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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Wind und Wellen waren der Flotte günstig, und man landete in einiger Entfernung von Konstantinopel. In einem Wald wurde das Lager aufgeschlagen. Er selbst, der Kriegsherr, ging in seiner Mönchstracht auf die Spähe, um über seine Dienstmänner Erkundigung einzuziehen. Er kam an die Stadt, ging hinein, wanderte durch die volkbelebten Straßen und forschte wohl auch da und dort, aber niemand konnte ihm Auskunft geben. Man ging seinen Geschäften nach, man hatte andere Dinge im Kopf, es war ein Eilen, Schaffen und Drängen hier auf dem Weltmarkt, wo zwei Erdteile fast zusammenstießen, daß man sich um ein Dutzend Gefangener gar nicht bekümmern konnte, daß oft ein Bruder nichts von dem anderen wußte. Der Held wollte schon der Stadt den Rücken wenden, da begegnete ihm der Gefängniswärter Ortwin, der ihm von früherer Zeit her bekannt war. Der Mann trug einen Korb mit schwarzen Broten. Er bat ihn nun um eins derselben, da er, wie er sagte, noch nüchtern war, und zwar bat er um Wolfdietrichs willen. Jetzt erst sah ihn der Mann schärfer an und erkannte ihn. „Ach, Jungherr“, sagte er, „wie ist es hier so schlimm hergegangen! Die altehrwürdige Kaiserin starb auf der umlagerten Burg. Als die Festung übergeben werden mußte, wurden der edle Herzog Berchtung und seine Söhne in Eisen hierhergebracht und in ein finsteres Gefängnis gesperrt. Dem alten Herrn gab der Tod endlich die Freiheit, aber die zehn Jungherren sitzen noch immer in enger Haft, und ich darf ihnen täglich nur solches Schwarzbrot und Wasser reichen.“ - „Nicht nur die Mutter, sondern auch der alte Meister tot!“ Wolfdietrich schlug sich an die Stirn, denn er bedachte, daß er nicht ohne Schuld sei. Indessen, das war nicht mehr zu ändern. Aber er hieß dem guten Ortwin, seinen zehn noch lebenden Dienstmännern bessere Kost zu reichen und, wenn er die Stadt mit Heeresmacht angreife, ihre Bande zu lösen. Der alte Wärter ging vergnügt zu seinen Gefangenen und erfreute sie mit der frohen Kunde.
So zieht Wolfdietrich mit seiner großen Gedankenarmee, die er nun selbst als entwickelte Vernunft anführt, wieder aus dem körperlichen in das mehr geistige Reich, wo der Ego-Geist von Sabene als Weisheit regiert, was man auch an den Menschen merkt, die sich vor allem um sich selber kümmern. Hier legt er wieder seine Mönchskutte mit der Tarnkappe an, um sich zu verbergen, und wird auch nicht erkannt, außer von Ortwin, den der Ego-Geist als Gefängniswärter für den vernünftigen Verstand mißbrauchte, um ihn im Dunkeln zu verstecken und auszuhungern. Warum macht er das? Nun, das trennende Bewußtsein hat als Ego-Blase natürlich große Angst vor der ganzheitlichen Vernunft und versucht, jeden Gedanken in diese Richtung zu unterdrücken und verhungern zu lassen. Ja, das Ego würde sie sogar töten, wenn es die Macht dazu hätte. Kennen wir das auch? Zu ihrer Befreiung erinnert uns der Name Ortwin an den „Gewinn der Schwertspitze“ als Symbol der Einheit, der sozusagen Kaiser Ortnit noch fehlte. Von ihm erfuhr Wolfdietrich, daß Sabene nicht nur den Tod seiner Mutter auf dem Gewissen hatte, sondern auch den Tod des alten Meisters, dem vernünftigen Verstand, von dem er wie von einem Vater erzogen worden war.
Der König aber eilte zu dem Heer im Wald. Dort fand er die Mannschaft auf den Beinen und marschfertig, denn der schlaue Sabene, der überall seine Späher hatte, war nicht ohne Kenntnis von der Landung einer feindlichen Macht geblieben, und auf sein Gebot hin zog sich von allen Seiten Kriegsvolk zusammen, um dem Angriff zu begegnen. Er handelte immer noch als Ratgeber der beiden Könige Bogen und Wachsmuth, Wolfdietrichs jüngeren Brüdern, deren Vertrauter und Günstling er war. Dabei mißtraute er dem Volk in der Stadt und auf dem Land, denn seine Reichsverwaltung war drückend, weil er nur seinen Säckel zu füllen suchte. Er vertraute dagegen auf zahlreiche Haufen von Söldnern, die für Geld ihre Haut verkauften, aber geübt und kriegstüchtig waren. Diese rückten unter dem Befehl der Könige gegen den Wald vor, der die Lombarden decken sollte. Obgleich der Tag schon weit fortgeschritten war, durfte man doch nicht zaudern. Daher zog das Heer ins offene Feld. Doch blieb eine zahlreiche Nachhut zurück, da der königliche Befehlshaber wiederum einen Hinterhalt befürchtete. Diese Vorsicht war nicht vergeblich, denn als die Schlacht auf der vorliegenden Ebene tobte, drangen Söldnerscharen auf der anderen Seite in den Wald, um der Hauptmacht in den Rücken zu fallen. Ihnen begegnete die Nachhut, die jeden Fußbreit Landes hartnäckig verteidigte. Der Kampf wütete geraume Zeit ohne Entscheidung. Wolfdietrich stürzte nicht, wie er sonst pflegte, blindlings auf die Todfeinde voran, sondern war bald im Vordertreffen, bald bei der Nachhut, und sein Schwert Rosen verbreitete Wunden und Tod. Dennoch standen die Feinde unerschüttert im mörderischen Gefecht. Da lösten sich plötzlich ihre geschlossenen Reihen. Sie wichen, die Flucht wurde allgemein, und vorwärts stürmte der Held nach dem Hügel, wo seine Brüder mit ihrem bösartigen Ratgeber hielten. Nun aber erkannte er auch, was unter den Feinden solchen Schrecken verbreitet und ihm den Sieg verschafft hatte: Die Bürgerschaft der Stadt war ausgefallen und den Söldnern in den Rücken gekommen. An ihrer Spitze kämpften seine Dienstmänner, voran Herbrand und Hache, die ältesten Söhne Berchtungs. Schon hatten sie die drei Männer auf dem Hügel umzingelt, darauf den feigen Sabene ohne Widerstand, die Könige nach kurzer Gegenwehr gefangen und gebunden.
Der Kampf mit der Gedankenarmee gegen den Ego-Geist und seiner „Söldnergedanken“ ist mal wieder eine Verstandesschlacht, die sich dann aber wie von selbst entscheidet, denn Ortwin als „Gewinn der Schwertspitze“ hatte den vernünftigen Verstand aus seinem Gefängnis befreit und mit genügend Nahrung versorgt, so daß der Kampf von innen heraus entschieden und der Sieg gewonnen werden konnte. Diese Symbolik ist besonders interessant, denn man sagt oft, wenn die geistigen Ursachen besiegt sind, dann lösen sich die körperlichen Probleme wie von selbst. Hier erscheint es umgekehrt, denn nachdem im körperlichen Reich der Ego-Drache besiegt und die reine Liebe gewonnen wurde, klärten sich hier danach auch im geistigen Reich die Probleme wie von selbst, und es war im Grunde genug, den Gefängniswärter Ortwin zu überzeugen, daß die Vernunft nach Konstantinopel zurückgekehrt war, um den Ego-Geist zu besiegen. Auch das macht Sinn, denn im Grunde ist natürlich alles reines Bewußtsein bzw. heiliger Geist, wenn Geist und Natur in reiner Liebe vereint sind. Dann wirkt sowohl der Geist auf den Körper, als auch der Körper auf den Geist.
Der Sieg war vollständig, die Beute unermeßlich. Auf dem Schlachtfeld wurde der Held jubelnd als Oberhaupt von Griechenland begrüßt. Nach dem festlichen Einzug in die Hauptstadt schritt man zu Gericht über Sabene und die königlichen Brüder. Ersteren traf das Todesurteil, und er wurde sogleich fortgeführt. Dann ging es aber um dessen Gönner: Volk und Heer verlangten den Tod der beiden Könige. Auch der Tod seiner Mutter, des alten Meisters, seine eigenen Mühseligkeiten forderten das Blut derjenigen, die das alles verschuldet hatten. Dennoch konnte Wolfdietrich keinen Entschluß fassen und verschob das Urteil auf den folgenden Tag.
Der Sieger ruhte auf seinem Lager von den Kämpfen des Tages. Er schlief den Schlaf der Gerechten, und im freundlichen Traumgesicht sah er seine Mutter, verklärt wie eine Heilige, die sprach: „Schone meine Kinder, dann wird mein Segen auf dir ruhen.“ Darauf erschien auch der ehrwürdige Meister und sagte, die Hand zum Himmel erhebend: „Gott erbarmt sich der verirrten Kinder. Vergieße kein Bruderblut!“ Wie der Held noch staunend auf die Erscheinung blickte, trat auch Liebgart sanft und freundlich hinzu: „Hast du nicht Reich und Ruhm und mich selbst durch die Untat deiner Brüder erworben? So vergilt Übeltat mit Wohltat.“ Der Morgen brach an und das Traumbild verschwand, aber Wolfdietrich hatte seinen Entschluß gefaßt. Er berief die Fürsten und Edlen des Heeres, ließ die Gefangenen vorführen und sprach das Wort der Gnade über die Könige, seine Brüder, und setzte sie wieder in ihre Würden und in den Besitz ihrer Länder ein, aber unter des Oberhauptes Lehnsherrschaft. Als er den Spruch getan hatte, grollte dumpfes Murren durch die Reihen. Und Hache (Rache), der Rasche, voll Zorn über die erlittene Mißhandlung, verlieh dem Murren Worte. „Wer“, rief er, „wer wird künftig Empörung, Meuterei und Raubtat niederwerfen, wenn dafür Ehren und fürstliche Würden zugeteilt werden?!“ - „Sieh her!“, antwortete Wolfdietrich, und das Schwert Rosen flammte in seiner Hand: „Das zwingt Aufruhr und Widerspruch, wo und wie er sich erhebe. Das Recht der Gnade steht dem Herrscher zu, der seiner Macht vertrauen darf, und das übe ich an meinen Brüdern.“ Da wurde es in den Reihen der Fürsten still, und er ließ den Brüdern die Fesseln abnehmen, umarmte und belehnte sie mit ihren Ländern.
Hier zeigt sich nun, was Wolfdietrich in Jerusalem vom Sultan über den Reichtum der Gnade und Vergebung gelernt hatte. Und auch hier steht das Schwert Rosen sicherlich mehr für das Schwert der Weisheit eines wahrhaften Königs, als für die Gewalt eines eigenwilligen Tyrannen. Damit vereint sich Wolfdietrich, der im körperlichen Reich geboren wurde, wieder mit seinen Brüdern, die im geistigen Reich von Konstantinopel geboren wurden, denn das trennende Ego-Bewußtsein von Sabene war besiegt und die Weisheit gereinigt, so daß sich nun auch die Brüder wieder vereinen konnten. Und auf diese Weise vereinten sich auch das körperliche und geistige Reich unter einem ganzheitlichen Kaiser der Vernunft. Wunderbare Botschaft! Denn damit konnte Wolfdietrich als „körperlicher Reichtum der Menschen“ mehr erreichen, als sein Vater Hugdietrich als „geistiger Reichtum der Menschen“.
Als das Reich geordnet war, fuhr Wolfdietrich mit dem Heer nach Lombardenland zurück. Er wurde mit großem Jubel empfangen, am freudigsten von Liebgart, die bisher in Furcht und Sorge um ihn gelebt hatte. Die Fürsten nebst ihren Mannen führten ihn daraufhin nach Rom, wo er zum Kaiser gekrönt wurde. Bei dem Fest, welches der Krönung folgte, erteilte er den Söhnen des lieben alten Meisters ansehnliche Lehen. Herbrand, der älteste, erhielt die Stadt Garden nebst dem dazugehörigen Gebiet. Er wurde der Stammvater des berühmten Geschlechts der Wölflinge durch seinen Sohn Hildebrand, von dessen vielbesungenen Taten die Sage in der Folge berichten wird. Hache, der kühne Held, wurde mit dem Gebiet am Rhein begabt, nahm seinen Sitz zu Breisach, und dessen Sohn Eckehart wurde zum getreuen Pflegevater der Herlungen-Söhne Imbreke und Fritele. Berchther, der dritte Sohn, wurde mit dem väterlichen Besitztum Meran belehnt. Und die übrigen Abkömmlinge des alten Meisters wurden in ähnlicher Weise bedacht. Diese und andere Helden umgaben den Thron des Kaisers, der nach der langen und schweren Prüfungszeit im Frieden in seinen Reichen waltete und auch in seinem Hauswesen glücklich war, indem er mit der schönen Liebgart einen Sohn und eine Tochter gewann. Die Tochter nannten sie nach ihrer Mutter Sidrat, und den Sohn nach seinem Großvater Hugdietrich, weil er ihm an Körper und Geist ähnlich war. So regierte Wolfdietrich als Kaiser über 20 Jahre ein friedliches Reich in einer goldenen Zeit. Selbst die Natur zeigte sich freundlich, es gab keine Mißernten, keine Hungersnöte, keine Seuchen oder verheerenden Kriege. Alles schien sich wie von selbst zu klären, und die Menschen lebten glücklich und zufrieden miteinander. Tochter Sidrat und Sohn Hugdietrich wuchsen zur großen Freude ihrer Eltern heran. Der Junge strebte seinem Vater und Großvater nach, wurde bald ein kräftiger Held, von Herbrand, dem ältesten Sohn von Berchtung, in der Waffenkunst ausgebildet und danach zum Ritter geschlagen. In vielen Kämpfen zeigte er seinen Mut, seine Kraft und Überlegenheit. Auch die Tochter lernte viel von ihrer Mutter, übertraf sie bald an Schönheit, und als sie ins heiratsfähige Alter kam, wurde sie glücklich verheiratet. So verging die Zeit, und das Alter forderte seinen Tribut in der Welt der Sterblichen. Die Kaiserin starb in den starken Armen von Wolfdietrich, der diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Er trauerte ein langes Jahr, und dann verkündete er seinen Rückzug in ein Kloster. Er ernannte seinen Sohn zum König der Lombarden, und als ihn die Obersten im Reich von seinem Rückzug nicht abbringen konnten, wurde Hugdietrich auch zum neuen Kaiser in Rom ernannt.
So wurde Wolfdietrich zum ganzheitlichen Kaiser im körperlichen und geistigen Reich, regierte ein goldenes Zeitalter, von dem es wieder nur wenig zu berichten gibt. Denn wer schreibt schon viel über eine Welt, die in Ordnung und Frieden ist? Denken wir nur an die biblische Paradiesbeschreibung im Vergleich zum restlichen Buch. Auch die Nachkommen des Kaiserpaares sind sehr symbolisch: Nach Wolfdietrich als „körperlicher Reichtum der Menschen“ folgt wieder ein Hugdietrich als „geistiger Reichtum“, und auch die weibliche Seele lebt als Sidrat weiter, als „Paradiesbaum, der in den höchsten Himmel wachsen kann, und an dem die Menschenkörper wie Blätter sprießen“. Die äußerliche Form der Seele muß natürlich wieder vergehen, denn sie hatte ihre Aufgabe in der äußeren Natur erfüllt. Auch für Wolfdietrich kommt dann die Herausforderung des Alters, und er zieht sich aus der weltlichen Geschäftigkeit in das geistige Leben eines Klosters zurück.
Dieser letzte Abschnitt der Wolfdietrichsage über das Klosterleben wurde von Wilhelm Wägner weggelassen, der dazu schreibt: „Wir übergehen diesen Bericht, da er späterer Zusatz, vielleicht von der Hand eines Geistlichen ist.“ Wir möchten ihn dennoch anfügen und nacherzählen, ja, sogar etwas ausbauen, weil er uns aus geistiger Sicht noch manches zu berichten hat:
Wolfdietrich packte sich die Mönchskutte ein, die er damals vom Einsiedler bekommen hatte, bestieg sein treues Pferd und ritt allein, wie ein Pilger ohne Gefolge, nach Norden durch sein Reich. In allen Dörfern, Städten und Burgen wurde er mit Freude empfangen, und zum Abschied lief manche Träne. So kam er an den Rand der Alpen und stand unversehens am Fuß jener Linde, wo er einst gegen den Drachen gekämpft hatte. Die Vögel zwitscherten fröhlich in den Zweigen, Blütenduft lag in der Luft, Blumen blühten auf der grünen Wiese, und alles atmete wonnevollen Frieden und Ruhe. Hier ließ er sein Pferd frei grasen, und als er sich unter dem freundlichen Schatten der Linde niederließ, um sich von der beschwerlichen Reise auszuruhen, erschien ihm kein Lindwurm mehr, sondern jenes Riesenweib, das ihm damals, als er im Süden auf dem Festland ankam, die Geschichte von Kaiser Ortnit erzählt und ihn dann nach Norden getragen hatte. Auch jetzt kannte sie das Ziel seiner langen Reise und wußte, wie erschöpft er war, so daß sie ihre Hilfe anbot. Dazu berichtete sie ihm von einem weitabgelegenen Kloster am Rande des Christenreiches, das dem Heiligen Georg geweiht war, und bot sich an, ihn dahin zu tragen. Er schaute sie einige Zeit nachdenklich an, dann fragte er: „Warum Sankt Georg?“ Da begann das Riesenweib unter der Linde zu erzählen:
Georg wurde vor langer Zeit im Land der Griechen in einer edlen christlichen Familie geboren, aber als ein kränkliches Kind, das sein Vater so schnell wie möglich taufen ließ. Doch er überlebte, widmete sich dem höchsten Gott und wurde ein starker Ritter im Kampf um das Christentum. Manche Marter hatte er überstanden, und man berichtet: Er wurde von seinen Feinden gebunden, doch von Christus wieder erlöst. Er wurde von seinen Feinden enthauptet, doch von Gott wieder ganz gemacht, und er wurde von seinen Feinden gevierteilt, doch die Engel hatten ihn wieder zum Leben erweckt und zu vollkommener Schönheit geheilt. Eines Tages gelangte er auf seiner Reise an einen großen See, wo er eine weinende Jungfrau erblickte, die königliche Kleider und eine Krone trug. In diesem See, der so tief wie ein Meer war, wohnte ein giftiger Drache, der bisher unbesiegbar war und alle Angreifer getötet oder in die Flucht getrieben hatte. Wenn er hungrig wurde, kam er aus dem See und verpestete mit seinem Gifthauch Land und Leute. Der König und das Volk fanden keinen anderen Rat, als ihm jeden Tag zwei Schafe zu opfern. Doch als es keine Tiere mehr in den Dörfern gab, waren sie gezwungen, auch ihre Kinder zu opfern, damit der Drache nicht alle tötete. Das Los entschied, und bald traf es auch des Königs Tochter, sein einziges und über alles geliebtes Kind. Da wurde der König traurig und sprach: „Nehmt mein Gold und Silber und die Hälfte meines Königreiches, aber laßt mir meine Tochter, daß sie nicht so jämmerlich sterbe.“ Darüber erzürnte das Volk, und sie sprachen: „Oh König, du selbst hast das Gebot gegeben. Wir mußten alle unsere Kinder verlieren, und du willst deine Tochter behalten?“ Als der König ihren Ernst sah, begann er, seine Tochter zu beklagen und sprach: „Weh mir, mein Kind, was soll ich mit dir tun, was soll ich sprechen? Ach, nimmer werde ich deine Hochzeit sehen und einen königlichen Erben bekommen.“ Doch sie fiel zu des Vaters Füßen nieder und bat um seinen Segen. Den gab er ihr unter Tränen, und dann ging sie hinaus zum See. Da kam der Heilige Georg geritten, und als er sie weinen sah, trat er zu ihr und fragte nach dem Grund. Sie antwortete: „Guter Jüngling, steige schnell auf dein Roß und fliehe, oder du wirst mit mir verderben.“ Darauf sprach er: „Fürchte dich nicht, sondern sage mir, worauf du hier wartest unter den Augen des Volkes?“ Da erzählte sie ihm alles, und er sprach: „Liebe Jungfrau, sei ohne Furcht, ich will dir helfen im Namen Christi.“ Während sie noch redeten, hob der Drache sein Haupt aus dem See. Die Jungfrau zitterte vor Schrecken und rief: „Flieh, guter Herr, flieh so schnell du kannst!“ Aber Georg sprang auf sein Roß und ritt gegen den Drachen, der ihn angreifen wollte. Er schwang seinen Speer mit großer Macht, befahl sich Gott, und traf den Drachen so schwer, daß er zu Boden stürzte.
Der Heilige Georg besiegt den Drachen, Johann König, um 1600
Dann sprach er zur Jungfrau: „Nimm deinen Gürtel, wirf ihn dem Wurm um den Hals, und fürchte nichts!“ Sie tat es, und der Drache folgte ihr nach wie ein zahmes Hündlein. Als sie ihn nun in die Stadt führte, erschrak das Volk und floh auf die Berge und in die Höhlen und sprach: „Weh uns, nun sind wir alle verloren.“ Da winkte ihnen Sankt Georg und rief: „Fürchtet euch nicht, denn Gott der Herr hat mich zu euch gesandt, daß ich euch von diesem Drachen erlöse. Darum glaubt an Christus und den einigen Gott, dann will ich diesen Drachen erschlagen.“ Da ließ sich der König taufen und alles Volk mit ihm, und Sankt Georg zog sein Schwert und erschlug den Drachen. Der König war überglücklich, sein Volk befreit und seine Tochter gerettet zu haben, ließ zu Ehren der Jungfrau Maria und Sankt Georg eine schöne Kirche bauen, und auf dem Altar entsprang ein lebendiger Quell, der alle Kranken heilte, die daraus tranken. Die Jungfrau hätte ihren Retter gern geheiratet, doch Sankt Georg zog weiter, denn er hatte seine Aufgabe erfüllt und seinen Segen zurückgelassen. So entstand, wie ich vernahm, an jenem See am Rande des Christenreiches später auch ein Kloster, das dem Heiligen Georg geweiht wurde. Wenn du willst, bringe ich dich dahin.
Wir haben diese Geschichte des Heiligen Georg hier eingebaut, weil es sicherlich kein Zufall war, daß sich Wolfdietrich gerade in so ein Kloster zurückgezogen hatte. In der Handlung finden wir viele bekannte Symbole wieder, doch besonders interessant ist, daß hier der Drachenkampf auf eine höhere Ebene gehoben wird und die ganze menschliche Gesellschaft betrifft, so daß am Ende auch keine körperliche Hochzeit steht, sondern ein geistiges Erheben und Befreien im Sieg der göttlichen Liebe, was auch der weitere Weg von Wolfdietrich ist. So kann man hier aus symbolischer Sicht lesen, wie der Ego-Drachen aus dem Meer der Ursachen auftaucht und mit seinem Gift die Welt vergiftet, zuerst die Schafe als Symbol der gutmütigen und einfältigen Menschen, und dann auch die Kinder als unschuldige Wesen, die in ihrer Entwicklung noch offen sind. Dann können wir in der Königstochter die Seele finden, die den Drachenkampf verursacht und mit ihrem Gürtel der Bindung von Ursache und Wirkung das vom Geist besiegte Ego zähmen kann. Doch an der Wurzel wird es dann vom Geist mit dem Schwert der Weisheit besiegt, wenn die Menschen für ein ganzheitliches Christusbewußtsein bereit sind und den einigen Gott anerkennen. Dieses ganzheitliche Bewußtsein verkörpert der „Heilige“ bzw. „ganzheitliche Mensch“, den wir auch in Georg finden, der die göttliche Ganzheit erkannt hatte, die ihn symbolisch auch als Mensch immer wieder ganz und heil gemacht hatte. Entsprechend läßt sich der Name Georg von „geos“ als Erde und „orge“ als bauen ableiten, der „die Erde bzw. Körperlichkeit baute“, und anderseits von „gerar“ als heilig und „gyon“ als Kampf, für den „heiligen Kampf“ um die Ganzheit bzw. Göttlichkeit. Was uns wiederum an den Namen von Wolfdietrich erinnert als „körperlicher Reichtum der Menschen“. Diesbezüglich gilt der Heilige Georg auch als Schutzpatron der Ritter, die sich dem heiligen Kampf gewidmet hatten. Denn weil er diesen Kampf in sich selbst gewonnen hatte, wurde er ein Heiliger, geheilt von den Wunden der Trennung, wieder ganz und vollkommen, und fähig, die ganze Welt zu heilen, ein Weg, den nun auch Wolfdietrich gehen wollte.
Das „Riesenweib“ wäre dann wieder Mutter Natur, die man als ein riesiges lebendiges Wesen erkennen kann, das alles trägt und auch alle Geschichten in der Welt der Formen erzählt:
Soweit erzählte die Riesin, und mehr wollte Wolfdietrich auch nicht wissen. Er kannte nun sein Ziel und war bereit für die Reise. Sein treues Pferd, das auch alt und müde geworden war, ließ er unter der Linde zurück, und das Riesenweib versprach, es gut zu versorgen. Dann trug sie ihn so schnell wie der Wind in das weitentfernte Kloster, wo er die Mönchskutte des Einsiedlers anzog. Seine Rüstung und seine Waffen opferte er auf dem heiligen Altar, mit dem Wunsch, sie wieder zu empfangen, wenn es nötig ist. Doch auf wundersame und unerklärliche Weise waren sie nach einiger Zeit vom Altar verschwunden. Manche sagen, der Zwergenkönig habe sie sich zurückgeholt, andere sprechen von einem Engel oder Gott selbst. Der Abt des Klosters freute sich über den neuen Bruder und wollte ihn auch besonders ehren, doch Wolfdietrich forderte gleiche Speise und Ehre für alle Ordensbrüder. Er sprach: „Gleiche Brüder und gleiche Kappen, gleiche Speise und gleiche Ehre für ein göttliches Leben zur Freude Gottes!“ Als sich daraufhin einige Brüder von edler Abstammung darüber beschwerten, band er sie mit ihren langen Bärten zusammen und hing sie über eine Stange, bis sie sich fügten. So lebte er im Kloster, gewann noch manchen Kampf um das Kloster und den Christenglauben, doch vor allem in seinem Inneren, denn all die Geister der im Kampf Getöteten begegneten ihm wieder und forderten seine Buße als Sühne für die Sünde. Dazu ließ er sich eine Bahre in das Münster vor den Altar stellen und kämpfte tapfer.
Die alten Feinde kamen herbei in breiter Schar:
Ein Jeder wollt es rächen, der ihm erlegen war.
So kam er durch sie alle während der Nacht in große Not,
Denn die da mit ihm fochten, sie vergingen nicht im Tod.
So trieb es Wolfdietrich eine winterlange Nacht,
Mit ungezählten Toten focht er in heißer Schlacht.
Vor Müde wie vor Hitze ward dem Helden weh,
Das Haar auf dem Haupte ward ihm so weiß wie Schnee.
Am Morgen, da die Mönche zur Mette wollten gehn,
Da sahen sie im Münster, wie dem Bruder war geschehn.
Ihm war der Sinn geschwunden, er lag im Chor wie tot;
Da hatten Abt und Mönche vor Schrecken große Not.
Sie hoben ihn vom Boden: da war er noch warm;
Ihn trugen nicht die Füße, der Abt bot ihm den Arm.
Doch kam er bald zu Kräften, ein Trank hatte ihn erlabt:
„Wir loben Gott im Himmel, wenn Ihr gebüßet habt.“
Da lebte er im Kloster hernach noch sechzehn Jahr,
Und diente treu dem Herrn, sagt uns das Buch fürwahr.
Dann trugen Engelhände zu Gott ihn sicherlich,
Hier hat das Buch ein Ende und heißt Wolfdieterich.
(Nach: Das kleine Heldenbuch, Karl Simrock, 1859)
In dieses Kloster, weit weg vom geschäftigen Treiben der Welt, zog sich nun Wolfdietrich im Alter zurück und legte seine körperliche Rüstung und Waffen ab, die er von Ortnit übernommen hatte. Ja, ein solcher Rückzug war wohl schon im 19. Jahrhundert nicht mehr das Ideal der Menschen, weshalb es auch von Wilhelm Wägner weggelassen und in die Schublade der zweifelhaften Geistlichkeit geschoben wurde. Doch vielleicht ist es gut, wieder einmal darüber nachzudenken, was eigentlich der natürliche Sinn und die geistige Botschaft sein könnte, warum der Körper im Alter immer schwächer wird und schleichend seine Funktionalität verliert? Wir kämpfen heutzutage mit allen verfügbaren Mitteln dagegen an und haben uns eine Welt eingerichtet, um unsere weltliche Geschäftigkeit so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Und ja, es ist ein riesiges Geschäft geworden: Einkaufszentren, Urlaubsindustrie, Medizinsysteme, Pharmakonzerne und mittlerweile auch Pflegeheime, die in das Ideal unserer Konsumgesellschaft passen und mit einem trickreichen Geldsystem von Löhnen, Steuern, Kassen und Versicherungen verwirklicht werden. Ist das wirklich der einzige Sinn im Alter eines Menschen, diesem System zu dienen und sich daran zu binden? Nun, es gab schon immer auch andere Wege, so daß sich der Mensch im Alter zunehmend in eine geistige Welt zurückzog, um den wahren Reichtum der Körperlichkeit zu empfangen. Manch altes Märchen erinnert noch daran, wie zum Beispiel die Großmutter von Rotkäppchen tief im Wald lebte. Noch ausführlicher finden wir diesen Weg auch in den alten indischen Geschichten:
Daraufhin zeigte die junge Königin dem König ein graues Haar, das in der Mitte seiner Haarpracht wuchs. Und sie sprach: „Siehe selbst, oh König, was es ist. Das ist die Ursache meines Kummers, unglücklich, wie ich bin.“ Da lachte der König, und lächelnd sprach er in Gegenwart von allen versammelten Königen und Bürgern zu seiner Frau: „Oh du mit den großen Augen, sei unbesorgt. Oh schöne Dame, weine nicht. Alle Wesen sind der Geburt, dem Wachstum und der Vergänglichkeit unterworfen. Oh junge Dame, ich habe den ganzen Veda studiert, tausend Opfer durchgeführt, Geschenke an die Zweifachgeborenen gegeben und Nachkommenschaft gezeugt. Ich habe mit dir viele Dinge des Vergnügens genossen, die den Sterblichen lieb sind. Ich habe die Erde gut regiert und viele gerechte Kämpfe geführt. Ich habe mich in der Gesellschaft von auserwählten Freunden in den Wäldern erfreut und an anderen Orten. Oh verheißungsvolle Dame, was habe ich versäumt? Weshalb hast du Angst vor meinen ergrauenden Haaren? - Laß meine Haare grau, meine Haut faltig und meinen Körper schwerfällig werden. Oh Manini, ich habe all meine Ziele erreicht. Oh liebliche junge Dame, ich werde mich in die Wälder begeben, um den Sinn dieser grauen Haare zu erfüllen, die du auf meinen Kopf gesehen hast. Oh Schöne, alle meine Vorfahren benahmen sich in ihrem Säuglingsalter wie Säuglinge, in ihrem Knabenalter wie Knaben, in ihrer Lebensblüte wie Männer, und im Alter gingen sie in die Wälder. Ich werde auch so handeln. Deswegen sehe ich keinen Grund für deine vielen Tränen. Gräme dich deshalb nicht. Das graue Haar, das du gesehen hast, wird zum Instrument meines Wohlergehens, kein Grund zur Trauer.“ … „Jetzt ist die Zeit gekommen, um in die Wälder zu gehen. Ich habe Kinder gezeugt und ihre Kinder erlebt. All das habe ich in schnell vergänglicher Zeit gesehen. Nun möge der nahende Tod nicht noch länger zuschauen. Die grauen Haare, die auf meinem Kopf erscheinen, oh Bürger, betrachtet sie als die Boten des gemeinen Todes, mit seinem unvermeidbaren Wesen. Deshalb möge mein Sohn zukünftig auf dem Thron sitzen. Ich werde nun allen Dingen des Vergnügens entsagen, in die Wälder gehen und die fromme Buße fortsetzen, bis die Knechte von Yama erscheinen.“ (Markandeya Purana, Kapitel 109)
So legte auch unser Held die Mönchskutte an, die er vom Einsiedler empfangen hatte, und opferte die körperlichen Rüstungen und Waffen und schließlich auch seinen sterblichen Körper auf der Totenbahre dem Altar Gottes bzw. der Ganzheit. Denn der weitere Kampf findet jetzt mehr innerlich in einer geistigen Welt statt. Dort trifft er auch die Geister der Getöteten wieder, und das um so mehr, weil er auch den goldenen Ring mit dem Siegstein trägt, der natürlich nicht nur Alberich sichtbar machte, sondern noch viele andere Geister in der Natur. Daß uns diese Geister von allen Wesen, die wir im Laufe des Lebens getötet haben, irgendwann wieder einholen, ist auch verständlich, denn mit der Vorstellung von „Tod“ entsteht eine Trennung, und damit eine Schuld, die beglichen werden will. Deshalb gibt es das heilige Gebot „Du sollst nicht töten“, das sich im Grunde als Botschaft durch all diese alten Sagen zieht und zumindest eine Richtung vorgibt, um diese Karma-Schulden zu vermeiden, was offenbar nicht immer gelingt. Zum Begleichen hilft dann der goldene Ring von Alberich als Symbol von Wahrheit und Einheit, um wieder ein ganzheitliches bzw. göttliches Bewußtsein zu erreichen. In gleicher Weise hilft auch das Seidenhemd von Siegminne, so daß man auch selbst nicht getötet werden kann, zumindest nicht als reines Bewußtsein. Und um dieses reine Bewußtsein unabhängig von irgendeiner äußerlichen Form zu erreichen, hilft als dritter Schatz die „Tarnkappe“ der Mönche, unter der die eigene Person und formhafte Körperlichkeit des „Hab-Ich“ verschwinden sollte. Ja, mit solchen Schätzen läßt sich wohl jeder Kampf gewinnen, die Sieg-Liebe in jeder Form erreichen und der große Sieg-Frieden im ewigen Leben finden.
In diese Richtung könnte man über Wolfdietrich als „körperlicher Reichtum der Menschen“ noch viel und lange nachdenken, wozu wir hier nur einige Gedanken zur Inspiration niederschreiben wollten…
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