Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Von einem, der auszog, die Angst zu verlernen

Märchentext von Undine & Jens [2025]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Es war einmal ein kleiner Töpferjunge, der oft große Angst hatte, vor allem, wenn er in den dunklen Keller des alten Hauses geschickt wurde. Er hatte immer das Gefühl, daß dort viele schreckliche Gespenster hinter gruseligen Spinnweben wohnen und daß die Dunkelheit mit kalter Hand von allen Seiten nach ihm greifen würde.

Der Vater verstand die Gefühle des Kindes und töpferte ihm eines Tages eine kleine Pfeife aus gebranntem Ton. „Wenn du Angst hast“, sagte er, „dann puste in diese Pfeife! Der Ton wird dir helfen.“ Manchmal half es tatsächlich, und mit dem Ton erschien ein Licht, das die Gespenster verjagte. Bald bemerkte der Junge, daß die Pfeife kleine Löcher hatte. Wenn er diese zuhielt, erklangen unterschiedliche Töne, manchmal sogar kleine Lieder. Er wunderte sich sehr und fragte seinen Vater: „Woher kommt der Ton aus der Tonpfeife?“ - „Von deinem Lebensatem, mein Sohn!“, antwortete der Vater. Bei diesen Worten lächelte er, wie er lange nicht gelächelt hatte, seit die Mutter so früh gestorben war.

Lange Zeit trug der Töpferjunge die Tonpfeife an einem Band um seinen Hals. Und doch fragte er sich immer wieder: „Warum wurde gerade ich in einem so alten Haus mit einem so dunklen Keller geboren?“ Denn er sah viele andere Kinder in schönen, neuen Häusern wohnen und begann, sich mit ihnen zu messen. Wenn sie auf die Bäume kletterten, wollte er immer am höchsten hinauf. Doch wenn er ganz oben war und nach unten schaute, war sogleich die Angst da, er könnte fallen und sterben. Wenn die Kinder im See bis zum Grund tauchten, wollte er immer am längsten unten bleiben. Doch wenn die Luft knapp wurde, kam wieder die Angst, er könnte ersticken. Und wenn er sich mit ihnen raufte, dann wollte er immer gewinnen. Doch nach jedem Gewinn kam die Angst, den nächsten Kampf vielleicht doch zu verlieren. Manchmal half ihm die Pfeife, aber nicht immer.

So kam die Zeit, als ihn der Vater in die Dorfschule schickte. Der Lehrer sagte: „Wer fleißig lernt, bekommt eine gute Zensur!“ Da wollte der Töpferjunge wieder der Beste sein und lernte fleißig, so viel er konnte. Doch als er dann vor der Klasse stand und vom Lehrer befragt wurde, war die Angst da. Sie legte sich schwer auf seine Brust, und oft brachte er kaum ein Wort heraus. Gerne hätte er seine Pfeife geblasen, aber das traute er sich nicht vor der ganzen Klasse. Weinend kam er dann nach Hause zu seinem Vater, doch auch der wußte keinen Rat mehr. Also sprach er mit dem Pfarrer in der Dorfkirche, und der meinte, hier könne nur Gott helfen. So wurde der Töpferjunge im Kirchenchor aufgenommen, wo er gemeinsam mit den anderen Kindern ganz vorn am Altar mit heiligen Liedern den heiligen Gott preisen sollte. Das tat er auch mit all seiner Kraft und wollte im ganzen Chor der Beste sein. Doch als er eines Tages hervortreten und vorsingen sollte, da war die schreckliche Angst wieder da, die ihm den Hals zuschnürte. Nur ein heiseres Krächzen kam heraus, und die halbe Kirche lachte. Das war dann auch sein letzter Auftritt. Der Vater war wiederum ratlos und versuchte, dem Jungen zumindest das Töpferhandwerk beizubringen. Dann könnte er doch zufrieden in der Werkstatt sitzen und arbeiten. Auch hier war er mit aller Kraft und Leidenschaft dabei, doch immer öfter, wenn das Tongefäß auf der Töpferscheibe höher und dünner wurde, kam die Angst in ihm hoch, es könnte zerbrechen. Er begann zu zittern, und prompt zerbrach es. Dann spielte er ein kleines Liedchen auf seiner Pfeife, bis die Ruhe zurückkehrte und es wieder heller in ihm wurde. Doch die Angst lauerte weiter in seinem Herzen.

So vergingen einige Jahre, und eines Tages sprach der Töpferjunge zu seinem Vater: „Ich möchte hinaus in die weite Welt wandern, um die Angst zu verlernen, denn hier gelingt es mir nicht.“ Lange sah ihn der Vater nachdenklich an. Dann sprach er: „Gut, mein Junge. So soll es sein. Ich bin nur ein armer Töpfer und kann dir nicht viel mitgeben. Hier, nimm etwas Geld, die kleine Laterne und den Ring deiner Mutter.“ Mit diesem Segen brach der junge Mann zur Wanderschaft auf. Dorf und Felder ließ er hinter sich und ging immer der Nase nach, ohne zu wissen, wohin. Gegen Abend kam er an einen großen Wald. Mit seiner Laterne fand er einen Weg, pfiff ein Liedchen auf seiner Tonpfeife und lief in die Nacht hinein.

„Nun zieh ich in die Welt und schlafe unter Sternen,
So muß ich doch die Angst irgendwann verlernen.
Ich fürcht‘ mich nicht vor Räubern und vor Wölfen,
Irgend jemand wird mir auf dem Weg schon helfen.“

Er wanderte, bis er müde wurde und nicht mehr weiterkonnte. Unruhig schlief er unter einem Baum. Als der Morgen graute, weckte ihn ein gräßliches Geräusch. Erschrocken sah er einen Fuchs vor sich, und sofort war die Angst da. Er blies seine Pfeife, doch das Tier floh nicht vor dem Ton, sondern kam näher und schnupperte neugierig an der Pfeife. Da ließ die Angst nach, der Fuchs wandte sich ab und trottete langsam in den Wald, als wollte er ihm einen Weg zeigen. Der Töpfersohn erhob sich schnell und folgte der Spur.

Bald sah er am gegenüberliegenden Ufer eines kleinen Sees eine schöne Jungfrau sitzen. Hinter ihr graste ein Pferd, und sie blickte traurig in das spiegelnde Wasser. Leise schlich er sich um den See, doch er fand sie nicht mehr am Ufer. Als er sich neugierig umschaute, sprang plötzlich jemand aus dem Gebüsch, drückte ihn gegen einen alten Baum und hielt ihm ein scharfes Messer an die Kehle. Was für ein Schreck! Überfall! Räuber! Todesangst ließ den jungen Mann erstarren.

„Bist du in Todesangst gefangen,
Mußt du um dein Leben bangen.“

Doch als er wieder zu sich kam, erkannte er die schöne Jungfrau mit dem Messer in der Hand vor sich. Sie hatte wohl nicht weniger Angst und glaubte, überfallen zu werden. Einen kurzen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, schauten sich beide tief in die Augen. Da wurde der Töpfersohn von einem warmen und lebendigen Gefühl durchdrungen, das er noch nie so intensiv erfahren hatte. Was war das? Die kalte Todesangst verschwand. Tapfer blickte er der jungen Frau in die Augen, die nun ebenfalls sichtlich bewegt war und ihn fragte: „Wer bist du?“ - „Ich bin ein Töpferbursche“, antwortete er, „und in die Welt gezogen, um die Angst zu verlernen.“ Lange schaute die Jungfrau ihn an. Dann ließ sie das Messer sinken, und sie setzten sich schweigend an den kleinen See.

Nach einer Weile fragte er: „Und wer bist du?“ Sie lächelte und antwortete: „Ich bin deine ängstliche Seele.“ Verlegen schlug sie die Augen nieder, ihre Stimme stockte, doch dann sprach sie leise weiter: „Nicht weit von hier beginnt ein großer Sumpf. Dort war mein Vater einst König, und das Land war ein kleines Paradies. Doch meine Mutter starb in jungen Jahren, und ich blieb das einzige Kind des betrübten Königs. Nach dem frühen Tod der Mutter geschahen schreckliche Dinge, und das Königsschloß wurde bald von fürchterlichen Gespenstern eingenommen. Mein Vater floh mit mir und seinem Gefolge in den Wald bis an die Grenze seines Reiches, wo wir seitdem in Zelten wohnen. Das ganze Königreich verdunkelte sich und wurde zu einem gespenstischen Sumpf. Einige Jahre lang kämpfte der Vater mit seinen Soldaten, doch erfolglos. Dann versprach er mich demjenigen zur Frau, der das verwunschene Schloß vom Spuk befreien kann. Schon viele furchtlose Helden haben es versucht, doch alle wurden dort von schrecklicher Angst überwältigt und starben im Wahnsinn. Nun habe ich dich hier im Wald getroffen, und als wir uns vorhin in die Augen schauten, wußte ich: Du bist nicht zufällig hierhergekommen. Du bist mein Herz, und ich bin deine Seele. So vergib mir bitte den groben Empfang. Du weißt ja nun, daß ich als Prinzessin mehr im wilden Wald als in einem vornehmen Hofstaat aufgewachsen bin.“ Verwundert sah er die schöne Jungfrau an und brachte kein Wort heraus. Nach einer Weile sprang die Königstochter auf und rief: „Ich muß nun fort! Mein Vater wartet.“ Zum Abschied gab sie ihm einen Kuß auf die Wange. Er blickte sie zweifelnd an: „Wirst du wirklich auf mich warten?“ - „Ja, ich werde immer auf dich warten.“ Da erinnerte er sich an den Ring seiner Mutter, zog ihn aus der Tasche, drückte einen liebevollen Kuß darauf und reichte ihn der Prinzessin mit den Worten: „Und mein Herz wird immer für dich schlagen. Doch wie werde ich dich wiedersehen?“ - „Geh nur weiter deinen Weg. Der Sumpf ist nicht weit. Dort warte ich auf dich.“ Mit diesen Worten schwang sie sich wie ein geübter Reiter auf ihr Pferd und verschwand in der Tiefe des Waldes.

Lange saß der Töpfersohn noch am See und starrte in den dunklen Spiegel des Wassers. Dann faßte er sich ein Herz, sah sich um und spürte, wie der Fuchs ihn wieder zu führen begann, obwohl er ihn nur schemenhaft in der Ferne sah. Der Abend brach herein, und es wurde dunkel. Das Licht der Laterne reichte nicht weit, und der Wald wurde immer sumpfiger und schrecklicher. Schon bald ragten nur noch abgestorbene Bäume aus dem Moor, gespensterhaft, wie die Arme von Toten, die nach ihm griffen. Fledermäuse flatterten um seinen Kopf, und ringsherum hallte das Geschrei wilder Tiere. Tapfer pfiff er seine Lieder, ging immer weiter in die Dunkelheit und kam doch auf wundervolle Weise nicht vom Weg ab. Bald sah er in der Ferne ein kleines Licht, das immer näherkam. Es war ein altes, halbverfallenes Wirtshaus, und er hoffte sehnsüchtig, dort etwas zu essen und eine Unterkunft für die Nacht zu finden.

Mutig klopfte er an die morsche Tür. Knarrend öffnete sie sich einen Spalt. Ein alter Wirt schielte hindurch und fragte mürrisch: „Was willst du Bursche?“ - „Etwas zu essen und ein Nachtlager.“ - „Kannst du bezahlen?“ Da reichte er etwas vom Geld seines Vaters durch den Türspalt, die Tür öffnete sich, und er trat in eine verräucherte Wirtsstube. In dunklen Ecken saßen finstere Gestalten und grölten vor sich hin. Eigentlich wollte er gleich wieder weg, doch draußen war es nicht viel besser. Der grauhaarige Wirt setzte ihn an einen Tisch, brachte Suppe und Brot, und fragte neugierig: „Woher kommst du?“ - „Ich bin durch den Sumpf gekommen.“ Der Wirt sah ihn erstaunt mit großen Augen an: „Schon lange ist hier kein lebendiger Mensch durch den Sumpf gekommen. Was suchst du hier?“ - „Ich bin in die Welt gezogen, um die Angst zu verlernen.“ - Da lachte der alte Wirt, wie er lange nicht gelacht hatte: „Ja, da bist du hier richtig, denn dafür kommen sie aller hierher.“

Er stellte ihm einen großen Humpen kräftigen Wein auf den Tisch und sprach: „Trink tapfer, und du wirst keine Angst mehr haben!“ Das tat er, und schon bald lallte und grölte er mit den anderen.

„Trinkt, Brüder, trinkt,
Greift zum Becher, die Freude winkt!
Meidet den Kummer und meidet den Schmerz
Ja, dann ist das Leben ein Scherz!“

Als der Morgen graute und das Tageslicht spärlich durch die kleinen, verrußten Fensterscheiben schien, erwachte der Töpfersohn, der wie manch andere Gäste der Spelunke irgendwann am Tisch eingeschlafen war. Bald kam der Wirt und brachte Essen und neuen Wein. So ging es einige Tage lang, bis der Rausch an Wirkung verlor und die Angst zurückkehrte. „He, Wirt, wo bleibt der Wein?“, rief er an seinem Tisch. Doch der Alte fragte: „Hast du noch Geld?“ - „Ja, ich habe noch den Goldring meiner Mutter…“ Da verstummte der Töpfersohn. Er erinnerte sich plötzlich, warum er hierhergekommen war und daß die Prinzessin auf ihn wartete. Beschämt blickte er den Wirt an und fragte: „Wie komme ich zum Königsschloß?“ - „Bist du jetzt völlig verrückt?“, hörte er zur Antwort: „Das ist dein sicherer Tod! Schon ganz andere Helden, schlachterprobte Ritter und weitberühmte Prinzen, haben sich daran versucht und sind im Wahnsinn gestorben. Dort werden dir deine Augen ausgestochen, dein Körper wird zerschlagen und dein Herz herausgerissen. Sieh zu, daß du den Rückweg durch den Sumpf findest! Vielleicht kannst du noch entkommen.“ - „Nein, ich muß zum Königsschloß! Wie finde ich es?“ - „Gut, wenn du unbedingt willst, dann sei es! Der Weg dorthin ist einfach zu finden. In der Mitte des Sumpfes, wo es immer dunkler wird, dort steht das verwunschene Schloß. Geh nur immer tiefer in die Dunkelheit!“

Da erhob sich der Töpfersohn, nahm seine Laterne und verließ das Wirtshaus. Der Kopf schmerzte noch vom Wein, und die Beine wollten ihn kaum tragen. Doch er ging tapfer in den dunklen Sumpf auf seinem Weg, der nun immer schmaler wurde. Ein falscher Schritt, und er wäre im schwarzen Moor versunken, wie schon viele vor ihm. Doch er spürte, daß nun der Fuchs in ihm selbst war und den Weg zeigte. Die Dunkelheit wurde immer schrecklicher, der Sumpf immer gespenstischer und die Nacht brach tief herein. Seine Laterne leuchtete nur ein kleines Stück voraus, und tapfer pfiff er seine Lieder, um die Angst zu verjagen.

Aber plötzlich verstummte die Pfeife, kein Ton kam mehr aus dem Ton, und er stand vor einem großen dunklen Tor. Zögerlich klopfte er an, doch jeder Schlag hallte wie ein Donner wider. Da öffnete sich das Tor von Geisterhand wie der Rachen der Hölle. Was für ein Schrecken! Seine Kniee wurden weich, die Sinne schwanden, und die Tonpfeife schwieg. Da erinnerte er sich an die Worte seines Vaters: „Der Ton kommt von deinem Lebensatem, mein Sohn.“ Tief atmete er ein und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Und da erklang der Ton, klar und rein, wie der erste Atemzug aus seinem Herzen. Die dunkle Angst verschwand, und das Lebenslicht kehrte in ihn zurück. Mutig schritt er nun durch das finstere Tor, wie ein Held in den Kampf.

So betrat er das verwunschene Königsschloß in tiefster Dunkelheit inmitten des Sumpfes. Nur seine kleine Laterne erleuchtete die alten Mauern und dunklen Gänge. Da sah er plötzlich ein blaues Feuer auf sich zukommen. Erst ganz klein am Ende eines langen Ganges, dann immer größer, bis es vor ihm stand. Es war ein schrecklicher Feuer-Drache, wie er ihn noch nie gesehen hatte.

Er brüllte, bäumte sich auf und öffnete seinen riesigen Rachen, um den Töpfersohn zu verschlingen. Und doch war es kein gewöhnliches Feuer, denn es brannte nur eigenwillig in sich selber, hielt sein eigenes Licht fest, und der Raum ringsherum blieb dunkel. „Will er mich töten?“, dachte der Jüngling und rief: „Nein, ich kann jetzt nicht sterben. Eine liebe Seele wartet auf mich!“ Im gleichen Moment stürzte sich der Feuer-Rachen über ihn her, um ihn ganz und gar zu verschlingen. Doch was für ein Wunder! Das blaue Feuer verschlang sich nur selber und verschwand in einem riesigen Funkenwirbel. Mit großen Augen stand der Töpfersohn und bestaunte das Feuerwerk bis es erloschen war. Das Einzige, was der Drache verbrennen konnte, war die kleine Laterne, so daß er nun in völliger Dunkelheit stand. Doch der Fuchs war noch in ihm und sprach: „Gratuliere, du hast die Prüfung bestanden und den eigenwilligen Ego-Drachen besiegt, der dich von deiner Seele trennte und Tod und Zerstörung brachte.“

Da schreckte die Prinzessin aus dem Schlaf hoch. Ihr Zelt stand neben einer alten, hohen Linde, die wohl noch der einzige grüne Baum im ganzen Königreich war, denn an ihrer Wurzel hütete sie ein kleines Licht. Und jedes Mal, wenn ein Held versuchte, in das verwunschene Königsschloß einzudringen, wurde es heller, aber bisher auch immer wieder dunkler. Doch nun strahlte es so hell wie nie zuvor, und sie wußte, daß der geliebte Töpfersohn dort angekommen war. „Ich muß ihm helfen!“, rief sie erschrocken, steckte sich den Ring der Mutter an den Finger, schwang sich auf ihr Pferd und ritt den schmalen Weg bis zum alten Königsschloß.

In der Zwischenzeit tastete sich der Töpfersohn langsam durch die Gänge des Schlosses, bis er in einem Raum stand, wo im Kamin ein kleines, warmes Feuer brannte und ein gemütliches Bett zu sehen war. Völlig erschöpft legte er sich in die weichen Kissen und schlief ein. Unruhig war der Schlaf. Er träumte von seinem Vater im alten Haus, von der Prinzessin im Wald, vom Wirtshaus im Sumpf und vom gefräßigen Feuerdrachen im Schloß. Gegen Mitternacht weckten ihn gräßliche Geräusche. Erschrocken fuhr er aus dem Traum hoch, doch war sich nicht sicher, ob dies auch nur ein Traum war. Eine Frauenstimme rief: „Komm zu mir! So weit hat es hier noch niemand geschafft. Nun komm zu mir, mein Sohn!“ - „Mutter!? Wo bist du?“, rief er aus tiefstem Herzen. Da erschien eine Frau mit langem Haar und wallenden Kleidern im Raum und sprach: „Komm in mein Reich, wo es nichts mehr gibt, vor dem du Angst haben mußt.“ Er schaute ihr in die Augen, doch diese waren dunkel, kalt und von Frost umschattet.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er antwortete: „Ich kann dir nicht in die Dunkelheit folgen, denn eine liebe Seele wartet im Licht auf mich.“ Die frostige Frau kehrte sich ab, erschien auf der anderen Seite des Raumes erneut und sagte: „Du kannst mir nicht entfliehen, denn du bist gebunden, solange du das Rätsel aller Rätsel nicht gelöst hast. Versuche es! Wenn es dir gelingt, gebe ich dich frei. Wenn nicht, mußt du mir folgen. Hör zu:

Der es macht, der will es nicht;
Der es trägt, behält es nicht;
Der es kauft, der braucht es nicht;
Der es hat, der weiß es nicht.“

Der Töpfersohn überlegte hin und her, doch er konnte das Rätsel mit seinen Gedanken nicht ergründen. Was er sich auch ausdachte, es paßte immer nur teilweise. Entmutigt gab er das Denken auf und sah nur noch die schöne Prinzessin vor sich, seine geliebte Seele, die ihm vertraute und sicherlich helfen würde, wenn sie es könnte. Da wurde es plötzlich hell in ihm. Aus tiefster Intuition, dem Urquell allen Wissens, kam die Antwort, und er sprach: „Dieses Rätsel hast du dir nicht selber ausgedacht! Es ist eine alte harte Nuß. Zuerst dachte ich, du meinst das Leben, doch dann wurde mir klar, du meinst den Sarg. Denn der Schreiner will ihn nicht, der Sargträger behält ihn nicht, die Verwandten des Toten kaufen ihn zwar, aber brauchen ihn nicht, und der Tote weiß es nicht, daß er im Sarg liegt.“ Da verzerrte sich das Gesicht der Frau zu einer fürchterlichen Grimasse, ein schrecklicher Donner rollte durch das Schloß, und sie rief voller Zorn mit einer tiefen Männerstimme: „Du hast es erraten!“ Als wollte die Frau mit den Frostaugen eine emanzipierte Natur sein. Doch sie hatte keinen Geist, der lebendig macht, sondern war ein totes Gespenst und Gespinst ihrer selbst, das im gleichen Augenblick verschwand. Erstaunt sah sich der junge Held um und dachte: „Was war das? Wo ist sie hin?“ Da jubelte der Fuchs in ihm und sprach: „Wunderbar! Du hast die Spinnweben des begrenzten Denkens besiegt und die grenzenlose Intuition gewonnen!“ Bei diesen Worten spürte er, wie er nach oben gezogen wurde, durch die Decke des engen Gemachs hindurch in eine weite Halle, wo überall Spiegel standen.

Mittlerweile hatte die Prinzessin auf ihrem Pferd das dunkle Schloß erreicht und stand vor dem großen Tor. Doch wieviel sie auch anklopfte und Einlaß begehrte, das Tor blieb fest verschlossen. Lange klopfte sie an, bis sie erschöpft zu Boden sank. Doch mit fester Stimme rief sie: „Halte durch, mein Herz! Ich werde immer bei dir sein.“

Der Töpfersohn erwachte nun inmitten einer Spiegelhalle. Wohin er auch schaute, überall sah er sich selbst, mehr oder weniger verzerrt in tausenden Formen. Die Spiegel sprachen zu ihm:

„In den Spiegel mußt du schauen.
Zwischen Spiegeln kein Entrinnen.
In dem Spiegel liegt das Grauen.
Komm herein und sieh's von innen!“

Doch er ging nicht hinein, sondern wandte sich ab, wo er nur konnte. Da lachte und rief die Spiegelstimme: „Komm zu mir, und überwinde deine Angst!“ - „Was soll ich in einem toten Spiegel?“, fragte er: „Da draußen wartet eine lebendige Seele auf mich.“ - „Ach, vergiß sie!“ - „Das kann ich nicht. Nur für sie schlägt mein Herz. Ich liebe sie…“ Da drang ein gräßlicher Aufschrei durch die Halle, gefolgt von Totenstille. Sein Herz blieb stehen, und langsam sank er zu Boden.

„Zwischen Spiegeln mußt du bangen,
Gläser ohne Raum und Zeit.
Voller Angst bist du gefangen,
Stumm in alle Ewigkeit.“

Nur die letzten Worte hallten noch in ihm wider: „Stumm… Stumm in alle Ewigkeit…“ - „Niemals! Mein Herz wird immer für die geliebte Seele schlagen!“ Er zog all seinen Lebensatem in sich zusammen, ergriff mit letzter Kraft seine Tonpfeife und blies aus tiefstem Herzen hinein. Ein langer und heller Ton schallte durch die weite Halle, und ein Wunder geschah: Sein Herz wurde wieder lebendig. Die Spiegel verloren ihren Glanz, bekamen Risse und zersprangen in Millionen kleiner Scherben, die wie Feuerfunken verglühten. Doch hinter den Spiegeln brach mit unvorstellbarer Macht ein reines Licht hervor. Der ganze Raum wurde von lebendigem Licht erfüllt, und die kalte, tote Dunkelheit verschwand, wie ein Nebel in der Morgensonne. Der Bann war gebrochen, der verwunschene Gespensterspuk besiegt. Nun konnte er bis auf den Grund des Königsschlosses schauen. Dort sah er einen unvorstellbaren Schatz aus strahlendreinem Gold, das dort von vielen Generationen reicher Könige in der Dunkelheit verborgen worden war, wo es lange Zeit nutzlos für die Menschen gelegen hatte. Bei diesem Anblick lächelte der Fuchs in ihm, denn sein Ziel war erreicht, sein Sinn erfüllt. Und über dem Schloß öffnete sich der klare Himmel, so daß es wieder in seiner ganzen herrlichen Pracht erschien. Die warme Sommersonne strahlte über das weite Königreich. Der dunkle Sumpf verschwand wie von Zauberhand, reine Flüsse strömten friedlich durch das Land, die Bäume waren wieder grün, und die fruchtbaren Felder erblühten im Sonnenlicht. Alles atmete den Duft des Lebens, und alle Herzen wurden hell und froh.

Der Töpfersohn öffnete das Tor des Schlosses und sah die Königstochter vor sich stehen. Voller Glück und Liebe fielen sie sich in die Arme, wie ein Herz und eine Seele. Nun werden sie sich niemals wieder trennen, denn in Wahrheit gehören sie immer zusammen. So fanden sie gemeinsam in dieser Welt die wahre Liebe und verlernten die Angst, denn wahre Liebe kennt keine Angst, keine Trennung und kein Verlieren. Sie ist bedingungslos und allgegenwärtig, wie das reine Licht. Überglücklich sah er nun den goldenen Ring der Mutter an ihrem Finger, und gemeinsam ritten sie auf dem treuen Pferd in die Zeltstadt des Königs. Dieser empfing sie voller Freude, umarmte beide herzlich und gratulierte seinem zukünftigen Schwiegersohn zum großen Sieg: „Du hast die Dunkelheit besiegt und das Licht befreit. Nun kann die Mutter wieder leben, die Sonne in die Herzen scheinen und die fruchtbare Natur erblühen.“ Mit großer Freude zog der ganze Hofstaat in das befreite Königsschloß ein, und alle begannen, die Hochzeit vorzubereiten. Dazu wurde auch der Töpfervater aus dem kleinen, alten Haus ins große Schloß geholt. Dort war er überglücklich, seinen Sohn wiederzusehen und schloß auch die Prinzessin wie eine Tochter in seine Arme. König und Töpfer verstanden sich prächtig, und ihm wurde eine geräumige Töpferwerkstadt mit vielen fleißigen Gesellen im Schloß eingerichtet. Als alles vorbereitet war, wurde die große Hochzeit gefeiert. Der Töpfer sorgte für die schönsten Schüsseln, Teller und Becher auf der reichgeschmückten Hochzeitstafel, und der König für die besten Speisen und würdigsten Gäste. Einige Jahre gingen so glücklich dahin. In der königlichen Töpferei wurde noch manche Pfeife aus Ton gebrannt und den ängstlich suchenden Menschen gegeben. Und der alte König regierte mit weitsichtiger Vernunft ein glückliches Reich. Als die Zeit reif war, wurde dem jungen Paar zuerst ein Junge und dann ein Mädchen geboren, die mit viel Mutter- und Vaterliebe aufwuchsen. Bald darauf zog sich der alte König zurück und übergab die Krone dem Töpfersohn, der gemeinsam mit seiner Königin ein guter und weiser König wurde und mit Vernunft und Liebe noch lange über ein friedliches Menschenreich herrschte. Denn wer ohne Angst ist, wird kein Tyrann. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch immer als ein Herz und eine Seele…

Unsere Inspiration zu diesem Märchentext stammt aus dem Märchenfilm „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“, der 2014 für die ARD produziert wurde. Wir finden den Film im Großen und Ganzen gelungen und möchten hiermit dem Filmeteam unseren herzlichen Dank aussprechen! Etwas übertrieben erscheint vielleicht die emanzipierte Prinzessin, doch ohne solche politischen Klischees kommt wohl kein Film mehr in das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Das Thema „Angst“ ist natürlich auch heute noch top-aktuell. Über die Frage, wie man das Fürchten lernen kann, haben wir in unserer Interpretation zum Grimmschen Märchen bereits ausführlich nachgedacht. Weit wichtiger erscheint uns nun die Frage: Wie kann man die Angst verlernen?

Dazu haben wir im Märchenfilm tiefsinnige Aspekte gefunden und aus einer etwas anderen Perspektive nacherzählt. Auf eine ausführliche Interpretation des Märchentextes möchten wir verzichten, denn wir haben versucht, den geistigen Hintergrund der vielen Symbole soweit wie möglich in der Geschichte anzusprechen. Kurz gesagt: Die tote Mutter können wir in unserer materialistischen „Natur-Wissenschaft“ wiederfinden, die den Geist verneint, der alles lebendig macht. Den Sumpf und das Wirtshaus finden wir in unserer „Wirtschafts-Politik“, die die Vernunft verneint, welche im Menschenreich herrschen sollte. Und das enge Töpferhaus und prächtige Königsschloß erinnern an unsere Körper, wo die Gespinste der Gespenster leben, der tödliche Ego-Drache haust und Angstzustände und Depressionen bereits zur Volkskrankheit wurden. Vielleicht finden wir doch irgendwann die wahre Liebe wieder, ohne sie mit Begierde und Haß zu verwechseln, und können damit die Angst verlernen.

„Denn wie die Natur der Angst in der Finsternis eine Ursache zur Traurigkeit ist, so ist sie im Licht eine Ursache zur erhebenden und belebenden Freude.“ (Jacob Böhme, Von der neuen Wiedergeburt, 1.18)

Zur weiteren Illustration können wir den Märchenfilm empfehlen, der noch bis 9.8.2030 in der ARD-Mediathek verfügbar ist. Falls der Link hinter dem folgenden Titelbild nicht mehr funktioniert, bitte in der Mediathek danach suchen.


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Sprüche, Textinspiration und Titelbild: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, 2014, ARD/Kika
[2025] Bilder (KI-unterstützt) und Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: (1. Advent)