Home | Bücher | News⭐ | Über uns |
Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Nachdem wir nun viel über das Wasserwesen der Natur nachgedacht haben, möchten wir uns auch der Nibelungensage zuwenden. Denn „Nibel“ bedeutet auch Nebel, und die Geschichte spielt zuerst vor allem am Rhein und in der Nordsee. Später geht es dann an die Donau, die ins Schwarze Meer fließt, und es begegnen uns sogar Meerfrauen. Hinsichtlich der historischen Hintergründe sowie den nordischen und anderen Mythen gibt es schon viele Deutungsversuche. Deshalb möchten wir nun diese alte Sage vor allem bezüglich ihrer geistigen Bedeutung untersuchen, obwohl uns die Schwierigkeiten bewußt sind, denn solche Geschichten entstanden ja gerade deshalb, weil sich die tiefere Bedeutung nur sehr schwer in Worte fassen läßt. Also nicht wundern, wenn manche Interpretation nicht gleich verständlich klingt, denn auch das sind alles nur Andeutungen. Wir stützen uns dazu neben anderen Quellen auf die Nacherzählung von Wilhelm Wägner aus dem Jahr 1878, der auf geniale Weise viele der alten Sagen miteinander verbunden hat. So lernen wir in der Nibelungensage im Prinzip drei Welten kennen: Die geistige Welt des Siegfrieds, die körperliche Welt des Gunthers und dazwischen die mystische Nebelwelt der Zwerge und Riesen.
Herauf, ihr Helden und Frauen
Aus längst vergangener Zeit,
Laßt uns noch einmal schauen
Eure Freuden und euer Leid!
Laßt uns noch einmal euch blicken
Ins verblichene Angesicht!
Von Kämpfen und Trauergeschicken
Am Borne Frau Saga spricht.
Sie soll uns sagen und singen
Von Rache, Angst und Not,
Ein Lied zuletzt uns bringen
Von Liebe bis in den Tod.
Von Liebe, die nimmer endet,
Ob auch das Leben verglüht,
Die dort bei Freya vollendet
In heiliger Halle blüht.
(Wilhelm Wägner)
So wollen wir mit der Kindheit von Siegfried und seiner geistigen Welt beginnen, um den sich im Grunde die ganze Nibelungensage dreht:
In den Niederlanden wuchs das Kind eines edlen Königs auf, das den Namen Siegfried erhielt. Sein Vater war Siegmund, vom ruhmvollen Stamm der Wölsungen, die ihr Geschlecht von Wodan selbst ableiteten. Seine Mutter Siegelinde war von nicht minder edler Abkunft. Beide freuten sich des Sohnes, denn er zeigte schon früh solche Kraft und Tüchtigkeit, daß man von ihm hoffte, er werde als Erwachsener großen Heldenruhm erlangen. Indessen wurde er sich bald seiner ungemeinen Leibesstärke bewußt und seines trotzigen und unbändigen Mutes. Er duldete keinen Widerspruch, und schlug die Gespielen blutig, auch die, welche weit älter waren als er. Mit den Jahren wuchs noch sein unbändiges Wesen, so daß er von allen Knaben gehaßt und gemieden wurde, und die Eltern in große Sorge gerieten. Da sprach Siegmund zur Königin, er wisse noch einen Rat, wie der Wildling zu bändigen sei: Er wolle ihn als Lehrling dem Schmied Mimer übergeben, der im nahen Wald seine Wohnung habe und harte Helme, strahlende Brustpanzer, Schilde, Schwerter und wundersame Kleinodien schmiede. Der sei ein starker und kluger Mann und werde den Knaben lehren, wie er die Waffen anfertige, die er einst als Recke führen solle. Die Königin gab ihre Zustimmung, und der Vater tat also mit dem unbändigen Sohn.
Wir finden hier zuerst die Geburt einer unbändigen bzw. ungebunden-freien Kraft zur Schöpfung und Zerstörung, die keine Grenzen kennt, alles Gewünschte verwirklichen und jedes Hindernis vernichten kann. Das ist eigentlich die reine Kraft des Geistes, die wir auch alle in uns haben, welche aber gewöhnlich in Zeit und Raum begrenzt und gebändigt bzw. gebunden und schwach wurde. Es ist die Kraft des reinen „Sieges“ aus dem Mund oder Wort des Vaters „Siegmund“ und der Linde der Mutter „Sieglinde“, die uns an den Baum des Lebens erinnert, aber auch an einen linden und freundlichen Sieg voller Mitgefühl und Liebe. So ist dieses geborene Wesen in sich selbst im Frieden, denn „Siegfried“ kennt eigentlich nichts, vor dem er Angst haben müßte, weil er als reine Geisteskraft bzw. reines Bewußtsein im Grunde schon alles besiegt hat.
Dazu schreibt auch Meister Eckhart:
Denn so viel bist du in Gott, soviel du in Frieden bist, und so viel außer Gott, wie du außer Frieden bist. Ist etwas nur in Gott, so hat es Frieden. So viel in Gott, so viel in Frieden. Wieviel du in Gott bist, wie auch, ob dem nicht so sei, das erkenne daran: ob du Frieden oder Unfrieden hast. Denn wo du Unfrieden hast, darin mußt du notwendig Unfrieden haben, denn Unfriede kommt von der Kreatur und nicht von Gott. Auch ist nichts in Gott, das zu fürchten wäre; alles, was in Gott ist, das ist nur zu lieben. Ebenso ist nichts in ihm, über das zu trauern wäre. Wer seinen vollen Willen hat und seinen Wunsch, der hat Freude. Das (aber) hat niemand, als wessen Wille mit Gottes Willen völlig eins ist. Diese Einung gebe uns Gott! Amen (Traktate, XXIII)
Und doch erscheint uns diese Geisteskraft nicht besonders freundlich, denn sie zerstört gern die äußeren Formen, die wir als Kreaturen so lieben. So wissen auch die Eltern, daß diese Kraft zu Großem geboren wurde, und versuchen, ihren Sohn auf die wichtige Rolle vorzubereiten, die er in der Natur bzw. äußeren Welt der Formen spielen sollte. So wird diese Geisteskraft zuerst dem gedanklichen Verstand übergeben, der sie als Schmied bändigen und für den Kampf in der Welt vorbereiten soll, was im Prinzip in jeder natürlichen Entwicklung eines kleinen Kindes geschieht:
Als der Schmied die Geschichte vernommen hatte, war er auch bereit, den Königssohn in Zucht zu nehmen. Er meinte, es werde nicht schwerfallen, den kraftvollen Jungen zum Geschäft anzuleiten. Die nützliche Arbeit mit Zange und Hammer zähme den übermütigen Trotz. In der Tat ging es auch eine Zeitlang recht nach Wunsch. Der Lehrbursche hatte seine Lust an den Schwertern, Rüstungen und Kleinodien, die im Schmiedefeuer und unter dem Hammer des Meisters und seiner Gesellen entstanden und poliert wie Sonnenlicht glänzten. Er versuchte selbst, solche Kunstwerke zu fertigen. Anfangs zerschlug er noch das Eisen und edle Metall, aber dann lernte er, sein Ungestüm zu zähmen, und zeigte viel Geschickt. Ein und das andere Jahr verstrich leidlich, und er wuchs in dieser Zeit fast zur Mannesgröße. Nun langweilte ihn die Arbeit, und wenn ihn die Gesellen zurechtwiesen, schlug er sie, warf sie zu Boden, und schleifte einstmals einen von ihnen, den besten der Schmiedeburschen, den kunstfertigen Wieland, an den Haaren bis zum Meister. „Das wird so nichts“, sagte der Alte, „komm hierher, du sollst dir selbst ein gutes Schwert schmieden.“ Dazu war Siegfried sogleich bereit. Er verlangte das beste Eisen und den schwersten Hammer, den die Gesellen nur mit zwei Händen zu führen pflegten. Mimer zog die stärkste Eisenstange rotglühend aus dem Schmiedefeuer und legte sie auf den Amboß. Siegfried schwang den Hammer mit einer Hand wie ein Spielding, und der Schlag krachte nieder gleich einem Donnerschlag. Das Haus erzitterte in seinen Grundfesten, das Eisen zerstob zu Scherben, die nach allen Seiten flogen, und der Amboß sank schuhtief in den Boden. „Das wird so nichts“, sagte der Meister wie vorher, „wir müssen es anders versuchen, mein Junge, wenn du dir eine gute Waffe fertigen willst. Drüben im Tannenwald wohnt ein Köhler, der die besten Kohlen liefert. Hole mir davon eine genügende Last auf deinen starken Schultern. Derweil rüste ich das beste Eisenzeug her, um dir eine Klinge zu schmieden, dergleichen noch niemals ein Recke geschwungen hat.“
Da lag bei einer Linden ein merklich großer Drach:
Da schickt‘ ihn hin der Meister, da sollt er fragen nach.
Ein Köhler saß im Walde, des sollt er warten eben:
Bei derselben Linde da sollt er ihm Kohlen geben.
(Der hörnerne Siegfried, Heldenbuch, Band 3, Simrock, 1883)
Das deuchte dem Burschen eine so wohlgemeinte Rede, daß er sogleich eine mächtige Axt ergriff und in den Wald wanderte.
So wird nun trefflich beschrieben, wie in dieser Schmiede des Verstandes im geistigen Feuer die verschiedensten Formen geschmiedet werden, die der Verstand als Waffen, Rüstungen und wertvolle Besitztümer gebraucht, aber doch im Grunde nur Formen des reinen Bewußtseins sind, sozusagen gefrorener Geist, der im Feuer weich und formbar wird, woran uns auch das Wort „Eisen“ erinnert, als das gefrorene und verfestigte Eis vom Wasser des Lebens. Diese Kunst findet Siegfried zwar interessant und erlernt sie auch über mehrere Jahre, aber läßt sich weder von dieser Kunst noch von den Künstlern beherrschen, so gut sie auch sein mögen. So verliert er auch bald die Lust daran und kann sich erst wieder begeistern, als er sein eigenes Schwert schmieden soll. Nun braucht so ein grenzenloser Geist natürlich auch ein grenzenloses Schwert, und das ist dann kein gewöhnliches Schwert des begrifflichen Verstandes aus „sprödem Eisen“ mehr, sondern das berühmte Schwert der Weisheit, das alles durchdringen kann. So ist es kein Wunder, daß bei diesem Versuch das gewöhnliche Eisen, der Amboß und das Schmiedefeuer nicht bestehen können. Da wird nun dem Schmiedemeister bewußt, daß er hier selbst seinen Meister gefunden hat. Er befürchtet, seine Meisterschaft zu verlieren und schickt Siegfried zum Hüter des Feuers tief in den Wald der Vorstellungen, in der Hoffnung, daß er daraus nicht zurückkehrt, wie es den meisten Menschen geht. Der Hüter des Feuers erscheint hier symbolisch als ein Köhler, der das Feuer zur Herstellung von Holzkohle beherrscht, die für ein heißes Schmiedefeuer nötig ist. Nun wollen wir sehen, was Siegfried in diesem Wald der Vorstellungen alles findet:
Die Bäume streckten dem jungen Gesellen ihre frischgrünen Zweige entgegen, die Vögel besangen den heitern Frühling, und so war es ein lustiges Leben in den duftigen Hallen, wo Veilchen und Vergißmeinnicht ihm freundlich zunickten, als wollten sie ihm Glück verkündigen. Er pflückte sich einen Strauß von diesen Kindern des Frühlings und steckte ihn auf seine Lederkappe. Wie er weiter ging, gelangte er in einen düsteren Kiefernwald. Da tönte kein Vogelsang, sondern ein dumpfes Geräusch, ein Zischen, Gurgeln und Brüllen, das einen minder kühnen Wanderer wohl erschreckt hätte. Er sah bald die Ursache dieses wüsten Getöses. Es war eine Moorlache, in welcher sich riesige Kröten, Schlangen und Lindwürmer herumwälzten. „Hab ich doch mein Lebtag nicht so viel schädliches Gewürm gesehen“, sagte Siegfried zu sich, „aber ich will dem Spuk alsbald ein Ende machen.“ Sofort hieb er verdorrte Bäume nieder und warf sie in den unheimlichen Tümpel, daß er ganz davon bedeckt wurde. Darauf sprang er über Stock und Stein, bis er an die Köhlerhütte gelangte, die ihm der aus den Meilern aufsteigende Rauch kenntlich machte. Er begehrte von dem rußigen Köhler Feuer, um das Gewürm zu verbrennen. „Armer Junge“, sagte der Köhler, „es ist schade um dein junges Blut. Denn kehrst du auf demselben Weg zurück, dann bricht der greuliche Lindwurm-Drache aus der Felsenkluft hervor und verzehrt dich zum Imbiß. Schmied Mimer ist ein ungetreuer Mann. Er war vor dir hier und hat mir eine üble Geschichte erzählt, wie er den Wurm gegen dich gehetzt habe, weil du nicht zu bändigen wärst.“ - „Sei ohne Kummer, tüchtiger Mann“, versetzte Siegfried, „ich schlage den Wurm tot und den Ränkeschmied dazu. Gib mir nur Feuer, daß ich vorerst die giftige Brut verbrenne.“ Seufzend um das junge Blut reichte ihm der Köhler eine große Pfanne mit brennenden Kohlen und sah ihm wehmütig nach, wie er eilends fortrannte.
In diesem Wald der Vorstellungen finden wir zunächst blühende Bäume und das lustige Gezwitscher der Gedanken. Doch gehen wir tiefer hinein, wird es düster, und wir kommen in das Unterbewußtsein, was keiner gern sehen will, weil dort im Dunkeln tiefverdrängte Wesen hausen, die uns gewöhnlich viel Angst machen. Doch Siegfried nimmt diese Herausforderung an und versucht, diese giftigen Wesen im Sumpf mit dem abgestorbenen und vertrockneten Holz altgewohnter Vorstellungen zu verbrennen. Das ist der Weg, den wir auch aus dem Yoga kennen, um das Karma angesammelter Taten zu verbrennen, und dazu holt er sich das geistige Feuer, das uns an den Heiligen Geist erinnert, vom Hüter des Feuers, der tief am Grund des Bewußtseins zu finden ist. Entsprechend ist ihm auch viel bewußt, und er kennt das Wesen des Verstandes und weiß, wie eng der Verstand mit dem Ego verbunden ist, nämlich das begriffliche mit dem trennenden Bewußtsein, und wie unzuverlässig und gefährlich beide sind. Doch Siegfried läßt sich davon nicht abschrecken:
Der rasche Bursche war bald wieder an dem Tümpel. Mit den Kohlen zündete er leicht das dürre Holz von verschiedenen Seiten an, der Wind blies in die Glut, daß sie hoch aufloderte und das Wurmgezücht unter fürchterlichem Gekreisch in der Lache sott und schmorte. Siegfried hieb sich unterdessen aus einem Baumstamm eine gewaltige Keule zurecht. Allmählich wurde es immer stiller in dem Moor, und endlich verstummte auch der letzte Laut. Der kecke Junge ging um die Lache, und da sah er an einem niederen Rand ein Bächlein heißes Fett von dem Gezücht hervorrinnen. Er tauchte den Finger hinein und gewahrte, daß er sich mit einer Hornhaut überzog. „Hei“, sagte er „das ist gut im Kampf.“ Er entkleidete sich und badete den ganzen Leib in dem flüssigen Fett. Nur zwischen den Schultern, wo ein herabgefallenes Lindenblatt anklebte, blieb eine Stelle ohne Hornhaut, was er erst später innewurde. Als er alles vollendet und wieder sein Ledergewand angezogen hatte, schritt er wohlgemut, die Keule auf der Schulter, seines Weges. Da schoß plötzlich aus einer Steinkluft der Drache brüllend mit offenem Rachen auf ihn zu. Drei gewaltige Keulenschläge fällten das Ungetüm. Kopf und Rückgrat waren ihm gebrochen, und es krümmte sich noch lange und schlug mit dem Schweif, bis es verendete.
So bedeutet der Drache oder Lindwurm im Prinzip nichts anderes als die biblische Schlange oder den Teufel, also ein trennendes Bewußtsein, das sich von Gott bzw. vom Ganzen wie in einer verletzlichen Blase abtrennt. Das nennen wir dann Egoismus oder ein Ego, das mit dem begrifflichen Verstand der Gedanken seinen eigenwilligen Nutzen sucht und sich nicht im Ganzen erkennen kann. Auf diesen Ego-Drachen trifft Siegfried, als er erfolgreich in die äußere Welt zurückkehren wollte, wie wir gewöhnlich dazu neigen, uns alle vollbrachten Taten anzueignen, um eine persönliche Lebensgeschichte daraus zu machen. Doch er besiegt diesen Ego-Drachen mit „drei Keulenschlägen“, und im Nibelungenlied badet er dann im Drachenblut, das ihn unverwundbar macht. Die obige Version ist auch nicht schlecht, denn einerseits kann man den Begriff „Blutbad“ schnell mißverstehen, und andererseits ist es natürlich die Essenz aller äußeren Formen, die den Geist unverletzlich macht, also im Prinzip das reine Bewußtsein als unvergängliche Quelle aller Formen, das man im Grunde auch im Blut des Ego-Drachen finden kann, der ja auch nur aus Bewußtsein besteht und durch Bewußtsein lebt. Das heißt: Wer den Ego-Drachen als trennendes Bewußtsein besiegt hat, der badet automatisch im reinen Bewußtsein, weil es dann keine verletzliche Bewußtseinsblase mehr gibt. Das bedeutet natürlich nicht, daß auch die äußerlichen Formen unvergänglich werden, und daran erinnert das herabgefallene Lindenblatt vom Baum des Lebens, so daß es keinen unverletzlichen und unvergänglichen Körper geben kann, sondern nur das unsterbliche Bewußtsein selbst, dessen sich Siegfried bewußt ist.
So erinnert uns der Name Lindwurm einerseits an die Linde als Lebensbaum und anderseits an die teuflisch-feindliche oder giftige Schlange, die sich als trennendes Bewußtsein um diesen Baum schlängelt und ihn damit zum Baum der Gegensätze macht, von dem sich der begriffliche Verstand ernähren will:
Adam und Eva als Trennung von Geist und Natur
So kann man schließlich auch darüber nachdenken, aus welchem Baum sich Siegfried die gewaltige Keule gemacht hatte. Hier können wir an ebendiesen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sowie aller anderen Gegensätze wie Mein und Dein oder Leben und Tod denken, den er mit seiner Axt als Vorstufe vom Schwert der Weisheit an der Wurzel abgeschlagen hatte. Und wenn dieser Baum fällt, dann erschlägt er schon fast automatisch den Ego-Drachen des trennenden Bewußtseins, mit dem der begriffliche Verstand eng verbunden ist.
„Die Bestie ist tot“, sagte der kühne Bursche, „nun geht es an den berußten Meister und seine Gesellen.“ Mit diesen Worten wanderte er zornig weiter. Als die Gesellen den jungen Helden so im Grimm daher schreiten sahen, flohen sie erschrocken in den Wald und verbargen sich im Dickicht. Der Meister aber verharrte an der Tür seiner Schmiede, die er so lange friedlich bewohnt hatte. Er suchte erst durch Schmeichelworte seinen Lehrling zu begütigen, dann aber zückte er sein scharfes Schwert. Siegfried dagegen schwang die Keule und zerschmetterte mit einem Schlag die Klinge und das Haupt des Schmiedes. „Hei, Meister Mimer“, rief er, „du hetzt keinen Lindwurm-Drachen mehr auf deinen Lehrling!“ Darauf richtete er sich in der Schmiede ein und schmiedete sich mit Geduld und Fleiß ein Schwert, das er im Blut des Wurmes härtete. Er brauchte zu diesem Geschäft mehrere Wochen, dann aber war die Waffe blank und schneidig und wohlgehärtet. Er gürtete sie um und wanderte zurück nach dem Palast seines Vaters.
So besiegte er nach dem Ego-Drachen auch den begrifflichen Verstand, der als Meister über das Bewußtsein herrschen will. Und damit flüchten auch alle seine Gesellen, wie Haß, Zorn, Begierde, Geiz, Neid, Leidenschaft usw. So wird er selbst zum Meister in der geistigen Schmiede und kann sich „mit Geduld und Fleiß“ das berühmte Schwert der Weisheit schmieden, das er in der geistigen Welt mit reinem Bewußtsein härtet und unzerstörbar macht. Und wir werden im Laufe der Sage noch erfahren, wie es in den beiden anderen Welten bei den Nibelungen und bei Gunther noch vervollkommnet und wirksam wird. Mit diesem Schwert macht Siegfried seinem Namen alle Ehre und kehrt dann siegreich und zufrieden in das äußere Reich seiner Eltern zurück.
Der Name Mimer erinnert uns an „Mime“ für künstliches Imitieren oder Nachahmen in einem Schauspiel, was im Prinzip auch für den Verstand und seine „Vorstellungen“ zutrifft. Hier könnte man nun darüber nachdenken, wie weit dieser Verstandes-Schmied mit dem Mimir aus der berühmten Edda nordischer Mystik verwandt ist, wo es heißt:
Wohl weiß ich, Odin, wo du dein Auge verborgen hast, in dem berühmten Mimirbrunnen. Met trinkt Mimir jeden Morgen aus Walvaters Pfand. Wißt ihr’s zu deuten?
Diese Stelle kann man aus geistiger Sicht sehr tiefgründig deuten, weit über unseren gewöhnlichen Verstand hinaus. Wenn man das Auge als Symbol des Bewußtseins betrachtet, dann hätte der Allvater Odin einen Teil seines Bewußtseins für den Schicksalsbrunnen hingegeben, damit der Mimir-Verstand daraus an der Wurzel des Weltenbaumes seine „Vorstellungen“ schöpfen kann. Und mit dem anderen Teil des Bewußtseins schaut er auf die Schöpfung. Durch diese Trennung, sozusagen zwischen Subjekt und Objekt, wird der „Allvater“ in sich selbst zum „Walvater“, dem Walplatz bzw. Kampfplatz dieser Welt. Mit diesem „Pfand“ oder Opfer des reinen Bewußtseins läßt er also die ganze Schöpfung entstehen und lebendig werden. Dazu wird die Einäugigkeit von Odin zum Symbol der „Einsicht“ als Grundlage seiner göttlichen Macht, weil er sich bewußt ist, daß die ganze Welt nur aus seinem „anderen Auge“ vom begrifflichen Mime-Verstand geschöpft wird. Deshalb heißt er auch „Allvater“, weil er gleichzeitig der Zeuge und Erzeuger von Allem ist. Und so erkennt er sich überall selbst, wodurch er seine Unsterblichkeit erreicht, solange die Schöpfung besteht. Denn gewöhnlich betrachten wir das Bewußtsein nur als das Sehende. Daß aber auch das Gesehene eine Form des Bewußtseins ist, das sich in sich selbst spiegelt, eröffnet dann die göttliche „Einsicht“ eines Allvaters. Wißt ihr’s zu deuten?
Dies deutet wohl im Grunde das ganzheitliche Wesen des reinen Bewußtseins an, wie es auch Siegfried verkörpert, doch unser Verstand hat es nicht leicht damit. Denn was der begriffliche Verstand aus diesem Bewußtsein trinkt bzw. begreift, wird nicht umsonst „Met“ genannt, ein berauschendes Getränk der Illusion, das aber auch die Schöpferkraft für das ganze Universum ist. Interessanterweise wird auch dieser Mimir irgendwann enthauptet und Odin belebt dessen Kopf wieder, wie auch hier der Verstand in Siegfried durch seine Eltern wiederbelebt wird:
Mittlerweile hatte sich die Kunde von diesen Begebenheiten im Lande verbreitet, und als Siegfried in die väterliche Halle trat, fand er den König unmutig und seine Mutter in Tränen. „Du hast ein übles Werk getan“, sagte Siegmund, „du hast den besten Meister in allen Landen, den Mann, der mir sehr nützlich war, ohne Ursache in deinem unbändigen Zorn erschlagen.“ - „Unschuldiges Blut klebt an deiner Hand“, rief die Königin und weinte noch mehr. Die Tränen der Mutter, das Schelten des Vaters brachen die unbezähmbare Wildheit des Sohnes. Er suchte sich nicht zu entschuldigen. Er kniete vor der Königin und verbarg das Angesicht in seinen Händen. „Mutter“, sagte er, „deine Tränen brennen mir im Herzen. Weine nicht mehr! Ich will gefügig, will ein gerechter und ein guter Recke werden.“ Die kummervollen Eltern wurden durch diese Rede des reuigen Kindes wieder getröstet, und dies um so mehr, als sie jetzt die näheren Umstände erfuhren, die auch der Köhler bestätigte.
Hier zeigt nun das Schwert der Weisheit seine erste Wirkung, und er versteht seinen Vater, daß der Verstand in der äußeren Welt nicht getötet werden sollte, sondern lebendig seine Aufgabe zu erfüllen hat. Und gleichzeitig versteht er auch den Schmerz seiner Mutter und erwirbt die überaus wichtige Fähigkeit des Mitgefühls. Denn Weisheit und Mitgefühl sollten immer zusammengehören und sind auch im Grunde nicht zu trennen.
Die höchste Weisheit ist die Einheit aller Dinge,
Das größte Mitgefühl ist die Vielfalt aller Dinge.
(Zen-Lehre)
Und dieses umfassende Mitgefühl ist natürlich auch die reine Liebe, die nicht an äußerlichen Formen anhaftet, sondern das wahre Wesen aller Dinge erkennt.
Siegfried wurde von dieser Zeit an ganz verändert. Er zeigte sich freundlich und wohlwollend, ertrug die Zurechtweisungen verständiger Männer, lauschte auf ihre Reden und Ratschläge und bemühte sich, klug und weise zu werden. Wenn der unbändige Zorn in ihm aufloderte, so dachte er an die Tränen seiner Mutter und die Scheltworte des Vaters und besiegte und beherrschte jeden bösen Geist, der ihm die Besonnenheit rauben wollte.
Siegfried ist nun ein jugendlicher Held geworden, wie andere Menschen in seinem Alter, aber überragt sie doch weit, denn er hat in sich den Ego-Verstand besiegt, seine Unsterblichkeit erkannt, das Schwert der Weisheit geschmiedet und auch das große Mitgefühl gefunden, um der ganzen Schöpfung zu dienen:
Da wurden ihm die Edlen am Hofe geneigt, und auch die Frauen blickten mit Wohlgefallen auf den hochgewachsenen Jüngling, der an Größe und kräftigem Körperbau die stattlichsten Männer übertraf. Die strahlenden Augen, die hohe Stirn, die blonden Locken, die sein schönes Haupt umwallten, der Adel in allen Bewegungen vollendeten den Reiz seiner äußeren Erscheinung. In kämpferischen Spielen, in Turnieren, im Stoßen und Schleudern des Steins, im Schießen der Speere, im Hammerwurf und besonders im Schwertspiel konnte sich ihm kein Recke vergleichen.
Die Königin weinte jetzt Tränen der Freude, wenn sie den herrlichen Sohn betrachtete und in die Arme schloß, und sein Vater meinte, Siegfried werde bald größere Taten vollbringen, als er und alle seine ruhmvollen Ahnen. Deswegen veranstaltete er ein großes Fest und erteilte ihm, seinen Gespielen und vielen einheimischen und ausländischen Edlen das Schwert und die Rüstung, was man später den Ritterschlag nannte. Ein allgemeines Turnierspiel bildete den Schluß des Festes. Wie nun Siegfried in allen Kämpfen Sieger blieb und hoch und herrlich vor dem versammelten Volk stand, riefen tausend und abertausend Stimmen: „Lange lebe Jung-Siegfried, unser König, neben dem würdigen Vater!“ Er aber winkte mit der Hand und sagte bescheiden: „Solcher Ehre bin ich noch nicht wert, ich gedenke mir selbst erst ein eigenes Land zu gewinnen, wenn mir der König den Abschied gewährt, mit Roß und Rüstung in die Fremde zu ziehen, wohin mein Herz begehrt.“ Am Abend saßen die Recken beim Gelage in der königlichen Halle, Jung-Siegfried nicht oben bei dem Vater, sondern unten, wo die jungen Recken von künftigen Taten redeten. Sie erzählten von dem fernen Isenland, dem Land der schönen und streitbaren Brünhild, die ihre Freier zum Kampf fordere und schon viele erschlagen habe, von dem Reich der zauberischen Nibelungen, von einem Drachenstein, auf welchem ein höllischer Flugdrachen hause, und auch von einer holdseligen Königstochter zu Worms am Rhein wußten die jungen Helden zu berichten und von ihren drei Brüdern und dem starken Hagen, welche die Jungfrau behüteten. „Hei, das muß lustig sein, diese Wunder zu schauen und Abenteuer zu bestehen!“, rief Siegfried und trat vor seinen Vater und sagte ihm, wie er so ganz der Fremde unkundig wäre und nicht länger in träger Ruhe daheim verharren wolle. Der König, der selbst in jungen Jahren weit herumgekommen war, versprach ihm, wenn die Mutter zustimme, seinem Begehren zu willfahren. - Die Königin wurde am folgenden Tag vom Verlangen des Sohnes in Kenntnis gesetzt und gab nach langem Widerstreben den Bitten des jungen Recken nach. Er erhielt die beste und glänzendste Rüstung, das gute Schwert, das er selbst geschmiedet hatte, und ein windschnelles Roß, das er sich in den königlichen Stallungen auswählen durfte. So ritt er dann hinaus in die ferne, ihm noch unbekannte Welt, fröhlichen Mutes, wie die hoffnungsreiche Jugend immer ist, die nach einem unbestimmten Glück in der Ferne strebt, und das, was in der Nähe ist, gering achtet.
So zieht es Siegfried nun auch aus seiner geistigen Welt in die äußere Natur, die natürlich auch ein Teil der geistigen Welt ist und von ihm erfahren, erkannt und erobert werden will. Interessant ist die Symbolik, daß die Mutter Natur ihn nur mit Widerwillen in die äußere Natur gehenlassen möchte, denn sie fürchtet natürlich, daß er sich darin verlieren könnte, wie es dem Geist schon so oft geschehen ist. Dagegen unterstützt der Vater den Wunsch seines Sohnes, denn er kennt dessen Aufgabe in der Welt, wie auch der biblische Vater seinen Christus-Sohn mit dem Heiligen Geist in die äußere Welt sandte, oder der indische Schöpfergott Brahma die Verkörperung der universalen Intelligenz als Krishna in die Welt schickte, als sich die Erde bei ihm beschwerte, daß sie die zunehmende Last der mächtigen Krieger und Dämonen nicht mehr ertragen konnte. Ähnlich gibt es dann auch von Krishna eine Geschichte, wie er das Ego besiegte und einen unverletzbaren Körper bekam, bis auf die Fußsohlen, mit denen er auf der Erde stand. (siehe Mahabharata 13.159)
Es war ein wonniger Ritt durch frische Gelände und grünen Wald. Er kehrte in ländlichen Herbergen und auf Burgen der Edlen ein und forschte nach Isenland. Man wies ihn nordwärts, und er verfolgte die Straße, bis er das Meer erreichte. Dort fand er ein Fahrzeug zur Überfahrt bereit, aber die Schiffer fürchteten schlimmes Wetter. Dennoch lichteten sie die Anker auf sein Geheiß, und er lenkte das Steuer mit starker Hand durch die wilden, vom Sturm bewegten Wogen und landete nach kurzer Fahrt im sicheren Hafen.
Die erste große Herausforderung in der äußeren Welt sind die stürmischen Wellen auf dem Meer des Lebens, welche die Menschen gewöhnlich fürchten und Angst haben, darin unterzugehen. Doch Siegfried kennt diese Angst nicht und vertraut seiner Macht und dem Meer, wie Christus, als er über das Wasser ging. So kam er auch wohlbehalten an sein Ziel:
Er wurde auf der Burg wohl empfangen. Brünhild selbst, die hohe Königin, lud ihn in die Halle ein, wo viele Recken beim Gelage versammelt waren, alle entschlossen, in gefährlichen Kämpfen um die Hand der Frau zu werben. Schon am folgenden Tag waren viele Recken zum Waffenspiel in den Schranken. Da erschien Brünhild, glänzend gerüstet mit Helm, Brustpanzer (Brünne) und Schild, schön wie Freya, wenn sie mit den Walküren die Schlacht der Helden lenkt. Siegfried betrachtete staunend die hohe Gestalt, die weit über alle Jungfrauen emporragte, welche, gleich ihr gerüstet, ihr Gefolge bildeten. Aber auch der Held von Niederland überstrahlte die anderen Recken durch männliche Schönheit, durch hohe, kraftvolle Gestalt und glänzende Rüstung. Vielleicht regte sich in ihrem Herzen der Wunsch, er möge sich unter die Freier mischen und den Sieg gewinnen. Er aber warf wie zum Spiel den Stein, daß er weit, selbst über die Schranken flog. Dann grüßte er mit Anmut die Königin, nahm Abschied und bestieg wieder sein Fahrzeug. „Diese mannhafte Jungfrau mag ich nicht lieben“, sprach er bei sich, „Schamhaft und sittsam, sanft und freundlich muß die Jungfrau sein, um deren Huld ein wahrer Held mit Gut und Blut wirbt.“
Geographisch wird Isenland gern mit Island gleichgesetzt, was fast 2.000km auf dem Wasserweg sind. In der geistigen Siegfried-Welt ist das nur eine „kurze Fahrt“, denn Zeit und Raum sind hier auch nur geistige Wesen, während die Reise später in der Menschenwelt zusammen mit Gunther 12 Tage dauert, wie noch berichtet wird. Aus symbolischer Sicht würden wir bezüglich des Namens mehr an ein „Eis-Land“ als Symbol für die äußere Natur denken, das sich wie eine gefrorene Insel aus dem Meer des Lebens bzw. Meer der Ursachen zur „Existenz“ hervorgehoben, kristallisiert und zu Materie verhärtet hat. So wird auch der Name Brünhild von „brünne“ als Brustpanzer und „hilta“ als Kämpferin abgeleitet und bedeutet „die mit dem Brustpanzer kämpft“. Entsprechend gilt sie als eine hartherzige Frau, die kein Mitgefühl kennt, aber doch von vielen Helden wegen ihrer Schönheit erobert und gewonnen werden will, in denen wir aus geistiger Sicht den begrifflichen Verstand wiederfinden können, der die äußere Natur begreifen und mit dem Ego beherrschen will. Und wem das nicht gelingt, der wird von ihr besiegt und kommt unter die Macht des Todes. Nun, bisher ist es noch keinem Ego-Verstand gelungen, und sie mußten alle auf ihren Tod treffen. Doch Siegfried sieht in ihr keine persönliche Herausforderung, denn er wird nicht mehr vom Ego-Verstand getrieben und beherrscht. So zeigt er seine Macht und läßt einen bleibenden Eindruck bei Brünhild zurück, die natürlich tief im Herzen spürt, wer dieser Held ist und welche Macht er hat, und sich eigentlich gern wünschte, von ihm besiegt zu werden. Aber Siegfried sucht nicht so sehr nach der äußeren Natur, sondern nach der inneren, nach der verborgenen Seele.
Er fuhr nun weiter seines Weges, teils durch wohlangebaute Auen, teils durch wüstes Land, wo reißende Tiere und Raubvolk dem einsamen Wanderer auflauerten. Da bestand er schwere Kämpfe und erschlug Riesen und Ungetüme. Von seinen Taten sangen die Spielleute in Hütten und Burgen, so daß sein Name weit und breit bekannt und gepriesen wurde. Im Land der Nibelungen, durch welches ihn der Weg führte, traf er die beiden Könige Schilbung und Nibelung, die sich um ihr Erbe stritten. Und als sie den berühmten Siegfried erblickten, baten sie ihn, den großen Schatz unter ihnen aufzuteilen, den ihnen ihr Vater Nibeling hinterlassen hatte. Für diesen Dienst gaben sie ihm das gute Schwert Balmung, ein Werk der Zwerge und in Drachenblut gehärtet. Es schnitt durch Stahl und Stein, ohne schartig zu werden, Gold und Edelsteine glänzten an Griff und Scheide, und eine reiche Borte mit funkelnder Schnalle diente zur Befestigung am Gürtel. Der Held teilte auf gerechter Waage den unermeßlichen Schatz. Trotzdem waren beide Brüder unzufrieden, schalten ihn einen gierigen Hund, der die fettesten Bissen für sich behalten wolle, und befahlen ihren zwölf Riesen, ihn zu ergreifen und in den hohlen Berg, wo der Schatz lag, zu verschließen.
Auf seiner Rückfahrt kam er zwischen der äußeren und der inneren Welt in eine Zwischenwelt, aus der die äußere Welt entsteht und darin sie auch wieder vergeht. Es ist die Welt der Nibelungen bzw. Nebelgeister, eine mystische Nebelwelt der mächtigen Naturgeister im Großen und im Kleinen. Und man kann sich gut vorstellen, wie dieser unbegreifliche Nebel das Wasser des Lebens kondensiert und die Materie kristallisiert. Hier traf er auf zwei streitende Könige, und bezüglich der „Natur-Geister“ können wir hier an die große Frage denken: Gehört der Reichtum der Erde dem Geist oder der Natur? Siegfried soll als wahrhafter Held darüber entscheiden, und versucht, den reichen und unermeßlichen Schatz der Erde an beide gleich aufzuteilen. Das ist nun wieder eine große Herausforderung, denn das reine Bewußtsein wird hier zu einer Trennung zwischen Geist und Natur verführt, was nicht umsonst in dieser Nebelwelt zwischen der äußeren und inneren Welt geschieht. Und es trifft Siegfried zurecht, daß die beiden König mit seiner Aufteilung unzufrieden sind, ihn des begrifflichen Verstandes beschuldigen und sogar drohen, sein Bewußtsein in das Reich der Materie zu binden und einzusperren. Was dazu die zwölf Riesen bedeuten bleibt unklar. Wir könnten hier an zwölf mächtige Prinzipien von Geist und Natur denken, die den Naturgeistern im Spiel der Gegensätze dienen, wie z.B. Sinnes- und Handlungsorgane, Gedanken, Gedächtnis, Ego, Illusion, Materie usw. Ähnliche Riesenkräfte sah man auch in den zwölf Sternbildern des Jahreskreises, die das Schicksal der Menschen bestimmen und über unsere Welt herrschen.
Aber Siegfried erkennt das Problem und nimmt die Herausforderung dieser Zauberwelt an. Dazu bekommt er sozusagen ein Update auf sein selbstgeschmiedetes Schwert der Weisheit, das nun künftig den Namen „Balmung“ trägt und unbeschadet durch die feste Materie gewöhnlicher Rüstungen dringen kann, aber noch keine Zauberrüstungen. Im Altdeutschen erinnert der Name Balmung an „balme“ für „Felsenhöhle“ und könnte bedeuten: „Aus der Felsenhöhle gekommen“. Das heißt: Die Materie der äußeren Welt ist künftig für Siegfried kein Hindernis mehr.
Nun funkelte Balmung in des Helden Hand, zerschmetternd wie ein Blitzstrahl, da und dort einen riesigen Kämpfer. Die zauberkundigen Könige schufen durch Beschwörung einen dichten Nebel, ein Unwetter stieg auf, der Berg erzitterte unter Donnerschlägen, doch alles vergeblich, die Riesen fielen unter den Streichen der furchtbaren Klinge, endlich auch die beiden Brüder. Nun schwand der Nebel hinweg und die Sonne beleuchtete den siegreichen Helden. Als das herzuströmende Volk der Nibelungen solche wunderbaren Taten sah, begrüßte es ihn als König. Indessen erhob sich aus der Tiefe des Berges ein Rächer der Erschlagenen. Es war Alberich, der starke Zwerg. Wohlgerüstet mit zauberischen Waffen griff er den kühnen Recken an. Bald war er sichtbar, bald unsichtbar, je nachdem er die Tarnkappe über den Helm zog oder abstreifte. Nach langem Kampf brachte ihn Siegfried durch einen gewaltigen Streich zu Fall. Die Wucht des Schwertes und die Kraft der Faust, die es führte, streckten ihn nieder, denn die Klinge selbst konnte nicht durch das zauberische Rüstzeug schneiden.
Sigfried bezwing Alberich, nimmt ihm die Geißel der Naturkräfte und erfaßt ihn am Bart der Gedanken.
Siegfried wollte nun den Wehrlosen nicht durch einen zweiten Streich töten, und diese Großmut machte Alberich so fügsam, daß er seinem Überwinder Treue gelobte, die er niemals brach. Daraufhin erhob sich kein Widersacher mehr gegen den unüberwindlichen Helden. Er war nun König der Nibelungen, und die Schätze in dem hohlen Berg sowie die erbeutete Tarnkappe Alberichs gehörten ihm als erworbenes Gut. Er staunte, als er in die unterirdische Welt eintrat, über die unendliche Menge edlen Metalls und kostbarer Steine, welche daselbst angehäuft waren. Nicht minder verwunderte er sich bei dem Anblick der rüstig schaffenden Zwerge, die ihm alle ihre Untertänigkeit bezeigten.
So besiegte Siegfried mit seinem Schwert der Weisheit die großen Geist- und Naturgewalten, die ihn binden wollten, und vernichtete den Gegensatz von Geist und Natur, den wir in den beiden Königen sehen können. Das Zauberwesen von Alberich als Naturgeist (Alb bzw. Elb) bezwang und gewann er mit der Kraft seines Wesens und Mitgefühls, so daß er zum König der Nibelungen und ihrer mystischen Nebelwelt wurde. Den großen Schatz überließ er weiterhin der Erde und ihren dienstbaren Geistern, aber er nahm die Tarnkappe bzw. Nebelkappe des Naturgeistes mit, mit der er sich nun auch in der äußeren Welt als ein Geistwesen unsichtbar machen konnte. Was auch ein Symbol für die Macht über die äußerlich sichtbare Materie ist, wenn die gegensätzliche Trennung zwischen Geist und Natur verschwindet, und im Prinzip die neugewonnene Macht seines Schwertes bestätigt und symbolisiert. Wunderbar! Damit können wir jetzt diesem ganzheitlichen König von Geist und Natur auch den Titel „Vernunft“ verleihen, als ein ganzheitliches Erkennen, das in sich selbst alle Gegenätze vereinen kann.
Nachdem die Reichsverwaltung geordnet und erprobte Männer zu Verwaltern bestellt waren, erwählte der Herrscher zwölf edle Recken zu seiner Gefolgschaft. Der Schatz (Nibelungen-Hort) spendete Ringe, Spangen, Ketten von Silber und Gold. Die ganze Schar glich einer Versammlung von Königen unter der Führung des obersten Häuptlings, der ebenso durch den von der Natur verliehenen Adel wie durch reiche Gewandung die anderen überstrahlte.
Inwieweit die zwölf Recken der Nibelungen mit den zwölf besiegten Riesen zusammenhängen, bleibt unserer Phantasie überlassen. Zumindest wird Siegfried in der äußeren Welt die „Zwölfmannesstärke“ zugesprochen, und so erstrahlt er mit ihnen wie die Sonne im Kreis der zwölf Sternbilder oder auch Christus im Kreis seiner zwölf Jünger. Entsprechend werden wir die „Zwölf“ auch im weiteren noch als Zahl der Vollkommenheit bzw. Ganzheit kennenlernen. Und daß er nun als ganzheitliches Wesen auch in der äußeren Welt in dieser Vielfalt erscheint, macht natürlich Sinn, denn sonst könnte ihn der gewöhnliche Verstand nicht erkennen, der nur Gegensätze wahrnehmen kann.
So ritt der kühne Held durch manches Land, überall angestaunt von der Menge, freudig begrüßt und gastlich empfangen in Städten und Burgen. Die Fahrt ging heimwärts, dem lieben Vaterhaus zu. Er erreichte es ohne weitere Abenteuer und umarmte Vater und Mutter, die nur durch dunkle Gerüchte von seinen Kämpfen Kunde erhalten hatten. Nun rastete er manchen Tag und saß oft zu den Füßen der Mutter, wie einst als zartes Knäblein. Wenn er sich dann aufrichtete und im Waffenschmuck vor ihr stand, da wallte ihr das Herz höher vor Freude, einen solchen Helden Sohn nennen zu können. Indessen, lange mochte er nicht der Ruhe pflegen, denn seine tatendurstige Seele verlangte hinaus in den Kampf des bewegten Lebens, wo der Mann seine Kraft bewährt. Er wollte nach Worms an den Rhein fahren, wo die ruhmvollen Recken der Burgunden saßen. Mit ihnen wollte er sich im Kampfspiel versuchen. Als er sein Begehren dem Vater sagte und um Abschied bat, umwölkte sich dessen Stirn. „Mein Sohn“, sagte er, „fahre nicht zu den Burgunden! Da wohnen die kühnsten Recken, die noch kein Held bestanden hat. Da ist der grimmige Hagen, der starke Ortwin von Metz und König Gunther samt seinem Bruder Gernot. Die behüten alle die liebliche Jungfrau Kriemhild, die schon mancher heldenhafte Mann zu lieben (minnen) begehrte und darum sein Leben lassen mußte.“ - „Hei, wie das eine gute Geschichte ist!“, rief der kühne Held, „die unverzagten Kämpfer sollen mir ihr Reich und, wenn sie mir wohlgefällt, auch die wonnige Jungfrau wohl übergeben. Mit meinen zwölf Nibelungen gedenke ich der Dinge mächtig zu werden.“ Die Mahnungen des Königs wie die Bitten der Königin waren vergeblich, und sie mußten dem Verlangen des Sohnes willfahren.
So kehrt Siegfried zunächst in die geistige Welt zu seinen Eltern zurück. Und nun bleibt eigentlich nur noch eine große Herausforderung übrig: Nachdem er Geist und Natur in der äußeren Welt ganzheitlich vereint hat, muß er sich nun auch selbst als reiner Geist und Vernunft mit der reinen Seele der Natur in der innerlichen Welt vereinen. Interessanterweise warnt ihn diesmal auch sein Vater vor dieser Herausforderung und will ihn mit der Mutter gern davor zurückhalten. Denn diese mystische Hochzeit ist wohl eine der größten Herausforderungen und auch das Höchste, was man in dieser Welt erreichen kann, wie wir in vielen anderen Märchen bereits kennengelernt haben. Und wer es versucht, aber nicht vollenden kann, der fällt wieder in die Trennung und damit auch in den Tod, weil der Tod im Prinzip nichts anderes als Trennung ist. Doch eine solchen Warnung kann einen wahren Siegfried nicht abhalten, sondern nur noch kräftiger herausfordern, und zwar aus seiner geistigen Welt heraus und hinein in die Menschenwelt.
Über diesen Weg, den nun Siegfried zum Sieg des Friedens und der Liebe in dieser Welt der Vergänglichkeit geht, denkt wohl die Menschheit schon lange nach. Gerade das Wort „Liebe“ kann recht unterschiedlich verstanden werden. Manche der Songtexte von Leonard Cohen lassen hier viel Spielraum, von der erotischen, körperlichen Liebe bis zur göttlichen All-Liebe kann man da alles finden oder deuten. Wir haben versucht, sein Lied „Dance Me to the End of Love“ aus spiritueller, sozusagen Siegfried-Sicht ins Deutsche zu übertragen, und bereichern damit hoffentlich die schon vorhandenen deutschen Versionen um einen weiteren Aspekt. Wir wünschen viel Inspiration und einen liebevollen Start in den Wonnemonat Mai!
Tanz mich mit der Flammengeige, | Dance me to your beauty |
Zeig mir deine Schönheit, | Let me see your beauty |
Tanz mich bis zur Hochzeit hin, | Dance me to the wedding now, |
Tanz mich durchs Verlangen | Dance me to the children |
Tanz mich mit der Flammengeige, | Dance me to your beauty |
• .....
• Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)
• Die Nixe im Teich - (Thema: Wasserwesen)
• Die kleine Meerjungfrau Undine - (Thema: Wellentanz)
• Ritter Peter und die Meerfee - (Thema: Ritterliebe)
• Der Petrusschlüssel - (Thema: reines Bewußtsein)
• Nibelungensage: Siegfrieds Kindheit und Jugend
• Nibelungensage: Siegfrieds Brautwerbung
• Nibelungensage: Siegfrieds und Gunthers Hochzeit
• Nibelungensage: Siegfrieds Ermordung
• Nibelungensage: Kriemhilds Racheplan
• Nibelungensage: Kriemhilds Rache
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
![]() |
Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen |