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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Auch Siegfried erwachte nach seinem heiteren Traum früh am Morgen und ritt hinaus in den Wald zum Jagen, aber seine Gedanken waren im Königspalast bei der wundersamen Jungfrau. Er ließ Hirsche und Rehe friedlich vorüberziehen, ohne von seinen Waffen Gebrauch zu machen. Als er nachmittags ohne Beute zurückkehrte, fand er Burg und Stadt in großer Unruhe. Recken und Insassen, Dienstmannen und Landvolk schrieen, rannten durcheinander und auf dem Söller stand Frau Ute weinend, die Hände ringend. Niemand gab Siegfried Bescheid. Er hörte einzelne unverständliche Ausrufe, die auch ihn mit schwerer Sorge erfüllten. „Er kam dorther!“- „Er ist nach den wilden Bergen geflogen.“ - „Wo mag er sie hingetragen haben?“ - „Ach, das wunderholde Königskind!“ - Niemand stand dem Helden Rede, bis er zu Hagen kam, der schweigsam und finster in der großen Halle stand.
Was ist geschehen? Keiner weiß etwas Genaues, außer Hagen. So ein Zufall!
Siegfried schritt auf Hagen zu und fragte ihn, was geschehen sei. Dieser berichtete: „Ja, das ist eine üble Geschichte. Aber was geschieht, das muß geschehen. Das hat, wie man zu der Väter Zeit sagte, die Norne (Schicksalsgöttin) gefügt, und das ist allezeit das Beste. Schau, Siegfried, wir waren beim Turnier. Da entstand ein Sausen und Brausen in der Luft, wie von einem Gewittersturm. Die Sonne verlor ihren Schein, als ob sie der Wolf Sköll (als Sonnenfinsternis) erwürge. Das Schrecknis war ein fliegender Drache, wie die Hölle keinen zweiten geboren hat. Er strich über uns hinweg, und wir schossen Speere auf ihn, aber sie prallten wie Schilfrohr an seinen Hornschuppen ab. Wir hörten einen lauten Schrei und sahen, wie das Untier die schöne Kriemhild, die von ihm im Garten ergriffen wurde, mit sich durch die Luft führte, himmelwärts, weiter und weiter, bis er uns aus den Augen entschwand.“ - „Und ihr seid nicht nachgejagt?!“, rief der Nibelungenheld und brüllte: „Feige Memmen! Buben! Fort in die Kinderstube unter die Rute des Zuchtmeisters!“ - „Du bist wohl verrückt, junger Geselle!“, sagte Hagen unbewegt: „Bist du ein Vogel Greif oder eine Fledermaus, daß du durch Wind und Wolken nachjagen kannst?“ Darauf sprach Siegried: „Ich suche ihn auf, den Unhold, durch die ganze Welt und in der Hölle, wenn er dort sein Nest hat. Ich finde auf meiner Fahrt die Jungfrau oder den Tod.“ Damit eilte er fort, bestieg seinen Hengst und ritt auf unbekannten Wegen, denn er wußte nicht, wohin.
Klar, Hagen weiß, was geschehen ist, denn es war der schwer besiegbare Ego-Drache, der die Jungfrau erfaßt und entführt hatte, also im Prinzip sein eigenes Wesen. Gegen ihn haben weder Hagen noch die anderen Recken in der Körperburg wirksame Waffen, denn nur ein ganzheitliches Bewußtsein wie die Vernunft kann das trennende Bewußtsein besiegen. Doch wo kam er so plötzlich her, und warum hat er Kriemhild in ihrem schönen Garten ergriffen? Nun, lange Zeit glaubte die Jungfrau, daß sie als reine Seele vollkommen ist und keinen Mann bzw. Geist braucht, der sie liebt. Doch nachdem sie nun Siegfried kennengelernt und sogar persönlich berührt hatte, erwachte der natürliche Trieb der Liebe in ihr, und plötzlich fehlte ihr etwas. Und dieses Bewußtsein der Trennung, denn das ist das Gefühl, das etwas fehlt, können wir nun symbolisch in einem Ego-Drachen sehen, der die Jungfrau in Besitz genommen und entführt hat, wie es auch vielen Jugendlichen in ihrer Pubertät geht. Das ist natürlich wieder eine Herausforderung für Siegfried, denn dieses trennende Bewußtsein muß besiegt werden, damit sich beide wahrhaft verheiraten und vereinen können. Dazu begibt er sich wieder in den tiefen Wald der Vorstellungen, in die Nebel- und Zwischenwelt der Zwerge und Riesen, der Naturgeister im Kleinen und Großen:
Ein Fährmann setzte den unverzagten Mann über den Rhein. Derselbe war trüben Mutes, denn auch ihn jammerte das Schicksal der Jungfrau, die der Drache fortgetragen und, wie er sagte, über den Strom weit in den wilden Odenwald auf den Drachenstein geschleppt habe. Er wußte auf die Fragen des Recken keinen weiteren Bescheid, doch hatte dieser wenigstens Kunde von der Gegend, wohin er sich wenden müsse. Er durchstreifte also das unwirtliche Gebirge, suchte und fand Herberge und Bewirtung bei gastfreien Leuten, aber keine Kunde von dem Drachenstein. Er geriet endlich in einen finstern Tannenwald, wo weder Weg noch Steg noch ein wirtliches Haus zu finden war. Wegen der sperrigen Äste mußte er sein Roß am Zügel führen. Als die Nacht hereinbrach, warf er sich erschöpft unter einen Baum und ließ das Pferd grasen. Um Mitternacht hörte er Hufschlag und sah einen lichten Schein, der sich näherte. Er erkannte bald ein Zwerglein, das auf einem munteren Roß durch den Tann ritt. Es trug auf seinem Haupt eine goldene Krone, deren Spitze ein leuchtender Karfunkel bildete. Der Held rief den Zwerg an, um sich nach dem Weg zu erkundigen. „Gut, daß wir uns getroffen haben“, sagte das Männlein, „ich bin der Zwergenkönig Eugel und wohne mit meinen Brüdern und Tausenden von dienstbaren Zwergen hier in den hohlen Bergen. Du aber bist Siegfried von Niederland, den ich oft gesehen habe, wenn ich mit der Tarnkappe ungesehen unter den Menschen wandelte. Nun will ich dir den Weg aus dem wilden Tann zeigen, denn du würdest ihn nimmer finden, sondern ein Grab dort am Drachenstein, wo der ungefüge Riese Kuperan und der greuliche Drache hausen.“
Wie Rhein und Donau früher Grenzflüsse des römischen Reiches waren, so können wir hier symbolisch auch den Fluß unseres Lebens sehen, der zwischen einer mehr äußerlich-körperlichen Welt und einer mehr innerlich-geistigen Welt fließt. Siegfried überquert diesen Fluß und kommt in die Nebel-Welt der Zwerge und Riesen, der Naturgeister im Mikro- und Makrokosmos. Der Name Odenwald kann von „Ode“ für Sage oder auch von „Odem“ für Lebensatem abgeleitet werden, also der Wald der Nibelungensage, worin auch der Lebensquell zu finden ist, wo Siegfried später hinterlistig getötet wird. Der Fährmann erinnert an unsere wachsamen Sinne, welche die Grenze zwischen der inneren und äußeren Menschenwelt bilden. Doch mehr als die Sinne wissen die Zwerge als innerliche Naturgeister, denen Siegfried nur teilweise vertraut:
Als Siegfried dies hörte, jauchzte er laut auf, daß es durch den Wald schallte. „Du sollst ein reichliches Botenbrot, den ganzen Nibelungenhort empfangen, edler Zwergenkönig“, rief er, „wenn du mich nach dem Drachenstein geleitest.“ - „Das wird nimmer geschehen, guter Held“, antwortete Eugel, „es wäre dir zum Leid, denn du würdest alsbald von der Eisenstange des Riesen gefällt oder von dem Untier verschlungen werden.“ - „Hei, Lügenzwerg“, rief der Held, „weist du mich nicht nach dem Stein, dann stirbst du von meiner Hand.“ Schon hatte er das Wichtlein mit starker Hand erfaßt und schüttelte es, daß ihm die Krone vom Haupt fiel. Eugel versprach voll Schrecken, dem gewaltigen Mann zu gehorchen. Er setzte die Krone wieder auf sein Haupt und ritt voran durch den finsteren Tannenwald. Schon brach der Morgen an, als sie, wie der Zwerg sagte, am Ziel waren. „Dort klopfe an das feste Felsentor“, sagte der winzige König, „denn da haust Kuperan. Bist du ein so starker Held, daß du den ungefügen Riesen bezwingst, dann werde ich mit allen meinen Genossen dir zu Diensten sein. Denn der Grimmige beherrscht uns und hat uns zu harter Arbeit gezwungen.“ Nachdem er dies gesprochen hatte, hüllte er sich in seine Tarnkappe und war verschwunden.
Siegfried pochte an die ragende Pforte erst mäßig, dann immer stärker, daß der Berg widerhallte, indem er rief: „Mach auf, edler Kuperan, und gib mir die Schlüssel zum Drachenstein!“ Die Tür sprang plötzlich auf, und der Riese hätte fast den Helden niedergerannt, wie er grimmigen Mutes herausstürzte. Er trug eine Stange, die schier die Baumwipfel überragte und bei jedem Schlag wie eine Turmglocke erklang. „Ho, Knirps, was weckst du mich aus dem Morgenschlaf!“ Mit diesen Worten führte er einen Streich nach dem Recken, der ihn wohl zerschmettert hätte. Doch der fähige Held sprang zur Seite, und die Stange, deren Ecken scharf wie ein Schermesser schnitten, spalteten einen Baum von oben bis auf die Wurzel. Der Riese arbeitete fort, daß Bäume und Felsen niederkollerten, aber den gewandten Gegner traf er nicht. Da holte er mit beiden Händen zu einem Streich aus, und seine schreckliche Waffe fuhr drei Klafter tief in den Boden. Wie er sich bückte, um sie herauszuziehen, war ihm der Held mit einem Sprung nahe genug, um ihn mit seiner Klinge zu erreichen. Aus drei Wunden blutend und laut brüllend stürzte der Hüne in seine Behausung und schlug die Tür hinter sich zu. Wohl rüttelte und donnerte der kühne Mann an der Eisenpforte, aber sie war festverschlossen, wie durch Zauberhand. Jetzt versuchte er mit dem guten Schwert die Öffnung zu erzwingen und bald gab es Lücken und Spalte. Er lugte in den inneren Raum und sah, wie der Riese sich verband und wappnete, wie sein Helm und sein Brustpanzer leuchteten gleich der Sonne, wenn sie sich im Meer spiegelt. Nun trat der ungefüge Mann heraus und begann den Kampf von Neuem und mit größerer Vorsicht, aber nicht glücklicher, denn er hatte es mit dem gewandtesten Fechter zu tun. „Hei, du kleiner Mann“, rief er, seine Streiche verdoppelnd, „du mußt hier dein Leben lassen!“ Indessen brachte ihm Siegfried noch mehrere Wunden bei und fällte ihn endlich zu Boden. Da bat er um sein Leben und versicherte, er werde ihm nun ein treuer Geselle und Helfer gegen den Drachen sein, den er ohne seine Hilfe nicht bestehen könne. Auf diese Versicherung reichte ihm der unverzagte Held die Hand der Versöhnung, verband seine Wunden und gelobte, auch ihm ein treuer Geselle zu sein. Als er aber voran in die Klause trat, versetzte ihm der falsche Riese hinterrücks einen Schlag auf den Helm, daß er besinnungslos zu Boden fiel. Da war nun ungesehen Zwerg Eugel in der Nähe und verbarg ihn mit seiner Tarnkappe. Während der Ungefüge vermeinte, er sei durch Zauberei entwischt, und außerhalb nach ihm tastete, gewann Siegfried seine Kraft wieder, sprang auf, riß die Tarnkappe weg und streckte den heranstürmenden Riesen mit dem ersten Streich nieder. Nochmals verzieh er dem Verräter, zwang ihn aber, voranzuschreiten.
Am Eingang des Drachensteins versuchte der ungetreue Kuperan wiederum den kühnen Mann zu ermorden, und nun hätte ihn der Recke nicht mehr verschont, wäre er nicht seiner Hilfe bedürftig gewesen, um zu der Jungfrau zu gelangen. Der Riese holte sofort den in einer Felsenspalte verborgenen Schlüssel hervor, schloß auf und führte den Helden durch mehrere Gänge in ein hohes, kuppelförmiges Gewölbe, in welchem eine liebliche Dämmerung herrschte. Siegfried blickte umher, und da saß bleich und im bitteren Harm sie, die er suchte, für die er in Kampf und Tod zu gehen bereit war, die königliche Jungfrau Kriemhild, schön, wie in der Freude, so jetzt im Schmerz. Er rief ihren Namen, eilte auf sie zu und wagte es, sie in die Arme zu schließen. Er fühlte, daß sie seinen Kuß erwiderte, und dieses Gefühl gab ihm Mut und Kraft, mit der Hölle selbst in Kampf zu treten. Aber Kriemhild weinte immerfort und beschwur ihn, schleunigst zu fliehen, weil der teuflische Drache um diese Zeit zu kommen pflege. Siegfried dagegen begehrte nichts mehr, als das Ungeheuer in Stücke zu hauen, damit die wonnigliche Maid nicht wieder geraubt werde. Da sagte der Riese, oben auf dem Drachenstein sei ein Schwert verborgen, dessen Klinge auch durch die Hornschuppen des Drachen schneide. So stieg dann der unverzagte Held mit der Jungfrau dem Riesen nach auf die Höhe. Daselbst erblickte Siegfried am Rande der schroffen Felsenwand den Griff eines Schwertes. Wie er sich aber danach bückte, faßte ihn der Unhold, um ihn hinabzustoßen. Ein entsetzliches Ringen begann, allein die Wunden des Riesen brachen auf, sein Blut strömte, seine Kraft schwand, und der Recke stürzte ihn kopfüber in die Tiefe.
Nun hatte mitgenommen Siegfried des Drachen Schwert,
Das ihm Kuperan gewiesen und seinen Tod begehrt:
Hoch auf dem Drachensteine der Held sich bücken sollt
Zum Schwert, weil er vom Steine ihn niederstoßen wollt.
(Der hörnerne Siegfried, Heldenbuch, Band 3, Simrock, 1883)
In diesem Riesen können wir die gewaltige Macht von Lüge, Täuschung oder auch Illusion im Makrokosmos der Natur sehen, so daß uns dort Dinge erscheinen, die in ihrem Wesen etwas ganz anderes sind. Die Zwerge könnten dann die vielen Kräfte bedeuten, die überall im Mikrokosmos der Natur mehr oder weniger sichtbar wirken und die Vielfalt der Formen und Gestaltungen erschaffen. Ja, das war früher eine mystische und unbegreifbare Welt, in die unsere moderne Naturwissenschaft zwar tief eingedrungen ist, aber am Grunde wie z.B. in der Quantenphysik eine ähnlich mystische und unbegreifbare Welt fand, die viele Wissenschaftler nur theoretisch mit mathematischen Formeln begreifen können. Ähnlich geht es ihnen im Großen, wenn es um die Weiten des Universums geht, um schwarze Löcher, dunkle Energie und dunkle Materie sowie Zeit und Raum. Dieser tückische Riese ist schwer zu besiegen, und doch führt er uns zum Schlüssel, um die reine Seele zu finden.
Dafür bekommt Siegfried von ihm auf dem Gipfel des Drachensteins noch eine „drittes Update“ auf sein Schwert der Weisheit, das nun auch Zauberrüstungen durchdringen kann, wie die mächtigen Schuppen des Ego-Drachens, die natürlich aus Illusion gemacht wurden.
Da wurde ein lautes und frohlockendes Lachen gehört, und der Sieger sah den getreuen König Eugel, der ihm seinen Dank bezeugte, weil er die Zwerge von einem grausamen Überherrn erlöst habe. Sofort erschienen auf seinen Wink viele Wichtlein mit Speise und Wein, damit sich der kühne Held für den schweren Kampf stärke. Er war auch der Labung wohl bedürftig, da er deren seit zwei Tagen entbehrt hatte, und die Speise, welche die Jungfrau ihm vorlegte, und der volle Becher, den sie ihm reichte, mundeten ihm besser, als alle Gerichte auf königlichen Tafeln.
Ein Sausen und Brausen in der Luft, wie Gewittersturm, dazwischen ein entsetzliches Geheul, schreckten wie die Zwerge auch den Helden und die Jungfrau aus ihrer Sicherheit. Jene entflohen in den hohlen Berg, und auch Kriemhild bat und flehte, ihr Held möge sich noch zu retten suchen. Aber dieser war der Furcht unzugänglich. Jetzt sah man den Unhold heranziehen wie eine Wetterwolke, aus der Blitze hervorbrechen. Es war sein Feueratem, der ihm gleich lodernden Flammen voranging. Das Entsetzen kam näher, dunkel, grauenhaft, und der ganze Berg zitterte, daß die Zwerglein den Einsturz fürchteten. Kriemhild wich auf Siegfrieds Bitten in das Gewölbe zurück, aber auch er konnte vor Hitze nicht bleiben, als das Ungeheuer daher fuhr. Durch eine Felsenritze lugend sah er, wie die Glut allmählich nachließ, und nun stieg er kühnen Mutes wieder auf die Höhe. Der Drache fuhr auf ihn zu, riß ihm mit den Tatzen den Schild herab, suchte ihn mit den starrenden Zähnen zu fassen, und als der wunderkühne Mann dem gähnenden Rachen auswich, loderte sein Feueratem abermals, daß der Recke sich wieder flüchten mußte. Sobald die Hitze sich abgekühlt hatte, war der Kämpfer von neuem auf der Höhe, griff, den Rachen vermeidend, bald zur Rechten, bald zur Linken das Ungeheuer an, aber Balmung drang noch nicht ein, und der Held wurde wiederholt von dem Schweif des Drachen umschlungen. Er machte sich durch unglaubliche Sprünge wieder frei und versuchte, das Tier in den weichen Bauch zu treffen. Da umschlang ihn der Drache so fest mit dem geringelten Schweif, daß er nicht wieder loskommen konnte. In der Not faßte er Balmung mit beiden Händen und führte einen so furchtbaren Streich, daß die Felsen bebten. Aber der Knoten war gelöst, die zerhauenen Ringe krümmten und wanden sich und kullerten die Steinwand hinunter in die Tiefe, wo sie zerschellten. Ein zweiter Streich hieb den Rumpf des Ungeheuers in zwei Stücke. Wohl schnappte noch der Rachen nach dem Kämpfer, doch dieser stieß die Stücke in den Abgrund, fiel aber selbst erschöpft und vom giftigen Qualm fast erstickt, wie tot auf den blutigen Boden. Als er sich wieder erholte, fühlte er sich von Kriemhilds Armen umfangen und umgeben von den hilfreichen Zwergen, die mit Rauchwerk und duftigen Kräutern die schädlichen Dünste vertrieben.
Die winzigen Männlein geleiteten den Helden und die erlöste Jungfrau in ihr unterirdisches Reich, wo ein leckerer Schmaus hergerichtet war. Da erzählte Eugel, das Ungeheuer sei früher ein Mensch gewesen, schön von Gestalt und Angesicht. Eine mächtige Zauberin, der er den Liebesbund gebrochen hatte, habe ihn verflucht, forthin als Lindwurm zu leben, bis ihn die Liebe einer reinen Jungfrau erlöst.
Ja, so ein Ego-Drachen ist erfahrungsgemäß schwer zu besiegen und auch symbolisch schwer darzustellen. Denn sobald man gegen ihn kämpft, wird er eigentlich nur stärker, weil er als trennendes Bewußtsein seine Kraft aus dem Kampf der Gegensätze saugt. Zuerst begegnet uns das Feuer der Leidenschaft, vor dem man sich hüten sollte, denn schon das kann einen Kämpfer tödlich verbrennen, was wir heute z.B. „Burnout“ nennen. Und dann heißt es oft, wenn man ihm einen Kopf abschlägt, wachsen sogleich zwei neue nach. Andere sagen, man müsse sein Herz mit dem Schwert der Weisheit treffen, um die Ursache zu besiegen, und die ist natürlich das trennende Bewußtsein von Mein und Dein, Dies und Das und aller anderen Gegensätze, die wir wahrnehmen. In diesem Sinne kann er eigentlich nur von der reinen Liebe einer ganzheitlichen Vernunft besiegt werden, wenn sich in dieser wahren Liebe auch der reine Geist mit der reinen Seele der Natur wieder vereint und jede Trennung verschwindet. Damit wird eigentlich automatisch auch der Ego-Drache besiegt.
In der obigen Symbolik wird deutlich, wie der reine Geist durch den Schwanz des Drachens bzw. der Lindwurm-Schlange mit vielen Ringen gebunden wird und damit auch in das begriffliche und trennende Bewußtsein fällt. Dafür muß Siegfried neben dem vollkommenen Schwert der Weisheit auch seine ganze bzw. ganzheitliche Kraft einsetzen, um die Ringe der Bindung zu zerschlagen, wie auch den „Rumpf des Ungeheuers“. Die Teile wirft er dann in den „Abgrund“, zurück in den „Urgrund“ oder das Meer der Ursachen, wo alles wieder eins und vollkommen ist.
Diese Illustration zeigt den Kampf gegen den Feuer-Rachen des fliegenden Drachens. Unten rechts die Zwerge bzw. Naturgeister, die an der Wurzel leben und unter den Riesen-Drachen leiden.
Die von ihren Bedrängern befreiten Zwerge stellten alle ihre Schätze dem kühnen Helden zu Gebote. Dieser nahm eine Ladung davon auf sein Roß, ließ auch die geliebte Jungfrau dasselbe besteigen und schritt, von Eugel geleitet, rüstig nebenher. Als sie an das Ende des finsteren Waldes kamen, blickte ihn der Zwerg traurig an. „Wisse, kühner Held“, sagte er, „dein Leben wird kurz, aber ruhmvoll sein, denn du wirst meuchlings fallen durch den Neid deiner Verwandten. Dein Nachruhm aber wird dauern und dein Name gepriesen werden von den Sängern der Völker, so lange Menschenkinder die Erde bewohnen.“ Damit nahm Eugel Abschied und kehrte in den Tannenwald zurück.
Der Name Eugel läßt sich von Äugel bzw. Auge ableiten, was an die Hellsicht des Zwerges erinnert, so daß er Siegfried die Zukunft voraussagen kann, denn auch Naturgeister sind in ihrer Essenz reines Bewußtsein.
Als Siegfried mit der Jungfrau an den Rhein kam, nahm er den Schatz vom Roß und versenkte ihn in das tiefe Wasser. „Was soll mir das Gold“, sprach er, „da mein Leben kurz, aber rühmlich sein wird! Birg es in deinem Schoß, mächtiger Strom, und rolle deine Wellen darüber, daß sie heller glänzen! In den Händen der Menschenkinder ist es der Hölle Sold, der ihre Knechte wirbt. Damit mischt es in den labenden Becher tödliches Gift, und damit schärft es den Dolch des Meuchlers, daß er trifft - vielleicht bald mich selbst. Aber noch ist der helle Tag mein, noch will ich mich des Ruhmes freuen und der holdseligen Liebe, die mir im Herzen der schönsten Jungfrau blüht.“ Danach rief er den Fährmann, daß er ihn und seine Begleiterin übersetze.
Hier wird noch einmal das Wesen von „Siegfried“ deutlich, daß es ihm hier in dieser Welt nicht um persönliches Eigentum oder das Festhalten am körperlichen Leben in Zeit und Raum geht, sondern um das Einssein im ewigen Sieg-Frieden der Vollkommenheit und reinen Liebe. Und mit diesem Sieg über den Ego-Drachen ist nun die mystische Hochzeit zwischen Siegfried und Kriemhild als reiner Geist und reine Seele vollbracht, die in Wahrheit natürlich nie getrennt waren. Doch nun wird diese Einheit auch im körperlichen Menschen bewußt, und könnte dort im Verstand verwirklicht und verstanden werden:
Die Trauer in Worms um das Königskind und um den Helden, den man für verloren hielt, verwandelte sich in Jubel, als die Reisenden ankamen und von ihren unglaublichen Abenteuern berichteten. Frau Ute schloß den kühnen Mann und die erlöste Tochter in ihre mütterlichen Arme und nannte beide ihre Kinder. Denn sie zweifelte nicht, daß auch der König freudig in die Vereinigung des edlen Paares einwilligen werde. „Wohlan, vielgeliebter Geselle“, sprach Gunther, „wenn du auch mir Beistand leistest, ein hochgeborenes Weib zu gewinnen, dann gelobe ich dir, daß du gleichzeitig meine Schwester heimführen sollst. Ich gedenke um Brünhild, die stolze Königin von Isenland, zu werben, deren starke Hand schon manchen Freier in den Tod gesandt hat.“ - „Die kenne ich wohl“, antwortete der Recke, „und ich habe auch ihr verderbliches Spiel gesehen. Doch ich meine, daß wir wohl ihre Meister werden. Rüste alsbald zur Fahrt, damit wir noch in der Sommerzeit heimkehren!“
So können wir nun im Folgenden lesen, wie mit Hilfe der ganzheitlichen Vernunft auch der begriffliche Verstand die äußerliche Natur gewinnen und sich mit ihr vereinen kann. Dafür begibt man sich hinaus in die äußere Welt, in das „Eis- oder Eisenland“ der greifbaren Materie. Und dem Verstand folgen natürlich auch Hagen als Ego und Dankwart als Gedächtnis, die sich in einem Menschen vom Verstand nicht trennen lassen:
Froh des verheißenen Beistands bat Gunther die Frauen, schöne Gewänder, glänzend von Gold und Edelstein, herzurichten, denn er wollte vor der hochgemuten Jungfrau in königlichen Ehren erscheinen. Wohl bangten Mutter und Schwester um den werten Mann, aber Siegfried hieß sie guten Mutes sein. Er sprach, er werde ihm in guter Treue zur Seite stehen, mit ihm sterben oder genesen. Er meinte, die stolze Königin von Isenland sei doch nicht so grimmig wie das Ungetüm auf dem Drachenstein. Sie werde sie vielleicht mit schlimmen Worten, aber nicht mit lodernden Flammen begrüßen. Als der König tausend Recken zum Geleit aufbieten wollte, widerriet er solches, weil Brünhild leicht die zehnfache Anzahl kühner Recken entgegenstellen könne. Er meinte, Gunther, der grimmige Hagen, Dankwart und er selbst sollten wohl für die Spiele wie für ernstere Kämpfe genügen.
Reich beflaggt und mit Purpursegeln trieb das Fahrzeug, an dessen Bord die kühnen Kämpfer waren, den Rhein hinunter und weiter auf hoher See nach Isenland. Wenn der Wind nachließ, dann griff Siegfried in die Ruder, und es flog noch schneller als zuvor durch die aufschäumenden Wellen.
Nun endlich tauchten die Zinnen von Isenstein aus dem Meer auf, und bald lag die hochragende Burg vor den Recken. Sie stiegen ans Land, ihre Rüstungen und reichen Gewänder glänzten im Sonnenschein und verrieten, daß sie königlicher Ehren würdig seien. Aus den Fenstern der Burg und vom Söller herab schauten Frauen und schöne Jungfrauen. An der hohen Gestalt und dem reichen Schmuck erkannte Gunther die Königin, die er suchte. Doch Brünhild heftete ihre Blicke nur auf den Nibelungenhelden, der ihr schon bekannt war, von dessen wunderbaren Kämpfen und Abenteuern die fahrenden Spielleute auch in Isenland gesungen hatten. Kommt er als kühner Freier? Wird er in den Spielen siegreich sein? So fragte ihr pochendes Herz. „Ihm allein nur kann ich den hohen Preis gönnen“, sprach sie halblaut, „denn er ist der kühnste Held, der unter den Erdenvölkern gefunden wird.“
Hier wird bereits deutlich, daß sich die äußerliche Natur lieber von der Vernunft gewinnen lassen würde, als vom begrifflichen Verstand. Doch die Vernunft vereint sich lieber mit der innerlichen Natur, weil darin die Wahrheit liegt und die äußerliche Natur aus der innerlichen entsteht. Und sie entsteht im Prinzip auch nur, wenn der begriffliche Verstand nach ihr greift und sie damit zu äußerlichen Objekten macht, die getrennt für sich zu existieren scheinen und damit überhaupt greifbar werden. So können wir auch im Nibelungenlied ausführlich lesen, daß gerade Kriemhild für die besonders schönen und angemessenen Kleider für die Reise in die äußere Welt sorgte. Ja, das ist ein Spiel, über das die Menschen offenbar schon lange nachdenken…
Die Recken waren unterdessen in den Burghof geritten. Dienstleute eilten herzu, ihnen Rüstungen und Rosse abzunehmen. Hagen weigerte sich zwar, aber als Siegfried sagte, daß solches Gesetz und Sitte zu Isenstein sei, überließ er, wenn auch unwillig, den harrenden Knechten sein Rüstzeug. Die unverzagten Helden traten in den Saal, wo sie Brünhild in königlichem Schmuck erwartete. Sie grüßte die Gäste nach Sitte, vornehmlich den Nibelungenhelden. Sie sagte ihm, daß sie sich freue, ihn wiederzusehen, da man ihr viel von seinen wundersamen Taten erzählt habe, und daß es ihr auch bedünke, er sei nach Isenland zurückgekehrt, um der Kampfspiele willen. Der Held versicherte dagegen, er sei nur hier als Begleiter von König Gunther, seines Herrn, der des Spiels begehre und des hohen Preises wohl würdig sei. „Das ist mir eine seltsame Geschichte“, sagte die Königin, „ich wähnte, du seist dein eigener Mann und nicht eines anderen (Diener).“
Dieser Zweifel von Brünhild, daß sie es nicht verstehen kann, warum die Vernunft dem Ego-Verstand dient, wird sich noch durch die ganze Geschichte ziehen, noch große Sorgen bereiten, und scheint sich erst am Ende zu lösen. Und wenn wir ehrlich sind, wird sich das auch unser Verstand fragen und keine befriedigende Antwort finden. Daran erkennt man bereits deutlich, wie sehr der Verstand die äußerliche Natur liebt und mit ihr verbunden ist. Und dafür ist er auch da…
Darauf wendete sie sich an Gunther mit den Worten: „Auch deiner, König der Burgunden, bin ich nicht unkundig, denn manche Gäste aus fremden Landen haben mir von dir kühne Taten berichtet. Wer aber sind die anderen Recken, der hier grämlich und grimmig von Angesicht, und der junge Held hochgemut, als gehöre ihm ein Königreich?“ - „Deines Grußes bin ich froh, vieledle Königin“, sagte Gunther, „und bin dir dafür zu Diensten bereit. Der ältere Recke ist der starke Hagen von Tronje, mein Oheim, und der junge sein Bruder Dankwart, ein nicht minder guter Kämpfer.“ - „So wollt ihr“, sprach Brünhild lachend, „zu Dritt durch Kampfspiel um die eine Jungfrau werben? Das ist nicht Brauch in diesen Landen.“ - „Ich Einer nur bin Kämpfer“, versetzte der König, „nur ich werbe um den köstlichen Preis.“ - „Wohlan“, sagte die Frau, „der Platz ist offen, bereite dich zum Spiel.“
Man führte die Recken in den Burghof, wo ein weiter Raum durch Schranken abgetrennt war. Ihn umstanden die Dienstmannen der Königin, alle wohlgewappnet. Einer derselben verkündigte mit lauter Stimme: „Wenn ein edelgeborener Kämpfer mit der Königin das dreifache Spiel zu spielen wagt und den Sieg gewinnt, dann wird sie samt dem Reich von Isenland ihm zu eigen. Wenn er aber in einem Kampf sieglos bleibt, dann ist er ihr mit Haupt und Gut verfallen.“ Vier Knechte schleppten jetzt mit Mühe den Stein in die Schranken, den die Kämpfer stoßen sollten. Er war groß und schwer wie ein Mühlstein. Drei andere Männer trugen den gewaltigen Speer, den die Jungfrau zu schleudern pflegte. „Wenn das höllische Weib mit solchem Spielzeug spielt“, sagte Hagen, „so ist sie des Teufels Braut und wird nimmer ein Menschenkind lieben.“
Als der starke Hagen · den Schild hertragen sah,
In grimmigem Mute · sprach der Tronjer da:
„Wie nun, König Gunther? · An Leben geht's und Leib:
Die ihr begehrt zu minnen · die ist ein teuflisches Weib.“
(Nibelungenlied, Das Heldenbuch, Band 2, Simrock, 1864)
Interessanterweise bezeichnet gerade Hagen das starke Weib als ein teuflisches Wesen, welches er als Ego eigentlich selbst verkörpert. Wie man im Christentum auch gern den Teufel außerhalb des Menschen in einer übermächtigen Natur sah, die der Verstand weder beherrschen noch ertragen kann. So war es wohl auch kein Zufall, daß es vor allem unter dem christlichen Einfluß zur „wissenschaftlich-technischen Revolution“ kam, um die Natur mit Chemie- und Maschinengewalt zu bezwingen.
„Hätten wir nur unsere Waffen“, rief Dankwart, „dann würden weder der König noch wir unser Leben hier lassen.” - „Wir werden alle wohl genesen“, sagte Siegfried, „seit nur guten Mutes, König Gunther! Ich hole vom Schiff die Tarnkappe und stehe dir in Treue als dein Geselle zur Seite, ohne daß man es wahrnimmt.“ Er eilte fort, während alles Volk nach der Königin blickte, die umgeben von schönen Frauen und Hofmännern in glänzender Rüstung daherschritt. Ihr Helm leuchtete von edlem Gestein, so auch ihr Brustpanzer (die Brünne) und der schwere Eisenschild, den sie freudig wie zum gewissen Sieg am Arm trug. „Ist es auch recht, Frau Königin“, fragte Hagen, „daß deine Mannen in Waffen stehen und wir ohne?“ - „Man bringe den Recken ihr Rüstzeug!“, befahl Brünhild: „Aber sie müssen doch ihr Leben hier verlieren. Seht dort den Mann, der eure Häupter fällen wird, wenn ich wie immer im Wettkampf siegreich sein werde.“ Die Helden blickten nach der Richtung, wohin sie deutete, und gewahrten einen Mann in blutrotem Gewand, der ein blinkendes, scharf geschliffenes Beil in der Hand trug. Sie schauderten. Als man aber ihr Rüstzeug brachte und sie gewappnet standen, waren sie getröstet, und der unverzagte Dankwart rief dem Mann im roten Gewand zu, er solle sein Beil wohl schärfen, daß es durch Stahlringe schneide, sonst werde er ihm sein eigenes Haupt mit dem Schwert abhauen. Auch der König forderte jetzt laut und fest zum Beginn des Spieles auf, denn er merkte, daß sein Geselle Siegfried unsichtbar neben ihm stand.
So sieht man auch heute noch den gefürchteten Tod, wie er über den Menschen von der äußerlichen Natur verhängt wird, wenn er diese nicht besiegen und sich gegen sie wehren kann. Doch auch diese Geschichte wird am Ende noch zeigen, was den Tod eigentlich verursacht und daß er mehr aus der innerlichen Natur kommt, so daß ihn auch die härteste Rüstung und schärfste Waffe mit dem stärksten Arm nicht verhindern kann. Wie auch Brünhild im Nibelungenlied sagt:
„Es kümmert mich so wenig, · ob sie gewaffnet sind,
Als ob sie bloß da stünden“, · so sprach das Königskind.
„Ich fürchte Niemands Stärke, · den ich noch je gekannt:
Ich mag auch wohl genesen · im Streit vor des Königs Hand.“
Trompetenschmettern und Paukenwirbel gaben das Zeichen zum Beginn des Spieles auf Leben und Sterben. Brünhild trat an den Stein, ergriff und hob ihn mit beiden Händen und stieß ihn kräftig, daß er sechs Klafter (über 10m) weit flog. Darauf schwang sie sich ihm nach, leicht, wie ein Vogel fliegt, mit einem Sprung, daß die Spitze ihres Fußes den Stein berührte. Lauter Beifallruf der Menge begrüßte die königliche Kämpferin. Dann folgte lautlose Stille, denn Gunther trat vor. Von Siegfrieds Kraft gestützt erhob er den Stein, wiegte ihn mit einer Hand hin und her und stieß ihn mächtig noch eine Klafter über den Wurf der Königin. Freilich führte seine Hand ein viel kräftigerer Mann, und der trug ihn auch im Sprung, gleich wie der starke Aar (Adler) seine Beute, bis über den gestoßenen Stein, wo er nun als Sieger vor der staunenden Menge stand. „Heil dem König Gunther!“, rief Dankwart, der junge Held, aber niemand stimmte in den frohlockenden Ruf ein, denn Brünhild erhob sich zornfunkelnden Blickes und faßte den gewaltigen Speer mit der scharfen Stahlspitze. „Nun bewahre deinen Leib, stolzer König!“, rief sie und schwang den Speer so mächtig, daß er krachend den Schildrand durchbrach und auch den Mann trotz der Rüstung gefällt hätte, wäre nicht der wunderkühne Held sein Helfer gewesen. Der aber wandte den Rand seitwärts, daß die tödliche Spitze unschädlich vorüberglitt, riß dann den Schaft aus dem zerborstenen Schild, kehrte ihn um, daß das stumpfe Ende der Kämpferin zugewendet war, und schleuderte ihn, Gunthers Hand führend, mit Macht auf die streitbare Jungfrau. Die Königin taumelte rückwärts und tat einen harten Fall, so daß die Ringe der Rüstung hell klirrten.
Das Spiel war zu Ende, und der Sieg gewonnen. Brünhild erhob sich, sie stand in ruhiger Haltung vor dem Volk, aber wer in ihre verschlossene Brust hätte blicken können, der würde gesehen haben, wie sich Scham, Zorn und wilde Begierde nach Rache gleich giftigen Nattern darin aufbäumten, um zerstörend hervorzubrechen. Sie berief ihre Dienstmannen und forderte sie auf, dem König Gunther, der nun auch ihr König sei, ihren Dienst zu beweisen. Sie entsendete Eilboten durch ganz Isenland zu den Vögten und Burgmannen, daß sie binnen drei Tagen nach Isenstein fahren und ihrem neuen Oberherrn den Eid leisten sollten. Sie bat die Recken, bis zu dieser Frist als Gäste auf der Burg Herberge zu nehmen. Weiter fragte sie nach dem Nibelungenhelden, und als dieser jetzt herzutrat, antwortete Hagen, er habe nach dem Boot und den Bootsleuten gesehen. Darauf meinte sie, er sei ein ungetreuer Dienstmann, weil er es gering geachtet habe, bei dem Kampf seines Herrn gegenwärtig zu sein. „Ich hätte nicht geglaubt“, fügte sie hinzu, „daß in allen Landen noch so ein kühner Mann wäre, wie der Held von Niederland, wenn nicht ein heimliches Zauberwerk bei dem Spiel geschehen ist. Dessen werde ich in kurzer Frist wohl kundig werden.“
So vermehren sich nun ihre Zweifel an den äußeren Geschehnissen. Und doch war es kein heimliches Zauberwerk, sondern die wahre Kraft des reinen Geistes, die ungesehen hinter allem in der Natur wirkt. Aber auch der Ego-Verstand hat seine Zweifel und fühlt sich alles andere als sicher:
Ein Gastmahl war im Saal bereitet. Da saßen die Gäste, tranken edlen Wein mit den heldenhaften Burgmännern, und schöne Frauen füllten und reichten die Becher. Doch die Königin war nicht beim Mahl der Helden. Gunther schien bald heiteren, bald trüben Mutes, denn er schämte sich des Sieges durch fremde Hand und freute sich auch wieder der erworbenen Jungfrau. Hagen leerte manchen Becher, aber redete wenig und blickte oft recht grimmig drein, wenn die schmausenden und trinkenden Recken lachten und Kurzweil trieben. In später Nacht wurden die Helden vom Rhein in ihr gemeinsames Gemach geleitet. Als sie unbesorgt ihr Lager bestiegen, mahnte Hagen, der Waffen wahrzunehmen, weil es ihn bedünke, die Königin habe einen üblen Rat im Sinne. Sie habe die Vögte mit ihren Mannen entboten, um sie, die Recken vom Rhein, zu fangen und dem roten Mann mit dem Beil zu übergeben. Es war übelgetan, daß sie nicht tausend gerüstete Burgunden zur Fahrt aufgeboten hätten. Diese Rede machte den Recken Sorgen. Da rief der kühne Siegfried, er wolle gar bald ein Heer tüchtiger Nibelungen herbeiführen, und ging noch in der Nacht zu dem Schiff am Meeresstrand. Die Taue wurden gelöst, das Fahrzeug flog, von günstigem Wind und dem kräftigen Ruderschlage Siegfrieds gefördert, über die tanzenden Wellen dem Nibelungenland zu. Schon in der folgenden Nacht erreichte man daselbst eine Bucht, und der Held eilte sogleich nach der Burg. Er fand sie wohl bewahrt, denn der Pförtner, ein ungefüger Riese, griff ihn mit seiner Stange an, als er Einlaß begehrte. Seine gewaltigen Schläge weckten den Zwerg Alberich, des Hortes Hüter, der sofort gleichfalls den Recken anging. Siegfried bezwang beide, ohne ihnen ein Leid zuzufügen. Nun erst gab er sich zu erkennen, freute sich ihrer Treue und hieß sie tausend wohlgerüstete Burgmannen aussenden, die mit ihm nach Isenland fahren sollten. Die dienstbaren Männer taten nach seinem Gebot. In kurzer Frist war die stattliche Mannschaft auf den schleunigst hergerichteten Schiffen und schwamm über die wogende See.
Diese Geschichte trägt zur äußeren Handlung wenig bei, ist aber wohl eine wichtige Demonstration und Verdeutlichung des Wesens von Siegfried, das der gewöhnliche Verstand nicht begreifen kann. Im Nibelungenlied heißt es dazu:
Von dannen ging da Siegfried · zum Hafen an den Strand
In seiner Tarnkappe · wo er ein Schifflein fand.
Darin stand verborgen · König Siegmunds Kind:
Er führt' es bald von dannen · als ob es wehte der Wind.
Den Steuermann sah niemand · wie schnell das Schifflein floß
Von Siegfriedens Kräften · die waren also groß.
Da wähnten sie, es trieb' es · ein eigner starker Wind:
Nein, es führt' es Siegfried · der schönen Sieglinde Kind.
Es wird also deutlich, daß es die innerlichen bzw. geistigen Kräfte von Siegfried sind, die man in der äußerlichen Natur wiederfinden kann, und nach der Vereinigung mit der reinen Seele der Natur ist er auch der unsichtbare Steuermann von allem. So kommt er wieder in das Nebel-Reich der Naturgeister, wo er sich als König nicht mit seinem Namen oder seiner Gestalt zeigt, sondern durch seine siegreiche Kraft.
Am dritten Morgen standen Gunther und Hagen harmvoll auf der Warte, denn viele der von Brünhild berufenen Vögte waren mit ihren Burgmannen schon angekommen, und finstere Blicke und heimliches Flüstern ließen den König nichts Gutes ahnen. Zu seinem Trost sah er nun die Schiffe an den Strand schwimmen, die Recken in blanken Rüstungen aussteigen und in Scharen nach der Burg ziehen. Hagen erspähte den kühnen Siegfried an der Spitze der tüchtigen Männer und meinte, nun möge ganz Isenland in Waffen stehen, sie würden doch wohl genesen. Dagegen war jetzt die Königin in Sorge, ob nicht eine feindliche Macht ihr Reich zu bezwingen gedenke. Da tröstete sie Gunther, auf den Helden von Niederland zeigend, derselbe habe nur seine königlichen Gefolgsmänner über See hergeführt, damit er, der König, seiner Ehre warten könne.
Da sprach der König vom Rheine · „Es ist mein Heergeleit,
Das ich auf der Reise · verließ von hier nicht weit:
Ich habe sie besendet · nun sind sie, Frau, gekommen.“
Der herrlichen Gäste · ward mit Züchten wahrgenommen.
Hier liest man nun wieder, wie der Verstand als König Gunther diese Demonstration des Wesens von Siegfried nicht verstehen konnte, sondern die Helden aus dem Nebel-Land als seine eigenen Recken bezeichnet. Damit wird die tiefgründige Botschaft immer deutlicher: Es ist der Sieg-Frieden, der als reine Vernunft unsichtbar in der äußeren Welt wirkt, um das große Ziel zu erreichen, die wahre Liebe und Zufriedenheit.
Ob sich die edle Frau der Botschaft und der Gäste freute, das ist uns nicht bekannt. Indessen empfing sie das Volk willig, ließ Herberge beschaffen und bot dem kühnen Helden, der die Recken anführte, mit höflicher Sitte die Hand. Da wurde viel turniert, viel Kurzweil bei Sang und Klang getrieben und des Weines Fülle geschenkt.
In den folgenden Tagen wurde die Verwaltung des Landes geordnet. Brünhild verteilte (mit der Hilfe von Dankwart) viele Gaben, Gewänder, Rüstzeug, Rosse und Kleinodien unter die, welche daran Mangel hatten. Als sie endlich Abschied von Land und Leuten nahm und einen werten Mann, ihrer Mutter Bruder, zum Reichsverwalter bestellte, da war viel Weinens unter dem Volk, und sie selbst war nicht frohen Mutes, denn sie wähnte, sie werde niemals die liebe Heimat wiedersehen. Indessen drängte Gunther zur Abfahrt, denn er wollte zu Worms fröhliche Hochzeit feiern.
Wie begrüßten die Recken nach glücklicher Fahrt den schönen Rhein, seinen Wonnegau, die Höfe und stolzen Burgen, die Rebengelände und schattigen Haine! Es wollte sie bedünken, daß es kein besseres Land in der weiten Welt gebe, als das Rheinland. Sie ritten wegen der großen Menge der Reisenden langsam dem Strom entlang. Deswegen dünkte es dem König gut, einen Recken vorauszusenden, der den Frauen und Verwandten tröstliche Botschaft und den werten Gästen festlichen Empfang bereite. Er wandte sich deshalb an Hagen, aber der entschuldigte sich, weil er nicht zierlich, wie geziemend, mit edlen Frauen zu reden verstehe. Er wies ihn vielmehr an Siegfried, der solcher Dinge wohl kundig sei. Freudig übernahm der Nibelungenheld die Botschaft, denn ihm dünkte die Fahrt schon lange zu säumig, da er gerne Tag und Nacht geritten wäre, um die liebliche Jungfrau zu Worms wiederzusehen.
Hier liest man nun, wie sich der stolze Hagen verweigert, als Botschafter für König Gunther zu dienen, aber Siegfried diesen Dienst aus Liebe zu Kriemhild gern übernimmt. Das erfährt natürlich auch Brünhild, so daß sich ihr Zweifel über Siegfried und Gunther weiter vermehrt.
Er nahm daher Abschied und trabte fort, ohne auf dem Weg länger zu rasten, als es sein edles Roß bedurfte. Anfangs erregte seine Ankunft viel Kummer, da man sorgte, seine Gesellen seien alle in dem fernen Land erschlagen worden. Als er aber von dem glücklichen Erfolg der Fahrt berichtete, da war große Freude. Der junge Giselher, dem er zuerst begegnete, stürmte voraus zu den Frauen. „Mutter, liebe Schwester, gebt dem Boten reichlich Botenbrot, denn er bringt Kunde, daß die Recken alle heil und frohen Mutes sind, daß sie die stolze Brünhild mit sich führen, die künftig Königin in Burgund sein wird.“ Er hatte kaum diese Rede getan, so trat auch Siegfried ein. Glühend vor Freude und Liebe kam ihm Kriemhild entgegen. „Sei willkommen, Herr Siegfried!“, sagte sie: „Was soll ich dir als Botenbrot reichen, da du selbst gar reich bist?“ - „Ach, Schwester“, rief Giselher, „gib ihm einen Kuß, das wird ihm als ein reichliches Botenbrot dünken.“ Da erglühte die Jungfrau noch mehr, aber weigerte sich nicht, dem Bruder Folge zu leisten.
Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, rüstete man sich zum Empfang der hohen Gäste. Burgmänner und edle Recken wurden entboten. Die Frauen wählten ihre schönsten Gewänder und den reichsten Schmuck für den folgenden Tag, an welchem Gunther mit seiner königlichen Braut erwartet wurde. Wächter waren auf den Türmen bestellt, um kundzutun, wenn sie des stattlichen Zuges gewahr würden. Man harrte den ganzen Tag, und endlich, als sich schon die Abendsonne im Rhein spiegelte, tönten auf allen Türmen die Hörner der Wächter. Sofort setzten sich die edlen Recken samt ihren Dienstmannen in Bewegung, in ihrer Mitte auf stolzen, reichverzierten Rossen Frau Ute und ihre blühende Tochter nebst ihren Dienerinnen und den Helden Ortwin, Gere und anderen. Neben Kriemhild aber ritt der kühne Held von Niederland, wohl erkennbar an seiner strahlenden Rüstung und den leuchtenden Augen, die gleich Sternen unter dem Helm hervorblitzten. Viele Boote standen jenseits des Stromes in Bereitschaft, den König und das Heer überzusetzen. Als sie ans Land stiegen, da war des Grüßens und Küssens kein Ende. Frau Ute erkannte sogleich die Königin Brünhild an ihrer hohen Gestalt und ihrer kühnen Haltung. Sie umarmte dieselbe als werte Tochter, und auch Kriemhild küßte sie freundlich und versprach ihr, eine treue Schwester zu sein. Brünhild sah die bescheidene, liebliche Jungfrau mit Freuden an, erwiderte ihren Kuß und gelobte auch ihr Freundschaft und herzliche Liebe. So standen beide Frauen Arm in Arm beieinander, die eine groß, schön, geheimnisvoll wie eine Sternennacht, und die andere heiter, blühend, der Liebe bedürftig und Liebe gebend, wie ein schöner Maimorgen. Man wußte nicht, wem man den Vorzug geben sollte. Aber Siegfried wußte es wohl und blieb auf dem Rückweg stets an der Seite der auserwählten Jungfrau und tauschte mit ihr bald scherzende, bald auch ernste Reden.
Die Königshalle war festlich, wie ein Blumengarten, mit Lauben und duftigen Blumen geschmückt. Kränze und Girlanden umwanden die stützenden Säulen, zwischen denen die goldenen Köpfe und der Marmor der Säulenfüße hervorleuchteten. Schon waren die Gäste darin versammelt, und Dienstleute brachten die Speisen. Da trat König Gunther vor und sprach: „Vielgeliebter Geselle Siegfried, es ist an der Zeit, daß ich dir mein gegebenes Wort einlöse, nachdem du mir, was du gelobt, in guter Treue erfüllt hast. Tritt hierher zu mir, daß die werten Gäste vernehmen, was wir reden. Auch du, Schwester Kriemhild, verweigere nicht, vor mir zu stehen.“ Als die Beiden nach seinen Worten getan hatten, fuhr er fort: „Begehrst du, lieber Geselle, meine Schwester zur Ehegenossin und willst du sie in Zucht und Ehren als solche haben?“ - Der Held antwortete mit einem lauten und freudigen „Ja“. Darauf redete der König in ähnlicher Weise zu Kriemhild. Ein glühendes Rot überzog ihre Wangen, sie schlug die Augen nieder und lispelte ein leises „Ja“. „Nun“, sagte Gunther, „so sollt ihr morgen Hochzeit feiern mit mir und meiner königlichen Braut Brünhild, sofern nicht Mutter Ute dagegen Einrede erhebt.“ Statt der Antwort umarmte die gute Frau beide Brautleute und wünschte ihnen des Himmels Segen zu ihrer Vereinigung.
Bei dem Gastmahl saß Brünhild kalt, wie Marmor, an Gunthers Seite. Und freundlich kosend, oft einen Händedruck erwidernd, saß Kriemhild neben ihrem Verlobten. „König der Burgunden“, sagte Brünhild zu Gunther, „mich wundert, daß du die Schwester einem Dienstmann von dir zu geben gedenkst, dieweil sie doch des reichsten Königs würdig wäre.” - „Rede nicht so“, versetzte der König, „Siegfried ist so gut ein König, wie ich selbst, denn er ist König der Nibelungen, und ihm wird einst nach dem Tod seines Vaters Sigmund ganz Niederland untertan sein.“ - „Das ist eine sehr wunderliche Geschichte“, fuhr sie fort, „hat er sich doch selbst als ein Dienstmann von dir bekannt.“ - „Ich will dir später darüber alles sagen“, schloß er seine Rede, „aber jetzt sprich davon nicht weiter.“
Am folgenden Tag wurde die doppelte Hochzeit gefeiert. Frau Ute führte auch ihre Schwiegertochter durch die Hallen des Palastes, zeigte ihr die reichen Schätze, die sie nun ihr eigen nennen, die Gemächer, die sie forthin bewohnen sollte. Da waren Spiegel aus venezianischem Glas, kristallene Vasen, samtweiche Ruhebetten, Vorhänge von roter und blauer Seide und viel anderes köstliches Gerät. „Das Alles ist dein eigen“, sagte die alte Königin, „du kannst darüber schalten und walten, wie es dich gelüstet.“ - „Ja, Mutter Ute“, antwortete die junge Frau, „die Burgunden sind reich an Habe, und groß ist ihre Macht. Aber sie sind arm an klugem Rat und schwach zur Tat, sonst wäre König Gunther nimmer nach Isenland gekommen.“ Ohne eine Antwort zu erwarten schritt sie weiter.
Das Gastmahl war zu Ende, und die Nacht schon lange angebrochen. Die Gäste suchten ihre Herberge auf. Das tat auch Gunther mit seiner Königin. Als er an ihr Gemach gelangte, vertrat sie ihm den Weg, indem sie sagte: „Hier ist nicht deine Herberge, du kannst wohl im Palast eine bessere finden. Denn hättest du deinen Willen, dann würde ich meine große Kraft nicht bewahren.“ Indessen ließ er sich durch Worte nicht abwehren. Er wurde vielmehr dringender und suchte sich mit Gewalt Einlaß in das Gemach zu verschaffen. Es begann ein gewaltiges Ringen, aber sie wurde in kurzer Frist sein Meister, band ihm mit ihrem Gürtel, einer starken Borte, Hände und Füße und ließ ihn also vor der Pforte liegen. Da hatte er nun die lange Nacht hindurch übles Gemach.
Im Nibelungenlied klingt das noch etwas deutlicher:
Im weißen Linnenhemde · ging sie ins Bett hinein.
Der edle Ritter dachte · „Nun ist das alles mein,
Wes mich je verlangte · in allen meinen Tagen.“
Sie mußt' ob ihrer Schöne · mit großem Recht ihm behagen.
…
Sie sprach: „Edler Ritter · laßt euch das vergehn:
Was ihr da habt im Sinne · das kann nicht geschehn.
Ich will noch Jungfrau bleiben · Herr König, merkt euch das,
Bis ich die Mär' erfahre“ · Da faßte Gunther ihr Haß.
Er rang nach ihrer Minne · und zerrauft' ihr Kleid.
Da griff nach einem Gürtel · die herrliche Maid,
Einer starken Borte · die sie um sich trug:
Da tat sie dem König · großen Leides genug.
Die Füß' und die Hände · sie ihm zusammenband,
Zu einem Nagel trug sie ihn · und hing ihn an die Wand,
Als er im Schlaf sie störte · sein Minnen sie verbot.
Von ihrer Stärke hätt' er · beinah' gewonnen den Tod.
Da begann zu flehen · der Meister sollte sein:
„Nun löst mir die Bande · viel edle Fraue mein.
Ich getrau' euch, schöne Herrin · doch nimmer obzusiegen
Und will auch wahrlich selten · mehr so nahe bei euch liegen.“
Sie frug nicht, wie ihm wäre · da sie in Ruhe lag.
Dort muß' er hangen bleiben · die Nacht bis an den Tag,
Bis der lichte Morgen · durchs Fenster warf den Schein:
Hatt' er je Kraft besessen · die ward an seinem Leibe klein.
Ja, so läßt sich die Natur vom Verstand niemals bezwingen, sondern bleibt unfruchtbar, kalt und lieblos, wie es im Prinzip auch unserer modernen Naturwissenschaft geht, die mit rationalem Verstand und der Kraft von Formeln und Technik nur ein totes Universum findet, wo das Leben nur ein „Randphänomen“ ist. Entsprechend bindet sie uns auch mit ihrem Gürtel, hängt uns an die Wand der Materie und droht uns mit dem Tod. Ob wir es jemals lernen?
Als am Morgen schon die Dienstleute geschäftig waren, löste die stolze Königin dem Gemahl die Fessel, hieß ihn nun der Ruhe pflegen und nimmer wieder einen Versuch zu machen, wie er es in der Nacht getan habe. Den ganzen Tag über war Gunther nicht frohen Mutes, wie Siegfried und die anderen Gäste. Er blickte fast mit Grauen auf die ihm vermählte Königin und verließ oftmals das Gelage, um im Garten allein zu wandeln. Da begegnete ihm der Held von Niederland und forschte, warum er so unfrohen Mutes sei. Als er die seltsame Geschichte vernommen hatte, rief er: „Sei nur getrost, lieber Geselle! Haben wir die hochgemute Frau im Kampfspiel bezwungen, so wähne ich, wir werden auch die verschlossene Pforte sprengen, daß du Einlaß findest. Zur Nacht, wenn du die Königin in ihr Gemach geleitest, folge ich euch nach, in meine Tarnkappe gehüllt. Dann lösche die Kerze aus, daß ich an deine Stelle treten kann, und nun soll sie an mir ihre große Kraft versuchen.“ - „Ach, guter Geselle“, sprach Gunther, „ich habe Sorge um dein Leben. Wir haben übelgetan, sie von Isenland an den heiteren Rhein zu führen, die Höllenbraut, wie Hagen sagt, die von höllischen Geistern so große Kräfte gewonnen hat.” - „Und wenn ein Höllengeist selber in ihr Herberge genommen hat, so will ich ihn doch bestehen, und ich wähne, daß ich seiner wohl mächtig werde. Heute nacht bin ich in der Tarnkappe dir nahe.“
Die Könige gingen wieder zum Gelage, Siegfried, wie immer, frohen Mutes, Gunther von mancherlei Sorgen belastet. Als Mitternacht zur Ruhe einlud, schritt er mit Brünhild, wie am vorigen Abend, ins Gemach, löschte wie verabredet die Kerze und merkte alsbald, daß der hilfreiche Held an seine Stelle trat. Siegfried drängte kühn, ohne die Drohung der Frau zu beachten, nach dem Eingang. Sie faßte ihn mit großer Gewalt, stieß ihn zwischen die Wand und einen Schrein und versuchte ihn, gleichwie vorher Gunther, mit ihrem Gürtel zu binden. Sie drückte seine Hände, daß Blut unter den Nägeln hervorquoll. Solches Raufen und Ringen zwischen einem Recken und einer Jungfrau war noch nie geschehen. Indessen gebrauchte er seine ganze Heldenkraft und preßte sie in einen Winkel, daß ihr alle Glieder zu brechen drohten. Da bat sie ächzend und stöhnend, er möge ihr nur das Leben lassen, sie wolle hinfort in Treue nach seinem Willen tun. Sobald der Held von Niederland dies hörte, schlich er leisen Schrittes fort und überließ Gunther das ihm gebührende Recht.
Auch dieser Kampf, der mehrfach hin- und herschwankte, wird im Nibelungenlied ausführlicher erzählt. Aus geistiger Sicht könnte man darin sehen, wie die ganzheitliche Vernunft dem begrifflichen Verstand hilft, die äußerliche Natur zu besiegen, und dabei selbst fast überwältigt und getötet wird:
„Wenn du sie nicht minnest“ · der König sprach da so,
„Meine liebe Fraue · des andern bin ich froh;
Was du auch tust und nähmst du · Leben ihr und Leib,
Das wollt' ich wohl verschmerzen · sie ist ein schreckliches Weib.“
„Das nehm' ich,“ sprach da Siegfried · „auf die Treue mein,
Daß ich sie nicht berühre. - Die liebe Schwester dein
Geht mir über alle · die ich jemals sah.“
Wohl glaubte König Gunther · der Rede Siegfriedens da.
…
Da legte sich Siegfried · der Königin bei.
Sie sprach: „Nun laßt es, Gunther · wie lieb es euch auch sei,
Daß ihr nicht Not erleidet · heute so wie eh.“
Nicht lang, so tat die Fraue · dem kühnen Siegfried ein Weh'.
…
Er stellte sich, als wär' er · Gunther der König reich;
Er umschloß mit Armen · das Mägdlein ohne Gleich'.
Sie warf ihn aus dem Bette · dabei auf eine Bank,
Daß laut an einem Schemel · ihm das Haupt davon erklang.
Wieder auf mit Kräften · sprang der kühne Mann,
Es besser zu versuchen · wie er das begann,
Daß er sie zwingen wollte · da widerfuhr ihm Weh.
Ich glaube nicht, daß solche Wehr · von Frauen je wieder gescheh'.
Da er's nicht lassen wollte · das Mägdlein aufsprang:
„Euch ziemt nicht zu zerraufen · mein Hemd also blank.
Ihr seid ungezogen · das wird euch noch leid.
Des bring' ich euch wohl inne“ · sprach die weidliche Maid.
Sie umschloß mit den Armen · den teuerlichen Degen (Helden)
Und wollt' ihn auch in Bande · wie den König legen,
Daß sie im Bette läge · mit Gemächlichkeit.
Wie grimmig sie das rächte · daß er zerzerret ihr Kleid!
…
Da griff sie nach der Hüfte · wo sie die Borte fand,
Und dacht' ihn zu binden · doch wehrt' es seine Hand,
Daß ihr die Glieder krachten · dazu der ganze Leib.
Da war der Streit zu Ende · da wurde sie Gunthers Weib.
Sie sprach: „Edler König · nimm mir das Leben nicht:
Was ich dir tat zuleide · vergüt' ich dir nach Pflicht.
Ich wehre mich nicht wieder · der edlen Minne dein:
Ich hab' es wohl erfahren · daß du magst Frauen Meister sein.“
Aufstand da Siegfried · liegen blieb die Maid,
Als dächt' er abzuwerfen · eben nur das Kleid.
Er zog ihr vom Finger · ein Ringlein von Gold,
Daß es nicht gewahrte · die edle Königin hold.
Auch nahm er ihren Gürtel · eine Borte gut.
Ich weiß nicht, geschah es · aus hohem Übermut?
Er gab ihn seinem Weibe · das ward ihm später leid.
Da lagen beieinander · der König und die schöne Maid.
Er pflag der Frauen minniglich · wie es geziemend war:
Scham und Zorn verschmerzen · mußte sie da gar.
Von seinen Heimlichkeiten · ihre lichte Farb' erblich.
Hei! wie von der Minne · die große Kraft ihr entwich!
Am Ende dieses Kampfes nimmt ihr Siegfried den goldenen Ring der Wahrheit und den Gürtel ihrer Kraft der Bindung. Damit wird zwar die Macht der äußerlichen Natur gebrochen und an die innerliche Seele der Natur übergeben, aber für die Welt des Ego-Verstandes, der sich immer noch als König und Sieger betrachtet, wird das noch viel Leid bringen.
Das Fest währte noch acht Tage, dann nahmen die Gäste Abschied und gingen reich beschenkt. Auch Siegfried schickte sich mit seiner Frau zur Abfahrt an. Er sollte, wie der junge Giselher anbot und Kriemhild wünschte, die königlichen Schätze mit den Schwägern teilen, aber er schlug es aus, weil ihm der unerschöpfliche Nibelungenschatz zu eigen war. Bei der Abreise begleiteten ihn eine weite Strecke die drei Könige mit vielen Recken und Knappen, so daß man schier meinte, es gelte eine Heerfahrt in Feindesland. An der Stätte, wo man sich scheiden wollte, lagerte sich das ganze Heer. Da speisten und tranken noch einmal die Freunde zusammen, und Volker nebst anderen Spielleuten sangen zum Saitenklang vom Rhein und seinen Bergen und Rebenhügeln. „Hei, wie sie gleich Kindern weinen, sich küssen und umarmen!“, so murmelte Hagen für sich, als er sah, wie die Freunde Abschied voneinander nahmen. „Schau, Volker“, sagte er zu seinem Gesellen, „es ist doch nur ein Kinderspiel. Denn wenn sie einmal in Zorn und Haß gerieten, würden sie einander morden wie giftige Schlangen, und wir täten auch so, wenn es die Nornen (Schicksalsgöttinnen) fügen sollten, wie man vor Zeiten zu sagen pflegte.“ Volker strich mächtig die Saiten und sang:
War einst ein Fiedeleur,
Ein Mann bieder und klug,
Der sprach: Gesell‘, ich schwör
Dir Treue ohne Trug.
„Wahrlich“, sagte Hagen, „solche Fiedeleure (Geigenspieler) gibt es nicht viele in der Welt.“
Hier wird noch einmal das Wesen des grimmig-stolzen Hagen angedeutet, der sich über den „Sieg-Frieden“ nicht allzusehr freut, sondern an Zorn, Haß und Mord denkt. Und das ist auch das Schicksal des trennenden Ego-Bewußtseins. Dazu schwört ihm Volker die Treue, dessen Namen an „Volkskämpfer“ erinnert, sozusagen ein Geigenspieler, nach dessen Geige das Volk bzw. der Mensch tanzt. In diesem Sinne wird er auch im zweiten Teil der langen Geschichte im Land der Hünen gemeinsam mit Hagen eine schicksalhafte Rolle spielen. Aus geistiger Sicht könnte man hier sogar von einer dritten Hochzeit sprechen, nämlich zwischen Hagen und seinem Schicksal, das ihm die Treue schwört und dann auch zum Schicksal aller Burgunder wird.
Posaunen und Trompeten unterbrachen das Zwiegespräch, die den Aufbruch verkündigten. „Fahre glücklich!“, rief Gunther, noch einmal seiner Schwester die Hand reichend: „Es begleiten dich zweiunddreißig edle Jungfrauen aus Burgundenland, welche dich immer an die alte Heimat erinnern. Auch gebe ich dir hundert bewaffnete Knechte als würdiges Gefolge mit, und Oheim Hagen wird Befehl über sie führen.“ Der Recke, der diese Rede hörte, erhob sich voller Unmut und sprach: „Wir Tronjer sind nimmer Weiberknechte gewesen. Wenn Gunther solcher bedarf, so suche er sie anderwärts. Die Tronjer sind nur dem König in Burgund zum Dienst bereit und seiner Königin. Diesem Geschäft wird auch der Letzte des Geschlechts in guter Treue mit Schwert und Speer dienen, wie, wo und wann der König begehrt. Doch anderen Diensten verweigert er sich.“ Der König schwieg betroffen. Daher nahm Siegfried das Wort. „Bleibe fein daheim, guter Geselle“, sagte er, „da magst du bei Schmaus und Trank gut Gemach haben. Draußen in der Fremde könntest du Schaden nehmen. An deiner Stelle wird der tüchtige Held Eckewart wohl zum Dienst für die Schwester seines Herrn bereit sein.“ Der genannte Recke übernahm freudig das übertragene Amt, und darauf schieden sich die Gäste von ihren Gastgebern und ritten ihres Weges.
So wird natürlich Hagen in der Ego-Rolle niemals bereit sein, seinen bisherigen Machtbereich in Burgund als „Körperburg“ zu verlassen, um der Siegfried-Vernunft und der Kriemhild-Seele mit ihren Jungfrauen zu dienen, denn als Tronjer bzw. „Charakterkopf“ will er dem äußerlichen Verstand zu seinem Selbstbild dienen und nicht der innerlichen Seele der Natur. Eckewart als „Wächter der Schwertschneide“ und Markgraf als „Verwalter des Grenzgebietes“ war dazu auf Wunsch von Siegfried gern bereit. Welche Rolle er bisher im Burgund-Menschen am Rhein als Fluß des Lebens spielte, ist unklar. Wir könnten an ein Richteramt denken, so daß er als Diener der Gerechtigkeit im weiteren auch Kriemhild als reine Seele der Natur folgt und dient.
Es war ein schöner Tag, als die Reisenden zu Xanten unfern vom Niederrhein angelangten. Vorausgesandte Boten hatten ihre Ankunft gemeldet. Daher waren die ganze Stadt, viel Landvolk und vor allem König Sigmund, der greise Held, und die gute Frau Sieglinde zum Empfang der werten Gäste vorbereitet. Wie umarmten die alten Leute den Sohn und die schöne Tochter! Wie freuten sie sich, daß nun alle Sorge um den Liebling vorüber, daß er nun mit großen Ehren zurückgekehrt war! Der König rief alsbald die Vasallen des Reichs und setzte unter dem Jubel des Volkes dem würdigen Sohn die Krone auf das Haupt. Gleiches tat die Königin mit Kriemhild, und die Hof- und Burgmänner riefen laut: „Heil unserem jungen, ruhmvollen König und seiner Königin! Mögen sie lange und glücklich, gleich ihren Ahnen, ihrem Amt dienen!“ Was alles Volk wünschte, schien in Erfüllung zu gehen, denn manches Jahr floß dahin, ohne daß sich ein Unglück ereignete. Frau Sieglinde hatte noch die Freude, einen Enkel auf ihren Armen zu wiegen, dem dessen Vater den Namen Gunther gab, zu Ehren seines Schwagers am Rhein, gleichwie auch dieser ein Knäblein, das ihm Brünhild schenkte, Siegfried genannt hatte. Doch nicht lange genoß die alte Königin diese Freude, denn sie erkrankte und starb, was die häusliche Zufriedenheit störte. Dagegen herrschte im Reich fortwährend Frieden, denn kein feindlicher Nachbar, noch Raubvolk, noch übelgesinnter Vasall wagte gegen den Herrn der Nibelungen, den Überwinder des höllischen Drachen, den Schild zu erheben.
Auch diese Symbolik ist genial: Nachdem der Gunther-Verstand in der geistigen Siegfried-Welt geboren wurde, stirbt Mutter Natur, wie wir auch wissen, daß der begriffliche Verstand für eine tote materielle Natur sorgt. Und wie König Siegfried mit Kriemhild einen neuen Gunther als ein Wesen des Verstandes gezeugt hat, so zeugte König Gunther mit Brünhild einen neuen Siegfried im Wellenspiel der Gegensätze. Denn in jedem Siegfried ist auch ein Gunther, und in jedem Gunther ein Siegfried versteckt. Und so gibt es auch am Ende des tödlichen Dramas wieder einen Siegfried und einen Gunther, um den Lauf der Welt fortzuführen, weil auch Vernunft und Verstand in dieser Welt immer zusammengehören und gemeinsam bestehenbleiben, wie auch die Großeltern Ute und Siegmund übrigbleiben, als Großvater Geist und Großmutter Natur.
Es mochten wohl acht Jahre vergangen sein, da kam die Botschaft von Burgund, welche die Könige und alle ihre Verwandten zum Fest der Sommersonnenwende einlud. Die Boten sagten aus, man gedenke das Fest gar herrlich zu feiern und wünsche dabei die lieben Freunde und Verwandten, die so lange in der Ferne weilten, gegenwärtig zu sehen. „Habt reichlich Botenbrot verdient, ihr Männer vom Rhein“, sprach Siegfried, als er die Botschaft hörte, „wir selbst, meine Frau Kriemhild und ich, gedachten schon oftmals zu den Burgunden zu fahren, und das soll nun sicherlich geschehen.“ Da war auch Vater Sigmund zur Hand und sagte, er wolle auch mitfahren und hoffe zu Worms noch manchen biederen Recken zu finden, mit dem er von den alten Zeiten und bestandenen Kämpfen plaudern könne. Nachdem man dies alles besprochen hatte, rüstete man sich zur Fahrt nach dem Rhein.
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