Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Nibelungensage: Kriemhilds Racheplan

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Damit haben wir nun aus geistiger Sicht im ersten Teil der Nibelungensage die Entstehung der ganzheitlichen Vernunft im geistigen Reich kennengelernt und im zweiten Teil die Geburt von „Siegfried“ als Vernunft in der körperlichen Welt, ähnlich wie auch Christus in dieser Welt geboren wurde und es in der Bibel heißt: »Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. (Joh. 14.27 Im dritten Teil ging es dann um sein Wirken im Menschen, wie auch Christus sagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. (Joh. 14.6, bis er dann vom Ego-Verstand in der Menschenwelt getötet wird. Und nun folgt noch ein vierter Teil, der in der Kirche als Gotteshaus vor der Leiche Siegfrieds mit dem Satz angekündigt wurde:

Hätte Kriemhild ein Schwert und Manneskraft gehabt, sie hätte Hagen im Heiligtum erschlagen.

Wie kommt nun die Seele zu Mannes- bzw. Geisteskraft? Denn es ist der Geist, der in der Natur wirkt, und nur damit kann sie die Bindung von Ursache und Wirkung auch verwirklichen und das Ego mit dem Schwert der Weisheit besiegen. Dazu haben wir mit der Symbolik des „Drachen-Tötens“ bereits eine äußerliche Vorstellung kennengelernt. Und ähnlich, wie im letzten Teil das innere Wesen eines Menschen mit genialer Symbolik erklärt wurde, so können wir nun im folgenden Teil sehen, wie mit genialer Symbolik auch das innere Wesen der Jungfrau und des Drachens in diesem Prozeß des „Drachen-Tötens“ erklärt wird, und was da im Inneren alles geschehen und kämpfen kann:

Der Reiher der Vergessenheit zieht, wie die nordische Dichtung sagt, über den sterblichen Menschenkindern hin und trägt viel Leid auf seinen Schwingen mit sich fort. So schien auch Kriemhild allmählich ruhiger und sogar mit dem Bruder versöhnt. Nur den grimmigen Hagen betrachtete sie mit Grauen und wich aus seiner Nähe. Ebenso mied sie Brünhild, und als sie ihr einst am Totenhügel des Gatten begegnete, verscheuchte sie dieselbe mit schneidender Rede. So lebte sie drei Trauerjahre. Dann überzeugte Hagen den König, daß es gut wäre, den reichen Nibelungenschatz nach Worms zu holen, um Kriemhild wieder zu erfreuen. Nichts lieber wollte Gunther, und schickte Giselher zu Kriemhild, der sie dazu überreden konnte. So äußerte sie bald vor dem König, ihrem Bruder, den Wunsch, den Nibelungenschatz nach Worms bringen zu lassen, da er ihr rechtmäßiges Erbgut sei. Gunther war erfreut, daß sie ihm wieder ihr Vertrauen zuwende, und willigte gern ein. Zahlreiche Mannschaft und kühne Krieger wurden mit Botschaft von ihr zu den Nibelungen entsendet, und Zwerg Alberich lieferte ohne Widerrede die unermeßlichen Schätze aus. Zwölf Frachtwagen führten mehrere Tage lang die Reichtümer aus dem hohlen Berg, ein unversiegbarer Schatz an Gold und Edelsteinen, und viele Lasttiere waren nötig, sie nach Burgund zu bringen. In diesem gewaltigen Schatz lag auch eine kleine goldene Wunschrute, und wer sie darin fand, der konnte wohl Meister sein über jeden Menschen auf der weiten Erde. Wahrlich, Hagen hatte nicht ohne Grund danach begehrt.

Ja, solche mächtigen Schätze wünscht sich das Ego, um andere Menschen zu manipulieren und schließlich an sich zu binden. Und so wollte wohl auch Hagen damit Kriemhild verführen, daß sie vielleicht stolz und gierig mit so übermäßigem Reichtum würde. Denn er kann sich nicht vorstellen, daß Kriemhild keinen Egoismus mehr kennt. Doch ihr Ego-Drachen wurde von Siegfried besiegt, und so nutzte sie den unerschöpflichen Reichtum der Erde natürlich im Sinne der freigebigen Vernunft und versuchte, mit dem Schatz aus der Nebel-Welt neue Geistwesen mit ganzheitlicher Vernunft zu verkörpern, von denen sich nun wieder Hagen bedroht fühlte:

Die Königin war freigebig mit dem Gut gegenüber dem Volk, und wo ein guter Recke sich einfand, da spendete sie Gold, Rüstung, Waffen und selbst täglichen Sold, wodurch sie allmählich ein kleines Heer um sich sammelte, das sich täglich vermehrte. Hagen sprach über dieses Gebaren mit den Königen. Er sagte, die Frau sinne auf Rache. Es liege ihm nichts an seinem Leben, aber sie werde endlich ganz Burgund gewinnen. Das müsse man verhüten und daher beizeiten den Schatz in Verwahrung nehmen. Doch die königlichen Brüder willigten nicht ein. Gernot sagte, man habe ihrer leiblichen Schwester des Unrechts zur Genüge zugefügt. Ihres Erbguts lasse er sie nicht berauben. Als aber die Könige einstmals auf einer Ausfahrt waren, erbrach der kühne Recke mit seinen Mannen die Schatzkammer, führte den ganzen Schatz heraus und versenkte ihn im Rhein. Wohl vernahmen die Könige bei ihrer Heimkehr die Untat und auch Kriemhild klagte über den Räuber, aber es war geschehen. „Wärst du nicht unser Oheim“, sagten Gunther und Gernot, „es sollte dir ans Leben gehen!“ Danach führte Hagen die Könige an die Stelle, wo die Menge an Gold und Edelsteinen mit der goldenen Wunschrute auf dem tiefen Grund ruhte, und ließ sie schwören, daß keiner den Ort verraten wolle, so lange noch einer von ihnen am Leben sei. „In der Tiefe des Stroms“, sagte der Recke, „da glänzen die Schätze schöner und unschädlicher, als in den Händen der nach Rache dürstenden Königin.“

So erkennt man nun wieder das Ego-Wesen von Hagen, dem jedes Mittel recht ist, um seine eigenen Interessen gnadenlos durchzusetzen, auch wenn er immer wieder sagt, daß es ihm nur um die Erhaltung von Burgund bzw. des Körpers geht. So will er die Seele ihres rechtmäßigen Erbes berauben und hofft, daß damit auch ihre Macht der Bindung bzw. Rache verlorengeht. Nun, das wird mit der reinen Seele nicht funktionieren. Und für sie wäre wohl auch dieser Schatz nicht der Weg gewesen, um das Ego zu besiegen. Denn der Geist mit dem sie sich zur Wirksamkeit vereinen muß, sollte nicht unter ihr stehen, wie es im Nibelungenlied die Wunschrute versprach, daß sie mit dem Schatz „Meister über jeden Mann“ wird. Denn wenn die Seele über den Geist herrschen würde, dann wäre wirklich alles nur noch Bindung bzw. Schicksal, und die ganze Welt müßte wie eine tote Maschine ablaufen, was sich manche Physiker gern wünschen.

Doch die Angst des Egos vor ihrer Macht wird bereits deutlich, und lieber versenkt Hagen den ganzen Schatz im Rhein, und versteht es geschickt, den Verstand, der sich bisher dagegen weigerte, zum verschworenen Mitwisser zu machen. Diese Tat wird nun nach dem Mord an Siegfried zu einem Schlüsselereignis für den ganzen zweiten Teil des Nibelungenliedes und wird noch mehrfach bis zum Ende angesprochen. Aus geistiger Sicht könnte man sagen: Das Ego versucht, der Seele der Natur ihre Macht zur Verkörperung zu rauben, ergreift diesen Schatz der Lebenskraft aus der Nebel-Welt der Naturgeister und will ihn im Fluß des Lebens versenken, töten und für die Seele unwirksam machen. Damit versenkt er praktisch auch sein eigenes Leben, und so wandelt sich nun der Fluß des Lebens zwischen der Nebel- und Körper-Welt in einen Fluß des Todes, wohin sich dann auch die weitere Geschichte verlagert. Warum Tod? Nun, wenn die Seele von der Verkörperung getrennt wird, denn nennt man das „Tod“. Und das trennende Bewußtsein nennt man „Ego-Verstand“, das wohl auch die Hoffnung hatte, am Ende allein übrigzubleiben und den Schatz in Besitz zu nehmen, wie manche Enthusiasten noch heute diesen legendären Schatz im Rhein eifrig suchen. Für Kriemhild war es natürlich ein weiterer „Rat-Schlag“, daß man dem Ego-Verstand nicht vertrauen kann:

Kriemhild wurde wieder so still und harmvoll, wie sonst. Sie blieb immer bei ihrer Mutter. Da stickte sie Teppiche und bildete Balders Tod ab, wie Hödur den Speer nach dem Bruder schießt, wie der Leib des Gottes verbrannt wird, wie Nanna weint, am gebrochenen Herzen stirbt und mit dem Geliebten das letzte Lager auf dem brennenden Schiff teilt. Doch in Balder erkannte man ihren Helden, in Nanna sie selbst, und Hödur trug Züge, Gewand und den mörderischen Speer des grimmigen Hagen. Oft ließ sie die Nadel ruhen und saß sinnend vor dem Gebilde. Wenn dann Frau Ute fragte: „Was sinnst du, mein Kind?“, dann sagte sie: „Ich denke an Hagen.“

Hier lesen wir nun aus geistiger Sicht, wie die reine Seele bei ihrer Mutter als Erbin des Karmas bzw. der Erbsünde sitzt und mit den Schicksalsfäden immer wieder ähnliche Bilder formt, die dann lebendig verkörpert werden und ihre Rollen spielen, bis die vererbten Probleme irgendwann gelöst werden. Und so nimmt auch diese Geschichte ihren Lauf, aus der Vergangenheit in die Gegenwart:

Nach langer Zeit kehrten am Königshofe zu Worms willkommene Gäste ein. Markgraf Rüdiger von Bechelaren war es, der Gute und Milde, den Burgunden wohlbekannt und befreundet. Mit Gunther, Gernot und Hagen hatte er in der Jugend manches Abenteuer bestanden, den jungen Giselher auf den Knieen geschaukelt, an Volkers Getön sich erfreut, und jetzt brachte er seine Herzensfreudigkeit in das Haus des Grams, so daß selbst Kriemhild zuweilen der Mutter in die Halle folgte und bei den Reden manchmal freundlich lächelte, was seit dem Tod des unvergeßlichen Helden nicht geschehen war. Wenn aber Brünhild oder gar Hagen eintrat, erschrak sie, wie vor einer giftigen Schlange, und entfernte sich eilends.

Der Name Rüdiger läßt sich aus dem althochdeutschen Hruodger herleiten und setzt sich aus „hrod“ für Ruhm, Lob und Ehre sowie „ger“ für Speer zusammen, und bezüglich seiner Rolle in der weiteren Geschichte könnte man an einen „Speer der Ehre“ denken. Damit kommt er praktisch aus der Vergangenheit von Hagen. Und wie Siegfried an der Quelle und Wurzel des Lebensbaumes getötet wurde, so führt nun auch der Weg der Rache zurück an die Wurzeln, wo das Ego von Hagen entstanden ist. Denn nur an der Wurzel bzw. Ursache kann man ein Problem lösen, ansonsten bekämpft man nur Wirkungen, womit der Ego-Drache niemals besiegt werden kann.

Tage und Wochen waren vergangen, da sagte einst beim vollen Becher Gunther zu dem werten Gast, es wolle ihn bedünken, als habe derselbe noch eine Heimlichkeit, die er sich scheue kundzutun. Er solle nur getrost sein, was er zu werben habe, das solle geschehen, sofern er selbst Gewalt habe, das Begehrte zu leisten. „Wohlan, König Gunther“, sprach der Markgraf, „ich will dir bekennen, was ich zu werben habe. Du weißt, daß die gute Königin Helche, die liebe Ehefrau meines Lehnsherrn, des Königs Etzel, seit Jahren tot ist und auch seine Söhne durch den ungetreuen Wittich gefallen sind. Nun fühlt sich der Herrscher der Hünen einsam in den weiten Hallen der Etzelburg. Er gedachte, sich wieder eine edle und werte Ehegenossin zu küren und fragte mich deshalb um Rat. Ich wußte ihm keine schönere und edlere Frau vorzuschlagen, als Kriemhild, deine Schwester, die Witwe des starken Helden Siegfried. Sagst du dazu ja, so wird sie Königin der Hünen.“ - „Sie steht nicht mehr unter meiner Hut“, war die Antwort, „sie ist Königin von Nibelungen und Niederland, und ich befürchte, sie wird nicht willfährig sein.“ - „Ich bringe ihr die gute Botschaft“, sprach Giselher, „und Mutter Ute wird mir Beistand leisten.“

Der junge Held machte sich alsbald auf, um zu den Frauen zu gehen. Er fand die Schwester wie gewöhnlich mit Stickerei beschäftigt. Er sprach ihr zu, von der unmäßigen Trauer zu lassen und, da sie noch so jung sei, ihr Herz der Freude zu öffnen. Dann erzählte er, was Rüdiger von Etzels Hofe, von dessen Schätzen und dem großen Überfluß an Gut und Habe im Hünenland berichtet habe, und kam endlich auf die Werbung zu sprechen. Kriemhild erwiderte fest und feierlich, sie werde nicht fern von dem Totenhügel fahren, der ihr einziges, ihr teuerstes Gut umschließe. Sofort nahm Mutter Ute das Wort und beschrieb Etzels große Macht, wie er gewaltig sei über die Hunnen, Wilkinen und Reußen, wie er in jungen Jahren die Könige der Franken, Goten und selbst die der Burgunden mit großer Heeresmacht gezwungen habe, Schatzung zu geben und Geiseln zu stellen, und wie es heilsam sei, daß man seine Werbung nicht zurückweise, damit er nicht das Land durch eine Heerfahrt schädige. „Wirst du, mein Kind“, sagte sie, „seine Königin, dann bist du gewaltig vor allen Frauen, gleichwie es die gute Helche war.“ - „Gewaltig vor allen Frauen“, wiederholte die Tochter sinnend. „Sieh doch, Giselher“, fuhr sie fort, auf ihre Stickerei deutend, „weißt du, wen dieser Held darstellen soll?“ - Er verneinte, und sie fügte hinzu: „Es ist Wali, der Rächer, von dem die Väter sagten, er habe Balder gerächt und den finsteren Hödur zur Hölle gesendet.“ - „Das sind verklungene Märchen, von denen man nicht mehr viel weiß“, antwortete Giselher, „aber rede von dem, was der gute Rüdiger zu werben kommt.“ - „Ja, wenn es sich erfüllen könnte“, sprach sie, „vielleicht - bitte den Markgrafen, zu mir zu kommen, daß ich selbst seine Werbung vernehme.“ Das war ein freudiges Wort für den jungen Helden, und er begab sich alsbald in die Halle, und auch Frau Ute verließ auf Bitten der Tochter das Gemach.

 „Siegfried“, sprach die junge Königin, „um deinetwillen weiche ich von dem Hügel, darin du wohnst, wo du mir oft im Wachen und im Traum erschienst und auf deine Wunden deutetest. Sie klaffen, sie bluten noch immer. Sie werden sich schließen und nicht mehr bluten, wenn es mir vergönnt ist, den mordgrimmigen Hödur zur finsteren Hölle zu senden.“

Zur Erklärung ein kurzer Ausflug in die germanische Mythologie: Balder, der „Leuchtende“, war ein Sohn des Göttervaters Odin und galt als der friedlichste und reinste der germanischen Götter. Die gesamte Schöpfung bewunderte seine leuchtende Schönheit sowie seine Barmherzigkeit und Weisheit. Mit seiner Frau Nanna lebte er in einem himmlischen Reich, in dem es kein Unrecht gab. Doch eines Tages träumte Balder von seinem Tod, woraufhin seine Mutter Frigg zu allen Tieren und Pflanzen ging und sie aufforderte, einen Eid abzulegen, daß sie Balder niemals verletzen werden. Nur der junge Mistelzweig schien Frigg zu jung zu sein, als daß sie von ihm einen Eid nehmen sollte. Bald kam es zu einem Spiel der Götter, bei welchem sie den nunmehr unverwundbaren Balder mit Speeren, Steinen und anderen Waffen beschossen, ohne daß ihm etwas geschah. Der neidische Loki nutzte es aus, daß die Mistel keinen Eid abzulegen brauchte, und gab Balders blindem Bruder Hödur einen Mistelzweig und bedeutete ihm, damit zu schießen. Der Zweig traf Balder, der Gott sank tot zu Boden und wurde auf seinem Schiff Ringhorn mit seiner Frau Nanna verbrannt, die an gebrochenem Herzen starb. Danach wurde von seinem Vater Odin der Rachegott Wali gezeugt, reifte an einem Tag zum Helden, suchte Hödur und tötete ihn mit einem Pfeil. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, war Wali frei und lebte unter den Göttern. Später sollen Balder und Hödur von den Toten wieder auferstehen und versöhnt eine neue lichtvolle Welt begründen, in der es weder Verrat noch Lüge oder Mord gibt. - Ob hiermit das Christentum (bzw. Christus-Reich) angedeutet wurde, ist Spekulation, dennoch wird diese These heute immer noch unter Geschichtswissenschaftlern diskutiert. (Quelle: Wikipedia / Balder)

Rüdiger erschien und brachte in zierlicher Rede seine Werbung vor. Darauf sprach sie: „Du sollst mir heilsamen Rat geben, edler Markgraf: Wie wird es mir ergehen, da ich des Königs und des Volkes unkundig bin? Wird man die fremde Frau nicht verachten und verschmähen? Willst du mir Helfer sein, wenn ich in Not gerate?“ Er antwortete: „Etzel ist ein reicher König und tüchtiger Held, der dir, wie voreinst der guten Frau Helche, große Ehren erweisen wird, so daß du noch mehr des Reichtums und der Macht haben wirst als zu der Zeit, da der starke Siegfried noch lebte. Ich selbst bin dir zu jedem Dienst bereit.“ - „Gelobst du mir durch Eid“, sprach Kriemhild, „daß du mit deinen Mannen auf mein Geheiß in den Kampf ziehen willst, wo und gegen wen es auch sei?“ - „Nur nicht gegen meinen Lehnsherrn“, antwortete der Recke. „Gelobe mir“, sagte die Frau, „auf meine und deines Lehnsherrn Gebot zu kämpfen mit Speer und Schwert gegen jeden Widersacher, der mich geschädigt hat!“ - „Das gelobe ich dir auf Treue und durch Eid, so wahr mir Gott in aller Not beistehen soll.“ - „Wohlan, vieledler Markgraf“, sprach sie laut, „so fahre ich mit dir in das Land der wilden Hünen und will deinem Lehnsherrn eine treue Ehefrau sein mein Leben lang, dieweil ich mich deines Beistands tröste.“

Über diese zweite Ehe mit Etzel kann man viel nachdenken. Aus geistiger Sicht macht es Sinn, daß sich die Seele mit der Manneskraft ehelich vereint, denn sie sollte weder über noch unter dem Geist stehen, wie auch die biblische Eva aus der Seite von Adam sozusagen auf gleicher Höhe erschaffen wurde. Dazu ist Etzel ein Hünen-König, der mit Hilfe seiner Frau Helche ein großes Reich mit vielen Völkern und mächtigen Helden unter seiner Herrschaft vereint hat, wie auch Siegfried für Frieden und Einheit wirkte. Und so führt nun der Weg zu den Ego-Wurzeln und den mächtigen Helden bzw. Hünen, die mit dem Ego zusammen aufgewachsen sind. Denn sobald eine tödliche Kraft um die Trennung kämpft, muß es im Spiel der Gegensätze auch eine lebendige Kraft geben, die um die Heilung und Ganzheit kämpft. So könnte man sagen: Diese Hünen sind mit dem Ego entstanden, um das Ego schließlich wieder zu besiegen.

Große Freude war unter den Recken, als Rüdiger die gute Botschaft brachte. Die drei königlichen Brüder sprachen davon, wie nun die Schwester ihrer Trauer ledig wieder froh sein wird und einen festen Bund zwischen den Hünen und Burgunden aufrichten werde. Da trat Hagen zu ihnen und sprach: „Wollt ihr den Blitz beschwören, daß er auf unsere Häupter herabfällt? Gebt die Schwester nicht dem König der Hünen! Zwischen der Witwe Siegfrieds und uns kann nur Freundschaft bestehen wie zwischen Wasser und Feuer. Entweder wird jenes in Dampf vergehen oder dieses erlöschen. Nur ein kindischer Mann reicht dem Feind das Schwert, womit er sein Haupt trifft.“ - „Oheim, du hegst in deinem Herzen Mißgunst und Neid!“, sprach Giselher: „Deswegen bist du allezeit unfroh und grimmig. Du sollst aber nicht deinen Willen haben, nicht unsere Schwester kränken und härmen. Sie wird in großen Ehren Königin der Hünen.“ In gleicher Weise sprachen Gunther und Gernot, dem warnenden Recken trotzend.

So zeigt es sich schon, daß dies der richtige Weg ist, denn das Ego fühlt sich davon bedroht. Was aber der Verstand nicht nachvollziehen und verstehen kann, denn wenn die äußerliche Welt in Ordnung ist, dann ist für den Verstand alles gut, und dafür ist er auch da.

Nun wurde zur Fahrt nach der Etzelburg gerüstet, damit die Königin auch königlich bei den Hünen erscheine. Boten gingen nach Nibelungen und Niederland und kehrten mit zahlreichem Gefolge von Recken und Knechten zurück. Alle diese Männer, desgleichen die Frauen, welche die Herrin begleiten sollten, erhielten reiche Gewänder und edle Rosse zur Fahrt. Die Könige gaben ihrer Schwester das Geleit bis zur Donau, wo sie Abschied nahmen.

Giselher der schnelle · sprach zu der Schwester sein:
„Schwester, wenn du jemals · bedürfen solltest mein,
Was immer dich gefährde · so mach' es mir bekannt,
Dann reit' ich dir zu dienen · hin in König Etzels Land.“

Markgraf Rüdiger war nun der Führer durch Bayernland, wo sie auf den Burgen und in den Städten gute Herberge fanden, weil der tüchtige Held ein Freund des Landesherrn Gelfrat war. Ohne Gefahr und Verzug gelangten die Reisenden nach Bechelaren in Rüdigers gastliches Haus. Seine Frau Gotlinde und ihre liebliche Tochter empfingen die werten Gäste mit Freude und ließen sie erst am vierten Tag die Reise fortsetzen. Die Botschaft, daß die edle Königin der Hünen komme, war schon überall im Land bekannt geworden, und Fürsten und Recken fuhren ihr entgegen, und an der Landesgrenze wartete König Etzel selbst mit großem Gefolge auf sie. Er wurde bei dem Anblick der bleichen, aber immer noch schönen Frau so frohen Mutes, wie damals, als er die wonnige Helche durch den kühnen Rüdiger gewann. Er sagte ihr, sie solle über seine Schätze und Reiche schalten und walten und die Krone tragen wie er selbst. Sie antwortete, sie werde ihm eine treue und ergebene Hausfrau sein, aber ihre Liebe sei mit Siegfried in dem Totenhügel verschlossen. Der König achtete nicht auf die letzten Worte und gedachte, daß er durch Ergebenheit und herzliche Liebe wohl auch ihre Liebe erwerben werde. So fuhr er an ihrer Seite und umgeben von den Königen, Fürsten und Edlen seiner Reiche nach Etzelburg. Dort wurde zu Pfingsten (zur Herabkunft des Heiligen Geistes) die Hochzeit gehalten und vierzehn Tage lang mit großer Pracht gefeiert. Täglich sah man Turniere der Recken, dann folgten Gastmahl, festliche Gelage, Gesang und Saitenklang der Spielleute, vornehmlich der beiden obersten unter ihnen, Werbelin und Swemmelin, ferner Gesänge und Reigen der hünischen Jungfrauen, welche die Taten des Königs, seiner Recken und Vorfahren priesen, und vielerlei Kurzweil.

Was war das für eine Ehe? Betrug und Lüge? Das ist für unseren Verstand schwer zu durchschauen. Die wahre Liebe der reinen Seele gehört natürlich immer dem reinen Geist. Und doch hat sie in dieser Welt eine große Aufgabe zu erfüllen, und die erfüllt sie im Grunde auch nur aus reiner Liebe. Warum sonst wird in dieser Welt ein Siegfried, Krishna oder Christus geboren? Körperlich sterben sie wieder, aber ihre reine Seele bleibt und kann sich mit unserem vernünftigen Geist vereinen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Naja, so könnte man zumindest darüber nachdenken…

Kriemhild nahm geringen Anteil an den Festlichkeiten. Sie empfing, begrüßte die Gäste, waltete im Palast als häusliche Wirtin. Aber kein Strahl von Freude belebte ihr Angesicht, während sich eine Welt von Gedanken in ihrer Seele um einen Angelpunkt bewegte, um Siegfried. Es war aber auch unter den Recken ein Mann, den der Sang und Klang, das Spiel und Gelage wenig ergötzte, der nur beim Turnierspiel seine ungemeine Heldenkraft bewies, und dieser Held war der kühne Dietrich von Bern (heute Verona im Nordosten Italiens). Seine Gedanken weilten in dem schönen Amelungenland, das ihm der Kaiser Ermenrich durch List und Gewalt entrissen hatte. Dorthin begehrte er mit seinen Recken zu fahren, wenn Etzel ihm Beistand gewährte. Aber der König zauderte, weil bei der ersten Heerfahrt seine beiden Söhne (Erp und Ortwin) gefallen waren. Wenn der Jubel der Gäste die weite Halle durchbrauste, so ließ Dietrich harmvoll den köstlichen Trank im goldenen Becher verschäumen. Dann trat manchmal die Königin herzu und redete von dem Leid, das ihr von Hagen geschehen war, und wie der Mord noch ungesühnt und Siegfried noch ungerochen sei. Er verstand wohl, daß sie ihn zur Rache werben wolle, aber er schwieg, denn er wollte und durfte nicht das Schwert gegen burgundische Recken ziehen, welche ihm in manchem schweren Kampf als treue Gesellen Schild an Schild Beistand geleistet hatten.

Hier deuten sich bereits die Verwicklungen an der Wurzel des Egos an, wie doch all die männlichen bzw. geistigen Heldenkräfte miteinander verbunden und verschworen sind. Denn solange sie als getrennte Kräfte im Spiel der Gegensätze wirken, sind sie natürlich auch mit dem trennendem Ego-Bewußtsein verbunden. Und wir werden noch sehen, wie schwer und undurchsichtig dieser innere Kampf gegen den Ego-Drachen wird, was im Grunde auch jeder in sich selbst nachvollziehen kann, falls er den Versuch wagt.

Eine fröhliche Zeit ging vorüber, friedlich verstrichen Monde und Jahre, und ein Knäblein wurde dem königlichen Ehepaar geboren, ein Ebenbild der Mutter, dem man den Namen Ortlieb gab. Das Oberhaupt der Hünen feierte das Geburtsfest des Kindes, das einst alle seine Reiche erben sollte, mit festlichem Gelage, wobei viele Lehnsfürsten, Könige und Tausende von edlen Recken in dem weiten Raum des hochgewölbten Königssaals Platz fanden. Es war aber nicht bloß im Palast frohe Zeit, das gesamte Volk der Hünen nahm Anteil an dem glücklichen Ereignis mit Schmaus, Gesang und Tanz. Denn ein künftiges Oberhaupt war geboren, das Reich durch Etzels Tod nicht verwaist, nicht den äußeren Feinden und der inneren Zwietracht preisgegeben, sondern von einem rechtmäßigen König weiter treu behütet. Der König liebte um des Sohnes willen die Gattin noch mehr als zuvor und hätte ihr gern alle Schätze der Welt zu Füßen gelegt, allein sie begehrte nichts. Sie blieb sich immer gleich, ernst, von wenig Worten, doch sorgsam im königlichen Haushalt. Selbst das Knäblein, des Vaters Wonne, das kräftig gedieh, so emsig sie es auch pflegte, entlockte ihr niemals ein Lächeln. Die Wunde, die der Tod des ersten Gatten ihr geschlagen hatte, heilte nicht, sondern blutete fort. Der Geist der Rache, aus dem Abgrund aufsteigend, ließ nicht ab, Blut für Blut, Mord für Mord zu fordern, und sie war willig dazu.

So muß wohl noch einiges geschehen. In diesem Bild kann man gut erkennen, wie nun Helche und Siegfried den geistig-körperlosen Rahmen für die weltlich-körperlichen Geschehnisse bilden, sozusagen als heilende Natur und friedlicher Geist oder auch Mitgefühl und Weisheit. Der Name Erp erinnert an den Erben, Ortwin an den Freund oder Gewinn der Schwertspitze als Symbol der Einheit, und Ortlieb an die Liebe der Schwertspitze. Der Name Helche erinnert an Helga und bedeutet damit „die Heilende“. Der Name Etzel kann von „etze“ für Weideland abgeleitet werden, sozusagen ein Weideland für die Hünen als wahrhafte Helden, und erinnert historisch an den legendären Hunnenkönig Attila, der in seinem großen Reich an der Donau viele Völker und Helden vereinte. Der Name Attila kann von „Väterchen“ abgeleitet werden, ist also noch kein großer Gott- oder Allvater, der alles vereint, aber schon auf dem Weg dahin. Aus symbolisch-geistiger Sicht könnten wir hier auch zur nordischen Mystik schauen und an den Allvater Odin in der Rolle des Walvaters in Walhalla denken, der großen „Kampfhalle“ als Weideland für die Einherier, die wahrhaften Helden, die im „Heer für das Eine“ oder im „Heer der Einheit“ um die göttliche Ganzheit kämpfen. So schafft es dann auch Etzel auf Wunsch von Kriemhild, die Burgunder mit Hagen in sein Reich zu holen, um das große Ego-Problem der Trennung zu lösen.

Einstmals liebkoste der König den kleinen Ortlieb und sprach auch freundlich zu dessen Mutter, wie er hoffe, das Kind werde einst ein Held gleich Siegfried werden. Sie hätte bei Nennung des Namens aufschreien mögen, denn es war ihr, als sehe sie ihn wieder bleich und von Wunden entstellt vor sich liegen. Sie bezwang sich, blieb scheinbar ganz ruhig und bat nur den Gemahl, er möge doch ihre Brüder und Verwandten zu sich in das Hünenland gebieten. Es war die erste Bitte, die sie tat, und Etzel erfüllte sie mit Freuden. Er befahl sogleich, die vornehmsten Spielleute, Swemmelin und Werbelin, mit vierundzwanzig edlen Recken sollten nach dem Rhein aufbrechen, um die burgundischen Könige mit allen ihren Verwandten zum Fest der Sonnenwende einzuladen, und Kriemhild mahnte die Boten noch insbesondere, daß sie Frau Ute freundlich grüßen und sie bitten sollten, mitzufahren, damit sie selbst wahrnehme, wie die Tochter gut Gemach habe und in Ehren stehe. Auch sollten die Boten achtgeben, daß Hagen die Königin begleite.

Die Namen der Spielleute Swemmelin und Werbelin erinnern an Schwimmen und Werben im Fluß des Lebens und spielen wohl eine ähnliche Rolle wie der Spielmann Volker für Hagen, um die Wesen nach der Geige des Schicksals tanzen zu lassen, dessen Geschichte sie auch singen, damit sie lebendig werden kann. Die Zahl 24 erinnert wie die 12 an eine Zahl der Ganzheit, und darin liegt wohl auch die Botschaft, um die Wunde der Trennung zu heilen und das trennende Ego-Bewußtsein zu besiegen.

Die Spielleute wurden zu Worms wohl aufgenommen, denn sie brachten gute Botschaft von der edlen Königin und dem mächtigen König der Hünen. Sie erhielten die beste Herberge und manche reiche Gabe. Indessen zögerte Gunther mit der Antwort, weil er zuerst seine Recken zu Rate ziehen wollte. Als sie um ihn versammelt und der Sache kundig waren, stimmten sie alle für die Fahrt. Sie meinten, man dürfe frohen Empfangs und festlicher Tage gewärtig sein, da ihnen der reiche König freundlichen Willen trüge. Dagegen riet Hagen ab, weil man ohne Kriegsbereitschaft in dem fernen und fremden Land zu großem Schaden kommen könne. Ihm widersprach Giselher, indem er sagte, der Oheim fürchte Gefahr für seinen eigenen Leib und gedenke dessen, was er an Siegfried getan hatte, und wähne, die Königin werde mit gleicher List gegen ihn verfahren. Über diese Rede ergrimmte der Recke. „Wann habe ich jemals um Leibes und Lebens willen den Schild herabgesenkt?“, rief er: „Wollt ihr nach Hünenland fahren, so will ich Führer sein, da ich der Wege kundig bin. Ich sorge nicht für mich, sondern nur für der Burgunden Ruhm und Glanz, für euch, ihr Könige, deren Lehnsmann ich bin.“ Die Fahrt wurde also beschlossen, und die Spielleute reisten reichlich beschenkt mit der Botschaft in ihr Land zurück.

Hier zeigt sich nun wieder das Wesen von Hagen, der natürlich ein feines Gespür für alles hat, was das Ego bedrohen könnte. Nicht umsonst heißt es: „Was Ich selber denk und tu, das trau Ich auch den anderen zu.“ Und doch trifft Giselher als der „Einnehmende“ den wunden Punkt, und sogleich will das Ego wieder an der Spitze stehen. Klingt absurd, aber wer jemals versucht hat, gegen das Ego anzukämpfen, der weiß, daß es selber das erste ist, das sich in diesen Kampf stürzt, denn es lebt vom Kampf und wird dadurch immer stärker.

Die Vorbereitung zur Reise leitete Hagen, und es hatte schier den Anschein, als ob er zu einer Heerfahrt rüste. Tausendundsechzig Recken, alle in reichem Gewand und wohlgewappnet, nebst neuntausend Knechten wurden aufgeboten und angewiesen, scharfe Speere und Schwerter und stahlharte Helme und Schilde zu führen. „Die Nibelungen fahren zu den Hünen. Mögen sie heil zurückkehren!“, sprach man unter dem Volk, als die Mannschaft über den Rhein fuhr. Denn seitdem der Nibelungenschatz ins Land gekommen war, nannte man die Könige nebst ihren Verwandten und Mannen nach jenem unbekannten Reich die Nibelungen. Gern hätte Frau Ute die Tochter wieder in die Arme geschlossen, aber ihr Alter erlaubte ihr die weite Reise nicht. Auch Brünhild blieb zurück, weil sie kein Verlangen trug, die Todfeindin in ihrem Glück zu sehen. Sie mied überhaupt festliche Versammlungen und weilte lieber am Hügel, wo Siegfrieds Leiche ruhte.

Die Nibelungen schifften über den Rhein und ritten dann in zwölf Tagen unter Führung des wegkundigen Hagen durch den Schwarzwald und manche Wildnis, bis sie unangefochten an der Grenze des Bayernlandes die Donau erreichten. Da war aber weder Herberge noch ein Fährmann aufzufinden. Während die Scharen sich lagerten, ging Hagen tiefer in das wilde Land und kam an einen Brunnen, der sich in einen See ergoß. Er sah daselbst Frauen, die sich in dem klaren Gewässer badeten, und erkannte alsbald, daß es Meerfrauen waren. Sie entflohen schwimmend bei seinem Anblick, wie weiße Schwäne auf dem Wasser. Aber er fand und bemächtigte sich ihrer Kleider, was sie zwang, ihm Rede zu stehen. „Gib uns die Gewänder“, rief ihm eine der Jungfrauen zu, „dann will ich dir weissagen.“

Da sprach das eine Meerweib · Hadburg war sie genannt:
„Hagen, edler Ritter · wir machen euch bekannt,
Wenn ihr uns, kühner Degen · die Kleider wiedergebt,
Was ihr auf dieser Reise · bei den Heunen erlebt.“

Sie schwammen wie die Vögel · schwebend auf der Flut.
Da deucht' ihn ihr Wissen · von den Dingen gut:
So glaubt' er um so lieber · was sie ihm wollten sagen.
Sie beschieden ihn darüber · was er begann sie zu fragen.

Er verhieß ihrem Verlangen zu willfahren, wenn sie ihm den Ausgang der Reise verkündige. Sie sprach, er werde mit allen seinen Genossen große Ehren in Etzels Land genießen und ungefährdet heimkehren. Als der Held aber die Gewänder zurückgab, sagte eine andere Jungfrau, ihre Schwester habe aus List so geweissagt, vielmehr werde von dem ganzen Heer nur der Priester heil bleiben und den Rhein wieder erblicken. Alle anderen werden im fremden Land durch das Schwert umkommen, wenn sie nicht, der Warnung folgend, die Rosse alsbald zurücklenken wollten.

Da sprach das andre Meerweib · mit Namen Siegelind:
„Ich will dich warnen, Hagen · Aldrianens Kind.
Meine Muhme hat dich · der Kleider halb belogen:
Und kommst du zu den Heunen · so bist du übel betrogen.

„Wieder umzukehren · wohl war' es an der Zeit,
Dieweil ihr kühnen Helden · also geladen seid,
Daß ihr müßt ersterben · in der Heunen Land:
Wer da hinreitet · der hat den Tod an der Hand.“

„Ihr seid wohl der Lüge schuldig“, sprach der kühne Recke, „ich gedenke mit Schwert und Schild meine Herren und mich zu bewahren. So gebt uns nun Rat, wie wir über die Flut kommen können.“ Sie sagten, er werde stromabwärts am jenseitigen Ufer eine Herberge sehen, wo der Fährmann wohne, ein reicher und kühner Held. Er solle ihn anrufen und sich für Amelrich, den Freund desselben, ausgeben. Er müsse aber glimpflich mit dem stolzen Recken verfahren, ihm reichen Sold bieten, sonst werde er in Gefahr kommen. Als die Meerfrauen solches geredet, schwebten sie über die glänzenden Fluten und verschwanden in der Ferne.

So überquerten die Burgunden zuerst den Rhein und kommen dann in das Nebel-Reich, weshalb sie nun auch zurecht „Nibelungen“ genannt werden. Dort findet Hagen einen weiteren Schicksalsbrunnen mit zwei „Meerfrauen“, die das Schicksal voraussagen können. Damit finden wir nun in dieser Geschichte insgesamt zwei Brunnen, zwei Flüsse und zwei Meerfrauen. Der eine Fluß ist der männliche Rhein und erinnert an den Fluß des Lebens, der durch das Sieg-Reich von Siegfried in die Nordsee fließt. Der andere ist die weibliche Donau, die nun hier an den Fluß des Todes erinnert und am Ende in das Schwarze Meer fließt. In den zwei Meerfrauen könnten wir symbolisch auch Brünhild und Kriemhild wiederkennen. Die eine heißt Hadburg im Sinne von „der Kampf um die Burg“, und die andere Sieglinde, wie die Mutter von Siegfried, im Sinne „des Sieges vom Baum des Lebens“. Die eine lügt, weil Hagen ihre Kleider bzw. äußere Form ergriffen hatte. Die andere mahnt ihn zur Umkehr zum Fluß des Lebens. Und das ist wohl auch die letzte Chance für den Ego-Verstand, hier noch umzukehren und sich dem Leben und dem Sieg-Frieden der Vernunft zuzuwenden. Doch wie er sich an der ersten Quelle vom Fluß des Lebens für den Tod der Vernunft entschieden hat, so entscheidet er sich nun hier für seinen eigenen Tod.

Nun könnte man fragen: Wie kommen Meerfrauen in einen Brunnen? Und warum können sie das Schicksal vorhersagen? Wie kann die Quelle wissen, wohin der Fluß fließt? Nun, alle Flüsse fließen irgendwann wieder ins Meer, was man äußerlich sehen kann, und aus dem Meer kommt das Wasser wieder in die Quelle, was mehr im Verborgenen in der „Nebel-Welt“ geschieht. Diesbezüglich ist es vielleicht kein Zufall, daß das Wort „Leben“ rückwärts gesprochen zu „Nebel“ wird, also ein vorwärts und ein rückwärtsfließen im ewigen Kreislauf des Lebens. Und wenn man dem Wasser noch eine Erinnerungsfähigkeit zugesteht, wie es die alten Religionen andeuten und es praktisch auch die Homöopathie kennt, dann kommt man einer Antwort schon näher.

Doch der stolze Hagen glaubt nicht an ihre Vorhersage, sondern stellt seine vermeintlich eigene Kraft über das Schicksal und will damit den Geist über die Seele erheben. Daraufhin weisen sie ihm den Weg zum Fährmann auf dem Fluß des Todes.

Hagen befolgte ihren Rat. Er fand die Herberge, verlangte bescheidentlich Überfahrt, und als das vergeblich war, rief er laut, daß es in den Bergen widerhallte: „Hol' über, Fährmann, deinen Gesellen Amelrich, der Eile hat!“

Da rief er so gewaltig · der ganze Strom erscholl
Von des Helden Stärke · die war so groß und voll:
„Mich Amelrich hol' über · ich bin es, Elses Mann,
Der vor starker Feindschaft · aus diesen Landen entrann.“

Sofort hörte er gewaltigen Ruderschlag, und bald war der Fährmann mit einem großen Boot am diesseitigen Ufer. Hagen bot ihm eine schwere Spange von rotem Gold für die Überfahrt. Aber der Schiffsherr ergrimmte, daß er statt seines werten Gesellen Amelrich den Fremdling vor sich sah, gab ihm mit dem gewaltigen Ruder einen Schlag auf das Haupt, daß es wohl sein Ende gewesen wäre, hätte ihn nicht der feste Helm beschirmt. Hagen erwiderte den Streich mit dem Schwert so kräftig, daß der Fährmann totwund über Bord fiel.

Nun, der Fährmann erwartete einen Amelrich. Der Name erinnert an die Amelungen von Dietrich, den wir noch in der Rolle der wachsenden Vernunft kennenlernen werden, und damit an den „wahren und beständigen Reichtum in der Schöpfung“ und nicht an das blutrote Gold von Hagen. Wie alle Flüsse ins Meer fließen, so ist auch das Reich des Todes im Grunde ein ganzheitliches Reich, wie man auch sagt, daß es im Tod keine Unterschiede mehr gibt. So war wohl auch der große Preis, den Hagen hier zahlen sollte, sein trennendes Ego-Bewußtsein, das ihm der Fährmann mit dem Ruder nehmen wollte. Und wer dann kein anderes Bewußtsein hätte, der müßte in diesem Fluß des Todes versinken, in die Unbewußtheit der dunklen Höhle bzw. Hölle, sozusagen bis ins Schwarze Meer. Der beständige Reichtum wäre das wahre Bewußtsein einer ganzheitlichen Vernunft, auch wenn es nur wenig ist. Und das sind wohl die Helden, die hier vom Fährmann erwartet wurden, wie man sich in der nordischen Mythologie auch vorstellte, daß die wahrhaften Helden nach Walhalla in die „Kampfhalle“ des göttlichen Walvaters kommen und nicht in der dunklen Unbewußtheit versinken.

Und wie sich in Walhalla durch viele hundert Tore die wahrhaften bzw. vernünftigen Helden der „Einherier“ friedlich vereinen, so könnte man auch im Hünen-Reich von Etzel eine ähnliche Symbolik sehen, wo sich viele Völker und Helden verschiedenster Religionen vereinten, zuerst durch die Macht von Helche und nun durch Kriemhild als reine Seele der Natur. Doch was geschieht, wenn in dieses Reich das mächtige Ego von Hagen kommt? Das könnte man sich wie folgt vorstellen:

Darauf ergriff der Recke selbst das Ruder, und obwohl Wind und Strömung dagegen waren, Hagens starker Arm besiegte den Widerstand und landete an der Stelle, wo das Heer gelagert war. Die Überfahrt ging nun rasch von statten. Wieder und wieder mußte der wilde Fluß durchquert werden, aber der kräftige Held ermüdete nicht, bis die Menge der Reisenden übergesetzt war. Unter den letzten befand sich auch der Priester des Königs. Doch ihn warf Hagen mit einem Ruderschlag über Bord und rief grimmig: „Müssen wir alle durch das Schwert fallen, wie die Meerfrauen gesagt haben, dann soll der Pfaffe statt des Weins bei den Hünen hier Wasser saufen und den Rhein nicht wiedersehen!“


Hagen wirft den Priester in die Donau, unten links die beiden Meerfrauen im Fluß, eine von ihnen fängt ihn auf.

Aber seine Worte wurden nicht wahr, denn Gottes Hand hielt den Priester über Wasser, und Wind und Wellen trieben ihn an das Ufer zurück. „Nun mag der Teufel walten“, sagte der stolze Hagen, „ich acht' ihn nur gering. Denn was geschieht, das muß geschehen, so ist der Nornen Spruch.“ So glaubte er nun der Weissagung, offenbarte diese seinen Helden und zerstörte das Boot, daß niemand aus Furcht zurückkehren könne. Dann ordnete er die weitere Reise und blieb selbst, Verfolgung und Flucht fürchtend, bei der Nachhut. Volker führte die Spitze, da er des Weges kundig war.

Nun, das Ego glaubt natürlich nicht daran, daß in diesem Fluß des Todes nur das trennende Bewußtsein untergeht und das ganzheitliche überlebt. So überlebt auch symbolisch der Priester als Vertreter des Heiligen Geistes, obwohl Hagen versuchte, ihn wie die Siegfried-Vernunft zu töten. Aber er versinkt nicht im Fluß des Todes, auch mit aller Gewalt nicht, sondern wird von Gott bzw. der Ganzheit zurück zum Fluß des Lebens getragen. Zwar muß sich Hagen nun eingestehen, daß die Meerfrauen wahr gesprochen haben, will aber immer noch nicht umkehren, sondern schneidet sich bewußt jeden Rückweg ab, um vor allem auch seiner eigenen Furcht vor Vernichtung vorzubeugen, die grundsätzlich immer mit einem Bewußtsein verbunden ist, daß sich in einer Ego-Blase von der Ganzheit bzw. Gott abgetrennt hat. Aber gewöhnlich versucht das Ego, diese Angst mit überheblichem Stolz, Ignoranz und Brutalität zu unterdrücken, was man in der Zerstörung des Bootes sehen kann.

Auch Volker spielt hier wieder eine interessante Führungsrolle und erinnert uns an die zuvor erwähnten Nornen bzw. Schicksalsgöttinnen, die nach der nordischen Mythologie am Schicksalsbrunnen an der Wurzel des Weltenbaums Yggdrasil die Schicksalsfäden aus dem Wasser bzw. Meer der Ursachen spinnen. Ähnlich kennt auch die altindische Philosophie drei Grundqualitäten zur Bewegung der Welt, nämlich die drei Gunas von Rajas, Tamas und Sattwa, die man als Leidenschaft, Trägheit und Güte übersetzen kann und diesbezüglich auch an die Wesen von Ego, Verstand und Vernunft erinnern.


Drei Nornen mit Schwert, Schreibtafel und Waage
(J.L. Lund um 1844, Quelle Wiki)

Doch Hagen fand am Schicksalsbrunnen nur zwei Nornen. Die dritte könnten wir hier symbolisch in Volker sehen, sozusagen die Leidenschaft als das Ego-Schicksal in männlicher Wirksamkeit. So geht nun die Reise weiter in die Dunkelheit, angeführt von Volker mit seiner Schicksals-Geige und dem scharfen Schwert als Geigenbogen.

Schon breitete die Nacht ihren Frieden über die Erde, und die Sterne blickten vom dunklen Himmel herab auf die wegmüden Recken. Da hörte Hagen hinter sich Pferdehufschlag. Er kehrte sich um, aber ehe er den Speer ergreifen konnte, wurde er angerannt und aus dem Sattel gehoben. Markgraf Gelfrat war es, der den Recken so unsanft begrüßte. Den erschlagenen Fährmann zu rächen, hatte er mit seinem Bruder Else und siebenhundert Helden die Spur verfolgt und fiel nun wie ein Gewittersturm über sie her. Hagen sprang zwar nach seinem Fall sogleich wieder auf und zog das Schwert, aber er wurde umringt, und der starke Markmann spaltete ihm den Schild. In der höchsten Not kam ihm sein Bruder Dankwart zu Hilfe. Dieser griff mit seinen Mannen die Feinde mutig an, und unter seinem Schwert fiel Gelfrat. Else aber floh verwundet, nachdem über hundert seiner Helden erschlagen waren.

Auch diese Symbolik ist interessant: Der Ego-Weg bleibt auch in dieser Welt ein Weg des tödlichen Kampfes. Und wie das Ego die Siegfried-Vernunft hinterrücks angegriffen und getötet hatte, so wird hier auch Hagen, wie befürchtet, von hinten angegriffen. Der Name Gelfrat könnte „lichtvoller oder lebhafter Ratgeber“ bedeuten, und Else erinnert an Elisabeth als „die von Gott geehrte oder geweihte“ und damit auch an die Vernunft als männlicher Geist. So könnte man in diesen beiden Brüdern wieder Vernunft und Verstand sehen, die hier das Ego angreifen, das aber mit Hilfe von Dankwart als „Gedächtnis“ in diesem Reich nur den erleuchteten Verstand töten kann, während die Vernunft von Dankwart verwundet entkommt. Ja, so leicht ist das Ego nicht zu besiegen, und die Geschichte der Nebel-Krieger geht weiter:

Die Nibelungen setzten nach dem Gefecht ihre Fahrt unbehindert fort, aber fanden auf dem Weg nirgends gute Herberge, bis sie nach Passau kamen, wo man sie gastlich aufnahm. Sie hielten daselbst einen Tag Rast und fuhren darauf weiter den Strom entlang zu Tal. Da sahen sie einen Recken, der friedlich im blumigen Gras der Ruhe pflegte. Er schlief so fest, daß er erst erwachte, als ihm Hagen das Schwert von der Seite riß. Nun fuhr er auf und klagte sehr, daß ihn der gute Rüdiger einen ungetreuen Wächter schelten werde, wenn er ohne Waffe vor seinem Herrn erschiene.

„O weh mir dieser Schande!“ · sprach da Eckewart.
„Schwer muß ich beklagen · der Burgunden Fahrt.
Als ich verlor Siegfrieden · fing all mein Kummer an;
O weh, mein Herr Rüdiger · wie hab' ich wider dich getan!“

Hagen gab ihm die Waffe zurück und noch Armringe aus rotem Gold, damit er dem Markgrafen schnelle Botschaft bringe, daß die Könige von Burgund mit ihren Mannen Herberge bei ihm nehmen wollten. Der Recke dankte für die Gabe. „Aber kühner Held“, fügte er hinzu, „ich kenne dich wohl. Du bist der grimmige Hagen, und ich rate dir, fahre nicht zu den Hünen, denn hier bist du ein Feind, weil du Siegfried ermordet hast.“ - „Das acht' ich nur gering!“, sprach Hagen: „Nun säume nicht, dem Markgrafen die Botschaft zu bringen.“ Der Recke bestieg sein Pferd, das in der Nähe weidete, und jagte fort nach Bechelaren.

Der Wächter heißt im Nibelungenlied Eckewart und kam zum Schutz mit Kriemhild in dieses Reich. Sein Name könnte „der Wächter mit der Schwertschneide“ bedeuten, aber er erwartete wohl hier im Reich der Hünen keinen ernsthaften Feind, weil er so fest schlafen konnte. Auch hier könnte man in Eckewart wieder den unterscheidenden Verstand sehen, der immer wachsam sein sollte, damit er sein Schwert der Unterscheidung nicht an das Ego verliert. Starke Symbolik! Zumindest erkennt er dann als Diener der Rüdiger-Vernunft das Ego, aber macht sich immer noch große Sorgen um dessen Leben, weshalb er wohl auch nicht weiter als an die Grenze des Hünen-Reichs gekommen war. Während Rüdiger als „Speer der Ehre“ mit genügend Vernunft herrschte und wie Siegfried das Ego nicht mehr fürchtete. So werden wir nun in diesem Reich noch weitere wahrhafte bzw. vernünftige Helden finden, die über den Verstand herrschen, sich einen Platz in Walhalla gewonnen haben und das Ego nur noch als ehemaligen Kampfgefährten aus ihrer Jugend kennen, aber noch nicht so vollkommen frei davon sind, wie Siegfried als reine Vernunft.

Das war eine wonnige Botschaft dem edlen Rüdiger, als er vernahm, die lieben Freunde aus Burgund wollten bei ihm zur Herberge einkehren. Er gebot seine Mannen, und hieß seine Frau Gotlinde und die schöne Tochter Dietlinde, zum Empfang sich vorzubereiten. Sie sollten, sagte er, in Zucht und Ehren die Könige und ihre Verwandten Dankwart, den Fiedeleur Volker und insbesondere seinen alten Gesellen Hagen mit Küssen empfangen, wie es Brauch war. Das ganze Haus war in freudiger Aufregung. Die edlen Frauen suchten ihre reichsten Gewänder hervor, die von Gold und kostbarem Gestein glänzten. Sobald man von der Zinne die Gäste erblickte, ritt ihnen Markgraf Rüdiger mit vielen Recken entgegen, begrüßte sie und sagte ihnen, daß er sie samt ihrem Gesinde, wie zahlreich es auch sei, wohl bewirten werde. Vor dem Haus stand die Markgräfin mit ihrer Tochter und sechsunddreißig edlen Frauen und Jungfrauen, alle in glänzendem Schmuck, mit Goldreifen um Haar und Stirn. Die Hausfrau bot den Königen und ihren Verwandten Gruß und Kuß, desgleichen tat auch nach Sitte die junge Markgräfin. Als sich aber die Tochter unbefangen dem Helden von Tronje näherte, wich sie erschrocken zurück, denn es wehte sie an wie Blutgeruch, und sie wollte und konnte ihn nicht küssen. Da wurde sie von ihrer Mutter getadelt, daß sie dem werten Gesellen des Vaters den lieben Gruß verweigere, und der Markgraf gebot ihr mit Strenge, Folge zu leisten. Sie tat es zögerlich und entfloh dann totenbleich an die Seite ihrer Mutter, als wolle sie Schutz vor dem ihr selbst unerklärlichen Schrecknis suchen. Die Jungfrau wußte nichts von der Schuld, die auf Hagen ruhte, aber es war eine Ahnung, die in der reinen Seele aufstieg und sie vor dem Freund ihres Vaters zurückschrecken ließ.

Wie der Name Rüdiger an einen „Speer der Ehre“ erinnert, so kann man bei Gotlinde an den „göttlichen Lebensbaum“ denken. Ihre Tochter trägt den Namen Dietlinde, der von „diet“ als Volk oder Menschen abgeleitet werden kann und damit an den „menschlichen Lebensbaum“ als Seele des Menschen erinnert.


Wie die Burgunden zu Bechelaren empfangen wurden

Die edle Gotlinde schritt mit König Gunther nach der festlichen Halle, der Hauswirt folgte mit Gernot, und der junge Giselher gesellte sich der Tochter des Hauses zu. Bald saßen die Gäste beim lecker bereiteten Mahl, und mit ihnen zur Freude der Recken die edlen Frauen und Jungfrauen, die zum Gefolge der Markgräfin gehörten. Das Gesinde lagerte unter Zelten und Hütten, die man schnell aufgeschlagen hatte, und erquickte sich an Speise und Wein, die der reiche Markgraf im Überfluß spendete. Als das Mahl beendet war und der Becher kreiste, entfernte sich die junge Markgräfin Dietlinde, die neben Giselher gesessen hatte, mit dem weiblichen Gefolge, aber die Hausfrau blieb nach der Sitte bei den Gästen und sorgte dafür, daß es an Wein nicht mangelte.

Am folgenden Tag ließ der Markgraf die Gäste noch nicht scheiden, und diese waren auch nicht traurig darüber, denn es wurde alles aufgeboten, was ihnen den Aufenthalt angenehm machen konnte. Giselher insbesondere wußte den Sitz neben der jungen Markgräfin zu behaupten, und die Recken flüsterten unter sich, daß die beiden jungen Leute, er als ein kühner und herrlicher Held und sie als die lieblichste Jungfrau, wohl für einander geschaffen seien. Auf des Vaters Geheiß sang die Jungfrau zur Harfe ein Lied von einer edlen Maid, die mit Klang und Gesang ihren Vater aus den Banden eines Riesen erlöste. Wie sie das süße Getön hervorlockte, da erschien sie den Gästen noch schöner als zuvor, und mancher Recke sagte, sie werde die ganze Riesenwelt mit Klang und Gesang bezwingen. Andere sprachen bei sich, sie wollten mit allen Riesen auf Tod und Leben kämpfen, könnten sie die Huld der edlen Maid gewinnen. So redeten die frohen Gäste und blickten mit Wonne nach der lieblichen Jungfrau, wie die Schiffer nach dem Polarstern, wenn sie auf schwankendem Schiff die Wellen durchschneiden. Als aber die junge Markgräfin so viele Blicke auf sich gerichtet sah, stieg sie verschämt vom Hochsitz herab und verließ mit ihrem Mägdelein die Halle, so daß die Gäste wähnten, es sei eine lichte Himmelserscheinung vor ihren Augen entschwunden.

Dann wurde es still unter den Recken, und da erhob Volker, der kühne Spielmann, die Stimme und sprach: „Wenn ich ein reicher Fürst wäre und eine Krone trüge, dann legte ich sie der wonnesamen Jungfrau zu Füßen und spräche, du sollst meine Königin sein.“ - „Und unter einer Krone sollte sie gehen“, sprach Gernot, der Held, „wenn ich sie ihr auf das schöne Haupt setzen könnte.“ - „Ihr wißt nichts und begreift nichts!“, rief Hagen der Tronjer: „Seht ihr denn nicht, wie unser König Giselher die Jungfrau ins Herz geschlossen hat? Sag ja, König Gunther, und forsche, ob unser Gastgeber, der hochedle Markgraf, nicht widerspricht.“ - „Dessen bin ich wohl willens“, entgegnete der König, und bot Rüdiger die Hand. Freudig schlug dieser ein, doch fügte hinzu: „Bedenkt aber, werte Gäste, daß ich nicht Land und Leute zu verleihen vermag. Burgen und Städte gehören meinem Herrn, dem König der Hünen.“ - „Aber wir wollen nicht Burgen und Städte an den Rhein führen“, sagte Gernot, „nur die liebliche Jungfrau begehren wir. Wenn sie uns folgen will, so vermeinen wir, einen reichen Schatz von dem werten Gastgeber zu empfangen.“ - „Dazu wird die Tochter des Markgrafen nicht ärmlich dahinfahren“, sprach Rüdiger, „hundert Lasttiere, schwer beladen, sollen ihren Brautschatz an Gewändern und edlen Kleinodien nach Worms über den Rhein führen.“ - „Schließt den Ring, edle Recken!“, rief Volker: „Man gebiete unseren König Giselher und die edle Dietlinde hierher, daß wir fragen, ob sie beide dazu willens sind.“ Die Recken schlossen den Ring um die jungen Leute, als sie, der Botschaft folgend, in die Halle traten. Nun wurden nach alter Sitte die Fragen an sie gerichtet, ob sie einander in Treue zugetan sein wollten. Der königliche Held sprach freudig ein „Ja“, aber die Jungfrau, hoch errötend vor den Blicken so vieler Männer, zögerte, schlug verschämt die Augen nieder und flüsterte erst auf die zweite Frage ein leises „Ja“. Dann umschloß sie Giselher mit beiden Armen und gab ihr den Verlobungskuß, und der Bund war für die Lebenszeit geschlossen.

Diese Geschichte von Rüdiger wird hier nicht umsonst so ausführlich erzählt, denn sie bietet uns einen tiefen Einblick in das komplexe Wesen eines „wahrhaft vernünftigen Helden“. Rüdiger war es, der als Bote im Auftrag von Etzel Kriemhild als reine Seele in das Reich der Hünen geholt hatte und dient nun als Markgraf in der „Mark“, das heißt, im Grenzland seines Reiches, ohne eigenes Eigentum an „Burgen und Städten, Land und Leuten“. So hat er offenbar zusammen mit seiner Frau Gotlinde als „göttlicher bzw. ganzheitlicher Lebensbaum“ die ganzheitliche Vernunft schon gewonnen, wenn auch noch am Rande des Hünen-Reichs. Denn als „Speer der Ehre“, wie man den Namen Rüdiger deuten kann, hängt er noch sehr am verstandesmäßigen Ehrbegriff und nimmt vielleicht auch deshalb das Ego als Führer der Burgunden so übermäßig gastfreundlich auf. Damit nährt und stärkt er das Ego, möchte zur Freude des Egos sogar seine Tochter als Menschenseele mit den Burgunden verheiraten, und gibt ihnen schließlich sogar noch Waffen, die sich am Ende tödlich gegen ihn selbst richten. Seine Tochter ahnt und spürt, daß dies keine gute Verbindung ist, obwohl sie Giselher als „einnehmenden Verstand“ liebt, wie ihn auch seine Schwester Kriemhild besonders liebt, aber vor Hagen spürt sie ein ahnungsvolles Grauen. Und so wird diese Verlobung auch nicht gut ausgehen, zumal Hagen auch weiß, daß die Burgunden nie an den Rhein zurückkehren werden.

So kann man über das Wesen von Rüdiger aus geistiger Sicht viel nachdenken, und was es eigentlich bedeutet, »seine Feinde zu lieben«, wie es auch Christus in der Bibel gebietet. Was meint er damit? Daß man sie ernähren und stärken soll?

Die Gäste verweilten noch manchen Tag bei den freundlichen Wirten, und der reiche Markgraf bot alles auf, was sie erfreuen konnte. Als endlich der Tag des Abschieds kam, verlieh er jedem Recken mancherlei Gaben an Spangen, Ringen, Gewand und Rossen.

Da gab er Gernoten · eine Waffe gut genug,
Die hernach in Stürmen · der Degen herrlich trug.
Ihm gönnte wohl die Gabe · des Markgrafen Weib;
Doch verlor der gute Rüdiger · davon noch Leben und Leib.

Hagen wollte dergleichen Gaben nicht annehmen, sondern wünschte nur einen starken Schild, der unter anderem Rüstzeug an der Wand aufgehängt war. „Es ist Nudung‘s Schild, unseres einzigen Sohnes, den der ungetreue Wittich erschlug.“, sagte die Markgräfin, und ihre Tränen flossen reichlich auf den blanken Schild: „Nimm ihn hin, kühner Held, möge er dich besser behüten, als unseren Liebling. Mögest du ihn zu den Hünen mit Ehren tragen und wieder zurück über den Rhein.“ - „Ich gedenke ihn mit Ehren zu tragen“, sprach der Tronjer, „aber ich weiß nicht, ob ich ihn nach Worms bringen werde.“

Hier wird wieder die subtile Angst des Ego-Wesens angedeutet. Ein besseres Schwert als Balmung, das er sich von Siegfried angeeignet hatte, konnte er nicht bekommen, aber um seinen eigenen Schutz macht er sich trotzdem Sorgen und wünscht einen besseren Schild. Die Geschichte von Wittich als Ego-Verstand und Nudung als Kraft der Gegenwart werden wir später noch in der Dietrichsage näher kennenlernen. So verschenkt nun die Rüdiger-Vernunft seine eigenen Waffen: An den Gernot-Verstand das Schwert der Ehre, an das Hagen-Ego den Schild der Gegenwärtigkeit, und seine Tochter Dietlinde als Seele des „menschlichen Lebensbaums“ verlobt er mit dem Giselher-Verstand, anstatt mit der Vernunft. Damit sorgt er für seinen eigenen Tod und macht die Menschenseele zur Witwe, wie wir noch lesen werden. Entsprechend gibt auch Gotlinde dem Schicksals-Geiger „zwölf Spangen“, die wohl an die Bindungen des Schicksals im Reich der Ganzheit erinnern sollen, die nun künftig zu tragen sind:

Frau Gotlinde reichte auch Volker, dem unverzagten Spielmann, zwölf köstliche Spangen von rotem Gold, verziert mit manchem Edelstein. Da nahm der Held die Fiedel und strich die Saiten gewaltig und sang zum Abschied ein Lied, erst leise und lieblich, dann immer kräftiger, daß das Getön durch die weiten Räume schallte. Er sang:

Frau Minne, Frau Minne, tief, wie der Himmelsgrund,
An dem die Sterne leuchten, bist mir geworden kund.
Du hast zu Bechelaren die Herberge uns bestellt;
Da wohnt ein Wirt viel edel, ein tüchtig kühner Held,
Und Gotlinde, die Gute, die Gaben gern verleiht,
Und von ihr aufgepflegt die allerschönste Maid.

Die soll nun Krone tragen; der Krone ist sie wert,
Darum ein junger Held hat ihrer Huld begehrt.
Das Haus, wo feste Treue, wo süße Minne wohnt,
Es sei, oh Gott im Himmel, von schwerem Leid verschont.
Doch sehe ich Blutbach fließen und höre Schwerterklang,
Viel Weinen und viel Klagen: Es ist wie Grabgesang.

Der Spielmann warf die Fiedel fort, daß die Saiten mit schrillem Klang zersprangen. „Ein Höllengeist hat mir diese Töne eingegeben, ein Lügengeist, daß ich sie spielen und singen mußte!“, rief er, „Aber ich will ihn wohl bezwingen.“ Damit nahm er sein Instrument wieder zur Hand und zog neue Saiten auf.

Es war ganz still im Saal geworden, und ein seltsames Grauen kam über die Gäste und über ihre Gastgeber. Nur Hagen schien davon unberührt und sagte: „So sprachen auch die Meerfrauen im Weiher, doch hab' ich darum keinen Kummer.“ Volker hatte das Saitenspiel wieder gestimmt und fiedelte und sang dazu von Liebesglück und Heldensinn so wonnesam, daß alles Grauen wich und die Sorge schwand, so daß man nur der frohen Heimkehr gedachte. Die Gäste nahmen darauf mit Grüßen und Küssen Abschied von den vieledlen Frauen. Rüdiger aber gab ihnen selbst zusammen mit vierhundert Recken Geleit durch das Land Österreich bis nach Etzelburg, wo er sie dem König der Hünen vorstellen wollte.

Als die Burgunden · kamen in das Land,
Da erfuhr es von Bern · der alte Hildebrand.
Er sagt' es seinem Herrn · Dietrichen war es leid;
Er hieß ihn wohl empfangen · der kühnen Ritter Geleit.

Als man die stolze Burg mit ihren Mauern und Zinnen zu Gesicht bekam, erblickte man eine große Schar bewaffneter Männer in blanker Rüstung, die ihnen eilends entgegenritten. „Die Recken sind mir wohl kund“, sagte Hagen, „es ist der Berner Dietrich mit seinen Gesellen, die sollt ihr mit Ehren grüßen.“ Sofort stiegen die Könige samt dem Gefolge von den Rossen, und desgleichen taten auch Dietrich und seine Helden. „Seid willkommen im Hünenland, ihr tüchtigen Recken vom Rhein!“, rief der König von Bern: „Aber ich weiß nicht, ob ihr alle bei den Hünen wohl aufgenommen und behütet seid. Ich hoffe, der edle Markgraf habe euch kundgetan, daß die Königin noch immer Leid trägt um den starken Siegfried, dessen Tod sie an meinem alten Wehrgenossen Hagen zu rächen gedenkt. Wir kämpften früher Schild an Schild in Etzels Schlachten, und du hieltest manchen Speer von mir ab. So will ich dir nun hilfreich sein, so viel ich immer vermag. Doch bin ich unfroh eurer Reise zu den Hünen, der Königin wegen.“ - „Ich habe geringe Sorge um den Haß eines Weibes, weil ich im Dienst meines Lehnsherrn hierher geritten bin“, sprach der kühne Hagen, „auch tröstet mich deine Treue, vieledler Berner Held.“ - „So magst du auch meiner gedenken“, sprach Volker, der Spielmann, „in Streitesnot will ich mich als treuer Geselle erweisen.“

Der Name Dietrich erinnert an den „wahren Reichtum der Menschen“, und Hildebrand an den „feurigen Kampf mit dem Schwert“. Zu Dietrich von Bern und Hildebrand gibt es eine eigene lange Sage, in der auch Hagen, Gunther, Gernot und Giselher ihre Rollen spielen. Dort wird erzählt, wie Dietrich viele Ego-Drachen besiegte, sich mit der Elfenkönigin Virginal („die Jungfräuliche“) als Seele der Natur verheiratete und zum Herrn und König über viele mächtige und kampferprobte Gesellen wurde, die man Amelungen nannte, machtvolle Geschöpfe dieser Welt, vermutlich abgleitet von urgermanisch „amal“ als Lebenskraft und Tapferkeit oder auch von „Amen“ als das göttliche Schöpfungswort „So sei es!“. Doch später wurde er von einer kaiserlichen Übermacht an Habsucht, Lüge, Haß und Hinterlist aus seinem Königreich vertrieben, Virginal starb in seinen Armen, und er floh an den Hof von Etzel. Dieser Sage werden wir uns später noch ausführlich zuwenden…

Zusammengefaßt haben wir bisher auf dieser Reise im Reich der Hünen, die geistig den Fluß des Todes überquert haben, drei symbolische Heldenpaare gefunden: 1) Else mit seinem Bruder Gelfrat, denen der mächtige Fährmann dient. 2) Markgraf Rüdiger mit seinem Wächter Eckewart. Und 3) König Dietrich mit seinem Waffenmeister Hildebrand. In allen drei Paaren können wir symbolisch die ganzheitliche Vernunft mit dem begrifflichen Verstand wiederfinden, der sich der Vernunft untergeordnet hat. Aber diese Vernunft erscheint in drei unterschiedlichen Entwicklungsstufen, und entsprechend näher sind sie König Etzel. Dietrich ist wohl am höchsten entwickelt, aber die Vollkommenheit eines Siegfrieds hat er noch nicht erreicht. Für diesen „Sieg-Frieden“ ist noch ein weiterer Kampf nötig, um das Ego an der Wurzel zu besiegen.


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Der Petrusschlüssel - (Thema: reines Bewußtsein)
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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: