Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Dummling

Märchentext der Gebrüder Grimm [1810]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Nachdem wir versucht haben, die geistigen Tiefen auf der Erde auszuloten, möchten wir uns nun auch dem mystischen Wasserelement zuwenden. Wir wurden ja nicht umsonst „Undine & Jens“ genannt. So beginnen wir mit einem sehr kurzen, aber tiefen Märchen, frei nach dem Motto: In der Kürze liegt die Würze!

Es war einmal ein Hans, der war so unerhört dumm, daß ihn sein Vater in die weite Welt jagte. Er rennt vor sich hin, bis er ans Meeresufer kommt, da setzt er sich hin und hungert. Da kommt eine häßliche Kröte auf ihn zu und quakt: „Umschling mich und versenke dich!“ So kommt sie zweimal, er weigert sich, wie sie aber zum dritten Mal kommt, folgt er ihr. Er sinkt unter und kommt in ein schönes Schloß unter dem Meer. Hier dient er der Kröte. Endlich heißt sie ihn mit ihr zu ringen, und er ringt, und die häßliche Kröte wird zu einem schönen Mädchen, und das Schloß mit all seinen Gärten steht auf der Erde. Hans wird gescheit, geht zu seinem Vater und erbt sein Reich.

Zuerst denken wir vielleicht an einen Vater, der seinen Sohn aus seinem Haus, und wenn es ein König war, sogar aus seinem Königreich in die äußere Welt jagte, wie auch Adam und Eva vom Vater der Schöpfung in eine äußerliche Welt gejagt wurden, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis der weltlichen Gegensätze gegessen hatten. Nun ist hier aber von einem „Dummling“ die Rede, der eben nicht oder nur wenig von diesem Baum lebt, so daß vermutlich der Vater auch diese „weltliche Klugheit“ mit dem entsprechenden Eifer vermißt hat. Deshalb wollen nun mehr daran denken, wie er seinen Sohn in eine innerliche Welt jagte. Und in Wahrheit ist wohl auch die „weite Welt“, wie es oben heißt, mehr im Inneren als im Äußeren, denn unsere äußerliche und oberflächliche Erdenwelt ist doch eigentlich eine extrem „enge Welt“, nur ein dünner Belag auf einem winzigen Staubkorn im Vergleich zur Größe des ganzen Universums. So flieht manches Kind sogar von selbst in diese innere Welt, wenn es an äußerlicher Liebe mangelt, und auch manch Erwachsener, wenn er die Außenwelt satt hat.

Wie auch immer, unser Hans „rennt vor sich hin“, das heißt, er sieht sich bewußt rennen, bis es nicht mehr weitergeht und er das Ufer eines Meeres erreicht. Bei diesem Meer können wir an unser Unterbewußtsein denken, in das der gewöhnliche Ego-Verstand nicht eindringen kann. Deshalb sitzen wir oft auf der Erde und fühlen Hunger, sowie am Meer und fühlen Durst. Ja, denn in der Erde würden wir ersticken und im Meer ertrinken, denn unser Ego-Verstand ist ein „oberflächliches Bewußtsein“, das sozusagen an der Oberfläche lebt und sich dort von den Gegensätzen ernährt, also von der Erde ißt und vom Wasser trinkt.

Nun erscheint hier ein seltsames Wesen, eine Kröte als Wesen der Erde bzw. Körperlichkeit, die unseren Hans anquakt, er solle sie umarmen und sich selber versenken. Wow! Klingt gruslig, und doch machen wir das täglich, wenn wir diesen tierischen Körper umarmen, aber nicht, um uns selbst zu versenken, sondern in die Außenwelt zu erheben, um das Ego „über Wasser“ zu halten, denn ohne einen eigenen Körper glauben wir, zugrunde zu gehen. Doch nun soll es in die innere Welt gehen, und der Ego-Verstand soll sich in ein unbekanntes Meer versenken lassen, wo er sicherlich ertrinken und sterben muß. Deswegen weigert er sich gewöhnlich und hat große Angst, seine äußerliche Oberflächenwelt zu verlieren.

Nun, unser Hans hat wohl hier nicht viel zu verlieren. Sein Vater hat ihn fortgejagt, und von Mutter oder Geschwistern wird gar nicht erst gesprochen. So sagt er schon beim dritten Quak „Ja“ und kommt in die Unterwelt der Quarks… Nein, noch nicht ganz, aber im Prinzip schon, zumindest in diese Richtung. Er findet in dieser „Unterwelt“ oder auch im „Unterbewußtsein“ ein Königreich mit einem schönen Schloß, wo er der Körperlichkeit bzw. Natur dient, denn das oberflächliche Ego, das gern vom Wasser trinkt, ist nun im Wasser ertrunken und tot bzw. unwirksam. Und das macht Sinn, denn nur so kann das Bewußtsein wahrhaft dienen, weil es nicht mehr seine eigenen Vorteile sucht, sondern wahre Demut üben kann, was etymologisch „Mut zum Dienen“ bedeutet. Und damit zeigt sich immer mehr das formlose Bewußtsein, denn wer dienen will, muß bereit sein, jede gewünschte Form anzunehmen, ohne an einer eigenwilligen Form anzuhaften. Ja, hierin liegt der goldene Schlüssel, um tief in den Meeresgrund der Welt zu schauen.

Dazu gibt es übrigens auch ein tiefsinniges Lied von Karat mit dem Titel „Der Ozean“:

Die Tiefe hab ich oft entdeckt, die Stille und den Wein.
Schätze warten dort versteckt und dann auch das Alleine-Sein.

Tanzen mit den Urgezeiten, für einen Augenblick,
will ich hinuntergleiten ins Paradies ein kleines Stück.

Denn ich weiß, ich weiß, ich weiß und glaub daran,
es gibt ihn doch in uns den Ozean…

Am Meeresgrund auf meinem Rücken, von Stein zu Stein, von Riff zu Riff,
dort find ich immer neue Lücken und manchmal ein gesunknes Schiff.

Tanzen mit im Reigen, ertrunken bin ich nicht,
denn nur im klaren Schweigen find ich den Boden und zurück.

Denn ich weiß, ich weiß, ich weiß und glaub daran,
es gibt ihn doch in uns den Ozean…

Nun könnte man wohl viele Menschen finden, die gerade dieses dreifache „ich weiß“ und das einfache „ich glaube daran“ als „dumm“ bezeichnen. Und doch kommen wir gerade mit diesem „Dummsein“ in die Tiefe und nähern uns auch in diesem Märchen dem Happy-End: Was bedeutet „mit der Kröte ringen“? Hier könnte man an einen Ringkampf der Liebe im gegenseitigen Erkennen von Geist und Natur denken, ein Hochzeitstanz, zwei Hochzeitsringe und vielleicht sogar eine Hochzeitsnacht. Man könnte auch von Selbsterkenntnis als Ring der Ganzheit sprechen. Denn die Kröte wird oft symbolisch für ein weibliches Wesen der Mutter Natur verwendet, während der Frosch mehr an ein männliches Wesen des Geistes erinnert, das wir auch vom „Froschkönig“ kennen. So verwandelt sich dann auch die häßliche Kröte in ein schönes Mädchen, was uns an die Seele der Natur erinnert, die der Geist in der inneren Welt durch seinen treuen Dienst erkannt und gewonnen hat. Damit erkennen und vereinen sich Geist und Seele im Menschen wieder, und das innere Königreich wird gleichzeitig zu einem äußeren, weil auch Geist und Natur wieder vereint sind, und der trennende Ego-Verstand seine äußerliche Herrschaft verloren hat. Denn nun herrscht wieder die ganzheitliche Vernunft über den Verstand, der jetzt ganz spontan bzw. intuitiv erscheint, wenn er in der äußeren Welt gebraucht wird, wie ein Werkzeug, das man bei Bedarf ergreift und nicht ständig mit sich herumtragen muß. Auf diese Weise kann der dumme Hans nicht nur „gescheit“ werden, sondern sogar zu einem heiligen Johannes, und „geht zum Vater und erbt sein Reich“, was uns sogar an das göttliche Königreich der ganzen Schöpfung erinnern kann.

Aus dieser Sicht könnten wir noch etwas über den Ausdruck „Wasser des ewigen Lebens“ nachdenken: Wenn das Wasser auf der Erde äußerlich aus der Quelle fließt und zum Fluß wird, dann fließt es durch Raum und Zeit und wird zu einem vergänglichen Wasser, während das Wasser selbst ewig sein kann. Zumindest sind die meisten Wasserstoffatome so alt wie das ganze Universum, und alle andere Materie ist aus ihnen entstanden. Ähnlich ist es auch mit dem Licht. Wenn es durch Raum und Zeit fließt, wird es vergänglich und kann verdunkelt werden, aber das Licht selbst ist ewig jenseits von Raum und Zeit. Gleiches könnte man sich von der Information bzw. vom Bewußtsein vorstellen. Wenn das Bewußtsein in Raum und Zeit Formen annimmt, wird es vergänglich, aber selbst ist es ewig. Nur mal so zum Nachdenken…

Heil! Heil! aufs neue!
Wie ich mich blühend freue,
Vom Schönen, Wahren durchdrungen:
Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.
Wenn du nicht Wolken sendetest,
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest,
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?
Du bist es, der das frischeste Leben erhält.
(Goethe, Faust II)

Zum Abschluß möchten wir noch eine kleine Geschichte aus unserer Feder anhängen, vom ewigen Wasser des Lebens und den Wellen auf dem Meer des Bewußtseins. OM

Das Meer und die Wellen

Zwei kleine junge Wellen begegnen sich in der Weite des Ozeans:

Sei gegrüßt, du lustiger Geselle! Eine hübsche Mütze trägst du aus Schaum. -

Ja, ja, noch bin ich eine kleine Welle. Aber irgendwann werde ich so groß wie meine Eltern sein. Siehst du sie, diese gewaltigen Wogen hinter mir? Mächtig ist ihre Gestalt und groß ihre Kraft.

Nach langer Zeit trafen sich die beiden Wellen wieder:

Oh, du bist aber mächtig gewachsen. Doch wo sind deine Eltern? -

Ach, die sind gestorben und ich fühle mich einsam. -

Warum fühlst du dich einsam? Ich sage dir, du bist nicht nur eine Welle, du bist das ganze große Meer. -

Nein, wie soll ich das glauben? Ich bin eine Welle, so wie du. Ich bin geboren, wachse, lebe und werde sterben, wie meine Eltern und alles ringsumher. Kannst du mir das beweisen, daß eine einzelne Welle das ganze Meer ist? -

Wie sollte ich das beweisen? Wenn ich es auch schaffen würde, den ganzen Ozean, alle Flüsse, Seen und Wolken dieser Welt in mir zu sammeln, dann könnte ich es dir dennoch nicht zeigen, denn du würdest mir nicht mehr gegenüberstehen.

Lange überlegte die Welle hin und her. Viel Zeit verging, bis dieses Wissen ihr eigenes wurde. Es ist schon wahr, in der Ruhe bin ich das ganze Meer, in Bewegung eine mächtige Welle. Schön ist es, ein ewiges Meer zu sein. Keine Geburt, kein Tod, auch meine Eltern sind nie gestorben. Könnte ich doch für immer dieser mächtige, weite, tiefe Ozean sein und nie mehr eine einsame Welle! Und doch scheint es, als ob die Kräfte sich vervielfachen, je näher man der Wahrheit kommt. Voller Schmerz schlägt Welle auf Welle, je mächtiger, desto größer ist das Leiden.

Mächtige Welle oder ruhiges Meer? Eine unbändige Kraft wölbt das Meer zur Welle.


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
König Drosselbart - (Thema: heilige und heilsame Ehe)
Die heilige Frau Kümmernis - (Thema: Bart und Geige)
Die alte Hexe - (Thema: wahre Liebe und Vernunft)
Der Jude im Dorn - (Thema: Vernunft und Verstand)
Die Prinzessin und der blinde Schmied - (Thema: Weihnachtsmärchen)
Der Hase und der Igel - (Thema: Ich bin schon da)
Hans mein Igel - (Thema: Vernunft und Natur)
Der Dummling (Thema: Wesen des Meeres)
Die Wassernixe - (Thema: Quelle und Fluß)
Die Nixe im Teich - (Thema: Wasserwesen)
Die kleine Meerjungfrau Undine - (Thema: Wellentanz)

[1810] Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Handschriftliche Urfassung, 1810
[2025] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
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