Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Bramilla

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Um der Frage nachzugehen, wie Wolfdietrich aus der innerlichen Welt wieder in die körperliche Außenwelt kommt, möchten wir hier eine Geschichte aus der Sage über Herzog Ernst von Bayerland einbauen, die uns aus geistiger Sicht im Handlungsfluß passend erscheint, und die wir zum besseren Lesen auf Wolfdietrich beziehen. Damit setzen wir auch das bisherige Thema der Anhaftung fort und wie das Loslassen nötig ist, um bewußt zu bleiben und ein ganzheitliches Bewußtsein zu erreichen:

Auf diesem Weg kam Wolfdietrich wieder an das Meeresufer und fand eine Hafenstadt, wo er auf ein Schiff in die Heimat wartete. Bald wurde seine Hoffnung erfüllt, und der Schnellsegler „Konstantin“ ging vor Anker. Nachdem die Reisenden, wie auch die Händler mit ihren Waren, an Land gegangen waren und das Schiff nach einigen Tagen zurückkehren wollte, ging auch Wolfdietrich an Bord, verhandelte mit dem Kapitän, und der heldenhafte Recke wurde gern aufgenommen. Am anderen Morgen, als die Sonne blutrot im Osten aufging, begann die Fahrt, der Wind war günstig, und es ging schnell voran. Auf Deck traf er einen reichen indischen Kaufmann mit seiner schönen Tochter Bramilla, und kam mit ihnen ins Gespräch. Er wunderte sich, daß sie seine Sprache verstanden. Da erzählten sie, wie christliche Priester in Indien manch königlichen Hof und hohen Adel und damit auch das Volk bekehrt hätten, so daß sie deren Sprache lernen konnten. Sie erzählten auch viel von ihrem wunderreichen Vaterland, von den köstlichen Früchten, die dort gediehen, den reichen Schätzen an Gold, Silber und Edelgestein, und wie sie sich freuten, irgendwann wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Besonders gern unterhielt sich die Tochter mit dem Recken, und wenn er die schöne Bramilla anredete, blitzten ihre dunklen Augen und verkündeten, daß er ihr liebgeworden war. Auch er war ihr gewogen, doch erinnerte er sich an seine Siegminne und daß er ihr niemals untreu werden wolle, auch wenn ihm ganz Indien und die Herrschaft über alle Reiche der Welt geboten würden.

Indessen ging die Fahrt zügig voran, und der Kapitän des Schnellseglers war frohen Mutes, daß sie bei diesem Wind in wenigen Tagen ihr Ziel erreichten. Am dritten Tag standen die Herren bei dem Steuermann und sahen zu, wie er das Fahrzeug lenkte. Da bemerkten sie, daß er plötzlich mit größter Anstrengung das Steuerrad zu bewegen versuchte. „He, Steuermann, Backbordseite!“, rief der Kapitän vom Ausguck herab, „Leewärts! Zum Henker, Steuermann, willst du gegen Wind und Wellen segeln?!“ Er glitt eilends vom Mast herunter und stürmte ganz wild zum Steuer. „Da, schaut selber zu, Kapitän“, sagte der Steuermann, „unseren Konstantin hat der Tollwurm gestochen. Er achtet das Ruder nicht einen Pfifferling und folgt seinem Tollkopf.“ - Es war in der Tat so, wie der Mann sagte. Das Schiff fuhr gegen Wind und Wellen in einer Richtung, die der bisherigen entgegengesetzt war. Der Kapitän versuchte selbst, den Lauf zu wenden, aber alle Mühe war vergeblich. „Nun mögen uns Gott und die Heiligen helfen!“, sprach er, „unser Konstantin fährt uns in des Teufels Küche.“ - „Ja, es ist des Teufels Werk“, versicherte der Steuermann, „er fährt uns an den Magnetberg. Da müssen wir ersaufen und den Greifen zum Fraß dienen.“ Bei diesen Worten des erfahrenen Mannes falteten der Kapitän und die Matrosen ihre Hände und murmelten Gebete, vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben. „Der leibhaftige Teufel soll mich holen, wenn ich noch einen Spruch vergessen habe.“, schloß der Kapitän seine Andacht und ging unter Deck, um sich durch eine Flasche Rum der irdischen Sorgen zu entschlagen. Mit größerem Ernst riefen Wolfdietrich und Bramilla zu Gott und flehten, daß er sie aus dieser Gefahr erretten wolle, denn menschliche Hilfe war nicht möglich.

Das Schiff fuhr inzwischen immer weiter, ungeachtet des starken Gegenwindes, in gleicher Richtung fort. Die nicht gerefften Segel zerrissen, die Planken ächzten und drohten zu brechen. Alle wußten nun, daß der Segler in den Bereich des Magnetberges gekommen war, der im Umkreis von sechzig Meilen alles Eisen, folglich auch die mit Eisen beschlagenen Schiffe anzog. Zugleich erblickte man den Berg anfangs wie einen dunklen Punkt am Horizont, dann, je näher man kam, immer höher aus dem Meer aufsteigend, bis er schwarz und gespensterhaft wie eine Halbkugel der Mannschaft vor Augen stand.

Das Schiff fuhr mit steigender Geschwindigkeit, wie vom Sturmwind getrieben, darauf zu. Bald wurden alle Eisennägel aus dem Schiffsleib gezogen, der Rest stieß an die steilen Klippen und zerbarst mit schrecklichem Krachen. Ein Jammerschrei erhob sich und verstummte wieder, denn alles war im dunklen Flutengrab versunken. Wolfdietrich konnte sich von der Rüstung und allen Waffen losmachen, die unaufhaltsam in die Tiefe gezogen wurden, und sich wieder heraufarbeiten, das Land erreichen und sich mit großer Kraft am steilen Uferrand emporschwingen. Die hochgehenden Wellen trieben auch Bramilla heran, die sich an einer Schiffsplanke festgeklammert hatte. Der Held half ihr herauf, die anderen waren alle ertrunken, auch der Vater von Bramilla. Mit einem Seil angelten sie sich einige umhertreibende Kisten und Fässer, die Lebensmittel enthielten, wodurch sie imstande waren, einige Tage ihr Leben zu fristen. Sie hielten ein trauriges Abendmahl und gedachten bei einem Sorgenbecher Wein der Toten.

In diesem Magnetberg können wir aus geistiger Sicht ein wunderbares Symbol für die Anziehungskraft als eine Grundlage der Schöpfung aus dem Meer der Ursachen finden, wie auch Kaiser Anzius als Allvater am Anfang dieser Geschichte stand. Diese Kraft zieht alles, was sich anziehen läßt, zurück in die Tiefe, sozusagen jeden „Ladungsträger“, der eine Ladung festhalten will, wie auch das Schiff mit seiner Ladung an Kaufleuten und Waren. Und in diesem Meer der Ursachen ertrinkt dann alles, außer das Bewußtsein bzw. der Geist, der sich verkörpern will, und natürlich die Seele als Prinzip der Verursachung. Die beiden „überleben“ und fischen sich aus diesem Meer ihre Nahrung. Dazu muß der Geist auch seine Rüstung und Waffen aus Eisen loslassen, denn der Kampf ist ein Wirkprinzip der Anziehung, sei es dafür oder dagegen. So war früher auch das Eisen ein Inbegriff für Rüstungen, Waffen und Werkzeuge im irdischen Lebenskampf, wie später die Eisenbahn für die wissenschaftlich-technische Revolution. Und bezüglich des Schöpfungsprinzips erinnert uns der indische Name Bramilla an den indischen Schöpfergott Brahma und dessen weibliche Gefährtin Saraswati, die nicht umsonst als Göttin des Lernens gilt, was ohne das Prinzip der Verursachung unmöglich wäre. Denn wie könnte der Geist lernen, wenn er die Wirkungen seiner Gedanken, Worte und Taten nicht erfahren kann? Und das soll nun auch Wolfdietrich zusammen mit Bramilla tun, nämlich vor allem zu lernen, wie ein persönlicher Körper entsteht, um sich selbst zu erkennen, was man dann auch „Selbsterkenntnis“ nennt:

Der Berg bestand aus einem einzigen Felsen, der glatt wie polierter Marmor war. Er hatte jedoch einige Spalten und Risse, aus welchen dichtes weiches Moos hervorgewachsen war. Dieses Moos diente zu Lagerstätten, und gelandete Segel, die man getrocknet hatte, zur Bedeckung gegen die empfindliche Kälte während der Nacht. Mittels der Risse konnte man auch auf den Gipfel des Berges klimmen und Rundschau halten. Man sah jedoch überall nur uferloses Meer. Bald wurden die Leichen der Menschen und Tiere von den hochgehenden Wellen an den schmalen Uferrand gespült. Da bemerkte Wolfdietrich, der immer nach einem Mittel zur Rettung aus der verzweifelten Lage umherspähte, wie jeden Morgen ungeheure Greife aus weiter Ferne daherflogen, einige von den Leichen mit ihren gewaltigen Krallen ergriffen und leicht, wie ein Habicht einen Sperling, mit sich forttrugen. Da kam ihm in den Sinn, wie vielleicht durch diese Riesenvögel ihre Rettung bewerkstelligt werden könne. Bald fanden sie auch einige Tierhäute, die auf den spitzen Klippen getrocknet waren, und Wolfdietrich schlug vor, sich in solche Felle einzunähen. Die Greife würden sie dann in ihr Nest zum Fraß für ihre Jungen tragen, und dann könne man, wenn die alten Vögel auf neuen Raub ausgeflogen seien, aus den Häuten schlüpfen und in Sicherheit gelangen. Es war ein kühner, ein verzweifelter Vorschlag, aber wenn sich kein anderer Ausweg darbietet, da wagt der Mensch das Äußerste, und oft gelingt dem Mutigen, was unmöglich schien.

Der Vogel „Greif“ erinnert uns hier aus geistiger Sicht an das Prinzip des Ergreifens von Ursachen, die aus dem Meer der Ursachen kommen, um wieder wirksam und lebendig zu werden. Dazu gehören auch die Leichen in unserem Unterbewußtsein, die auf ihre Auswirkungen in der körperlichen Welt warten. Aus diesem Greifen mittels der Kräfte von Begierde und Hunger wird später der begriffliche Verstand und das trennende Ego-Bewußtsein. Das geschieht normalerweise relativ unbewußt, und das Interessante ist hier, daß Wolfdietrich diesen Vorgang bewußt bewirkt und sich zusammen mit der Seele in eine körperliche Tierhaut einschließt, um bewußt ergriffen und in die körperliche Welt getragen zu werden. Denn das Bewußtsein ist natürlich eine wichtige Voraussetzung zum Lernen. Und es gibt wohl keinen anderen Weg als dieser hohe Grad an Bewußtheit zum ganzheitlichen Bewußtsein der Selbsterkenntnis und Vernunft, die dann zu einem wahrhaften Kaiser in der Welt werden kann:

Bramilla stimmte zu, denn auch sie sah keinen anderen Ausweg. Sie hüllten sich mehrfach in die herumliegenden Fetzen des dicken Segeltuchs, um gegen die gewaltigen Krallen der Vögel geschützt zu sein. Dann nähten sie sich mit Hilfe einer goldenen Nadel, die Bramilla im Haar trug, zusammen in die Tierhäute ein, lagen am Ufer und warteten in ihrer verzweifelten Lage. Bald hörten sie in der Ferne den Flügelschlag der gewaltigen Vögel. „Gott helfe uns!“, rief Wolfdietrich. „In seiner Güte und Barmherzigkeit“, ergänzte Bramilla. Ein Greif sauste heran, ergriff die Haut, die er für eine Tierleiche hielt, und flog mit Sturmesbrausen fort über das Meer. Der Flug dauerte einige Stunden, dann ließ sich der Riesenvogel mit seiner Beute im Nest nieder, wo die Jungen nach Fraß schrieen. Sobald die beiden wieder den Flügelschlag des Altvogels hörten, lösten sie die Stricke ihrer Umhüllung, in der sie fast erstickt wären. Das Nest war so geräumig, wie ein mäßiges Haus, und darin saßen fünf junge Greife, die verblüfft zurückwichen, als ihre Nahrung wieder lebendig wurde. Diesen Moment nutzten die beiden, um an dem steilen Felsen hinabzuklettern, auf dem der Bau stand. Sie eilten nach einem nahen Wald, um vor den alten Greifen geschützt zu sein, und fanden daselbst ein Brünnlein, wo sie den Durst löschten und einen Teil der mitgenommenen Lebensmittel verzehrten.

So werden nun Geist und Seele vom Greif der Körperlichkeit ergriffen und auf eine weitere Insel in ein Nest getragen, wo der Körper wachsen soll. Die fünf jungen Greife erinnern uns an die fünf Sinne, die sich hier auf dem Felsen der Materie entwickeln. Doch Geist und Seele bewahren ihre Bewußtheit vor den gierigen Sinnen, lösen ihre Bindungen an die Tierhülle und suchen „mit Gottes Hilfe“ ihre Freiheit im Wald der Welt. Hier finden sie zuerst einen schicksalhaften Brunnen, um ihren Durst zu stillen, und dann einen Quellteich voller Leben als Ursprung vom Fluß des Lebens, sowie die nötige Nahrung dazu:

Nun wanderten sie fort, dem Wald entlang, mehrere Tage. Der Speisevorrat war erschöpft, und sie mußten sich mit allerlei Wurzeln und Beeren begnügen. So gelangten sie an einen größeren Quellteich, der so reich an Fischen war, daß man sie mit den Händen fangen konnte. Desgleichen gelang es bisweilen, ein Wild mit Steinen zu erlegen, was gleichfalls dazu diente, den Tisch in der Wildnis besser zu bestellen. Aus dem Quellteich strömte ein wilder Fluß, dem sie nachfolgten und der sich bald brausend in einen tiefen Schlund ergoß, der, wie es schien, durch den ganzen vorliegenden Berg ging. Ringsherum starrte rauhes Gestein, senkrechte, unbesteigbare Felsen hemmten die Wanderer von allen Seiten, und von menschlichem Anbau zeigte sich keine Spur. Da war nun wieder guter Rat teuer. Und Bramilla sagte, man könne ein Floß bauen und getrost in den hohlen Berg fahren. Der Gott, der sie aus dem Schiffbruch und dem Greifennest gerettet hatte, werde sie auch glücklich durch den Berg und zu gastlichen Menschen führen. Sofort wurde rüstig Hand ans Werk gelegt. Wolfdietrich zimmerte sich notdürftig eine Steinaxt, fällte damit Bäume, behieb sie, so gut es gehen wollte, und verband sie mit Weidenruten drei und vierfach, damit das Floß beim Anprallen an den Steinwänden nicht auseinanderbreche. Am achten Tag war das seltsame Fahrzeug fertig, und die beiden bestiegen es voller Hoffnung. Das Floß schoß pfeilschnell hinunter in den Schlund, rannte bald rechts, bald links an Ecken und vorstehende Felsblöcke, obwohl sie es mit äußerster Gewalt mittels ihrer Ruderstangen zu lenken versuchten. Je weiter sie kamen, desto mehr nahm die Finsternis zu. In der Dunkelheit glitzerten Karfunkel und andere Edelsteine an den Wänden und von der Decke herab. Nach mehreren Stunden leuchtete den kühnen Schiffern der helle Tag entgegen, und sie gelangten ins Freie. Freudig begrüßten sie das rosige Licht, doch bemühten sie sich auch, aus dem reißenden Strom ans Land zu kommen.

Wunderbar, aus dem Mutterleib wurde ein Kind ins Licht der körperlichen Menschenwelt geboren! Nun beginnt der Lebenskampf, und wer sich noch zurückerinnern kann, für den geht der Lebenskampf einfach weiter:

Mit Hilfe der Ruderstangen gelang es ihnen, das Floß seitwärts zu schieben und an einem Vorsprung zu befestigen. Sie waren wiederum in einem Wald. Als sie sich aber durch das wilde, verschlungene Dickicht gewunden hatten, eröffnete sich vor ihnen eine weite Aussicht in eine Talebene, wo man wohlgebaute Dörfer, eine Stadt und eine Anzahl Landsitze erblickte. Auch bemerkte man Leute, die spazierengingen, ritten und in prächtigen Karossen fuhren, auch emsig arbeitende Landleute mit Ackergerätschaften und Handelsleute, die ihrem Geschäft nachgingen. Alle diese Leute, wie überhaupt alle Bewohner dieser Gegend, waren zwar wohlgestaltet, aber sie hatten nicht zwei, sondern nur ein Auge, und zwar mitten auf der Stirn, das allerdings von besonderer Beschaffenheit war. Man konnte damit auf unglaubliche Entfernung sehen und selbst, wenn Berge und Wälder dazwischenlagen, noch unterscheiden, ob sich Freunde oder Feinde dem Land näherten. Die Einäugigen sollen sogar in die Köpfe und Herzen anderer geblickt und ihre geheimen Gedanken erkannt haben. Vielleicht gibt es auch heute noch Menschen, die imstande sind, mit ihren beiden Augen dasselbe zu tun.

So kommen nun Geist und Seele zuerst in eine Kinderwelt, mit den Einäugigen als Symbol der Einfalt und Unschuld dargestellt, eine Welt, die noch nicht völlig vom begrifflichen Verstand beherrscht wird, der mit seinen zwei Augen überall nur Gegensätze sieht. Und doch kennt auch diese Kinderwelt der „Einsicht“ bereits Freunde und Feinde, Gutes und Böses, und das ist nun das große Problem, was es in der Menschenwelt zu lösen gilt.

Den Einäugigen, welche vorübergingen, waren die Fremdlinge sehr merkwürdig. Sie blieben stehen, wiesen mit Fingern auf dieselben, redeten sie in ihrer, den Wandernden unbekannten Sprache an und liefen dann zum Stadtrichter, um ihm die Wundergeschichte von zweiäugigen Menschen zu erzählen. Der Richter kam selbst, und große Haufen Neugieriger versammelten sich umher. Der Richter, ein wohldenkender Mann, der die Hilfsbedürftigkeit der Ankömmlinge erkannte, nahm sie mit in seine Wohnung, sorgte für ihre Leibespflege und gab ihnen frische Kleidung. Da sich nun das Gerücht von den merkwürdigen Menschen schnell weiterverbreitete, so ließ sie der König vor sich kommen. Er sah wohl, daß Wolfdietrich ein starker Held war, doch wollte er ihn prüfen und ließ einen wilden Streithengst vorführen. Der Ritter verstand trefflich, denselben zu führen, und wenn er heransprengte, liefen ganze Haufen von Eingeborenen auseinander. Dann sprang er sogar mitten im Galopp vom Roß ab und wieder auf, was den König sowie die anderen Zuschauer in Erstaunen setzte. Daher nahm er den Ritter in seinen Dienst, während die Königin die liebliche Bramilla bei sich behielt. Die Ankömmlinge waren auf diese Weise eingebürgert und erlernten bald die Landessprache. Da erzählte nun Wolfdietrich sein Schicksal und erfuhr dagegen, daß er sich im fernen Morgenland, und zwar im Königreich von Arimaspi befinde, daß aber die Arimaspiden von vielen Feinden bedrängt würden und mittlerweile unerschwinglichen Tribut aufbringen müßten. Der Ritter erbot sich, alle diese Feinde zu züchtigen, daß sie niemals wieder Einfälle wagen sollten, sofern ihm der König Waffen und Rüstung gebe, sowie die Ausbildung des Heeres und dessen Oberbefehl übertrage.

In diesem Reich der „Eingeborenen“ treffen sie zuerst den Richter, der die schicksalhafte Richtung ihres weiteren Weges bestimmt, welcher nicht zu den Bauern oder Handwerkern führt, sondern direkt zum König, wo sie ihre Bestimmung und Aufgabe finden. Der Name Arimaspiden oder Arimaspen stammt wohl aus alten griechischen Quellen, und Herodot leitet ihn von den skythischen Wörtern „arima“ für Eins und „spu“ für Auge ab. Er erinnert uns aber auch an die umstrittenen „Arier“, die wiederum nach Indien weisen, wo es im Sanskrit das Wort „Arya“ für Gastfreundschaft und edle Menschen gibt.

Das Reichsoberhaupt willigte gern ein und belehrte zugleich den neuen Kronfeldherrn, daß ein Einfall der furchtbaren Plattfüßer bevorstehe. Es seien, sagte er, Leute mit ungeheuren langen und breiten Fußsohlen, die über Hecken, Gräben, Mauern, überhaupt über alle Hindernisse hinwegspringen, bald zur Rechten, bald zur Linken angreifen und selbst auf dem Wasser laufen könnten. „Sie sollen springen wie die Heuschrecken, wenn wir sie jagen.“, meinte Wolfdietrich. Er ließ sofort für das ganze Heer Helme und große Schilde schmieden, aber weder Brünne noch Brünnehosen, da diese die schnelle Bewegung hinderten. Ferner wurden Schwerter, lange Spieße und Wurfspeere hergestellt und jeder Kriegsmann in Handhabung dieser Waffen täglich geübt. Nach einer weiteren Anordnung des Feldherrn verfertigten die Frauen künstliche Fallstricke von unzerreißbarem Hanf, die den Fuß dessen umstrickten, der darauf trat.

Als die Plattfüßer, hüpfend und springend über Berg und Täler, über Bäche und Flüsse, blitzschnell anrückten, fanden sie das Heer der Arimaspiden nicht hinter Gräben und Wällen, sondern auf offenem Feld aufgestellt. Sie sahen aber nicht die verdeckten Fallstricke, die ringsum gelegt waren. Sie schossen ihre nie fehlenden Pfeile ab, aber diese wurden mit den Eisenschilden aufgefangen. Sie schwenkten rechts und links in dichten Geschwadern, doch da fielen sie einzeln und haufenweise in die Stricke und wurden mit Schwertern und Spießen erschlagen. Tausende fanden auf diese Art ihren Tod, und das siegreiche Heer verfolgte die Flüchtlinge bis in ihr Land und zwang das ganze Volk zur Unterwerfung und Zinszahlung.

Nicht lange nachher fiel ein anderes Raubvolk in das Reich von Arimaspi ein. Es waren die Ohrlappen oder Langohren, Leute, deren Ohren so lang waren, daß sie bis über die Knöchel herabreichten, und so breit, daß sie sich ganz dahinein hüllen konnten und deshalb keiner anderen Gewänder bedurften. Sie brauchten auch keine Rüstung, da die Ohrenhaut hieb- und stichfest war. Sie rückten in zahlloser Menge und in kriegerischer Ordnung vor, vermieden die Schlingen und glaubten mit leichter Mühe die Arimaspiden überwältigen zu können. Von ihren Geschossen wurden auch viele der Gegner hingerafft. Doch diese bemerkten bald, wie sie beim Spannen der Bogen die Ohrhaut zurückschlugen, und schleuderten mit sicheren Händen ihre Speere dahin, wo eine Blöße war. Nun fielen Hunderte und Tausende, und als dadurch Unordnung unter den Ohrlappen entstand, stürmte Wolfdietrich mit der arimaspidischen Reiterei unter die verwirrten Scharen, die unter den Hufen der Rosse dahinsanken, so daß fast keiner aus der Niederlage entkam und das ganze Volk sich unterwerfen mußte.

Groß war der Ruhm des Helden durch diese Taten, aber während man das Siegesfest feierte, erschien ein Bote von dem König der Enakiten oder Enakssöhne, um Zins und Tribut zu fordern. Diese Leute waren gewaltige Riesen und furchtbar, ja unbesiegbar im Kampf. Der Botschafter mußte in dem gewölbten Thronsaal, wo der Arimaspidenkönig saß, gebückt stehen, weil er höher emporragte, als die Decke war. Der ungeschlachte Bursche forderte das Geld oder den Kopf des Herrschers, der vor Schrecken mit offenem Mund auf dem Thron saß und kein Wort hervorbringen konnte. Da trat Wolfdietrich vor und rief laut: „Sage deinem König, Gold und Silber hätten wir für ihn nicht, wohl aber eiserne Besen, womit wir ihn, wenn er uns besuchen wolle, säuberlich hinauskehren.“ Mit diesem Bescheid zog der Gesandte seines Weges und stattete seinem Herrn getreulich Bericht ab. Dieser schwur, er wolle den überheblichen Knirps an den höchsten Baum hängen, und befahl seinem Volk, sich zum Feldzug zu rüsten.

Wolfdietrich ordnete gleichfalls seine Scharen zur Abwehr des furchtbaren Feindes. Nach seiner Angabe richtete man große Bärenfallen her, deren scharfgeschliffene Bügel beim Zusammenklappen alle Gliedmaßen, die dazwischenkamen, bis auf die Knochen durchschnitten. Diese Fallen stellte man vor einem Wald auf, an dessen Saum das Heer lagerte. Außerdem wurden Fallgruben gegraben, auf deren Boden spitze Pfähle emporstarrten. Die Enakssöhne stürmten wild, ohne Ordnung mit ihren Eisenkeulen auf das Heer los, traten zum Teil in die Fallen oder stürzten in die Gruben, wo sie sich auf die Pfähle spießten. Die Verwundeten erhoben ein gräßliches Geheul, aber jene, welche bis an den Wald gelangten, zerschlugen Büsche und Bäume und fällten viele Arimaspiden, doch wurden auch von geschleuderten Speeren getroffen oder von gewandten Kriegern mit Schwertern an den Beinen verwundet. Auch hier entschied Wolfdietrich mit seinem Heer den Kampf. Er selbst schleuderte seine Speere stets mit Erfolg, durchbohrte die Feinde mit langen Spießen und richtete eine solche Niederlage an, daß der Rest der Enakiten in wilder Flucht davonrannte. Sie halfen nicht einmal ihrem König, der mit einem Bein in einer Falle steckte. Da kam nun der verachtete Knirps und schwang das blanke Schwert über seinem Haupt. Doch er konnte den wehrlosen Mann nicht fällen, sondern nahm ihn gefangen und überlieferte ihn König Arimaspi, dem der dankbare Enak-König nach seiner Heilung den Treueeid schwur und hielt.

So lesen wir nun, wie diese Kinderwelt von außen hart bedrängt wird, zuerst von den Plattfüßern der körperlichen Handlungsorgane, dann von den Ohrlappen der Sinnesorgane, und schließlich von den übermächtigen Riesen der Naturgeister. Der wachsende Verstand wehrt sich, so gut er kann mit verschiedensten Mitteln im Kampf, um die Angreifer zu unterwerfen. Und schließlich zeigt sich auch die höhere Vernunft, die versucht, die Angreifer mit der Kinderwelt zu versöhnen und die Gegensätze abzubauen. Ja, über diese Symbolik kann man viel nachdenken. Und doch müssen Geist und Seele diese Kinderwelt des Verstandeskampfes irgendwann verlassen, um mit der Vernunft nach Höherem und Ganzheitlicherem zu streben, vielleicht sogar zur „Dreiäugigkeit“, wie es auch in Indien den dreiäugigen Gott Shiva gibt. Mit zwei Augen betrachtet er die körperliche Welt, und sein drittes Auge deutet das Auge der Weisheit und des ganzheitlichen Bewußtseins an.

So stand Wolfdietrich bei allem Volk hoch in Ehren, und der König gab ihm eine Burg mit Stadt und Dörfern. Dennoch sehnte er sich nach der Heimat, nach Menschen seines Stammes, und gedachte seiner elf Dienstmannen, die er doch befreien wollte. Wenn er die einäugigen Männer oder auch schön gebildeten Frauen vor sich sah, erschrak er oft wie vor Wesen aus einer anderen Welt. Auch Bramilla schien von ähnlichen Gefühlen bewegt zu sein. Sie wurde von Tag zu Tag ernster und trauriger und verhehlte nicht, daß es ihr in diesem Reich oft unheimlich zumute war.

Einstmals strömte das Volk an die Küste, denn da hatte ein fremdes Schiff Anker geworfen, was noch niemals geschehen war. Man glaubte, ein seltsam gebautes Haus sei auf dem Wasser hergeschwommen, und, was noch mehr in Erstaunen setzte, in dem Bau waren lauter zweiäugige Menschen. Es waren Handelsleute, die des Gewinnes wegen ihre Fahrt in die noch unbekannten Gewässer gelenkt hatten und nun ihre seltenen und kostbaren Waren ausbreiteten. Da gab es Gewänder von Samt und Seide in allen Farben, kunstreiche Schmucksachen, nützliche Gerätschaften und scharfe Waffen, künstliche Blumen, Gewürze und andere Dinge. Die Eingeborenen zahlten mit Goldstaub, der zugewogen wurde, oft auch mit Edelsteinen. Die Königin selbst begab sich mit ihrem Gefolge auf das schwimmende Haus und kaufte, was ihr gefiel. Bramilla, die bei der Herrin war, beschaute sehnsüchtig das Schiff und erinnerte sich an ihr Heimatland. Am Abend sprach sie mit Wolfdietrich, und der verbabredete mit dem Kapitän in drei Tagen eine heimliche Flucht, weil der König der Arimaspiden dessen Abschied verständlicherweise verweigerte. So waren Wolfdietrich und Bramilla voller Hoffnung, um so mehr, als sie erfahren hatten, daß die Schiffsreise weiter nach Jerusalem ging, in die Heilige Stadt. Des Nachts wurde das Gepäck auf das Schiff gebracht, und zur festgesetzten Stunde befanden sich beide an Bord. Günstiger Wind schwellte die Segel, und die Fahrt wurde dadurch so gefördert, daß am Morgen nur noch die Bergesgipfel des verlassenen Landes sichtbar waren.

Nach einigen Tagen glücklicher Reise sahen sie die Gottesstadt mit ihren Zinnen und Heiligtümern vor sich liegen. Hier war der Welterlöser gewandelt und am Kreuz für seine Menschenbrüder gestorben, und hier waren die frommen Pilger gewürdigt, in das Gotteshaus einzutreten und am Heiligen Grab zu beten. Sie taten es mit Andacht und opferten reiche Gaben von ihren Schätzen. Nachdem sie alle Gebote erfüllt, das heilige Mahl und die Absolution empfangen hatten, schloß sich Wolfdietrich einer Gruppe von pilgernden Rittern an, die sich zum Kampf gegen die Ungläubigen verpflichtet hatten. Er selbst stritt in allen Gefechten voran, und hauptsächlich mit seiner Hilfe wurden die Heiden weit in die Wüste zurückgeschlagen. Doch da rückte der Sultan mit seinem übermächtigen Heer an. Sie umkreisten die Gegner, schossen Wolken von Pfeilen ab und setzten das Gefecht tagelang fort, bis sie die meisten Ritter erlegt und die Überlebenden gefangengenommen hatten.

So geht nun die menschliche Reise mit wachsendem Verstand weiter, aus der Kinderwelt der körperlichen und sinnlichen Erfahrungen zunächst in eine Verstandeswelt des Glaubens an gedankliche Vorstellungen. Für Christen versinnbildlicht Jerusalem den Ort des Lebensweges, der Leidensgeschichte, Kreuzigung und Auferstehung von Jesus Christus. Deswegen gab es schon immer Versuche, diesen heiligen Ort allein für das Christentum zu erobern und von allen „Ungläubigen“ bzw. „Falschgläubigen“ zu befreien, was wieder an einen Verstandeskrieg erinnert. Dazu waren auch im Mittelalter ganze Heerscharen von Rittern auf „Kreuzzügen“ unterwegs, mehr oder weniger erfolgreich, denn das göttliche Schicksal hatte wohl andere Pläne. So schlägt auch Wolfdietrich mit seiner Ritterschar die Heiden in die Wüste zurück, wo Christus den Teufel überwinden konnte, doch der Sieg über den Teufel kam dann ganz anders, als sich der Held vorgestellt hatte:

Die Gefangenen wurden als Sklaven des Sultans verpflichtet, der gerade auf sandigem Grund einen Palast bauen ließ und deshalb viele Arbeiter nötig hatte. In der Nähe standen noch zwei andere Prachtbauten, der dritte sollte den Abschluß bilden. Nun mußten die Sklaven fast Tag und Nacht schaffen, und es wurden ihnen nur wenige Stunden der Ruhe gegönnt. Wolfdietrich, der das Schwert und nicht Hacke und Spaten zu führen gewohnt war, arbeitete mit Unlust und Ungeschick. Der Sklavenaufseher begnügte sich geraume Zeit mit Schmähen und Schelten, endlich aber griff er zu dem gewöhnlichen Mittel, dem Bambus. Kaum jedoch berührte der Stock den Rücken des Recken, so entbrannte dessen Zorn. Er griff den Peiniger mit starker Faust und warf ihn unter dem Jubel und Hohngelächter der anderen Sklaven kopfüber in die Grube.

Das war nun auch sein Todesurteil, das der Sultan persönlich verhängte. Am Tag seiner Hinrichtung am Galgen wurde Wolfdietrich gebunden vom Henkersknecht vorgeführt. Er blickte traurig auf sein Leben zurück, erinnerte sich an Vater und Mutter, an Siegminne und an Berchtung mit seinen Söhnen, die wohl immer noch auf ihn warteten. Alle seine Abenteuer gingen wie Traumbilder an ihm vorüber. Dann stand die schauerliche Wirklichkeit vor ihm, keine Heldenkraft konnte die Bande lösen, und kein Freund war zur Hilfe bereit. Der Sultan hatte sich mit seinem Gefolge versammelt, um den Befehl zur Hinrichtung zu geben. Da erschien eine verschleierte Sängerin in orientalischer Tracht mit einer Harfe in der Hand vor dem Galgen, und alle lauschten auf das Saitenspiel, der zum Tode Verurteilte, wie auch jene, die sich des Lebens erfreuen wollten. Dann ließ sie den Schleier vom Gesicht fallen und sang mit Tränen in den Augen ein Lied, das allen zu Herzen ging:

„Zu Allahs Bilde wurde der Mensch geboren;
Allah erschuf nach seinem Bilde ihn;
Dann hat er die Genossin ihm erkoren,
Die liebende, die er mit Reiz beliehn.
Wenn sie den Schwur der Liebe ihm geschworen,
Wenn er, mit ihr vereint, ganz glücklich schien,
Dann spiegelte sich mit allen ihren Wonnen
Der Erde höchste Lust im Liebesbrunnen.

Allah verzeiht, im Zorn, in seinen Wettern,
Vertilgt er nicht, die seinen Namen schmähn:
Nein, Wohltat reicht er dar, statt zu zerschmettern,
Bis zur Erkenntnis sie vom Wahne auferstehn.
Ihm gleiche, Sohn der Erde, und Übeltätern,
Die dich mit Haß und blutigem Vergehen
Verfolgen, biete mit versöhntem Herzen
Der Wohltat Brot, die Hand in ihren Schmerzen.

Das ist der Sieg, den Allah dem Gerechten
Hat verheißen! Liebestat bezwingt den Feind,
Wird seinen Trotz, den Wahn des Hasses knechten,
Daß er beschämt zu deinen Füßen weint.
Nicht Erdenlust in liebebrünstigen Nächten,
Nicht Sternenglanz, mit der Reue erscheint
In seiner Träne ein schöneres Gnadenzeichen,
Des Allerbarmers Bild, des Gnadenreichen.“

„Des Gnadenreichen“, das Wort klang noch einmal im Mund der Sängerin, und die Saiten wiederholten die Melodie allmählich anschwellend und wieder leise verhallend, wie die Töne der Äolsharfe aus ferner Welt, und der Wahrheit Lehre senkte sich wie Gold in die Herzen der Hörer. Lautlos saßen die Herrscher, kein Wort des Beifalls wurde gehört, aber die tiefe Stille zeugte von der Töne Macht.

Darauf, als sich allmählich der Zauber löste, der wie im Rausch die Sinne umfing, erhob sich der gelehrte Wesir des Sultans und sprach: „Mich dünkt, ein Bote aus des Teufels Flammenreich ist hierhergekommen in verlockender Gestalt, um die Kämpfer des Propheten zu berücken, daß ihren starken Händen das Schwert des Glaubens entsinke. Es sind die Lehren der Nazarener, die er verkündigt, nicht die des Korans, der uns befiehlt, die Feinde der heiligen Kaaba bis an das Ende der Erde zu verfolgen und zu vertilgen. Darum ergreife man die verführerische Sängerin und stelle sie zu dem verurteilten Verräter, daß sie mit ihm für ihren Frevel büße!“ — Doch der Sultan erwiderte ihm mit tiefem Ernst: „Höre auf mein Wort! Ich will mit dem Dichter zu dir sprechen:

Gleichwie den süßen, duftigen Honigkelch
Schneeweiß umhegt der Lilie lichte Krone,
So umblüht ein greiser Bart die Quelle,
Daraus die Weisheit vieler Jahre strömt.

Du aber“, fuhr er fort, zum Wesir zu sprechen, „hast der Sängerin goldenes Wort in unreines Erz verkehrt, und Torheit quillt nun unter deinem grauen Bart hervor. Sieh, wie ein kühler Brunnen den Wanderer in der Wüste labt, so hat mich der Gesang erquickt, und wenn ein Christ, ja selbst der Teufel mir das Wort der Wahrheit brächte, so spräche ich: Es wurde aus Allahs Mund empfangen und glänzt schöner als der schönste Diamant in meiner Krone.“ Darauf wandte er sich zur Sängerin: „Schöne Dame, begehre, was dein Herz erfreut. Der höchste Preis, und wäre es einer meiner Diamanten - beim Haupt des Propheten - er soll dir gehören.“ Und wieder griff die Schöne in die Saiten und sang:

„Groß und herrlich sind deine Siegesehren,
Oh Herr, und deine Weisheit preist die Welt;
Doch willst den Kranz des Ruhmes du vermehren,
Die Gnade flicht hinein. Den zur Nacht gefällt
Dein Schwert, den Ketten hart beschweren
Und Todesgraun, richte auf, ruhmvoller Held!
In Freiheit laß ihn froh den Anker lichten
Heimwärts, so gebietet Allah zu richten.“

Die Harfenspielerin hatte geendigt, stand schüchtern vor der Versammlung, die Arme über die Brust gekreuzt, wie zum Gebet nach mohammedanischer Sitte, während ihr Träne um Träne über die blühenden Wangen rann. „Du forderst viel.“, sprach der Herrscher mild: „So soll das unerbittliche Recht gebeugt werden um deinetwillen, denn ich habe mein Wort gegeben, und das muß ich halten.“ Ein dumpfes Murren ging durch die Versammlung, und der Wesir wagte laute Rede: „Wie denn, Herr? Den blutbesudelten Verbrecher, den Verächter des Propheten willst du gerechtem Urteilsspruch entziehen? Hab acht, daß nicht des Islams Pfeiler wanken! Und mit dem Islam auch die Feste unseres Reiches! Wenn du die ungläubigen Hochverräter begnadigst, wer wird künftig den Aufruhr dämpfen, der bald da, bald dort sein Haupt erhebt?“ - „Sieh her!“, rief der gewaltige Herrscher, und der blanke Säbel, aus der Scheide gezogen, blitzte in seiner Hand: „Der bezwingt den Aufruhr und den Widerspruch, wo und wie er sich erhebt. Das Recht der Gnade übe ich jetzt, um mein verpfändetes Wort zu lösen. Man gebe dem Gefangenen die Freiheit, dazu hundert Byzantiner und einen Geleitbrief, so daß er sicher in sein Vaterland gelangen kann.“ Niemand wagte mehr Einspruch, tiefe Stille trat ein, nur unterbrochen vom Saitenspiel und der Spielerin Lied, das mit den Worten schloß:

„Wir preisen hoch den Stern im Morgenland,
Durch Allahs Huld den Gläubigen gesandt.“

Wunderbar! Es geht natürlich nicht darum, den Teufel irgendwo in der Außenwelt oder in anderen Menschen zu besiegen, sondern im eigenen Herzen, um den Haß und das trennende Bewußtsein zu überwinden, das uns vom Ganzen bzw. Göttlichen trennt und damit auch das Wesen der Sünde ist. Und diese Botschaft singt die reine Seele, die in allen Religionen die gleiche ist, mit den jeweiligen Worten, die in die Herzen der Menschen dringen, um den Geist von seinen Bindungen zu befreien und durch die Macht der Liebe im göttlichen Ganzen wieder zu vereinen. Der begriffliche Verstand wehrt sich natürlich dagegen, doch wird am Ende von der ganzheitlichen Vernunft übertroffen, die auch als Sultan herrschen sollte. Dann siegt das Leben über den Tod, und der Säbel der Gewalt wird zum Schwert der Weisheit.

Die Fesseln wurden gelöst, Wolfdietrich war frei, empfing die Gaben des Sultans und ging hinab zum Hafen. Schon längst hatte er erkannt, daß die Sängerin Bramilla war, die ihm das Leben gerettet hatte, und diese traf er auch am Hafen. Sie umarmten sich lange, und schließlich sprach Bramilla: „Sei gesegnet, großer Held, und kehre nun glücklich in dein Vaterland zurück! Ich habe ein Schiff mit Kaufleuten nach Indien gefunden, und werde zu meiner Familie fahren.“ Sie überreichte ihm eine kostbare Perlenschnur zum Andenken, drückte einen Kuß auf seine Lippen und eilte weinend, ohne sich umzusehen, fort auf das Schiff nach Indien. Wolfdietrich sah ihr lange nach, wie das Fahrzeug die Anker lichtete und langsam am Horizont in der Weite des Meeres verschwand. Er war traurig, trotz seiner gewonnenen Freiheit, die Träne floß und der Abschied schmerzte wie der Tod seiner geliebten Siegminne. Doch dann schaute er sich um, gedachte seiner Heimat, fand bald darauf mit dem Geld des Sultans ein schnelles Schiff, das ihn aufnahm, und mit seinem Geleitbrief erreichte er sicher das hochersehnte Ziel.

Die „kostbare Perlenschnur“ ist ein schönes Symbol für die Seele der Verursachung, wie sie die wertvollen Perlen aus dem Meer der Ursachen mit dem gesponnen Seelenfaden verbindet, jene Perlen, die in diesem Meer lebendig gewachsen sind und dann auch Wolfdietrich als „körperlichem Reichtum der Menschen“ gegeben werden. Damit hatte auch Bramilla in dieser Form der Seele ihre Aufgabe erfüllt und kehrte in ihre Heimat zurück. So haben wir für Wolfdietrich drei Formen der ganzheitlichen Seele kennengelernt: Siegminne, Marpilia und Bramilla, sozusagen für die innerliche Welt, für die äußerliche Welt und für die Schöpfung und Geburt der innerlichen in die äußerliche Welt. Damit erinnern sie uns an die drei Schicksalsnornen bzw. Meerfrauen zur Verursachung im Meer der Ursachen, wie auch der Meeresgott einen Dreizack als „Waffe“ trägt, denn Schicksal ist natürlich nichts anderes als Verursachung. Darin finden wir auch das symbolische Kräfte-Dreieck wieder, durch das in der Natur alles bewegt wird.

So steht nun als nächstes die Frage, wie Marpilia aus der äußerlichen Natur wieder zur lebendigen Siegminne der innerlichen Natur wird und in der körperlichen Welt als reine Seele der Natur erkannt und durch wahre Liebe mit dem Geist der Vernunft vereint werden kann. Und mit dieser großen Aufgabe kehrt nun auch Wolfdietrich als „körperlicher Reichtum der Menschen“ in die körperliche Welt zurück. Dafür hat er viel gelernt, das Bewußtsein erweitert, und wir werden nun lesen, wie er das Gelernte verwirklicht.


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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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