Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Die Wassernixe

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Weiter geht es im Wasserelement, und wir finden in diesem kurzgefaßten Märchen eine erste weibliche „Personifizierung“ für das Wasserelement als „Nixe“, deren Wesen wir nun etwas näher kennenlernen wollen:

Ein Brüderchen und ein Schwesterchen spielten an einem Brunnen, und wie sie so spielten, plumpsten sie beide hinein. Da war unten eine Wassernixe, die sprach: „Jetzt hab ich euch, jetzt sollt ihr mir brav arbeiten.“, und führte sie mit sich fort. Dem Mädchen gab sie verwirrten garstigen Flachs zu spinnen, und sie mußte Wasser in ein hohles Faß schleppen, der Junge aber sollte einen Baum mit einer stumpfen Axt hauen, und sie bekamen nichts zu essen als steinharte Klöße. Da wurden zuletzt die Kinder so ungeduldig, daß sie warteten, bis eines Sonntags die Nixe in der Kirche war, und da entflohen sie.

Das Märchen beginnt mit einem Paar von Bruder und Schwester, in denen wir im Prinzip auch den männlichen Geist und die weibliche Natur sehen können, wie sie prinzipiell in jedem heranwachsenden Menschen als Polaritäten existieren, aber noch in einer besonderen Beziehung stehen, denn Bruder und Schwester sollten natürlich nicht heiraten und sich körperlich vereinen. Dazu gibt es in der Menschheit uralte Erfahrungen, daß eine solche „Inzucht“ schreckliche Folgen haben kann. Denn damit wird die Vielfalt der Natur bedroht, wenn man die Einheit auf körperlicher Ebene sucht. Dann suchen wir das Glück der Welt in einer bestimmten äußerlichen Form, sozusagen in einer „Uni-Form“ oder „Mono-Kultur“, wie auch manche Religion oder Weltanschauung dachte, daß die Welt glücklich und friedlich wird, wenn alle den gleichen Glauben haben. Zumindest haben wir praktisch gelernt, daß das Gegenteil geschieht…

Doch zurück zum Märchen: Bruder und Schwester hingen also noch am äußerlichen Wissen, kannten sicherlich ihre leiblichen Eltern als ihre Quelle und wußten, daß sie ihre Kinder waren. So waren sie noch keine „Dummlinge“ im Sinne des letzten Märchens, und sie müssen sich nun wegen ihres Wissens in der Welt erst einmal trennen, von ihren Eltern und auch untereinander, um das zu finden, was sie wieder ganz und vollkommen macht. Wie ein Fluß, der aus seiner Quelle fließt und diese verlassen muß, um ein Fluß zu werden, aber sich nie völlig von der Quelle trennen kann, weil er dann vertrocknet. Doch unser Geschwisterpaar fließt nicht in die Welt, sondern „plumpst beim Spielen in den Brunnen“. Vielleicht ein erstes Spiel im Erwachen der Pubertät, eine neue Form der körperlichen Liebe, was sie nach Außen verbergen wollen. So fallen sie in die mütterliche Quelle zurück, in das innere Wesen der Körperlichkeit, in die Natur des Unterbewußtseins, dem sie nun dienen sollen. Hier könnte man auch an eine Mutter denken, die ihre Kinder nicht loslassen will, die sie körperlich geboren hat und nun als ihr Eigentum betrachtet und sagt: „Jetzt hab ich euch, und jetzt sollt ihr mir brav dienen.“ Doch das Märchen sagt deutlich, daß die Kinder dazu noch nicht fähig waren, denn solange man an die äußerliche Welt glaubt und diesbezüglich noch kein „Dummling“ ist, kann man die wirren und überwältigenden Erfahrungen nicht in feine Seelenfäden glätten, kann man das bodenlose Faß von Hunger und Durst jeglicher Art nicht füllen und auch den Baum der Erkenntnis der Gegensätze nicht abhauen. Denn ihre Nahrung ist immer noch körperlich bzw. materiell wie „steinharte Klöße“ und nicht geistig im Sinne eines formlosen Bewußtseins, das jede Form annehmen kann, um der Vielfalt der Natur wunschgemäß zu dienen. So müssen sie schließlich aus diesem Wasserreich der „Unterwelt“ fliehen, obwohl wir lesen, daß das Wasserwesen im Grunde gar nicht böse ist, sondern in die heilige Kirche geht und Gott verehrt. Und gerade diese Verehrung der Ganzheit macht auch die Flucht möglich, um wieder in das Erdenreich der „Oberwelt“ zu kommen und dort ihren Weg zu gehen. Denn neben Mutter Natur regiert auch Vater Geist und führt seine Kinder:

Und als die Kirche vorbei war, sah die Nixe, daß die Vögel ausgeflogen waren, und setzte ihnen mit großen Sprüngen nach. Die Kinder erblickten sie aber von weitem, und das Mädchen warf eine Bürste hinter sich. Das gab einen großen Bürstenberg, mit tausend und tausend Stacheln, über den die Nixe mit großer Mühe klettern mußte, aber endlich kam sie doch hinüber. Wie das die Kinder sahen, warf der Knabe einen Kamm hinter sich, das gab einen großen Kammberg mit tausendmal tausend Zinken, aber die Nixe wußte sich daran festzuhalten und kam zuletzt doch drüber. Da warf das Mädchen einen Spiegel hinterwärts, welches einen Spiegelberg gab, der war so glatt, so glatt, daß sie unmöglich drüber konnte. Da dachte sie: „Ich will geschwind nach Hause gehen und meine Axt holen und den Spiegelberg entzweihauen.“ Bis sie aber wiederkam und das Glas zerhauen hatte, waren die Kinder längst weit entflohen, und die Wassernixe mußte sich wieder in ihren Brunnen trollen.

So werden die Kinder nun doch zum Fluß, verlassen die Quelle im Brunnen und fließen über die Erde, ohne sich jedoch ganz von ihrer Quelle trennen zu können. Die körperliche Wassernatur verfolgt sie auch weiterhin, doch mit einigen Mitteln können sie Zeit und Raum gewinnen, wie auch jeder Fluß durch Zeit und Raum fließt. Über die drei Symbole von Bürste, Kamm und Spiegel kann man viel nachdenken, und praktisch kann sich jeder selbst mehr oder weniger darin wiederfinden. Uns erinnert die Bürste des Mädchens an die äußerliche Reinigung des Körpers, der Kamm des Jungens an die geistige Reinigung und Ordnung der weltlichen Gedanken, die gern als Haare am Kopf symbolisiert werden, und der Spiegel des Mädchens an die äußerliche Schönheit. Und für beide wäre der Spiegel auch ein Symbol der Selbstreflektion in der Welt, im Finden der eigenen Persönlichkeit. Damit werden die beiden zum Fluß durch die „Oberwelt“ und müssen sich sicherlich auch trennen, wenn sie zwei Flüsse werden wollen, wie sich auch Bruder und Schwester irgendwann im Laufe der Pubertät mehr und mehr distanzieren und ihre eigenen Wege gehen sollten, auch wenn sie aus derselben Quelle kommen.

So fliehen sie praktisch vor ihrer eigenen Quelle und versuchen, sich von ihr zu trennen, indem sie im Fluß durch Zeit und Raum wunderliche Berge aus „Borsten, Zinken und Spiegelglas“ hinter sich aufbauen, um an deren Abhängen durch die Welt zu fließen. Das sind dann unsere körperlichen Neigungen, die Zu- und Abneigungen in der bergigen „Oberwelt“. Und doch deutet das Märchen bereits an, daß es nur eine Frage der Zeit ist, daß uns die „Unterwelt“ wieder einholt, denn wir tragen doch unsere Quelle immer im Unterbewußtsein, auch wenn wir uns dessen gewöhnlich nicht gewahr sind. Und dorthin zieht sich auch die „Wassernixe“ wieder zurück, und „trollt sich in ihren Brunnen“, wie es im Märchen heißt. Denn sie weiß genau, daß jeder Fluß irgendwann aus der Oberwelt wieder ins Meer der Unterwelt zurückfließen muß, ins berühmte „Meer der Ursachen“, das dann wieder die Quelle von allem ist, ein reines Meer aus Bewußtsein oder Information, wie wir es im letzten Märchen vom „Dummling“ kennengelernt haben. Diesbezüglich kann man auch über den Namen „Nixe“ als Begriff für das Bewußtsein nachdenken, das wie aus dem Nix oder Nichts kommt und wie in ein Nix oder Nichts zurückkehrt, und doch Alles ist. Denn nur ein ganzheitliches und formloses Bewußtsein kann jede Form annehmen, kann jeden Seelenfaden spinnen, weil es selbst jede Seele und jeder Faden ist, kann jedes Gefäß füllen, weil es selbst jedes Gefäß und jede Füllung ist, und kann auch jeden Baum der Gegensätze abhauen, weil es selbst jeder Baum und jeder Gegensatz ist, sowie auch alle Berge aus „Borsten, Zinken und Spiegelglas“ abbauen, weil es selbst jede Anhäufung und jede Neigung ist. Doch bis zu diesem All-Bewußtsein fühlen wir immer einen Mangel der Trennung in uns und müssen durch die weite Welt fließen, auf der Suche nach dem, was uns wieder zufrieden, ganz und vollkommen macht.

So werden sich auch Bruder und Schwester irgendwann wiederfinden und vereinen, wenn sie ihre Quelle nicht mehr im weltlichen Wissen von körperlichen Eltern und einer oberflächlichen Außenwelt suchen, sondern in der innerlichen Tiefe dieses Meeres, wo sie reines und freies Bewußtsein sind, ein ganzheitliches Bewußtsein, das Natur und Geist in der mystischen Hochzeit vereinen kann, Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Kinder und Eltern, Fluß und Quelle, Ober- und Unterwelt, Über- und Unterbewußtsein, formhaftes und formloses Bewußtsein sowie Innen und Außen, ohne die natürliche Vielfalt der Oberwelt in irgendeiner Weise einzuschränken. Im Gegenteil, erst jetzt kann die natürliche Vielfalt vollkommen erblühen.

Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten,
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
(Goethe, Ende von Faust II)


Ein Wasserstoffatom erzählt

Hi, du hast sicherlich schon von mir gehört, doch wirst mich nicht persönlich kennen. Ich bin „H“, ein kleines Atom, winzig und doch wichtig, zumindest gewichtig. Ich bin schon uralt, so alt wie das ganze Universum. Was ich vor meiner Geburt war, weiß ich nicht. Ich kann mich noch an ein riesiges Freudenfest erinnern, vielleicht war das auch meine Geburtstagsparty, wie ein galaktisches Feuerwerk. Zumindest ein großer Tanz von vielen, die mir ähnlich waren. Doch mit wem sie getanzt haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Sobald ich näher auf sie schaute, machte es „blob“, und sie waren in einem Lichtblitz verschwunden. Und doch waren sie da, und rings um mich herum tobte ein ewiger Tanz der Lichter in vollkommener Harmonie. Nur ich habe keinen Tanzpartner gefunden, vielleicht wollte ich auch keinen, vielleicht hatte ich auch Angst, wie sie im Freudentanz zu verschwinden. Wie auch immer, ich hielt mich an meiner Form fest, und seitdem warte und suche ich und habe irgendwie immer das Gefühl, daß mir etwas fehlt. Damit fiel ich in Zeit und Raum. Je länger die Zeit wurde, desto größer wurde auch der Raum, und der wundervolle Tanz im Licht verschwand weit, weit in die Ferne. Ja, auf diese Weise wurde ich ein Atom, ein Wasserstoff-Atom im Nebel, wie ein Tropfen oder eine winzige Wasserwelle in Zeit und Raum, der Stoff, aus dem das Wasser gemacht wurde. Die alten Römer nannten mich „Hydrogenium“, und so bekam ich das Symbol „H“, wie Hauch oder Hilfe.

Bald bemerkte ich, daß es noch viele andere wie mich gab, die damals keinen Tanzpartner fanden und nun mit sich selbst tanzten. Manche tanzten so eng zusammen, daß sie im Kern verschmolzen und in riesigen Sonnen zu Helium und vielen anderen Atomen wurden, die eine neue Form und andere Eigenschaften bekamen. So eng konnte ich bisher mit niemandem tanzen. Als ich hierher auf die Erde kam, fand ich zwar viele Freunde, mit denen ich einen Tanz wagte, aber es waren nur kurze Freundschaften. So tanzte ich mit einer Schwester und einem dicken Sauerstoffatom und wurde als H2O zu jenem Wasser, von dem ich auch meinen Namen bekam. Doch im Kern blieb ich mir stets treu, und bisher konnte mich keiner davon abbringen, obwohl ich schon viel erlebt habe:

Erst vor kurzem tanzte ich mit einem Kohlenstoffatom. Zugegeben, das klingt etwas dunkel, und das war es auch, denn nur ab und zu sah ich etwas Licht. Und doch war es ein besonderes Erlebnis, denn ich fand mich für einen kurzen Momente in einem eigenartigen Wesen wieder, im Kopf eines Zweibeiners, der sich „Physiker“ nannte. Der sagte mir, daß ich schon fast 14 Milliarden Jahre alt bin und davon über 4 Milliarden auf dieser Erde verbrachte, um dann auch in seinem Kopf zu leben, obwohl ich fast keine Substanz hätte. Denn im Vergleich zu einem Olympia-Fußballstation wäre mein positiver Kern, der 99.9% meiner Masse enthält und den er „Proton“ nannte, nur so klein wie ein Reiskorn am Anstoßpunkt, und meine negative Hülle, die er „Elektron“ nannte, wäre so groß wie der äußerste Zuschauerrang, und manchmal sogar noch viel größer, obwohl ich mich gar nicht so negativ fühle, denn nach außen hin bin ich relativ neutral. Er erklärte mir auch, daß man das Feuerwerk meiner Geburtstagsparty „Urknall“ nennt, und die vielen Teilchen damals mit „Anti-Teilchen“ tanzten, so daß sie gleich wieder verschwanden und nur Licht-Photonen zurückblieben, die man noch heute als kosmische Hintergrundstrahlung messen kann. Doch er meinte, daß von fünf Milliarden Tanzpaaren immer mal eines übrigblieb, das kein Anti-Teilchen fand, wie es wohl auch mir geschehen war. Daraus sei dann die ganze Materie des Universums entstanden. Doch warum ich übrigblieb, wer ich selbst bin, was diese „Anti-Teilchen“ waren und wo wir alle herkamen, konnte er mir auch nicht erklären. Noch rätselhafter wurde es, als er mir erzählte, daß ich etwas Totes sei, und er selbst in Raum und Zeit lebendig wäre. Ja, praktisch bestände das ganze Universum fast vollständig aus toter Materie, und das Leben, das aus dieser toten Materie entsteht, sei nur ein „äußerst seltenes Grenzphänomen“. Da zweifelte ich doch sehr an seiner Vernunft, denn dieser physische Physiker erschien nur einen so winzigen Augenblick in meinem langen Leben, daß ich mehr von einem Lichtblitz als von einem Leben sprechen müßte, obwohl er glaubte, eine lange Zeit gelebt zu haben, und, ehrlich gesagt, auch ein erstaunliches Bauwerk war. Sein Körper war ein Tanz aus über 10^27 Atomen in über 10^14 Zellen, vor allem Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Calcium, die sich für kurze Zeit zusammengefunden haben, und ich mittendrin. Wow! Können wir uns eine Eins mit 27 Nullen vorstellen? Das sind über 10 Millionen Mal mehr Atome als es Sterne im ganzen Universum gibt!

Ein gigantisches Bauwerk, aber auch sehr wacklig, denn es mußte ständig ausgebessert werden, sozusagen eine lebenslange Baustelle. Dauernd wird neues Baumaterial hineingefahren und altes hinausgeschoben, bis dann schließlich alles wieder zusammenfällt. Was auch verständlich ist, denn unser Tanz war nicht besonders eng. Im Vergleich mit den Reiskörnern waren unsere Atomkerne in den sogenannten Molekülen oft mehrere hundert Meter entfernt. Also fast nur leerer Raum, ein gigantischer Raum, und damit mehr ein geistiges Konstrukt als ein materielles Bauwerk. Die ganze weltweite Jahresproduktion von über 500 Millionen Tonnen Reiskörner würde als Atome für dieses Bauwerk eines einzigen Menschenkörpers nicht im geringsten ausreichen. Man bräuchte immer noch mehr als 10 Milliarden solcher Jahresproduktionen auf einem Haufen, und die Reiskörner wären nur über lange dünne Gummiseile in Abständen von über hundert Metern miteinander verbunden. Diese Gummiseile oder „Beziehungen“ erschienen als Geist-Informationen wie feine Pinselstriche für das Bild eines Menschen. Aus dieser Perspektive sollte man mehr von einer großen Wolke aus verbundenen Informationen sprechen als von einem festen Körper. Diese Wolke würde sich dann im Vergleich mit den Reiskörnern als Atomkerne in einer Größe von über 100 Millionen Kilometer bis zur Sonne erstrecken. Ja, von solchen Zahlen kann einem schwindlig werden, doch so gigantisch und ebenso wacklig ist dieses Bauwerk, das sich „Mensch“ nennt. Dazu ist es noch ziemlich dunkel darin. Trotz der vielen leeren Räume wird das Sonnenlicht nur wenig von außen hereingelassen. Dafür sieht man hier und da einige Lichtblitze wie Irrlichter geschäftig durch die Zwischenräume hin- und hereilen, um irgendwelche Botschaften auszutauschen, obwohl das Ganze doch praktisch aus Licht besteht und auch als ein Bauwerk voller Licht erkannt werden kann.

Warum mir gerade ein solches Bauwerk so wunderliche Dinge über mich erzählen konnte, habe ich bis heute nicht begriffen. Vielleicht war das sogar der Sinn dieser Baustelle, und alle anderen Atome haben ebenso darauf gewartet, eine Antwort auf ihre Fragen nach dem Ursprung und Sinn ihres Lebens zu finden. Doch am Ende zweifelten sie wie ich, verloren zusehends ihre Hoffnung und gaben diese Baustelle auf. So bauen wir seit vielen Millionen Jahren auf dieser Erde die wunderlichsten Formen, in denen ich schon oft ein Teilchen war. Manchmal scheint die Antwort auf meine große Frage zum Greifen nah, warum ich mein „Anti-Teilchen“ nicht finden konnte und nun in diesem „Atom-Körper“ gebunden bleibe.

Ähnlich ging es mir im Kopf eines Quantenphysikers, der sich mehr mit der kleinen als der großen Welt beschäftigte. Er sah in mir weniger ein Teilchen, sondern mehr ein Spiel von Wellen aus Energie, und meinte, daß ich im Grunde nur „geronnene Energie“ oder sogar „gefrorenes Licht“ bin. Ja, seit ich nun schon so lange immer tiefer in Zeit und Raum falle, wird es auch immer kälter. Und das glühende Licht aus meiner Kinderstube habe sich in diesem weiten Raum bereits auf unter 3 Kelvin abgekühlt, was bitter kalt klingt. So weit wäre ich schon von meinem Ursprung entfernt, und doch sei ich noch mittendrin, und kann aus diesem Licht niemals herausfallen, weil ich es selbst bin. Ich bin also kein abgetrenntes Teilchen, das nur für sich lebt, sondern ein Spiel von Wellen auf einem Meer aus Licht oder Energie. Er nannte es „Verschränkung“, so daß alles miteinander auf direkte Weise verbunden ist, und es aus dieser Sicht gar keine getrennten Teilchen gibt. Zu diesem Meer aus Licht oder Energie kann man auch Geist oder Bewußtsein sagen. Eigentlich sogar reine Information, also mehr Soft- als Hardware. So frage ich mich nun: Bin ich vielleicht nur deshalb ein Atom, weil ich aus dem Wissen bestehe, ein Atom sein zu können? Zumindest weiß ich jetzt auch, daß ich vor allem aus Quarks bestehe. Das erinnert mich an den alten Spruch, wenn manche Eltern zu ihren Kindern sagen: „Damals warst du noch Quark im Schaufenster!“ Vielleicht meinen sie „Quarks im Licht des Bewußtseins“? Es bleibt unklar, und so sprach der Quantenphysiker auch von einer „Unschärferelation“, allerdings sehr theoretisch, und davon habe ich im Prinzip verstanden: Je mehr man sich auf einen Aspekt der Wirklichkeit konzentriert, desto mehr verschwimmt alles andere. Klingt logisch, kennt ja jeder von seinen Augen!

Ähnlich war ich auch einmal im Kopf eines Kirchengelehrten, der mir von Gott, ewigem Leben, geistigem Licht und lebendigem Wasser erzählte, was mich als „Wasserstoff“ natürlich besonders berührte. Dazu kannte er auch eine Geschichte über die Entstehung der Welt, daß »am Anfang der Geist Gottes über dem Wasser schwebte«. War ich dieses „Wasser“, ohne den „Stoff“ meines körperlichen Kleides? Und wie der Physiker von den Teilchen-Antiteilchen-Paaren erzählte, so sprach er von Adam, der von Gott in ein Menschenpaar getrennt wurde, weil er sich in der Schöpfung nicht selbst erkennen konnte. Er war zwar nach dem Bild Gottes geschaffen worden, aber brauchte eine Hilfe, die ihm als Eva gegeben wurde, die ähnlich wie unsere Anti-Teilchen ein gegensätzliches Geschlecht hatte und ihm gegenüberstand, so daß er sie als seinesgleichen erkennen konnte. Doch als er sie erkannte, verwandelten sie sich nicht in reines Licht, sondern zeugten Kinder ihresgleichen, eine endlose Schar von Menschen. Und im Gegensatz zur Geschichte des Physikers vom Urknall, war es hier unter den Menschen vielleicht nur einer von vielen Millionen, der sich wahrhaft selbst erkennen und in reines Licht verwandeln konnte. Denn sie aßen auch weiterhin die Früchte vom Baum des Guten und Bösen, die zuerst gut schmecken, doch dann schlecht verdaulich werden. Dadurch begegneten sie einem leidvollen „Anti-Körper“, der auf dem Kreuzweg die nächste Chance zur Auferstehung war, zur Erlösung im reinen Licht des ewigen Lebens. Deshalb konnte Christus sagen: „Ich bin das Licht der Welt.“ Ach, wäre ich doch in seinem Kopf gewesen! Dazu erzählte mir der Kirchengelehrte auch die Geschichte von einem seltsamen Babel-Turm, den sich die Menschen bauten, um in den Himmel zu Gott zu kommen, der aber in großer Verwirrung endete und sein Ziel nicht erreichte. Das erinnerte mich sehr an die gigantische Atom-Baustelle eines Menschenkörpers, der zwar herausragende gedankliche Vorstellungen über die Welt konstruieren kann, aber dann doch als Verstand und Körper wieder zusammenfällt und in Verwirrung endet…

Später diente ich dann einem Alchemisten, der in mir, Gott sei Dank, auch ein lebendiges Wesen sah und höchst fasziniert und inspiriert war, wie vielfältig ich als Wasser meine Form verändern und andere Stoffe auflösen und wieder hervorbringen kann. So experimentierte er lange Zeit mit Verdampfen, Kondensieren, Auflösen, Gerinnen und Reinigen, um im Tanz von Geist und Natur bzw. Seele und Körper das Gold der Wahrheit und den unvergänglichen Stein der Weisen zu finden, auf dem sich alles gründet. Manchmal sprach er sogar vom „Wasserstein der Weisen“, was mich besonders ehrte. Wunderbar, und ich habe ihm geholfen, soweit ich konnte…

Bald darauf kam ich in die Hände eines Homöopathen, der erkannte, was für ein gutes Erinnerungsvermögen ich habe. Damit stellte er verschiedene Heilmittel gegen Krankheiten her und war auch sehr erfolgreich damit. Viele „Wissenschaftler“ können sich das bis heute nicht erklären und glauben fest daran, daß man ein Gehirn mit Nervenzellen braucht, um etwas zu lernen und sich daran zu erinnern. Nun, ich lächle, denn auch ein Gehirn besteht zum größten Teil aus Wasserstoffatomen, und alle anderen helfen natürlich auch mit…

Im Gegensatz dazu benutzen mich auch viele Menschen im alkoholisch-berauschenden Tanz von C2H5OH zum Vergessen, vor allem ihrer Sorgen und Ängste. Doch als sie es übertrieben hatten, vergaßen sie fast alles, außer ihren Alkohol, der dann zur schädlichen Sucht wurde. Auch hier konnte ich nur teilweise helfen, und bin damit nicht glücklich geworden. Warum muß auch der Mensch alles übertreiben?!

Irgendwann haben auch einige „Wissenschaftler“ meine gewaltige Kraft entdeckt, aber wohl völlig den Sinn des Lebens vergessen und ihre Vernunft verloren, denn sie bauten schreckliche Wasserstoffbomben aus mir, um Menschen zu töten und Leben zu zerstören. Was für ein Wahnsinn!!!

Ein Philosoph erzählte mir dann, daß ich nur deshalb so alt geworden bin, nichts vergessen kann und so viel Energie besitze, weil ich unermüdlich an dieser Form als Atom festhalte und mich nicht in dem erkennen will, was mir gegenüber erscheint. So falle ich immer weiter in die Zeit und entferne mich vom reinen Licht, in dem ich geboren wurde. Solange es einen Gegensatz zwischen mir und anderen gibt, gibt es auch einen Raum zwischen Betrachter und Betrachteten, der mit der Zeit immer größer wird und mittlerweile schon viele Milliarden Lichtjahre groß ist. Obwohl ich doch das Licht selbst bin, und dieses Licht auch immer wieder kurz erscheint, wenn ich dazu angeregt werde, so falle ich doch wieder in die Dunkelheit, weil ich dieses Licht als Form festhalten will. Ich fragte ihn auch, was der Tanz von Teilchen und Antiteilchen damals zu meiner Geburt bedeutete, der so viel Licht erzeugte? Er meinte, damals haben sich die Teilchen selbst erkannt und in reines Licht gewandelt. Dieses Licht ist immer noch da, weil es in der Ewigkeit ist und nicht in Zeit und Raum fiel. So sieht dieses Licht auch keinen Raum, und sieht auch mich jenseits von Zeit und Raum im gleichen Licht, wie ich sie damals sehen konnte, als ich geboren wurde. Für sie habe auch ich mein „Antiteilchen“ bereits gefunden und bin damit eins geworden, was mir als eine so lange Zeit in einem so weiten Raum erscheint. Denn in der Ewigkeit geschieht alles gleichzeitig, und das Licht selbst ist in der Ewigkeit. Und wenn ich mich in diesem Licht erkennen würde, wäre ich sogleich wieder in der Ewigkeit jenseits von Zeit und Raum. Klingt vielversprechend!

Dazu gäbe es zwei Sichtweisen, was er Vernunft und Verstand nannte. Die Vernunft sieht auf das Ganzheitliche und Freibewegliche in Richtung Ewigkeit und Allgegenwart, und der Verstand auf das Trennende und Formgebundene in Richtung Zeit und Raum. Für das Licht gibt es nur Licht, in dem gleichzeitig alle möglichen Formen „erscheinen“ können, wie Teilchen und Antiteilchen, Atome, Sterne und Planeten, bis zu den Lebensformen, die wir hier auf der Erde sehen. Und für die Teilchen gibt es dann Raum und Zeit, solange sie an ihrer Form festhalten. So entstand auch das irdische Leben, in der Hoffnung, daß sich die Form bzw. Erscheinung des Lichtes wieder als Licht erkennt. Und wenn ich von Licht spreche, könnte ich auch ebensogut von Bewußtsein sprechen, reine Informationen, die aufeinander wirken.

Aus dieser Perspektive erscheint diese Erde wie ein riesiger Kinderwagen, den die Sonne als liebende Mutter um sich herum im Kreis schiebt und mit dem Licht und der Wärme ihres Körpers nährt, hegt und pflegt. Und viele Milliarden Sterne schauen zu und freuen sich riesig, wenn die schwereren und greifbareren Atome, die sie „ausgebrütet“ haben, so erstaunliche Formen des Lebens annehmen. Darin zeigt sich die unerschöpfliche Vielfalt, die das Licht bzw. Bewußtseins annehmen kann, so daß sich deren wundervolle Eigenschaften erkennen lassen, weil das Ungestaltete im Gestalteten sichtbar wird, das Formlose im Formhaften, das Beständige im Veränderlichen, das Ewige im Vergänglichen und die Einheit in der Vielfalt.

Jetzt weißt du, sprach er weiter zu mir und gleichzeitig zu sich selbst, welchen Sinn es hat, für einige Zeit an einer Form des Lebens festzuhalten: Erkenne die Vergänglichkeit aller Formen und dich selbst als das unvergängliche Licht des formlosen Bewußtseins, die ewige Quelle von allem, und kehre aus Zeit und Raum in das ewige Hier und Jetzt zurück! Dazu ist diese Erde nur ein Kindergarten, und viel höhere Lebensformen warten in diesem Universum noch auf uns, um diesen Weg der Erkenntnis zu gehen. Dein Körper ist wie ein Werkzeug, und du selbst bist der Werk-Zeuge. Wenn die beiden wieder eins werden, dann ist das Werk in Zeit und Raum vollendet, und das reine Licht bzw. Bewußtsein bleibt zurück, was schon immer da war und immer da sein wird, sozusagen die „Wahrheit“, bevor etwas wurde…

So erhoben kam ich schließlich in den Körper eines Yogis, der auf wunderbare Weise immer heller und lichtvoller wurde. Wo sonst nur einige Lichtblitze im Finsteren umhereilten, erstrahlte alles im Liebeslicht eines harmonischen Tanzes, das mich sehr an meine Geburt erinnerte. Nirgends gab es noch dunkle Stellen, die sich vor dem reinen Licht der Liebe verstecken wollten. Viel erzählte er mir nicht, denn es gab nur wenige Gedanken in ihm. Als ich eines Tages mit meinem hohen Alter prahlte und über seine kurze Lebenszeit lächelte, da lächelte er noch strahlender und sprach: „Auch ich kam in diese Welt, um mich wie du an einer Form festzuhalten. So habe ich auch versucht, mich an dir festzuhalten, weil du schon so alt bist und so beständig erschienst. Doch mit deiner Hilfe habe ich das Wesen der Vergänglichkeit erkannt und das Unvergängliche wiedergefunden. Nun weiß ich, daß ich viel älter als jede Form bin und schon da war, bevor du geboren wurdest. Denn ich bin das ewige Licht selbst, in dem jede Form erscheint.“ Und als dann sein ganzer Körper reines Licht werden wollte, bat ich ihn, mich mitzunehmen, um die gleiche Erfüllung zu finden, die er gefunden hatte. Er sagte: „Ja, das werde ich, aber zuvor hast du noch eine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen. Erzähle deine wundervolle Geschichte, wie du geboren wurdest und was du alles erlebt hast. Dann wirst auch du deine Erfüllung finden und ins ewige Licht zurückkehren, welches du niemals verloren hast und niemals verlieren kannst. Für mich bist du bereits im Licht, dasselbe Licht wie ich selbst.“

Denn das ist die große Suche,
Wo man am Ende nichts findet,
Aber der Suchende verschwindet.


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
Der Hase und der Igel - (Thema: Ich bin schon da)
Hans mein Igel - (Thema: Vernunft und Natur)
Der Dummling - (Thema: Wesen des Meeres)
Die Wassernixe (Thema: Quelle und Fluß)
Die Nixe im Teich - (Thema: Wasserwesen)
Die kleine Meerjungfrau Undine - (Thema: Wellentanz)

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, 1857
[2025] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
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