Home | Bücher | News⭐ | Über uns |
Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Nach manchem Gruß und mancherlei Reden unter den Recken, die gemeinsame Feste gefeiert und Kämpfe bestanden hatten, ritten die Könige mit ihren Mannen nach Etzelburg. An der Straße und im Burghof drängte sich das Volk, um die kühnen Burgunden, vornehmlich den viel berüchtigten Hagen von Tronje zu sehen, der den starken Siegfried erschlagen hatte. Als er vom Roß sprang und zu der Königin ging, staunte man über die hohe Heldengestalt mit breiter Brust und mächtiger Schulter, aber mancher Mann erschrak, wenn er ihm in das grimmige Angesicht schaute, das von wirrem, zum Teil schon ergrautem Haar und Bart umschlossen war. Als die Menge herzudrängte und die Herren dadurch behindert waren, blickte er mit seinem einzigen Auge so fürchterlich umher, daß die Hünen entsetzt zurückwichen, wie vor einer giftigen Schlange.
Wegen des einen Auges wird Hagen gern mit Odin verglichen. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied: Odin hat ein Auge geopfert, um seine Sicht und damit auch sein Bewußtsein zu erweitern und sich ganzheitlich in der ganzen Schöpfung selbst zu erkennen. Hagen jedoch hat ein Auge verloren, so daß sich seine Sicht halbierte und trennte, wie es für die einseitige Sicht eines Egos typisch ist, das alles nur noch aus persönlicher Perspektive sehen kann. Und diese abgetrennte Bewußtseinsblase wird dann ohne ausgleichende Vernunft im Leben immer härter, körperlicher, bedrohter und grimmiger, das heißt, dieses Auge schaut mit grimmigem Haß in die Welt. So wird hier noch einmal das Ego-Wesen von Hagen angedeutet, wie es äußerlich erscheint und viele Hünen davor zurückweichen, aber innerlich sind wohl alle noch mehr oder weniger mit ihm verbunden, vor allem durch die Kraft der Erinnerung bzw. dem „Gedächtnis“ ihres Verstandes.
Die Recken gelangten, von Dietrich und Rüdiger geleitet, in den Burghof, wo ihnen die Königin mit Gefolge entgegenkam. Sie grüßte die Könige und küßte den jungen Giselher, ihren Bruder, aber die Recken schien sie wenig zu beachten. Da sprach der Held von Tronje: „Wenn man geladen ist und darum eine weite Fahrt getan hat, so sagt der Gastgeber nach löblicher Gewohnheit: ‚Sei willkommen!‘ Im Hünenland, dünkt mich, ist man dieser Sitte unkundig.“ - „Herr Hagen von Tronje“, sprach Kriemhild, „hast du durch deine Taten um solchen Gruß geworben? Hast du mir etwa den gestohlenen Nibelungenschatz als Gabe mitgebracht?“ - „Der liegt versenkt im tiefen Rhein, bis der Weltuntergang hereinbricht!“, antwortete der Recke: „Hätten mir die Boten kundgetan, daß die Königin der Gaben bedürftig sei, so bin ich reich genug, solche zu bieten.“ - „Deren kann ich leicht entbehren“, sprach die edle Frau, „bin ich doch nun reich genug, selbst allen Burgunden Gold und Kleinodien zu bieten. Ich wähnte nur, du wolltest mir mein eigenes Gut, das mir gestohlen wurde, zurückgeben.“ - „Ich habe an Schild, Helm, Rüstung und dem scharfen Schwert schwer genug zu tragen“, sprach der Held, „so bring' ich dir den Teufel, der hat sehr reichen Schatz.“ - „Ich begehre nicht deine Gaben!“, rief die Königin: „Du hast mir schon übel genug gedient mit tückischem Mord und listigem Raub. Und dafür bin ich noch in der Schuld.“ So schied sie mit Zorn von dem Recken, berief aber ihre Dienstmannen und versprach, daß sie dem, der Siegfrieds Tod räche, hold sein und großen Reichtum verleihen werde. Da berieten sich ihre Recken, wie sie den Dienst leisten könnten, den ihre Herrin begehrte.
Warum wünscht Kriemhild den Nibelungenschatz? Nun, ihr geht es offenbar nicht um einen äußerlichen Wert, sondern darum, das Ego von Hagen an der Wurzel zu vernichten. Denn das Ego ist ein trennendes Bewußtsein, und damit ist einerseits die Vorstellung von eigenem Eigentum verbunden und anderseits die Vorstellung, daß man anderen etwas wegnehmen kann. Aus Sicht der ganzheitlichen Vernunft gehört natürlich der Nibelungenschatz aus dem Bauch der Erde auch der Seele der Natur, und der Geist sollte hier mit dem begrifflichen Ego-Verstand keine Trennung schaffen, um sich irgendetwas anzueignen. Doch diese Sicht der Vernunft hatte Hagen getötet und erkennt nicht, was Kriemhild von ihm fordert, wie er auch nicht erkennen konnte, was der Fährmann am Fluß des Todes von ihm forderte. Damit versuchte Kriemhild wieder aus Liebe, die sich dem jungen Giselher zeigte, das große Blutvergießen im Drachenkampf zu verhindern und gab Hagen eine weitere Chance, sein eigenwilliges Wesen aufzugeben und sich unterzuordnen. Doch das Ego weigerte sich und forderte damit den Zorn der reinen Seele der Natur als Prinzip der Verursachung bzw. Rache heraus, so daß nun die Hünen-Vernunft gefordert ist, den Ego-Drachen zu besiegen und damit ihre Liebe und den Reichtum der Wahrheit zu gewinnen. Die große Frage ist wieder, auf welche Seite stellt sich der herrschende Verstand in Burgund bzw. im Menschenkörper?
Darauf wandte sich die Königin wieder zu ihren Brüdern und lud sie ein, ihre Rüstungen abzulegen, auch ihren Mannen das Gleiche zu befehlen, da es nicht Sitte sei, in Waffen vor dem König der Hünen zu erscheinen. „Davon will ich abraten!“, sprach der Held von Tronje: „Ich gedenke, Schild und Waffe vor dem König, wie vor der Königin, mit Ehren zu tragen. Man will uns wohl wehrlos machen, um uns wie gebundenes Schlachtvieh dem Schlächter zu übergeben.“ - „Wüßte ich“, antwortete Kriemhild, „wer ihm solches geraten hatte, dann sollte es ihm ans Leben gehen.“ - „Den Mann kann ich dir nennen“, sprach der Held von Amelungen: „Er heißt Dietrich von Bern und steht hier vor dir. Er weiß, daß ein teuflischer Rat gepflogen ist, die Recken vom Rhein, insbesondere meinen alten Gesellen Hagen von Tronje, zu ermorden.“ Die Königin antwortete nur mit einem zornigen Blick und schritt alsbald nach ihren Sälen.
„O weh dieses Leides!“ · sprach da Kriemhild:
„Warum will mein Bruder · und Hagen seinen Schild
Nicht verwahren lassen? · Gewiß, sie sind gewarnt:
Und wüßt' ich, wer es hat getan · der Tod der hielt' ihn umgarnt.“
Im Zorn gab ihr Antwort · Dietrich sogleich:
„Ich bin es, der gewarnt hat · die edlen Fürsten reich
Und Hagen den kühnen · der Burgunden Mann:
Nur zu, du Braut des Teufels · du tust kein Leid mir drum an.“
Da schämte sich gewaltig · die edle Königin:
Sie fürchtete sich bitter · vor Dietrichs Heldensinn.
Sie ging alsdann von dannen · kein Wort mehr sprach sie da,
Nur daß sie nach den Feinden · mit geschwinden Blicken sah.
Da nahmen bei den Händen · zwei der Helden sich,
Der eine war Hagen · der andere Dieterich.
(Nibelungenlied, Das Heldenbuch, Band 2, Simrock, 1864)
Auch das ist aus geistiger Sicht eine interessante Frage: Wer sagt, daß die Seele der Natur irgendwen töten will? Nun, diese Vorstellung kann eigentlich nur der begriffliche Ego-Verstand haben, der nur die äußerliche Natur kennt, an Brünhild auf Isenland denkt und dort seine Herausforderung sucht. Die reine Seele der Natur, die sich mit Siegfried vereint hat, kann nur reine Liebe und reiner Frieden sein, denn der Ego-Drachen des trennenden Bewußtseins wurde von Siegfried besiegt. Zorn, Haß und Tod kann also nur der Ego-Verstand sehen, der sogar an „Gottes Zorn“ glaubt und offenbar auch in Dietrich noch lebendig und wirksam war. So glaubt auch der Ego-Verstand an die ewige Dunkelheit der Vernichtung, und dieses Verständnis läßt ihn schließlich auch im Fluß des Todes untergehen und im Schwarzen Meer auf ewig versinken. Denn wie das Wasser des Lebens als Bewußtsein aus dem Meer wieder in die Quelle des Lebens kommt, das kann er nicht verstehen.
Während die Könige noch miteinander redeten, sah man hünische Recken umhergehen, die gar feindlich nach ihnen spähten. Da fragte Hagen, ob wohl einer der burgundischen Helden mit ihm vor Kriemhilds Saal gehen wolle, damit die Hünen sähen, daß sie ohne Furcht seien. „Was fragst du lange?“, sprach der kühne Volker: „Ich bin dein Heergeselle und habe einen so scharfen Fiedelbogen, daß die Köpfe vor Wonne von den Hälsen springen, wenn ich aufspiele.“
„Sicherlich, ich helfe euch“ · so sprach da Volker.
„Und sähe ich uns entgegen · mit seinem ganzen Heer
Den König Etzel kommen · all meines Lebens Zeit
Weich' ich von eurer Seite · aus Furcht nicht eines Fußes breit.“
So gingen die unverzagten Recken in den inneren Burghof und setzten sich auf eine Bank, dem Saale der Königin gegenüber. Die edle Frau erkannte sie wohl. Sie stieg mit ihren Frauen die Treppe hinunter, und mehr als hundert wohlgewappnete Dienstmannen versammelten sich um sie. Volker wollte vor ihr aufstehen, aber der stolze Hagen hieß ihn niedersitzen, weil die Hünen sonst glauben könnten, sie hätten Furcht. Er legte auch breit auf seine Beine das gute Schwert Balmung mit dem Knauf von Jaspis und der goldberingten Scheide. Die Königin fragte ihn, warum er ihr so feindlichen Haß trage, und warum er den edlen Siegfried hinterlistig erschlagen habe? „Wahrlich“, sprach er, „ich habe niemals geleugnet, daß ich es getan habe. Um seinetwillen wurde die Königin der Burgunden geschmäht und das Königshaus in Unehre gebracht. Mit Blut mußte die Schmach getilgt werden, und weil der Held zu stark im offenen Kampf war, wurde er mit List gefällt. Mag man mich darum schelten, und mag jemand das Geschehen zu rächen gedenken, ich bange und verberge mich nicht. Hier bin ich leicht zu finden.“ Da wandte sich Kriemhild an ihre Dienstmannen und forderte sie auf, den Lästerer ihrer Königin, den arglistigen Mörder zu strafen. Aber die zwei kühnen Männer blickten so grimmig umher, daß keiner der Hünen sie anzutasten wagte, auch wenn Frau Kriemhild eine reiche Fülle Goldes bot. „Gold ist wohl ein wertes Gut, aber ein zerspaltenes Haupt und ein zerhauener Leib werden davon nicht heil. Der Spielmann hat den Teufel, und läßt, wenn er den Fiedelbogen schwingt, keinen genesen. Und Hagen kennen wir wohl, wie er einst Geisel war bei König Etzel und mit Walther von Spanien an der Spitze unserer Heere focht. Damals war er noch jung, jetzt ist er an Kraft und Klugheit gewachsen. Schau, wie sein einziges Auge von Zornmut funkelt, als spähe er, wen er zuerst zerhauen wolle!“ So sprachen die Recken und gingen ihres Weges. Die Königin aber schritt voller Scham nach ihrer Kammer.
Hier zeigt sich wieder die subtile Furcht des stolzen Egos, und wie es versucht, sie äußerlich zu unterdrücken, damit sie niemand sehen kann. So sitzt nun das Ego mit seinem Schicksal auf einer Bank, und sie werden sich bis in den Tod nicht wieder trennen, denn die Freiheit des Geistes ging ihnen verloren, weil sie die reine Seele der Natur nicht erkennen und mit Liebe anerkennen wollen. Und damit werden sie von ihr gebunden, was wohl der Verstand nicht verstehen kann. Doch welcher Mann bzw. Geist kann nun das Ego besiegen, wenn sein Schicksal nicht mehr frei ist? Etzels Hünen erkennen es wohl, daß es sinnlos ist, gegen das Schicksal anzukämpfen. Und darin zeigt sich die Freiheit der Vernunft im Dienst für die Seele der Natur, wie auch Siegfried immer frei und ungebunden war. Ja, so leicht ist der Ego-Drachen nicht zu besiegen… Darum dreht sich im Grunde auch die Jugendgeschichte von Hagen und Walther als Geiseln von König Etzel, die wir noch ausführlicher in der Dietrichsage kennenlernen werden.
Jetzt traf die Botschaft ein, der Beherrscher der Hünen begehre, die edlen Burgunden in seinem Palast zu empfangen. Nun wurde nicht mehr gesäumt: Den König Gunther geleitete Dietrich von Bern, mit Gernot ging Herwart, der Lehnfürst von Dänenland, mit Giselher ging der edle Markgraf Rüdiger, mit Dankwart der kühne Thüringer Irnfried, und Wolfhart, Dietrichs Mann, und der Däne Iring gesellten sich zu den anderen Recken. Hagen und Volker schieden sich nicht, wie sie auch im Sturm der Schlacht stets Schild an Schild zu fechten pflegten. Als die Helden in den weiten Saal eintraten, erhob sich Etzel von seinem Hochsitz und hieß die Gäste willkommen. Sie sollten, sagte er, gute Herberge mit all ihrem Gesinde haben. Nachdem er die Helden begrüßt hatte, sprach er: „Nun wüßte ich gern die Geschichte, wer die zwei Gesellen sind, die dort beisammenstehen und wie kühne Recken erscheinen.“ - „Es ist Volker, der Spielmann, und Hagen von Tronje, mein Verwandter“, sprach König Gunther, auf die beiden Recken deutend. „So schaue ich dich nun wieder von Angesicht“, rief Etzel, „und grüße dich als alten Freund, vieledler Held. Doch du bist jetzt ein anderer Mann geworden, als du zu der Zeit warst, da ich dich wegen deiner kühnen Taten in meinem Dienst aus der Geiselhaft frei nach Burgund entließ. Du hast ein Auge verloren, dein Haar ist schwarz und grau, und furchterregend ist dein Angesicht, so daß du wohl manchen Helden erschrecken kannst, wenn du dein Breitschwert ziehst.“ - „Wer kann wissen“, sprach der kühne Held, „ob das nicht bald geschieht.“ - „Im Hünenland nimmer!“, antwortete der Herrscher: „Da bist du, wie alle Burgunden, ein werter Gast.“
Hier kann man aus geistiger Sicht symbolisch sehen, wie die Hünen-Vernunft den Burgund-Verstand an die Hand nimmt und sie paarweise vor dem König der Hünen erscheinen. Nur das Ego läßt sich nicht davon führen, sondern nur vom eigenen Schicksal. So erkennt König Etzel das Ego wieder, das er früher in Geiselhaft hatte, aber nach Burgund in die Körperlichkeit freiließ, wo er offenbar nicht zur Vernunft gekommen ist. Doch wie Siegfried, so sucht auch Etzel keinen Kampf, sondern Frieden.
Noch mancher Gruß und manche freundliche Rede wurde da gepflogen. Dann lud man die Recken zum festlichen Mahl. Es war gerade am Tag der Sonnenwende, daß die Burgunden angelangten, und sie hatten noch niemals das Fest so herrlich gefeiert, wie hier im Hünenland. Nach dem Mahl schlürften Gastgeber und Gäste reichlich süßen Met und feurigen Wein. Erst am späten Abend trennte man sich mit gegenseitigem Gedränge, und die Burgunden wurden in einen weiten Saal gewiesen, wo für sie Betten mit daunenweichen Kissen und goldumsäumten Decken hergerichtet waren.
Von allen Seiten drängen · man die Gäste sah.
Volker der kühne · sprach zu den Heunen da:
„Wie dürft ihr uns Recken · so vor die Füße gehn?
Und wollt ihr das nicht meiden · so wird euch übel geschehn.
„Die Hünen gönnen uns zwar große Ehren und gut Gemach“, sprach Hagen, „aber ich fürchte, sie haben üble List gegen uns im Sinn. Darum halte jeder Recke sein Streitgewand in Bereitschaft! Ich will Kammerdiener sein und die Tür gegen jeden Überfall wohl bewahren.“ - „So bin ich dein Geselle!“, fügte der Spielmann hinzu: „Durch zweier Recken Schwerter ist der Eingang sicherer bewahrt als durch Schloß und Riegel.“ Darauf setzten sich die Helden auf eine Steinbank vor der Pforte. Volker aber nahm sein Saitenspiel und fiedelte gewaltig, daß die Wände des Saales widerhallten, dann immer leiser und lieblicher, bis die Männer entschlafen waren. Nun ergriff er wieder Schwert und Schild und pflegte mit seinem Gesellen der Wache.
So kommt nun wieder eine „Sonnenwende“, und wir ahnen schon, wohin sich die Geschichte wendet. Dazu sammeln Volker und Hagen die Burgunder in einem großen „Schlafgemach“, das ihnen Kriemhild als Frau des Hauses und Seele der Natur voller Liebe eingerichtet hat, worin man symbolisch auch den menschlichen Körper sehen kann. Und hier schläft der Verstand unter dem Klang der Schicksalsgeige langsam ein, bewacht von Hagen als „Beschützer der körperlichen Grenze“ und Volker als Schicksal gegen das Eindringen der Vernunft.
Um Mitternacht sah der Spielmann bei Sternenlicht Helme und Schilde glänzen. Er zeigte es dem Gefährten, der alsbald erkannte, daß es die Dienstmannen der Königin seien, die auf nächtlichen Mord ausgingen.
Bevor diese Recken · Kriemhild hatte entsandt,
Sie sprach: „Wenn ihr sie findet · so seid um Gott ermahnt,
Daß ihr niemand tötet · als den einen Mann,
Den ungetreuen Hagen · die andern rühret nicht an.“
…
Der Heunen-Recken einer · das gar bald ersah,
Die Türe sei behütet · wie schnell sprach er da:
„Was wir im Sinne hatten · kann nun nicht geschehn:
Ich seh' den Fiedelspieler · vor dem Hause Schildwacht stehn.
Sie kamen gar still und heimlich heran, wichen aber zurück, als sie die kühnen Wächter erblickten. Der Spielmann wollte sie angreifen und ihnen mit scharfen Schwertstreichen das Geleit geben, aber Hagen wehrte ab, weil etwa ein Haufen hinter ihrem Rücken in den Saal dringen und die schlafenden Freunde ermorden könne.
So fühlt sich nun das Ego von der übermächtigen Vernunft ringsherum äußerst bedroht und versucht, sich selbst mit seinem Körper davor zu beschützen. Da hatten die Hünen der Vernunft keine Chance, im Dunkeln unbemerkt in den Körper einzudringen und das Ego zu besiegen, wenn es vom schlafenden Verstand und seinen Freunden nicht verteidigt wird, denn es bewacht zusammen mit dem Schicksal die Tür. Entsprechend zieht sich die Vernunft wieder still zurück, zum Leidwesen von Kriemhild.
So wurde vorerst der Frieden bewahrt, und als das Morgenrot aufstieg, erhoben sich die Burgunden freudig, gürteten ihre Streitgewänder um und schritten gewappnet in den Tempel zur festlichen Feier der Sonnenwende. Auch König Etzel erschien mit großem Gefolge und fragte verwundert, als er seine Gäste bewaffnet im Heiligtum erblickte, ob sie unter seinem Schutz feindliche Begegnung erfahren hätten. Sie aber schwiegen von dem nächtlichen Vorfall und sagten, es sei die Sitte der Burgunden, in Waffen zur festlichen Feier zu schreiten. Nach dem Festopfer wurde ein reichlicher Imbiß eingenommen, dann gab es Spiele, Tänze und Gesang von Jünglingen und Jungfrauen und mancherlei Kurzweil. Dann begannen auf Wunsch des Spielmanns Volker Turnierspiele zwischen den Recken der Hünen und Burgunden. Auch die Recken Dietrichs und Rüdigers wünschten, sich mit den waffenberühmten Helden vom Rhein zu messen, aber ihre Herren verboten ihnen dieses Turnier. Daher tummelten sich die Nibelungen nur mit den kampflustigen Recken der Hünen herum und erwiesen, daß sie denselben in allen Kämpfen weit überlegen waren. Die Spiele waren zu Ende, und die Recken begehrten zu rasten. Wie sie aber den Kampfplatz verließen, sprengte noch ein starker Hünenfürst in glänzender Rüstung heran und forderte zum Turnier auf, indem er sagte, die fremden Gäste hätten sich nur mit geringem Volk versucht, nicht mit fürstlichen Helden. Darüber ergrimmte der kühne Volker, ergriff seinen Speer und stieß ihn dem anstürmenden Recken unter dem Schildrand in den Leib. „Mord! Blut! Nieder mit dem fremden Mordbuben!“, riefen da die Recken der Hünen und alles Volk, den Spielmann umringend. Schon stand Hagen an dessen Seite, schon blitzten die Schwerter, da sprang König Etzel unter die Menge, und drohte jedem den Tod, der seine Gäste schädige. So wurde der Friede äußerlich wiederhergestellt, doch blieb der Unmut in den Herzen zurück, wie die zornigen Blicke verrieten.
Da sprach der kühne Volker · der edle Spielmann:
„Zu feig sind diese Helden · sie greifen uns nicht an.
Ich hörte immer sagen · daß sie uns abhold sei'n:
Nun könnte die Gelegenheit · ihnen doch nicht günstiger sein.“
So nimmt nun das Schicksal unter der Geige von Volker seinen Lauf. Aber König Etzel kann immer noch den Frieden bewahren.
Die Helden saßen wieder beim Mahl, auf dem Hochsitz der König und die Königin. Als sie gespeist hatten, wurde mancher Becher geleert und freundliche Reden wechselten hinüber und herüber.
Da nicht anders konnte · erhoben sein der Streit,
Kriemhilden lag im Herzen · begraben altes Leid,
Da ließ sie zu den Tischen · tragen Etzels Sohn:
Wie könnt ein Weib aus Rache · wohl entsetzlicher tun?
Als dann König Etzel in heiterer Laune sein liebes Söhnchen Ortlieb sah, wie es sein Kämmerer hereinbrachte, sprach er: „Seht nur! Seht hier meine Freude und Wonne! Er gleicht seiner Mutter, und wenn er ihrem ersten Mann nachartet, dann wird er der ruhmvollste Held, und soll auch mächtig werden, wie ich selbst. Denn ich gebe ihm zwölf Reiche, die ich durch manchen heißen Kampf gewonnen habe. Wenn er größer ist, bringe ich ihn zu euch über den Rhein, daß er adlige Sitte und Kampfspiele erlerne.“ Alle Helden bewunderten das liebliche Knäblein, aber da ergriff Hagen das Wort und sprach: „Ich werde wohl niemals mit ihm zu Hofe gehen, denn das Büblein dünkt mich gar schwach, kläglich und einem frühen Tod verfallen.“ Unmutig und zornig wandten sich alle Augen nach dem kühnen Helden von Tronje. Zugleich vernahm man von außerhalb wüstes Getöse, Geheul, Waffenklirren und schallende Schwertstreiche.
Ja, jetzt wird es richtig Ernst, und aus geistiger Sicht führt nun die reine Seele der Natur ihre stärkste Waffe in den Kampf, nämlich ihr Kind „Ortlieb“ als die „Schwertspitze der Liebe“. Und die trifft das Ego natürlich an der Wurzel, denn ein trennendes Bewußtsein ist zu wahrer Liebe nicht fähig. Deshalb liebt Hagen weder eine Frau noch Kinder, und vor allem nicht jene, die von der Vernunft gezeugt und der reinen Seele geboren wurden. Damit beginnt nun der große Kampf:
Denn bevor die Helden zum Festmahl in die Königshalle schritten, sprach die Königin heimlich mit dem König von Bern. „Du wünschst, kühner Held“, sprach sie, „dein Amelungenland wiederzugewinnen. Ich will schaffen, daß dir Etzel mit seiner ganzen Macht Hilfe leistet, wenn du mir eine Bitte gewährst. Ich bin beraubt, gleich dir selbst, meines teuersten, einzigen Gutes durch schmachvollen Mord, beraubt meines Siegfrieds, des herrlichsten Helden. Räche ihn an Hagen, dem Mörder!“ - „Wolltest du, vieledle Königin, mir Amelungen- und Hünenland und die Kaiserkrone von Rom überantworten, so dürfte ich doch nicht Siegfrieds Rächer sein. Denn die Burgunden sind mir werte Freunde, und sie sind auf Treue hierhergekommen.“ So sprach Dietrich und verließ die Königin, die ungetröstet zurückblieb. Da kam Blödelin, Etzels Bruder, hastig und voll Zorn. Er erzählte ihr von dem Übermut der Nibelungen und wie Volker einen vornehmen Fürsten im Turnierspiel ermordet habe. Da sprach sie auch zu ihm von dem noch ungesühnten Tod Siegfrieds und verhieß ihm einen reichen Schatz an Silber und Gold. Doch er weigerte sich aus Furcht vor Etzels Zorn. Daraufhin bot ihm Kriemhild noch ein Markgraftum mit Burgen und Städten und dazu eine gar schöne Frau, die Witwe von Nudung (dem erschlagenen Sohn von Rüdiger), die seine Liebe bisher verschmäht hatte. Sie versprach ihm ihren wonniglichen Leib genießen zu können, und mit diesem Versprechen gewann sie den Recken der Hünen. Darauf versprach er, einen Streit zu veranlassen, und wenn Hagen herbeieile, zu schlichten, werde er ihn von seinen Mannen niederwerfen lassen und gebunden der Königin überliefern.
Der Name Blödelin als Bruder von Etzel erinnert an Bleda, den älteren Bruder des historischen Königs Attila, welcher nach dessen gewaltsamen Tod zum Alleinherrscher über das Hunnen-Reich wurde. Das Adjektiv „blöd“ hatte damals im alten Deutsch mehr die Bedeutung von schwach und wankelmütig, was uns in dieser Geschichte an den wankelmütigen Gunter-Verstand erinnert, der ebenfalls danach begehrte, den Leib der äußerlichen Natur zu begreifen und zu genießen. In diesem Sinne paßt auch die heutige Bedeutung von „blöd“ als „unvernünftig“.
Nach dieser Verabredung begab sich Kriemhild in ihre Kammer, wo Vorhänge von indischer Seide nur ein mildes Dämmerlicht hereinließen. Hier überdachte sie, was geschehen war, und wie der schwache Mensch niemals die Folgen einer Absicht und Tat voraussehen könne. Da fielen ihr die Worte ihrer Mutter Ute ein: „Frauen vergießen oft mehr Blut mit ihrer Zunge und schlagen tiefere Wunden, als Männer mit ihren Schwertern.“ Sie wollte sich erheben und Blödelin zurückhalten, aber da stieg vor ihr das Bild einer Totenbahre auf, und darauf ruhte der geliebte Held mit der Todeswunde in der Brust. Er richtete sich empor und breitete die Arme nach ihr aus. Sie eilte auf ihn zu, aber da zerrann das wesenlose Bild. Dies schien ihr eine Rachemahnung, und nun war sie fest entschlossen. Sie schritt in den Königssaal und setzte sich an Etzels Seite, aber nahm an den Reden der Helden nicht teil. In ihrer Seele wogten die Gedanken auf und nieder: „Ob ich selbst, ob mein liebes Söhnchen, ob Etzel das Leben lassen sollte, ob diese Burg und das Reich der Hünen über mir in Trümmer zusammenbrächen, wenn ich nur den Mörder mit mir in die Grube ziehe, dann sterbe ich gern.“ Das waren ihre Gedanken, als sie das Knäblein Ortlieb holen ließ, und es hereingebracht wurde.
Warum zweifelt Kriemhild? Die Seele weiß natürlich, daß der Blödelin-Verstand diesen Drachenkampf niemals gewinnen kann. Doch er kann ihn beginnen. Und so wird nun dieses innerliche Wogen und Kämpfen der Gedanken auch äußerlich symbolisch dargestellt, wie der Blödelin-Verstand mit seiner Gedankenarmee gegen Dankwart als „Gedächtnis“ und „Hüter der Gedanken“ ankämpft, um das Ego herauszufordern:
Blödelin hatte indessen seine Mannen aufgeboten und ihnen befohlen, sich zu wappnen und schweren Streites gewärtig zu sein, weil er die übermütigen Nibelungen zu züchtigen gedenke. Das war allen eine frohe Kunde, und sie folgten ihm willig in die Halle, wo Dankwart als Marschall die Knechte behütete. Der Held erhob sich vom Sessel, den fürstlichen Recken zu begrüßen, aber dieser rief ihm zu: „Bereite dich zu sterben! Die Königin begehrt blutige Sühne für den Tod des starken Siegfried.“ - „Ich bitte dich, wie soll ich Buße geben für einen Mord, an dem ich nicht beteiligt war?“ - „Es muß so geschehen!“, rief der Hüne: „Die Schwerter meiner Mannen kehren nicht unblutig in die Scheide zurück.“ - „So gereut mich mein Bitten, und ich gebe dir mit blanker Waffe Antwort.“ Damit zückte Dankwart sein Schwert und traf den Recken so kraftvoll durch den Halsschutz, daß sein Haupt ihm zu Füßen fiel.
Das Dankwart-Gedächtnis fühlt sich natürlich unschuldig an der Mordtat des Egos und kann den Blödelin-Verstand mit einem Schlag überwinden, wie wir auch aus eigener Erfahrung wissen, wie schnell das Gedächtnis den Verstand mit schlagkräftigen Vorstellungen überwältigen kann. Und danach streiten sich noch lange die tausenden Gedanken, die das Gedächtnis niemals überwältigen können, sondern immer nur stärker machen:
Wildes Getümmel, wütendes Geschrei erhob sich im Saal, Speere sausten und Schwerter blitzten. Die ungerüsteten Knechte ergriffen Trümmer von Tischen und Bänken und zerschmetterten Helme und Schilde, Köpfe, Arme und Beine, doch erlag ihrer noch eine größere Zahl. Der kühne Dankwart stritt wohlgerüstet dem Gesinde voran und bahnte sich mit dem Rest der Knechte einen Weg ins Freie. Aber hier fielen noch weitere Tausende über sie her, so daß die kleine Schar den mörderischen Waffen erlag. Nur der kühne Dankwart stand noch hoch aufgerichtet und unerschüttert. Schauer von Speeren rasselten ihm auf Helm und Rüstung. Er wünschte nur einen Boten, der seine Sorgen den Königen und seinem Bruder kundtue. „Der Bote sollst du selber sein“, riefen die Knechte der Hünen, „wenn wir dich tot in den Saal tragen.“ Doch der starke Held gab sich noch nicht verloren. Wohin sein Schwert traf, da sank auch ein Hünen-Knecht. So schritt er herrlich, wie ein Sieger, durch die Menge, erreichte die Treppe, die zum Königssaal führte, und trat blutüberströmt in die große Halle. „Auf, Bruder Hagen!“, rief er: „Rette mich vor den ungetreuen Hünen! Herr Blödelin griff mich und das Gesinde an, um Siegfrieds Tod zu rächen. Er liegt von meiner Hand erschlagen. Aber auch unsere Knechte sind alle tot. Nur ich entrann den Mörderhänden.“
Klar, durch den Kampf der Gedanken kann das Ego niemals besiegt werden, aber es wird herausgefordert und fühlt sich nun von allen Seiten zutiefst angegriffen. Sein Gedächtnis ist „blutüberströmt“, und alle seine Knechte bzw. Gedanken, die noch zur Vernunft raten könnten, sind im Kampf gefallen. Damit wird die Geschichte nun völlig verrückt, sozusagen „irrational“, denn auch König Etzel hat in diesem Kampf seinen Verstand verloren und kann nicht mehr verstehen, was jetzt geschieht:
Da erhob sich Hagen und sprach voller Grimm: „Sage mir, Bruder Dankwart, wie bist du so blutüberströmt?“ - „Noch bin ich vor den ungetreuen Hünen genesen!“, antwortete der kühne Mann: „Es ist das Blut der Recken, die mein Breitschwert gefällt hat. Nur davon ist mein Sturmgewand vom Blut überströmt.“ - „So sei hier Türhüter, daß niemand herein- oder hinausdringe!“, sprach der Tronjer Held: „Jetzt halten wir hier Gericht.
Ich hörte schon lange · von Kriemhilden sagen,
Daß sie nicht ungerochen · ihr Herzeleid wolle tragen.
Nun trinken wir die Liebe · und zahlen Etzels Wein:
Der junge Vogt der Heunen · muß hier der allererste sein.“
Darauf zückte er sein Schwert und schlug dem Kindlein Ortlieb das Haupt ab, daß es Kriemhild in den Schoß fiel. Dann traf er den Kämmerer des Kindes zu Tode und schlug des Spielmanns Werbelin rechte Hand ab, indem er spottend hinzufügte: „Das ist für deine ungetreue Botschaft über den Rhein!“ Die Recken der Hünen erhoben sich sogleich, Speere sausten und Schwerter blitzten. Da sprang König Gunther in den Streit, suchte zu schlichten und die entbrannten Kämpfer zu scheiden. Umsonst, er selbst mußte die blanke Waffe ziehen, um sich der Hünen zu erwehren. So taten auch der starke Gernot und der junge Giselher. Indessen kam Dankwart in Not, denn er wurde von außen und innen hart bedrängt. Deshalb forderte Hagen den Spielmann zum Beistand auf, und bald war die Tür durch die Schwerter zweier Recken gut verschlossen.
Damit zeigt nun das Ego sein ungeschminktes Gesicht: Keinerlei Vernunft, keinerlei Ehre, keinerlei Mitgefühl und keinerlei Liebe, sondern das Gegenteil von „Sieg-Frieden“. Die „Schwertspitze der Liebe“ hatte ihn zutiefst getroffen, so daß er diese als erstes zerschlug. Dann mußte der Kämmerer sterben, der das Kind in den Saal vor sein grimmiges Auge gebracht hatte. Und der Spielmann mußte seine „rechte Hand“ verlieren, welche die Schicksalsgeige gespielt hatte, die ihn in das Reich der Vernunft werben und zurückrufen sollte. Und doch kann er nur Äußerliches zerstören. Dazu unternimmt der körperliche Verstand noch einen letzten, schwachen und wankelmütigen Versuch, um den Untergang der Burgunden bzw. des Körpers zu verhindern. Dann wird das Tor des Körpers von Gedächtnis und Schicksal geschlossen, damit das Ego seine körperliche Blase des Bewußtseins verteidigen kann, und darin beginnt nun der schreckliche Kampf des Todes:
Sorgenvoll saßen Etzel und die Königin in dem entsetzlichen Getümmel. Auch Dietrich und Rüdiger, die am Kampf keinen Anteil nahmen, waren in Sorge. Da erhob sich der Berner Held und rief laut: „Hört mich, ihr Nibelungen! Vernehmt mein Wort, ihr Freunde von Burgund! Gewährt mir Frieden, daß ich mit meinen Mannen und dem Markgrafen Rüdiger ungeschädigt zur Herberge gehe.“ Die Stimme kannte König Gunther, und er rief zu Dietrich: „Hat dich von meinen Recken einer geschädigt, vieledler König von Bern, dann will ich Buße und Sühne leisten.“ - „Mir hat niemand ein Leid getan“, antwortete der Held, „aber ich bitte, daß ihr uns freien Ausgang gestattet.“ - „Was braucht es viel der Bitte?!“, rief Wolfhart, der kühne Mann von Dietrich: „Wir haben scharfe Schlüssel, die wohl jede Tür aufschließen, auch wenn hundert Pfortenhüter sie verwahren.“ - „Still, stolzer Geselle“, antwortete Dietrich, „du redest ohne Weisheit.“ Zugleich befahl König Gunther den Seinen, mit Streiten einzuhalten und ihre Reihen zu öffnen. Sofort zog im Frieden durch die Reihen der zornigen Burgunden der König von Bern, an einem Arm die Königin, am andern König Etzel führend, und mit ihm sechshundert seiner Recken. Dann folgte Rüdiger mit vierhundert Mannen. Ihm rief Giselher zu: „Grüße die junge Markgräfin und sage ihr, daß ich ihrer noch sterbend gedenken werde.“ Manche Hünen versuchten, mit König Etzel zu entweichen, aber jeden, der es wagte, traf alsbald des Spielmanns Schwert.
Auch diese Symbolik ist aus geistiger Sicht gut gewählt, denn eine ganzheitliche Vernunft läßt sich natürlich nicht in solche körperlichen Grenzen einschließen. Und so wandte sie sich an den Verstand, der sich plötzlich bereit erklärt, die Vernunft freizulassen. Warum schweigt das Ego und verhindert es nicht? Nun, offenbar fürchtet das Ego auch hier den direkten Kampf gegen die Vernunft, wie es diesen auch gegen Siegfried gefürchtet hat. Denn das trennende Bewußtsein kann niemals über das ganzheitliche siegen. Das geht schon prinzipiell nicht. Und warum kämpft die Vernunft nicht für ihre Freiheit gegen das Ego? Nun, die Vernunft ist bereits frei, und jeder Kampf gegen irgendetwas würde eine Trennung und Bindung durch das Schicksal bedeuten. Und warum kann Kriemhild mitgehen? Als reine Seele der Natur ist sie natürlich immer mit der Vernunft vereint und kann in Wahrheit niemals von der Vernunft getrennt werden. Trennung erscheint nur dem begrifflichen Ego-Verstand als Illusion.
Im Saal begann nach dem Abzug Dietrichs und Rüdigers das entsetzliche Gemetzel aufs neue, und die Waffen ruhten nicht eher, bis alle Hünen tot oder sterbend in ihrem Blut lagen. Nun rasteten die Burgunden von der schrecklichen Arbeit, und mancher setzte sich auf einen Leichnam, wenn ihm ein anderer Sitz fehlte. Aber Hagen rief sie auf und gebot, daß man die Toten die Treppe hinunterwerfe, um Raum für die bevorstehenden Kämpfe zu gewinnen. Man befolgte den Rat, und mancher Recke, der wohl von seinen Wunden genesen wäre, fand durch den Sturz von der hohen Treppe seinen Tod.
„Warum pflegen denn die zagen Recken nicht ihre wunden Freunde?“, rief der kühne Volker spottend. Ein Markgraf, der einen noch lebenden Verwandten unter den Toten liegen sah, eilte hinzu und schloß ihn in die Arme, um ihn in seine Herberge zu tragen. Aber der Spielmann schwang einen scharfen Speer und traf ihn durch Rücken und Brust, daß er tot über den wunden Mann fiel. So hüteten die Gesellen Hagen und Volker der Pforte und riefen den Hünen manches höhnende Wort zu. Etzel klagte über den Fall seiner Getreuen, wurde von Hagen und Volker mit Hohn herausgefordert und wollte schon selbst zur Waffe greifen. Doch er wurde von seinen Hünen und Kriemhild zurückgehalten, die viele Tränen vergoß und einen Schild vollbeladen mit Gold und Kleinodien dem anbot, der ihren Todfeind Hagen fälle.
Damit soll vermutlich angedeutet werden, wie sich Hagen mit den Burgundern über ihre Feinde im hohen Königssaal erheben wollte, sozusagen der Ego-Verstand über die Vernunft, und wie sie die Leichen aller Hünen, die um Vernunft kämpfen, voller Mißachtung die Treppe hinabwerfen. Im Nibelungenlied macht diesen Vorschlag der junge Giselher zur Freude von Hagen, und es wird von 7.000 Toten und Verwundeten gesprochen, was wohl eine symbolische Zahl ist.
Über das weitere Verhalten von Etzel kann man viel nachdenken. Ist er ein schwacher König? Warum wird er nicht zornig, als man seinen geliebten Sohn tötet, und gibt laute Befehle? Nun, er bleibt bis zum Schluß seinem Namen als „Weideland“ treu, das nahrhaftes Gras wachsen läßt, aber weder um das Wachstum kämpft, noch gegen jene, die es auffressen. Nachdem er mit Blödelin sozusagen seinen äußerlichen Verstand verloren hat, erinnert er uns an eine sehr hohe Form der Vernunft oder sogar des reinen Bewußtseins als ewiger Zeuge. Wie auch Gott aus christlicher Sicht die Schöpfung der Welt ermöglicht, aber selbst weder dafür noch dagegen kämpft, und sogar zuläßt, daß sein Sohn in der Schöpfung getötet wird, um unsere Sünden zu vergeben. Damit erinnert er uns auch an Odin und seinen Sohn Balder als Verkörperung des reinen Lichtes bzw. Bewußtseins, oder auch an Siegmund, den Vater von Siegfried als Verkörperung des reinen Geistes. So ermöglicht König Etzel, daß das Schicksal seinen Lauf nehmen kann:
Wohl hörten kühne Männer die Worte der Königin, aber nur einer trat aus der Menge hervor und vermaß sich, den Preis zu erwerben. Es war Graf Iring von Dänenland, Herwards Mann. „Habe ich doch“, sprach er, „in Dänenland manchen Kampf gekämpft und manchen tüchtigen Helden gefällt, so will ich auch mit den übermütigen Burgunden ganz allein den Kampf wagen.“ So rief er laut, daß Hagen es vernahm. Darauf ließ er sich wappnen. Aber sein Lehnsherr Herward und Irnfried von Thüringen wollten ihn nicht allein den furchtbaren Feinden preisgeben. Sie kamen mit tausend gerüsteten Männern, um den Recken zu beschirmen. Als aber Hagen, die Menge der Bewaffneten erblickend, des Helden spottete, hieß dieser die Freunde zurückweichen und stürmte allein gegen die Burgunden. Zuerst versuchte er es mit dem Tronjer. Er stieß ihm den Speer durch den Schild und achtete es nicht, daß auch sein Schild von der Waffe des Gegners durchbrochen wurde. Darauf griffen beide Helden zu den Schwertern und schlugen mit großer Kraft, daß es durch das Haus scholl. Als Iring den starken Hagen nicht verwunden konnte, lief er Volker an, und dann König Gunther, denn er war schnell im Lauf und Sprung. Er traf endlich auch Giselher, und der gab ihm einen so gewaltigen Schlag auf den Helm, daß er sogleich besinnungslos in das strömende Blut fiel, das überall den Boden bedeckte. Die Recken hielten ihn für tot, aber er sprang plötzlich wieder auf, griff Hagen an und hieb ihm durch den Helm eine Wunde. Nach diesen Kämpfen sprang der Held die Treppe hinab zurück zu den Seinen.
Nun kommt folgerichtig eine Geschichte, die andeutet, was geschieht, wenn sich die Vernunft zu einem „Ring des Zorns“ zusammenzieht, wie man den Namen Iring deuten kann, und in den Kampf gegen das Ego zieht. Als ein ganzheitliches Bewußtsein will die Vernunft natürlich allein kämpfen, wie auch Siegfried alle Kräfte in sich vereint hatte, die hier mit dem Heer von Irnfried als „Großer Frieden“ und Herward als „Hüter des Heers“ sozusagen hilfreich hinter ihm stehen. Bei diesem Angriff wird die Vernunft vom einnehmenden bzw. begrifflichen Verstand schon fast getötet, erhebt sich aber wieder und kann schließlich auch das Ego verwunden. Doch das Gold der Wahrheit hatte er sich damit noch nicht verdient:
Man erachtete ihn als den tüchtigsten Helden, und die Königin wollte ihm viel Gold reichen. Doch er weigerte sich und sagte, er werde noch einmal den Tronjer versuchen, und wenn er ihn fälle, des Lohnes der vieledlen Frau wohl mit Ehre genießen. Für solche Tat verhieß ihm Kriemhild ein freies Markgraftum mit Burgen und Städten. Dann reichte sie ihm einen guten Schild, da der seine zerhauen war, und band ihm selbst den Helm aufs Haupt. Nun ging er kühnen Mutes gegen die Burgunden. Da rief ihm Hagen zu: „Der Schaden, den du mir angetan hast, ist gar klein, nur eine Ritze. Und die Tropfen Blutes, die meine Rüstung röten, wecken erst recht meinen grimmigen Mut.“ Damit lief er dem Recken Iring entgegen, und die Schwertschläge hagelten von beiden Seiten. Endlich aber führte der Burgunde einen so furchtbaren Streich, daß Balmung durch Schild und Rüstung drang und Iring eine Wunde schlug, von er nicht wieder genesen konnte. Der Held von Dänenland wandte sich zurück zu den Freunden, aber der grimmige Hagen ergriff einen scharfen Speer, der vor ihm lag, und schoß ihm denselben durch den Helm ins Haupt, daß die Stange darin haftete. Dennoch entrann der Held bis zu Kriemhilds Fenster, wo er sterbend niedersank.
Die Königin weinte viel, als sie die Wunden des kühnen Recken sah, aber er sprach sterbend: „Klage nicht um mich, vieledle Königin! Mein Leben ist vergangen und wird durch Weinen nicht erhalten. Ich habe dir und Könige Etzel in guter Treue bis an den Tod gedient, und das ist im Sterben des Helden Trost.“ Als man darauf das Helmband löste und den Speer aus der Wunde zog, starb der treue Mann in den Armen seiner Herrin.
Über diese Symbolik kann man wieder viel nachdenken: Iring erinnert an das typische Wesen eines Einheriers, der als vernünftiger Held in Walhalla für die göttliche Einheit kämpft, dem Allvater treuergeben, und getrost in den Tod geht, weil er weiß, daß er im Kampf um die Gottheit bzw. Ganzheit nicht vergehen kann, sondern immer wieder aufersteht, bis das große Ziel erreicht ist. So übt er sich beständig im Kampf, um schließlich herauszufinden, wie sich das Ego wirklich besiegen läßt. Denn auf diese Weise, wie er hier als „Ring des Zorns“ kämpft, kann dieser Kampf nicht gewonnen werden. Entsprechend wird dargestellt, wie das Ego durch den Kampf und seine Wunden nur noch stärker und grimmiger wird und schließlich die Vernunft im Zentrum ihres Kopfes, sozusagen an der Wurzel tötet, denn das ganzheitliche Bewußtsein verliert natürlich durch diesen Kampf gegen „einen anderen“ seine Ganzheit. Und damit fallen dann auch alle ganzheitlichen Kräfte, die hinter ihm standen, wie der Frieden und der Hüter:
Den gefallenen Helden zu rächen, wappneten sich Herward und Irnfried mit allen ihren Mannen und stürmten gegen die übermütigen Nibelungen. An der Treppe erhob sich der Kampf mit den Wächtern der Pforte. Aber Irnfried, der Landgraf, fiel zuerst unter dem Schwert des Spielmanns, dann der kühne Held von Dänenland, von Hagen gefällt. Doch die Männer von Dänenland und Thüringen, zu allen Zeiten als tüchtige Kriegsleute bekannt, wichen nicht zurück. Mit wütendem Geschrei drängten sie die Wächter der Treppe aufwärts, auch wenn mancher Helm und mancher Schildrand gespalten wurde. Da rief der Held von Tronje den Burgunden zu: „Gebt Raum! Laßt sie eingehen durch die Pforte, denn es ist die Pforte des Todes, aus der sie nimmer den Rückweg finden. Volker wird ihnen ein Schlaflied fiedeln, und der Klang unserer Schwerter soll ihnen ein Nachgeläut dünken zur langen Rast.“ So öffneten die Nibelungen ihre Reihen, so daß die Helden von Dänenland und Thüringen in den blutgetränkten Saal drangen. Dort erhob sich wieder das Mordgetümmel, und mancher kühne Burgunde fiel vom Speer durchbohrt oder vom Schwert zerhauen in die Blutlachen des Saales, doch von den Angreifern entrann nicht einer dem Tod.
Auch hier geht es auf der symbolischen Treppe wieder darum, wer hier über dem anderen steht. Und so verteidigt nun der Ego-Verstand zusammen mit dem Schicksal erfolgreich seine Körperburg der Burgunden gegen jede Vernunft. Doch wie soll es weitergehen?
Abermals war das Kampfgetöse verhallt und Stille zurückgekehrt. Die stürmenden Recken entlasteten sich der Schilde und Rüstungen, denn Hagen und sein Geselle Volker hielten treue Wache. Draußen aber war viel Unruhe, da auf Etzels Gebot beständig neue Scharen gerüsteter Hünen einrückten. Wohl zwanzigtausend streitbare Männer sammelten sich vor dem Palast. Da sprachen die Burgunden untereinander: „Was hilft all unser Kämpfen, was nützt es, daß wir Tausende erschlagen haben? Ein jäher Tod wäre besser, als daß wir so lange Pein erdulden und doch endlich sterben müssen.“ Der Meinung waren auch die Könige, und sie traten hinaus vor die Menge und begehrten, daß man Botschaft an König Etzel und die Königin sende, damit sie mit ihnen über Frieden und Sühne redeten. Darauf riefen die Hünen: „Euer strömendes Blut wird die Sühne sein, und Frieden wird man euch gönnen, wenn ihr zerhauen auf dem Anger liegt, den Aaren und Wölfen zum Fraß!“ Doch einige Männer bestellten die Botschaft.
Etzel und Kriemhild erschienen sofort vor dem Saal. Als aber König Etzel von Sühne und Frieden reden hörte, fragte er, ob sie meinten, den Mord seines Söhnchens, den Tod von Tausenden seiner Verwandten und Mannen mit schnödem Gold zu büßen? Umsonst sprach Gunther, wie man ihn und die Seinen in Lieb und Freundschaft eingeladen, wie man darauf all ihr Gesinde erschlagen und sie selbst angegriffen, wie die Not sie zur Gegenwehr gezwungen habe. Etzel forderte unbedingte Unterwerfung. Als sich darauf Giselher erhob und meinte, er habe doch niemand Übles zugefügt, riefen die Hünen, von seiner „Güte“ sei die ganze Burg voll, und das Weinen der Frauen um Männer und Söhne bezeugten seine Wohltat. Der junge König wandte sich nun an seine Schwester und erinnerte sie daran, wie er niemals an den Ratschlägen gegen Siegfried und sie Anteil genommen, wie er sie getröstet, und wie sie selbst bei ihm gar oftmals Rat und auch die Liebe gesucht habe, die ihr andere versagten. Diese Rede leuchtete wie ein lichter Stern in die verfinsterte Seele der edlen Frau. Sie hätte den Bruder gern in die Arme geschlossen und vor dem Schicksal bewahrt, das die anderen Burgunden erwartete. Da sprach sie nach kurzem Bedenken: „Du bist mein lieber Bruder, der mich niemals gekränkt hat. Um deinetwillen sollen auch die anderen Brüder und ihre Verwandten und Mannen aus Burgundenland Frieden haben, doch nur wenn sie uns den Mordstifter Hagen als Geisel überantworten, auf daß wir mit ihm verfahren, wie er verdient.“ - Darauf sprach Gernot: „Das verhüte Gott im Himmel! Und wären wir tausend deiner Verwandten, wir wollten alle tot vor dir liegen, eh wir nur einen Mann zur Geisel gäben. Das wird niemals getan!“ So rief auch Giselher: „Wir müssen doch alle irgendwann sterben! Aber von Heldenehre und ritterlicher Wehr soll uns niemand scheiden. Wir sind auch weiterhin zum Kampf bereit. Ich werde nie die Treue an einem Freund verraten!“ Und der kühne Dankwart sprach: „Noch steht mein Bruder Hagen nicht alleine hier. Die uns den Frieden verweigern, werden es noch schwer beklagen. Das sollt ihr wahrlich erfahren!“
So spielt nun die Geschichte mit einem weiteren Lösungsversuch in Form einer Friedensverhandlung. Doch die Seele der Natur weiß, daß es im menschlichen Körper keinen Frieden geben kann, solange das trennende Bewußtsein nicht ausgeliefert und aufgegeben wird. So fordert auch König Etzel die unbedingte Unterwerfung des begrifflichen Verstandes unter die ganzheitliche Vernunft. Doch dazu ist der Verstand immer noch nicht bereit, sieht im Ego als Hagen einen guten Freund, und das Gedächtnis als Dankwart bestätigt es: Wir wollen das Ego nicht aufgeben! Nur die Vernunft, die uns von allen Seiten bedrängt, ist daran schuld, daß es keinen Frieden gibt!
Darin können wir nun das Gegenteil eines Einheriers sehen, der nicht mit ganzheitlicher Vernunft um die Einheit und Ganzheit kämpft, sondern mit dem begrifflichen Verstand und seiner Gedankenarmee um das abgetrennte Ego-Bewußtsein, das dann nach der nordischen Mythologie den Weg der Trennung nach Helheim geht, also mit dem körperlichen Tod in eine geistige Dunkelheit bzw. Trübsinn fällt, indem sich das Bewußtsein in eine Höhle oder Hölle verschließt und einsperrt. Sogar darin kann der Verstand einen Ehrbegriff fassen und von Schicksal sprechen, das der Mensch tapfer ertragen muß, weil er keine andere Wahl hat und das Ego nicht aufgeben kann.
Erzürnt über den Trotz der Nibelungen, forderte die Königin alle Hünen auf, jene in das Haus zurückzutreiben. Da erhob sich ein Sturm von Geschossen. Pfeilschauer und Speere flogen in solcher Menge, daß die Helden in den Saal zurückweichen mußten. Die edle Kriemhild kannte nun kein Erbarmen mehr. Sie befahl, das obere Geschoß des Hauses, das von Holz gezimmert war, in Brand zu stecken. Bald zischten Feuerpfeile durch die Luft und hafteten im Gebälk. Sofort erhoben sich lodernde Flammen aus dem Giebel des Hauses. - Der lange Sonnenwendetag war vergangen, und die Sonne sank rotglühend unter den Horizont. Von dort beleuchtete sie noch die Rauchwolken, die aus dem Haus emporwirbelten, bis die Nacht ihre Schatten ausbreitete. Aber der Brand erhellte weithin Burg und Land. Bald brach krachend der obere Bau zusammen, und lautes Johlen und Jubeln der Menge verkündigte, daß das Werk der Rache vollendet sei. Kriemhild wähnte durch das Getümmel das Ächzen der vom Rauch Erstickten und das Jammern der in den Flammen Sterbenden zu hören. Sie verweilte nicht länger, sondern begab sich mit Etzel in ihre Herberge. Da stand sie am offenen Fenster und blickte nach der Brandstätte, aus der noch immer Flammen hervorzüngelten. Dann gedachte sie der Vergangenheit, wie sie als zarte Jungfrau der Jagd auf das Getier des Waldes nicht beiwohnen wollte, und jetzt war Menschenmord ihre Lust. Sie gedachte ihres ersten jungfräulichen Grußes: „Sei willkommen, Herr Siegfried“, ihrer Wonne, als der strahlende Held ihre Hand ergriff und sie küßte. Dann kam ihr in den Sinn, wie sie so froh und ohne Harm in Niederland an seiner Seite lebte, und schließlich der entsetzliche Mord und der Hohn des Mörders. Ja, das unentrinnbare Schicksal und die Tücke der Menschen hatten das alles gefügt, daß ihr Herz so hart wurde, daß sie nun Blutströme fließen und die Brüder in den Flammen sterben sehen konnte.
Ein weiterer Lösungsversuch ist nun die Macht der Naturgewalten. Läßt sich das Ego im Feuer besiegen? Wenn das so einfach wäre! Es ist doch der Ego-Drachen selbst, der das Feuer speit, und so stärkt und ernährt sich der Ego-Verstand auch von diesem Feuer:
Auch die müden Helden in der leichenvollen Halle sahen am Abend des Sommertages die Sonne untergehen. Wäre sie doch ein Bote, der ihnen durch Zauberkraft in der kurzen Nacht hilfreiche Freunde aus Burgund zuführte! Sie blickten durch die Fenster, ob nicht der gute Rüdiger oder der Berner Held mit ihren Mannen zum Beistand heranzögen, aber da grinsten ihnen überall nur barbarische Hünen entgegen. Bald sahen sie Feuerpfeile und Brände fliegen und erkannten wohl, daß man sie dem Flammentod überliefere. Hitze und Qualm peinigten die kühnen Männer und nahmen immer mehr überhand. Nur einen Tropfen Labung wünschten sie von den Bächen und Wiesenquellen der Heimat. Da mahnte Hagen, sie sollten in dieser Not das Blut der Erschlagenen trinken, das stärke den Leib mehr als Speise und Trank. Erst folgte ein einzelner seinem Rat, und da sich derselbe davon gekräftigt fühlte und dem Tronjer Dank sagte, folgten mehrere und endlich alle seinem Beispiel.
„Nun lohn' euch Gott, Herr Hagen“ · sprach der müde Mann,
„Daß ich von eurer Lehre · so guten Trunk gewann!
Man schenkte mir selten · noch einen bessern Wein.
Solang' ich leben bleibe · will ich euch stets gewogen sein.“
Das Krachen des einstürzenden Oberbaues erfüllte sie mit neuem Schrecken, aber die hohe Wölbung des Saales, gestützt durch mächtige Säulen, brach nicht. Sie barst nur hin und wieder von der Glut, so daß Brände durch die Risse fielen, die auf Hagens Geheiß in das Blut getreten wurden. Wie wünschten die gequälten Recken den Morgen herbei, der, wie sie hofften, kühle Winde bringe. Endlich ging der Morgenstern auf, und bald folgte die Tagbestrahlerin, und frische Lüfte wehten den Helden Kühlung zu. Der Tronjer gebot, man solle sich ganz ruhig verhalten, sich in die inneren Räume zurückziehen, damit die Feinde meinten, sie seien dem Feuer erlegen. Das geschah, und in der Tat drangen die Hünen mit neuem Mut die Treppe herauf, aber sie stürzten noch schneller wieder hinunter, als die Burgunden hervorbrachen und mit Speer und Schwert unter sie schlugen. Denn es waren noch sechshundert kühne Recken in dem Saal, die sich durch den Bluttrank gekräftigt hatten.
Nun, besser kann man es nicht beschreiben, wie sich der Ego-Verstand mit seinen Kräften vom Kampf ernährt und praktisch das Blut seiner Feinde trinkt. So wird das trennende Bewußtsein der „vernebelten Krieger“ immer stärker und mächtiger.
Die Königin vernahm mit Staunen die Botschaft, daß die Nibelungen noch am Leben und zu neuem Streit gerüstet seien. Wie sie auf neuen Rat sann, rief ein Führer der Hünen, sie solle doch den Markgrafen von Bechelaren herbeirufen, der vom großen König Burgen, Städte und viel Reichtum zum Lehen trage, oder den Berner Dietrich, der als Flüchtling schon so lange des Königs Huld genieße. Das dünkte der Königin eine kluge Rede, und sie schickte Botschaft an Rüdiger.
Der edle Markgraf folgte ohne Verzug dem Boten nach der Königsburg und trat vor König Etzel und dessen Gemahlin, die ihn erwarteten. Da sprach ein Hüne zu ihm: „Nun seht, wie traurig der Held hier steht, den König und Königin vor allen anderen mit Burgen und Reichtümern erhöht hat, aber in diesem Kampf noch keinen löblichen Schlag getan hat! Ich denke, ihn kümmert wenig, was mit uns hier geschieht, solange er in Fülle lebt. Man rühmt wohl seine Kühnheit, aber davon konnten wir bisher nichts sehen.“ Darauf erzürnte Rüdiger über diese lautstarke Rede vor allen Hünen am Hofe, fühlte seine Ehre verletzt, griff mit geballter Faust an und schlug den Kühnen mit solchen Kräften nieder, daß er tot zu Boden stürzte.
Das vermehrte noch die Not des Königs, und er sprach von dem schweren Leid, das ihm bereits widerfahren war, wie die Gäste vom Rhein sein Söhnchen und fast alle seine Verwandten und Mannen erschlagen und das ganze Land in Trauer versetzt hätten. Darauf erinnerte er den tüchtigen Helden daran, wie er voreinst, aus seinem Vatererbe vertrieben, mit wenigen Mannen zu ihm gekommen sei, das reichste Markgraftum und große Reichtümer und Ehren empfangen und dafür treue Hilfe und Dienste bisher geleistet habe. Nun aber, fuhr Etzel fort, sei die Zeit gekommen, daß er seine Treue erweise, indem er die Nibelungen für den großen Schaden, den sie getan, und für alles Leid, das sie dem königlichen Hause und dem Lande zugefügt haben, mit dem Schwert bestrafe. „Mein Herr und mein König“, sprach der gute Held bekümmert, „was du sprichst, ist sicherlich wahr, und ich bin dafür zu jedem Dienst bereit, sollte es auch mein Leben kosten. Nur begehre nicht, daß ich jenen die Treue breche, die ich ihnen gelobt habe, als sie bei mir Herberge nahmen und ich sie persönlich auf dein Gebot nach Etzelburg geleitete. Sie haben mir voller Liebe vertraut, und der junge Giselher hat mein Töchterlein auserwählt, daß sie mit ihm in Burgund die Krone tragen solle. Ich meine, es wäre übelgetan, gegen solche Freunde das Schwert zu erheben.“ Als ihn darauf der König an seinen Lehnseid erinnerte, fuhr er fort: „Nimm alle meine Burgen und Städte zurück, allen Reichtum, womit deine Gnade mich begabte, dazu die Habe, die ich selbst erwarb. Am Bettelstab will ich mit Frau und Kind in die freudlose Fremde ziehen, aber meine beste Habe, die Ehre und Treue, die nehme ich mit mir in die Fremde.“
Der nächste Lösungsversuch ist ein mächtiger Held, der die Vernunft schon weit verwirklicht hat, aber als „Rüdiger“ bzw. „Speer der Ehre“ noch sehr an einer begrifflich-persönlichen Ehre hängt. Er würde allen Besitz und sogar sein Leben aufgeben, aber nicht seine „Ehre und Treue“. Darüber kann man viel nachdenken, und es gab Zeiten, als dieser persönliche Ehrbegriff eine extrem große Macht in der Menschenwelt hatte. Denken wir an die alte Ritterehre in den Turnieren oder die Zeiten des Duellierens mit Säbeln oder Pistolen bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Was war das für eine Ehre, daß man jeden töten mußte, der sie ankratzte? Danach wandelte sich wohl dieser Ehrbegriff wieder mehr in weltlichen Besitz, und solche Duelle wurden gesetzlich verboten. In dieser Hinsicht haben wir auch den Markgraf Rüdiger in der Mark bzw. im Grenzland des Etzel-Reiches bereits kennengelernt, wie er seine „Ehre und Treue“ zu den Burgunden als persönliche Körperlichkeit bewahren wollte, aber damit den Ego-Verstand stärkte und bewaffnete.
„Ehre und Treue nimmst du nicht mit dir, edler Markgraf“, sprach die Königin, „deren beraubst du dich selbst, wenn du dich des Gehorsams verweigerst. Gedenke der Zeit, als du nach Burgund kamst, um mich für Etzel zu werben. Mir schien es übelgetan, ohne Freund und Helfer zu den heidnischen Hünen zu fahren. Da gelobtest du mit teurem Eid, mir Helfer zu sein gegen jedweden Widersacher, nur nicht gegen deinen Lehnsherrn. Die mir gelobte Treue ist älter, als die du den Nibelungen schuldest. Wenn du sie brichst, dann verlierst du die Ehre!“ Rüdiger stand lange Zeit stumm vor der hohen Königin, dann sprach er: „Nimm mein Haupt, berufe einen deiner Beilträger, daß er es mir abschlage und dir zu Füßen lege. Ich werde nicht mit den Augen zucken. Aber erlasse mir, was ich nicht leisten darf.“ - „Dein Haupt begehr ich nicht“, antwortete Kriemhild, „sondern dein Schwert, und das fordern dein Lehnsherr, dein Eid und deine Ehre.“ Wiederum blieb der kühne Held stumm, wurde bald bleich, bald rot, und schließlich rief er: „So muß denn geschehen, was ich niemals gedacht habe.“ Mit diesen Worten nahm er Abschied und ging, sich zum Streit zu rüsten. Er berief seine Mannen und gebot ihnen, sich zu wappnen, um in den Kampf gegen die Burgunden zu ziehen. Einerseits war es ihnen lieb, sich mit den kühnsten Helden zu versuchen, anderseits auch leid, weil sie zu Bechelaren mit ihnen in Liebe und Frieden gewesen waren.
Hier zeigt sich nun, wie die Vernunft durch solche Eid- und Ehrbegriffe an Gegensätze gebunden und geschwächt wird, so daß sie noch vom Ego-Verstand überwältigt und getötet werden kann, ja, sich sogar selbst den Tod wünscht:
Die Nibelungen erfreuten sich noch der kühlen Morgenluft und spähten umher, ob nicht etwa eine unerwartete Hilfe komme. Da rief Giselher frohlockend: „Er naht, der treue Helfer in der Not, der edle Markgraf mit seinen Mannen! Oh, wir werden Bechelaren, wir werden den Rhein wiedersehen! Seid nur getrost, werte Freunde, denn auch der Berner Held wird uns nicht verlassen.“ - „Ich denke, daß werte Freunde nicht mit erhobenen Schilden und gezückten Schwertern kommen“, sprach der Spielmann, „ich denke, sie wollen uns angreifen.“ Er hatte kaum die Worte gesprochen, so stand schon Rüdiger mit seinen Mannen vor dem Saal, setzte den Schild zur Erde und rief: „Ihr edlen Nibelungen, gedenkt der Gegenwehr. Wie harmvoll ich darum bin, ich muß mit euch, den werten Freunden, zum Streite gehn.“ - „Das wolle Gott verhüten“, sprach König Gunther, „daß du uns das Leben nähmst, da du uns doch so gute Herberge gegönnt und jedem reiche Gabe verliehen hast.“ - „Ach, wäre ich doch längst im Sturm der Schlacht mit Feinden erstorben“, rief Rüdiger, „dann müßte ich jetzt nicht gegen die lieben Freunde kämpfen. Aber der Eid, den ich einst Etzels Frau gelobt, zwingt mich zum blutigen Werk, auch wenn ich nicht will.“ - „Wie gern, edler Markgraf“, sprach da Gernot, „wie gern möchte ich dir mit diesem Schwert dienen, das ich aus deiner Hand empfing, wäre mir die Heimkehr vergönnt. Es ist mir treugeblieben in den schweren Kämpfen. Doch wenn du mir die Freunde erschlägst, dann wirst du selbst seine Schärfe fühlen.“ - „Wollte Gott es so fügen“, antwortete der Held, „daß du die Waffe über den Rhein trägst und ich hier tot läge. Und wenn das so geschieht, dann nimm meine traute Frau und mein verwaistes Kind in deinen Schutz.“ - „Wie kannst du so reden?“, sprach Giselher, der Junge: „Sie alle, die hier stehen, sind deine Verwandten, dieweil du mir deine Tochter verlobt hast. Willst du dein einziges Kind so früh zur Witwe machen? Wie habe ich dir vor allen Helden so fest vertraut, als ich um deine schöne Tochter warb?!“ - „Gedenke deiner Treue, du, den ich schon Sohn nenne! Wenn dich und deine Verwandten Gottes Gnade heimwärts senden, dann laß die Jungfrau nicht entgelten, was ihr Vater aus Not hier tut.“ - „Sei nur getrost, guter Held“, antwortete Giselher, „die Liebe in meinem Herzen wankt nicht, solange ich lebe. Nur der Tod scheidet mich von dir und der lieblichen Jungfrau, wenn wir alle vor dir sterben.“ Darauf sprach Hagen: „Vergönn auch mir ein Wort, edler Markgraf! Meinen Schild, den mir Frau Gotlinde zu Bechelaren gab und den ich treulich nach Etzelburg trug, haben mir die Hünen zerhauen. Trüge ich einen so guten Schild wie du, dann bedürfte ich keiner anderen Waffe.“ - „Wie gern wollte ich ihn dir bieten“, sprach der Markgraf, „dürfte ich nur vor Kriemhilden. Und doch, da nimm ihn hin, Freund Hagen! Hei, möchtest du ihn bis nach Burgund tragen!“
Dieser Austausch des Schildes mit dem Banner des Kämpfers darauf galt wohl als eine besonders hohe Ehrbezeigung im ritterlichen Kampf und macht noch einmal deutlich, wie sehr die Vernunft mit ihrem Ehrbegriff das Ego beschützt und schließlich sogar unter dem Banner des Egos kämpft. Dagegen führt nun das Ego das „gute Banner“ der Vernunft und betrachtet natürlich diese Art von Vernunft als treuen Freund, bis es der Verstand nicht mehr ertragen kann:
Als Rüdiger dem Recken die werte Gabe so willig bot, glänzte in manchem Auge eine Träne und mancher Burgunde sprach, ein Held wie Rüdiger sei und werde in der weiten Welt nicht mehr geboren. War es doch vielleicht die letzte Gabe, die er im Leben verlieh. Wie grimmigen Mutes auch Hagen immer war, das drang ihm zu Herzen und erweichte seinen Sinn. Er sprach: „Nun lohne dir Gott, daß du mich so rüstest. Ich aber gebe dir Frieden, auch wenn du alle meine Verwandten und Mannen aus Burgundenland erschlägst, auch wenn mich selbst dein Schwert bedrohte, diese Hand sei verflucht, wenn ich sie gegen dich erhebe.“ - „Den gleichen Frieden biete ich dir“, sprach der kühne Volker, „und siehe hier diese roten Spangen, die ich aus Gotlindes Hand empfing: Die lege in mein Grab, wenn wir Burgunden im Kampf fallen, und sage der edlen Markgräfin, wie ich ihre Gabe bis in den Tod bewahrt habe.“
Die Männer von Bechelaren, begierig, Siegesruhm an den unbezwinglichen Nibelungen zu erwerben, drängten zum Kampf, der erst lässig, aber bald immer heftiger entbrannte. Man sah einen Freund fallen, und man suchte zu rächen. Das strömende Blut nährte und vermehrte die Kampfeslust, gleichwie das Öl die Flamme mächtiger anfacht. Auch der edle Rüdiger wurde in den sinnberauschenden Strudel fortgerissen und stürmte wie der Engel des Verderbens durch die Reihen der Burgunden, während sich Giselher, Hagen, Volker und auch Dankwart schier wie fluchtbereite Recken zurückhielten. Als aber der Markgraf, rot vom Blut gefällter Männer, daher schritt und einen werten Verwandten der Könige erschlug, konnte es Gernot nicht mehr ertragen und rief ihn zum Kampf auf, indem er ihn mit seiner eigenen Gabe bedrohte. Das Wort war kaum gesprochen, so traf ihn schon Rüdigers Schwert, daß der Helm zerbarst und ein Blutstrom hervorquoll. Aber der todwunde Held erhob mit letzter Kraft das Breitschwert und schlug ihm durch Schild und Helm die Todeswunde. Alle, die diese kühnen Männer fallen sahen, schrieen laut auf, denn es war, als habe ein jeder einen Bruder verloren. König Gunther sprach: „Wir haben nun den größten Schaden genommen. Zwei Männer, die uns die liebsten waren, sind hier erlegen, jedweder durch des anderen Hand. Nun wird keiner mehr von uns genesen.“
Hoch schwang er Rüdigers Gabe · die in der Hand ihm lag;
Wie wund er war zum Tode · er schlug ihm einen Schlag
Auf des Helmes Bänder · und durch den festen Schild,
Davon ersterben mußte · der gute Rüdiger mild.
So reicher Gabe übler · gelohnt ward nimmermehr.
Da fielen beide erschlagen · Gernot und Rüdiger,
Im Sturm gleichermaßen · von beider Kämpfer Hand.
Da erst ergrimmte Hagen · als er den großen Schaden fand.
„Laßt euer Klagen und Weinen bleiben!“, rief der Held von Tronje: „Wie harmvoll wir sind, so stehen wir noch in Wehr und müssen des Kampfes gedenken.“ Schon drangen die Recken von Bechelaren zornigen Mutes heran, den werten Herrn zu rächen. Doch obwohl auch mancher Burgunde unter ihren Schwertern fiel, sie konnten die starken Helden nicht bestehen. Gunther und Giselher, Hagen, Volker und Dankwart ließen keinen genesen. Wohl zweihundert Nibelungen, aber auch alle Mannen von Bechelaren fielen in diesem entsetzlichen Kampf. Die noch am Leben waren, saßen zum Sterben müde oder lehnten an den Wänden und atmeten die Kühlung, die durch Fenster und Tür in den Saal drang. Das war die einzige Erquickung.
Die Helden schwiegen alle in dem weiten Saal, weil sie trotz ihres Sieges voller Sorgen waren. Da vernahm Volker, wie draußen vor dem Haus mancherlei geredet wurde. Er erkannte die Stimme der Königin die unmutig sprach: „Nun siehst du, König Etzel, wie uns der werte Held von Bechelaren in Untreue dient und es übel lohnt, daß wir ihm Burgen und Reichtum verliehen haben. Er hat Sühne und Bund mit den Nibelungen geschlossen und wird sie bald aus Hünenland geleiten.“ - „Laßt die Sorge schwinden“, rief der Spielmann dagegen, „der gute Held hat euch gedient bis in den Tod. Da erst wurde die Sühne geschlossen.“ Er ließ darauf den zerhauenen Leib des Markgrafen emporheben, daß der König, die Königin und alle Hünen ihn erblickten.
Da sie den Markgrafen · tot sahn vor sich tragen,
Da vermocht' euch kein Schreiber · zu schildern noch zu sagen,
Die ungebärdige Klage · so von Weib als Mann,
Die sich aus Herzensjammer · da zu erzeigen begann.
König Etzels Jammern · war so stark und voll,
Wie eines Löwen Stimme · dem reichen König scholl
Der Wehruf der Klage · Auch ihr schuf's große Not;
Sie weinten übermäßig · um des guten Rüdiger Tod.
So wird nun die Vernunft von dem Schwert getötet, das sie selbst dem Verstand gegeben hat. Damit wird Rüdiger als „Speer der Ehre“ von Gernot überwältigt, der „den Speer schwingt und zurückschleudert“, wie er dann auch selbst fällt. So daß nun schrittweise der ganze Verstand der Burgunder zu sterben beginnt, und das Schicksal wie von selbst seinen Lauf nimmt:
Der Palast und der Hof ringsum hallten vom Weinen und Klagen um den Helden von Bechelaren wider. Das vernahm einer der Männer Dietrichs und ging eilends zur Herberge, wo sich der König von Bern mit seinen Gesellen befand. Dort erzählte er ihm, was er vernommen hatte. Das dünkte aber dem Berner wenig glaubhaft, und er forderte einen Boten, der ihm gewissere Kunde bringe. „Der Bote will ich sein!“, rief der kühne Wolfhart: „Ich will die Burgunden selbst befragen, ob sie noch nicht Blut genug vergossen haben.“ - „Du bist ein zorngemuter Recke und würdest alsbald mit dem Schwert in der Hand die Freunde aus Burgund befragen. Mich dünkt, der Recke Helfrich wird ein besserer Bote sein.“ - Sofort ging Helfrich nach dem Palast und kehrte bald mit der traurigen Botschaft zurück, daß die Burgunden den guten Rüdiger erschlagen hätten. Darauf entsandte Dietrich den alten Meister Hildebrand zu den Nibelungen, um zu erforschen, wie und warum sie das üble Werk getan hätten.
Der Meister wollte ohne Waffe und Rüstung die Botschaft bringen, aber Wolfhart, der ihm begegnete, tadelte ihn, weil er ungerüstet zu den Gerüsteten gehen wolle, und fragte ihn, ob er wohl vermeine, die Spott- und Stachelreden Hagens und Volkers leichter zu ertragen, wenn er im Lammfell vor den Wölfen stehe? Dem Meister dünkte die Rede gut. Er kehrte um und legte seine stahlfeste Rüstung an. Als er auf dem Weg war, sah er, wie ihm alle Mannen Dietrichs unter Wolfharts Führung in voller Rüstung folgten. Er wies den zornmutigen Neffen mit Scheltworten zurück, aber der beharrte darauf, er müsse den werten Oheim vor Schmach behüten, und die Recken sprachen alle, solches müsse ihnen unverwehrt sein. Als nun die kühnen Helden, wohl fünfhundert Mann, vor das Haus kamen, fragte Meister Hildebrand, den Schild vor sich niedersetzend, ob es wahr sei, was man vom Tod des allgeliebten Markgrafen berichte. „Obwohl wir wohl alle wünschten, der Bote habe euch getäuscht“, antwortete Hagen, „so ist doch die Kunde ungelogen, denn uns zwang des Streites Not.“ Laut klagten die Amelungen um den werten Freund, und Wolfhart hätte am liebsten sogleich zum Schwert gegriffen. Doch der Meister hielt ihn zurück, indem er ihn mit dem Zorn Dietrichs drohte. Zu den Nibelungen gewandt, bat er im Namen seines Herrn, sie möchten ihnen den Leib des erschlagenen Helden ausliefern, damit sie ihm die letzte Ehre erweisen könnten. „Das zeugt von Liebe und Treue“, sprach König Gunther, „daß ihr dem die letzte Ehre geben wollt, der ihrer, wie kein anderer, würdig ist.“
Das ist wieder Symbolik vom Feinsten: Was bedeutet die Leiche der Vernunft? Ist damit die materielle Körperlichkeit gemeint, wenn sich das lebendige Bewußtsein zu toter Materie verhärtet? Und wer fragt nach dieser Leiche? Hier können wir nun in Hildebrand wieder den begrifflichen Verstand als Waffenmeister der Vernunft sehen. Dessen Aufgabe ist es natürlich, sich um die äußerliche Körperlichkeit zu kümmern. Und wie der Name Hildebrand an den „feurigen Kampf mit dem Schwert“ erinnert, so kommt nun der ungestüme Wolfhart dazu, der „starke Wolf“ als das tierhafte Körperwesen, das immer auch mit dem begrifflichen Verstand verbunden ist, aber im Menschen von der ganzheitlichen Vernunft zusammen mit dem Verstand gezügelt und beherrscht werden sollte. So will nun der Verstand auf friedliche Weise die Leiche der Vernunft ergreifen, die an ihrem Ehrbegriff gestorben ist, um ihr noch „die letzte Ehre“ zu erweisen. Doch dem Verstand folgen alle mächtigen Kräfte des Körpers, und so kommt es zum großen Kampf um die Leiche der Vernunft. Wie wird dieser Kampf um die Körperlichkeit ausgehen, der von Wolfhart angetrieben wird?
„Wie lange laßt ihr uns wie Bettler hier stehen?“, rief der ungestüme Wolfhart: „Laßt uns den Toten von hinnen tragen, den ihr erschlagen habt.“ - „So holt ihn doch selber aus dem Saal!“, rief der kühne Spielmann: „Uns kampfesmüden Recken dünkt das Geschäft schwer. Ihr aber leistet dann dem Freund den Dienst in vollem Maße.“ - „Du solltest uns nicht reizen“, antwortete Wolfhart, „da wir von euren Händen so großes Leid erfahren haben. Dürfte ich nur vor meinem Herrn, so kämt ihr in Not.“ - „Die Angst ist wohl zu groß!“, rief Volker: „Wer alles unterläßt, was man ihm verbietet, ist nicht als ein kühner Held zu achten.“ - „Das sollst du wohl erfahren!“, sprach Wolfhart: „Ich verstimme dir die Saiten, daß du die rechten Töne niemals wiederfindest.“ - „Verwirrst du mir die Saiten“, sprach der Spielmann, „dann trübe ich dir des Helmes Schein mit meinem scharfen Fiedelbogen.“ Gleich wollte der zornige Held auf den Spielmann losstürzen, aber sein Oheim hielt ihn fest. „Ich wähne“, sprach er, „du willst toben mit deinem dummen Zorn und unseres Herrn Huld auf immer verlieren. Er hat uns den Streit verboten.“ - „Laßt ihn nur los, den wilden Löwen, Meister!“, sprach der Fideleur: „Er ist gar grimmigen Mutes. Aber ich will ihm die Zähne wohl zerschlagen, daß er auch ein Kindlein nicht mehr beißen soll.“ Da riß sich der Recke vom Oheim los und stürmte gegen die Helden aus Burgund, und die Amelungen drängten nach in den Saal mit schallendem Kriegsruf, und Meister Hildebrand, fortgerissen im wilden Sturm, war bald voran, als der Kampf begann.
Da stritten nun mit den müden Nibelungen die kühnen Helden aus Amelungenland, die mit ihrem Herrn in der Völkerschlacht von Raben und in den Schlachten der Hünen gegen die Wilkinen und Reußen gefochten hatten, die erprobten Gesellen Dietrichs im Glück wie im Unglück. Da waren der starke Siegstab, Herzog von Bern, der unverzagte Helfrich, die kühnen Helden Wolfwin, Wolfbrand, Helmnot, Ritschart und andere, die alle den Tod Rüdigers zu rächen suchten. Das Getümmel war groß, so daß sich oft die nicht finden konnten, die sich suchten. So wurden Volker und Wolfhart im heißen Kampf voneinander getrennt. Der Spielmann stürzte auf Siegstab, der viele Burgunden gefällt hatte, und gab ihm durch Schild und Rüstung den Todesstreich. Dagegen traf ihn der alte Hildebrand, daß alles Helmgespänge zersplittert umherstob, und so der kühnste Kämpfer sein Ende fand. Dankwart fiel unter Helfrichs Schwert. Noch mehr der burgundischen Recken fällte der wütende Wolfhart, bis ihm Giselher entgegentrat. Nach schwerem Kampf hieb ihm der junge König durch Schild und Rüstung tief in die Brust, aber sterbend faßte er mit beiden Händen das Schwert und spaltete dem Gegner Helm und Haupt.
Der alte Hildebrand sah den Fall seines Neffen Wolfhart und eilte, über Waffentrümmer und Leichen schreitend, zu ihm. Er hob ihn aus dem Blutstrom und wollte ihn aus der Mordhalle tragen, aber er war zu schwer. Da schlug der wunde Held noch einmal die Augen auf und sprach mit matter Stimme: „Oheim, sage unseren Verwandten und Freunden, sie sollen um mich nicht weinen, ich sei von der Hand eines edlen Königs erschlagen worden, wie er von der meinen. Nun ist mein wildes Blut ganz ruhig geworden, und ich liege in des treuesten Mannes Armen friedlich, wie ein Kind an der Mutterbrust, und entschlafe sanft. Mich dünkt, ich werde genesen.“ Es waren die letzten Worte des stürmischen Recken, der nun im Tode Ruhe gefunden hatte. Wie Wolfhart, so lagen bald auch die anderen Berner Helden außer Hildebrand auf dem blutigen Grund zur langen Rast gebettet, und mit ihnen die Burgunden, von denen nur noch Hagen und König Gunther aufrecht standen.
Ja, so muß wohl der Kampf um die Körperlichkeit am Ende ausgehen, denn alles, was geboren wurde, muß auch wieder sterben im ewigen Werden und Vergehen. Symbolisch könnte man es so deuten: Dankwart als Gedächtnis wird von Helfrich als Intuition besiegt, der wiederum von Gunther als führender Ego-Verstand getötet wurde. Giselher als einnehmender Ego-Verstand und Wolfhart als tierhafter Körper töten sich gegenseitig im Kampf. Und Hildebrand als vernünftiger Verstand besiegt Volker als das Ego-Schicksal, so daß nun alles wieder offen ist. Dietrich selbst hält sich aus diesem Kampf heraus, denn wahre Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein tötet nicht im Sinne einer Trennung, sondern vereint im Sieg. Daran läßt sich wieder erkennen, daß die Dietrich-Vernunft höher entwickelt war als die von Rüdiger und sich ihres Namens als „Reichtum der Menschen“ würdig zeigt. Und das Ego?
„Wie nun, Meister Hildebrand?“, rief eine rauhe Stimme: „Jetzt zahlst du mir die Buße für meinen Heergesellen Volker!“ - Es war Hagen, der so den Alten anrief und zugleich mit mörderischen Schlägen überfiel. Der Meister wehrte sich tüchtig, aber Hagen war kraftvoll und grimmig und Balmung scharf. Ein furchtbarer Streich zerschnitt Hildebrands Rüstung, daß reichlich Blut hervorquoll. Als der Alte die Wunde fühlte und dem Recken in das grimmig-schreckliche Antlitz blickte, ergriff ihn zum ersten Mal in seinem langen Leben Furcht, und er entrann, den Schild auf den Rücken geworfen, wie ein Feigling.
Woher kommt plötzlich diese Furcht? Er hatte doch wohl schon viele Wunden furchtlos erlitten, aber wohl noch nie versucht, das Ego zu töten. Denn das kann der Verstand auch nicht, weil das Ego ein Teil des Verstandes ist, seine natürliche Aufgabe hat, aber nicht über den Verstand herrschen sollte und gleich gar nicht über die Vernunft. Deshalb verwundet er sich nur selbst in diesem Kampf des Tötens, und ihm bleibt nur die Flucht zur Vernunft:
Mit zerhauener Rüstung und rot von eignem und fremdem Blut trat der Alte vor seinen Herrn. Als ihn derselbe fragte, ob er mit den Nibelungen gekämpft und darum so naß vom Blut sei, berichtete er zuerst, wie die Burgunden den guten Rüdiger erschlagen und sich geweigert hätten, auch nur den toten Leib zur Bestattung herauszugeben. Das war dem Berner ein großer Harm, so daß er nicht weiterfragte, wie sich das schwere Leid begeben habe. Er bat darauf den Alten, daß er seinen Mannen gebieten solle, sich zu bewaffnen. „Wem soll ich denn gebieten?“, sprach der Meister: „Die Helden von Bern stehen alle hier, du selbst, oh Herr, und ich. Und auch die Nibelungen bestehen nur noch aus Hagen und König Gunther.“ Dietrich begriff erst nicht die Rede, als er aber die Geschichte recht vernahm, da klagte er laut um seine Freunde und Gesellen. „Wie konnten nur die kühnen Männer den streitmüden Recken erlegen sein?! Wer soll mir nun helfen, daß ich Amelungenland wiedergewinne?“ So rief er in seinem Harm. Aber der Held, der schon viel erduldet hatte, erhob sich endlich wieder in seiner Kraft und schritt wohlgewappnet mit Hildebrand nach dem Haus, wo Gunther und Hagen, auf ihre Schwerter gestützt, einsam unter Blut und Leichen saßen. Sie sahen ihn kommen und ahnten, was er zu werben gedenke.
So bleiben nun einerseits Hagen und Gunther als Ego-Verstand und anderseits Dietrich und Hildebrand als Vernunft-Verstand zur letzten Entscheidung übrig:
Dietrich warf ihnen vor, wie sie ihm für alle Freundschaft das schwerste Leid zugefügt hätten, und forderte sie auf, sich ihm zu Geiseln zu ergeben. Dagegen meinte Hagen, wenn sich zwei kühne Helden in voller Rüstung ihm ergeben wollten, dann wäre das so lästerlich wie des alten Meisters Flucht. Er habe nie geglaubt, fügte er hinzu, daß Hildebrand mit fluchtfertigen Beinen ihm so eilends entrinnen werde. Dagegen sprach Hildebrand, der Tronjer habe einst nicht minder lästerlich auf seinem Schild sitzend am Wasgenstein zugesehen, wie Walther von Spanien seine wertesten Freunde erschlagen habe. Dietrich verwies beiden, daß sie wie alte Weiber zankten und schmähten, und forderte zum Kampf. Zuerst sprang Hagen heraus, und wohl klang Balmung in seiner starken Hand und brachte den Berner in Not. Aber dieser verstand, sich zu schirmen und den gewaltigen Streichen auszuweichen. Als er den kühnen Mann ermüdet sah, unterlief er ihn unversehens, warf ihn zu Boden und band ihn. Den Gefangenen führte er vor Kriemhild und empfahl ihn ihrer Gnade, da er, wie er sagte, der tüchtigste und kühnste Recke in allen Landen sei. Er vernahm den Dank und das Lob seiner Tapferkeit aus ihrem Mund, aber sah nicht den Strahl von Freude, der über ihr finsteres Angesicht glitt, noch hörte er das Aufjauchzen ihres Herzens, das sie nicht lautwerden ließ. Er eilte fort zum letzten Kampf mit König Gunther.
Kriemhild sah sich am Ziel. Über die Leichen der edelsten Helden, durch Ströme von Blut war sie gewandelt, und jetzt stand sie dem gefangenen Todfeind gegenüber. Er erkannte wohl sein Schicksal in ihren Blicken, aber bewahrte seinen Trotz, wie ein gebundener Tiger, der noch mit glühenden Augen seinem Überwinder entgegenstarrt. Da gedachte sie noch einmal, dem feindlichen Mann das Geheimnis des geraubten Nibelungenschatzes zu entreißen. Sie sprach ihn daher mit freundlichen Worten an und verhieß ihm sichere Heimkehr, wenn er ihr mit Wahrheit antworte. Diese Milde schien den Helden zu rühren, und er sagte, er wolle ihr das Geheimnis gern entdecken, aber er habe mit teurem Eid gelobt, den Ort des Schatzes nicht zu verraten, solange noch einer der Könige am Leben sei. Sie versicherte ihm nochmals auf das Bestimmteste, daß sie ihr Versprechen halten werde, wenn er nach ihrem Willen tue. Darauf ließ sie ihn in sicheres Gewahrsam bringen. „Lüge um Lüge, Trug um Trug“, sprach er bei sich, als er fortgeführt wurde.
Ja, das ist die Ego-Welt von Hagen als ein trennendes Ichbewußtsein, das in seiner Illusionsblase lebt: „Lüge um Lüge, Trug um Trug.“ Und Kriemhild, die reine Seele, lebt sie auch in dieser Lügenwelt und lügt aus Habgier? Wir sagen: Nein, hier geht es um die Wahrheit als das „Rheingold“, denn das war nun die allerletzte Möglichkeit für das Ego, sich der Vernunft unterzuordnen und seine Grundeigenschaft des persönlichen Festhaltens bzw. Anhaftens aufzugeben, die zu einer solchen Blasenbildung nötig ist. Doch das Ego beruft sich auf seine Verschwörung mit dem Verstand, und so muß nun mit dem Ego auch der egobeherrschte Verstand seinen Kopf verlieren:
Bald erschien nach einem letzten harten Kampf der Berner Held mit dem gebundenen König Gunther, den man sofort gleichfalls, aber in einen abgesonderten Kerker brachte. Kriemhild sann, was nun weiter geschehen solle. Siegfrieds Mörder waren in ihren Händen. Der eine hatte die Untat gestiftet und mit arger List meuchlerisch ausgeführt, der andere sie mit seinem königlichen Wort genehmigt, besiegelt und dem Meuchler vergönnt, Hohn und Kränkung auf sie zu häufen, statt ihrer Klage ein williges Ohr zu leihen. Er und der Mordgeselle mußten ihrer Rache zum Opfer fallen.
„Ich bring' es zu Ende“ · sprach das edle Weib.
Dem Bruder ließ sie nehmen · Leben da und Leib.
Man schlug das Haupt ihm nieder · bei den Haaren sie es trug
Vor den Helden von Tronje · da gewann er Leids genug.
Da wurde dem König das Haupt abgeschlagen und Hagen vor die Füße gelegt, um ihn zu überzeugen, daß der letzte König von Burgund zu leben aufgehört habe. Doch der Held stieß das Haupt verächtlich von sich. „Du bist es nicht mehr“, sagte er, „dem ich Treue gelobte, dessen Krone ich frei von Makel erhalten wollte. Das Königshaus von Burgund, dem ich angehöre, ist verödet, sein Glanz vergangen. Was liegt nun an der Lebensspanne, die noch übrig ist?!“
In der Nacht, die auf den sturmbewegten Tag folgte, hatte Kriemhild einen glücklichen Traum. Es erschien ihr Siegfried hoch und herrlich, wie zur Zeit ihrer frohen Vereinigung. Er winkte ihr, breitete die Arme aus, sie zu umfangen, und verschwand: Der aufdämmernde Morgen hatte das Traumbild verscheucht.
In königlichem Schmuck saß Kriemhild neben König Etzel auf dem Hochsitz. Auch der trauernde Dietrich und Meister Hildebrand waren zugegen. Auf das Gebot der fürstlichen Frau wurde der Held von Tronje entwaffnet und gebunden in den Saal geführt. Sie wiederholte ihre Frage nach dem Schatz. Er sah mit dem gewohnten Trotz und Hohn zu ihr auf und sprach: „Dein Witz ist dir entronnen, Hagedise (Hexe), daß du wähnst, du habest den Recken von Tronje bezwungen und wie ein Lamm gezähmt. Nun sind die Könige tot, Gunther, Gernot und Giselher, die des Schatzes kundig waren. Nun weiß niemand als Gott und ich, wo das Gold im tiefen Rhein versenkt ewig ruht. Von mir aber wird dir niemals kundgetan, wo du ihn suchen und finden kannst.“
Hier zeigt sich nun, daß es doch das Ego ist, das lügt und auch in einer Welt der Lüge und Illusion lebt. Denn er erfüllt sein Versprechen nicht, den Schatz zu übergeben, und sieht sich mit den Worten „Gott und Ich“ immer noch als ein getrenntes Wesen, das glaubt, etwas festhalten zu können.
Und hier kann man nun auch erahnen, um was für ein Gold es eigentlich geht, das für die Nibelungen bzw. Nebel-Wesen in dieser Welt der größte Schatz ist, den sie zwar erreichen, aber nicht ergreifen und festhalten können. Was ist dieser unvorstellbare und grenzenlose Schatz, der in der Materie und im Fluß des Lebens versteckt ist, aus dem die Naturgeister Eisen, Gold und Edelsteine machen, Tier- und Pflanzenkörper, Waffen, Rüstungen, Kleider, Schmuck, Ketten und alles, was man sich vorstellen kann? Ja, es geht hier natürlich um das Gold der Wahrheit, welche das Ego als trennendes Bewußtsein im Fluß des Lebens verbirgt, denn in der Wahrheit gibt es keine Trennung. Es geht um das reine Bewußtsein, das alle gewünschten Formen annehmen kann, und um die reine Vernunft, die der allergrößte Schatz der Menschheit ist. Diesen Schatz hält das Ego zurück, welches die Vernunft hinterlistig getötet hat, und sorgt mit Treue- und Eidesbanden dafür, daß ihn auch der egobeherrschte Verstand nicht suchen und finden kann.
Kriemhild stieg schweigend von dem Hochsitz herunter und ergriff Balmung, das gute Schwert, das bei Hagens Rüstung lag. „Das Gold“, sagte sie, „das du als Räuber mir entwendet, hast du verborgen. Aber ein anderes Gut, das du mit frecher Hand geraubt, halte ich hier in Händen. Das trug mein holder Siegfried, als ich ihn zum letzten Mal sah, bevor er durch deine Mörderhand den Tod fand. Nun will ich versuchen, ob es seinen edlen Herrn zu rächen tüchtig ist.“ Sie hatte das Schwert aus der Scheide gezogen, schwang es mit ihren beiden Händen, und das Haupt des kühnen Hagen flog vom Rumpf und rollte zu den Füßen des alten Hildebrand.
Warum rollt der Ego-Kopf vor die Füße des vernünftigen Verstandes? War das ein Vorwurf? Oder eine Aufgabe? Denn was nun geschieht, ist für unseren gewöhnliche Verstand schwer zu verstehen. Nachdem die Vernunft die Rolle der reinen Seele angenommen und den Ego-Verstand gebunden hat, nimmt nun die Seele die Rolle des reinen Geistes an und wird frei wirksam, um den Ego-Verstand zu töten und unwirksam zu machen. So ergreift die reine Seele das Schwert der Weisheit und schwingt es mit der Kraft des reinen Geistes, mit dem sie natürlich in ewiger Liebe vereint und in Wahrheit niemals getrennt ist. Damit schließt sich der Kreis zu den damaligen Worten in der Kirche neben der aufgebahrten Leiche Siegfrieds:
Hätte Kriemhild ein Schwert und Manneskraft gehabt, sie hätte Hagen im Heiligtum erschlagen.
Und damit erreicht auch diese Geschichte ihr Happy-End im Sieg-Frieden. Sozusagen ein Ende mit Schrecken, anstatt ein Schrecken ohne Ende:
Ein Schrei des Entsetzens hallte durch den Saal, dann war alles still. Kriemhild stieß die blutige Klinge in die Scheide zurück und sprach: „Das Blut soll man nicht von der Schneide tilgen. Man soll Balmung, wie es jetzt ist, nach Worms bringen und in Siegfrieds Gruft niederlegen. Vielleicht vernimmt er, seine Frau habe ihn treu geliebt und seinen Mörder gestraft. Mein Leben war Liebe und Rache, nun ist die Arbeit getan.“
„Wunder!“, sprach Hildebrand, Hagens Haupt anstarrend: „Wie ist doch der kühnste Held in allen Landen durch Frauenhand gefallen! Doch wenn er mich auch lebend schwer geschädigt hat an Leib und Ehre, so will ich doch, was mir auch darum geschieht, sein Rächer sein.“ Mit diesen Worten zog der alte Waffenmeister sein Schwert und traf die Königin zu Tode. Etzel schrie laut auf, kniete zu der geliebten Gattin nieder, aber ihre Farbe war erblichen. Sie sprach noch mit schwacher Stimme: „Niemand strafe den alten Meister!“ Dann nahm der Tod seinen Raub dahin.
Diesen Rollenwechsel von Mann und Frau bzw. Geist und Natur kann natürlich auch der vernünftigste Verstand weder tolerieren noch verstehen und gleich gar nicht, daß sich die Seele der Natur über den Geist erhebt. So zerschlägt er diese scheinbar äußerliche Form, die für ihn nicht sein darf, um die verständliche Ordnung in der Welt des körperlichen Lebens zu bewahren. Und so ging mit diesem Mord an einer Frau und sogar der Königin des verehrten Königs wohl auch der letzte ritterliche Ehrbegriff den Bach bzw. die Donau hinunter…
Die größte Ehre ging nieder in den Tod,
Und alle Leute hatten Jammer und Not.
Mit Leid ging zu Ende des Königs Hochzeit,
Wie doch jede Freude zuletzt Leid verleiht.
Vermutlich oben links Dietrich, oben rechts der nachdenkliche Hildebrand, im Zentrum König Etzel und Kriemhild, unten wird die Leiche von Hagen die symbolische Treppe hinabgetragen, der Kopf wurde vielleicht von Hildebrand wieder angefügt, unten links der Spielmann Swemmelin, der auf dem Pferd als Symbol der Körperlichkeit nach Burgund reitet, um die Botschaft des „Nibelungenliedes“ zu verkünden.
Man könnte aber auch sagen, Kriemhild hatte ihre Aufgabe erfüllt, denn die innere Seele der Verursachung hatte sich ausgewirkt, und damit vergeht natürlich auch ihre äußerliche Form. Der gewöhnliche Verstand wird mit diesem Happy-End nicht sehr glücklich sein, weil kein greifbarer Gewinn erscheint, den er festhalten könnte. Doch so siegt am Ende Dietrich als Vernunft mit seinem Waffenmeister Hildebrand als Verstand unter den Augen Etzels als „Weideland“. Damit liegt es wieder nahe, über die Ähnlichkeit dieser Geschichte am Hof Etzels mit der von Odins Walhalla nachzudenken. Auch dort versammeln sich die wahrhaften Helden bzw. Hünen als Einherier, um der Gottheit als Ganzheit zu dienen und die letzte große Schlacht zu kämpfen, nämlich Ragnarök als „das Schicksal der Götter“, um die übermächtige Dunkelheit zu besiegen, das reine Licht wiederzugewinnen und eine neue heile Welt zu erschaffen. So wird unser gewöhnlicher Verstand auch an Ragnarök nicht viel Erstrebenswertes finden, sondern Untergang, Tod, Verlust und Vernichtung, weshalb sich auch in Walhalla nicht die Verstandes-Recken üben, sondern die wahrhaft vernünftigen Helden.
Ich kann euch nicht berichten, was nachher geschah,
Als daß man Recken und Frauen weinen sah,
Dazu die edlen Knechte, deren Freunde waren tot,
Da hat die Mär' ein Ende: Das ist der Nibelungen Not.
Das ist der letzte Vers des Nibelungenliedes, ein tiefsinniges Lied über die Nebel-Welt der Menschen. Wie es weitergeht, berichtet die folgende Nibelungenklage. Und wie Dietrich und Hildebrand nach diesem Sieg über das Ego-Wesen als Wurzelursache für das weltliche Leiden in ihr Vaterland zurückkehren und sich dort alles zum Guten wendet, sozusagen in eine heile Welt, darüber werden wir noch in der Dietrichsage lesen und nachdenken.
• .....
• Nibelungensage: Siegfrieds Kindheit und Jugend
• Nibelungensage: Siegfrieds Brautwerbung
• Nibelungensage: Siegfrieds und Gunthers Hochzeit
• Nibelungensage: Siegfrieds Ermordung
• Nibelungensage: Kriemhilds Racheplan
• Nibelungensage: Kriemhilds Rache
• Nibelungensage: Totenklage und Neubeginn
• Hugdietrichsage: Hugdietrich und Hildburg
• Hugdietrichsage: Wolfdietrich und seine Dienstmänner
• Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Siegminne
• Hugdietrichsage: Wolfdietrich und der Messermann
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
![]() |
Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen |