesegnet zu werden. Das Volk drängte hinzu, und jeder wollte den Helden im Tod sehen, der lebend für Burgund gekämpft, der die Königstochter dem Drachen abgewonnen und so reiche Gaben gespendet hatte. Kriemhild stand am aufgedeckten, mit Gold und Edelsteinen verzierten Sarg. Sie weinte nicht mehr. Nur ihre geröteten Augen, ihre bleichen Wangen und das Zittern ihrer Glieder verrieten den inneren Schmerz. Da schritt unter der Menge ein tief verschleiertes Weib vorüber. Niemand wußte, wer sie war. Nur Kriemhild erkannte sie. „Weiche, Mordstifterin!“, rief sie ihr zu, „Weiche, daß nicht der Tote gegen dich aufsteht!“ Die Unbekannte verschwand unter der Menge. Nun umschritten die burgundischen Recken nach Sitte den Sarg. Als Hagen sich näherte, brachen die Wunden des Toten wieder auf und das Blut strömte warm hervor, wie zur Stunde des Mordes. „Wage nicht hier zu stehen, Meuchler“, sprach Kriemhild, „sieh, wie der Tote dich anklagt.“
Emil Lauffer: Die Bahrprobe (1879)
Doch der kühne Recke blieb stehen und antwortete: „Ich hehle nicht, was meine Hand getan. Es geschah in guter Treue für meinen Lehnsherrn und seine Königin.“ Hätte Kriemhild ein Schwert und Manneskraft gehabt, sie würde den Recken im Heiligtum erschlagen haben.
Da kam der König Gunther · hinzu mit seinem Lehn
Und auch der grimme Hagen · es wäre klüger nicht geschehn.
Er sprach: „Liebe Schwester · o weh des Leides dein,
Daß wir nicht ledig mochten · so großen Schadens sein!
Wir müssen immer klagen · um Siegfriedens Tod.“
„Daran tut ihr unrecht“ · sprach die Frau in Jammersnot.
„Wenn euch das betrübte · so wär' es nicht geschehn.
Ihr hattet mein vergessen · das muß ich wohl gestehn,
Als ich so geschieden ward · von meinem lieben Mann.
Wollte Gott,“ sprach Kriemhild · „es wär' mir selber getan.“
Sie hielten sich am Leugnen · da hub Kriemhild an:
„Wer unschuldig sein will · leicht ist es dargetan,
Er darf nur zu der Bahre · hier vor dem Volke gehn:
Da mag man gleich zur Stelle · sich der Wahrheit versehn.“
Das ist ein großes Wunder · wie es noch oft geschieht,
Wenn man den Mordbefleckten · bei dem Toten sieht,
So bluten ihm die Wunden · wie es auch hier geschah;
Daher man nun der Untat · sich zu Hagen versah.
Viele Gaben an Gold, Silber und Gewand wurden zu Ehren des ermordeten Königs unter die verteilt, welche dessen bedürftig waren. Am vierten Tag empfing die Erde, was ihr gehörte. Unter großem Gepränge wurde die Leiche des königlichen Helden in der Gruft beigesetzt. Es war eine reich ausgeschmückte Grabkammer, über welcher sich ein hoher Hügel erhob. Kriemhild folgte nach in die stille Kammer. Da wurde auf ihr Geheiß noch einmal der Sarg geöffnet. Sie küßte und überströmte mit ihren Tränen das bleiche Antlitz des Geliebten. Ihre Frauen mußten sie heraustragen, denn sie wollte ewig bei ihm bleiben. Draußen stand Hagen, wie immer unbewegt, grimmig dreinschauend, und sprach seinen gewohnten Spruch: „Was geschieht, das muß geschehen, so fügen es die Nornen (Schicksalsgöttinnen).“ Die Königin hörte ihn nicht, und sie sah auch nicht, wie Gunther, Gernot und viele Recken ihren Harm und ihre Reue vergeblich zu verbergen suchten, denn alle ihre Gedanken waren bei dem Toten.
Ja, solche Sprüche liebt das Ego und meint damit vor allem seinen eigenen Willen, der geschehen soll, aber die Schuld habe das Schicksal. Das ist ein interessantes Spiel, denn damit beraubt sich das Ego selbst seiner geistigen Freiheit.
Sigmund und die Nibelungen rüsteten sich zur Fahrt nach der Heimat. Sie wollten die trauernde Witte mit sich nehmen, damit sie nicht unter den ungetreuen Burgunden noch mehr geschädigt werde, aber sie wollte nicht von der Stätte scheiden, wo Siegfrieds Leib ruhte. Sie bat den greisen König und den Markgrafen Eckewart, ihr Söhnlein in Niederland treu zu bewahren, daß es dem Vater ähnlich werde. Er sei, sagte sie, ein Waisenknabe, vaterlos, vielleicht auch mutterlos, denn sie selbst habe nur noch einen Wunsch, und den flüsterte sie dem Greis leise ins Ohr, den der Rache. Nur von Frau Ute, die gleich der Tochter um den erschlagenen Helden trauerte, und von Giselher, dem Jungen, nahm Sigmund Abschied und trat mit seinem Gefolge die Reise nach Niederland an.
Wie sich Brünhild und Kriemhild als äußerliche und innerliche Natur verfeindet hatten, so trennen und verfeinden sich nun auch das körperliche Reich von Burgund und das geistige Reich von Niederland und Nibelung, die Siegfried mit ganzheitlicher Vernunft vereint hatte. Im Nibelungenlied war es vor allem Giselher, der „Einnehmende“, der Kriemhild bat, in Burgund zu bleiben. Aus geistiger Sicht macht das auch Sinn, denn die reine Seele kann sich jetzt nicht aus der körperlichen Burg von Burgund zurückziehen, wo ihr treuer Mann bzw. reiner Geist in der Materie „begraben“ wurde, um mit Siegmund ins geistige Reich zu gehen, weil sie im körperlichen Menschen noch eine schicksalhafte Aufgabe zu erfüllen hat, um die Bindung von Ursache und Wirkung zu verwirklichen.
Da sprach der junge Giselher · „Liebe Schwester mein,
Du sollst bei deiner Treue · hier mit deiner Mutter sein.
„Die dir das Herz beschwerten · und trübten dir den Mut,
Du bedarfst nicht ihrer Dienste · du zehrst von meinem Gut.“
Sie sprach zu dem Recken · „Wie könnte das geschehn?
Vor Leide müßt' ich sterben · wenn ich Hagen sollte sehn.“
„Dessen überheb' ich dich · viel liebe Schwester mein.
Du sollst bei deinem Bruder · Giselher hier sein;
Ich will dir wohl vergüten · deines Mannes Tod.“
…
Brünhild die schöne · des Übermutes pflag:
Wieviel Kriemhild weinte · was fragte sie darnach!
Sie war zu Lieb und Treue · ihr nimmermehr bereit;
Bald schuf auch ihr Frau Kriemhild · wohl so ungefüges Leid.
So wurde nun die Vernunft im Menschen getötet, wie es im Laufe des Lebens vielen Menschen geschieht, in denen die Vernunft zwar erwacht und ihre ganzheitliche Macht zeigt, aber der Verstand sich doch lieber dem Ego unterordnet, um eigenwillige Ziele zu verfolgen, so daß der große Sieg-Frieden nicht erreicht werden kann. Aber die Geschichte geht weiter…
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