Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hugdietrichsage: Die Geschichte von Kaiser Ortnit

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

So gelangte Wolfdietrich unter mancherlei Abenteuern zu Land und zu Wasser nach Sizilien, wo ihn König Marsilian, ein Verwandter seiner Mutter Hildburg, gastlich aufnahm. Er war gänzlich abgerissen an Gewandung, aber von dem Gastfreund erhielt er nicht nur freundliche Leibespflege, sondern auch stattliche neue Kleider und ein Boot, das ihn über das Meer an das Festland trug. Im wilden Gebirge trat ihm ein Riesenweib von unholder Gestalt entgegen. Sie war aber seinem Vater Hugdietrich befreundet gewesen, und als er ihr von seinen Erlebnissen berichtete, war sie bereit, seine weitere Reise zu fördern. Sie bewirtete ihn reichlich, und als sie erfuhr, daß er die Hilfe von Kaiser Ortnit suchte, setzten sie sich auf einen Felsen, und dort erzählte sie ihm die ganze Geschichte, welches traurige Schicksal Ortnit und die arme Liebgart getroffen hatte:

So kommt Wolfdietrich aus dem Morgenland wieder in das Abendland, aus einer mehr geistigen Welt wieder in das körperliche Reich der äußerlichen Natur, zuerst auf eine Insel, wo er neue „Kleidung“ bekam, und dann auf das Festland des „römischen Reiches“. Der Name Marsilian erinnert uns an den römischen Kriegsgott Mars, und das Riesenweib auf dem Festland an die Mutter Natur selbst, die ihm nun auch die Geschichte von Ortnit erzählt, wie dieser seine Seele gewann und in Rom zum Kaiser wurde. Ja, das ist wohl die Aufgabe der Natur, die weltlichen Geschichten der Formen zu erzählen, und damit auch über Liebgart und Ortnit, über Seele und Geist, wie die Seele die Formen verursacht und der Geist die Formen bewirkt:

Der gewaltige König Ortnit herrschte früher im Land der Lombarden. Danach hatte er seine Macht über ganz Welschland (Italien) vom Gebirge bis an das Meer und über Sizilien ausgebreitet, und auch noch andere Könige in der Nähe und Ferne sich untertänig gemacht, denn er besaß Zwölfmännerstärke und blieb in allen Schlachten Sieger. Dennoch war er nicht zufrieden, eine innere Unruhe vergällte ihm das Mahl und den köstlichen Trank im goldenen Becher. So saß er oft träumerisch an der vollen Tafel und hörte kaum zu, wenn seine Helden und Lehnsleute von den siegreichen Schlachten redeten, oder wenn der Sänger im begeisterten Lied seine Taten rühmte. Oft stand er am Meeresstrand und sah dem Spiel der Wellen zu, die vom Abendrot beleuchtet ihre glänzenden Bahnen zogen und dann in die Tiefe versanken. Da stieg eines Tages aus dem Gewässer vor seinen Augen ein Nebel auf, der sich wie ein Schleier auseinanderteilte und ein wunderbares Bild sehen ließ: Es war eine Burg mit Türmen und Zinnen, und auf einem Söller stand vom Abendsonnengold beleuchtet ein Frauenbild, wie er es auf allen seinen Fahrten niemals gesehen hatte. Er konnte den Blick von der Erscheinung nicht abwenden und war wie vom Zauber gebannt. Aber der Nebel zog sich allmählich wieder dichter zusammen, das Wunderbild zerrann.

Wie Ortnit noch unverwandt nach der Stelle hinstarrte, wo die Erscheinung verschwunden war, hörte er ein Geräusch hinter sich. „Sie ist es selbst und will mich beglücken!“, dachte er, kehrte sich um, schloß seine Arme und küßte den bärtigen Yljas, den Fürsten der wilden Reußen, seinen Oheim, der Umarmung und Kuß kräftig erwiderte. „He!“, sagte er, „Bist ein herzlicher Junge! Empfängst den Bruder deiner Mutter, wie ein Liebhaber sein süßes Lieb! Du hast wohl dem Hexenspuk dort auf dem Wasser ins Angesicht geschaut, und das hat dir ein bissel den Kopf verwirrt. Schlage dir das Meerwunder aus dem Sinn, denn es könnte sonst leicht dazu kommen, daß dein königliches Haupt auf eine Zinne von Montabur aufgepflanzt würde, wo die schöne Hexe mit ihrem heidnischen Vater wohnt.“ - „Sie lebt!?“, rief Ortnit heftig: „Dann muß sie mein werden, oder ich will Leib und Leben verlieren.“ - „Hei, lustig, ihr Fiedler!“, versetzte Yljas: „Ein Königskopf für einen Weiberzopf! Das gibt ein neues Lied, das man in ganz Lombardenland singen wird.“ - „Was meinst du damit?“, fragte der König: „Berichte mir die Geschichte der Spielmänner!“ - „He, Neffe!“, erwiderte der Reuße: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es ist kein Spielmannsmärchen, was ich dir jetzt berichte: Machorel, der mächtige Beherrscher von Syrien und noch anderen Reichen im Morgenland, ist der Vater jener wundervollen Jungfrau. Als ich auf meiner Pilgerfahrt nach dem Heiligen Grab schier verschmachtet an das Tor der Burg Montabur gelangte, verschaffte mir ein mitleidiger Sarazene („Morgenländer“) Einlaß und leibliche Pflege. Da sah ich nun den schrecklichen Heiden, der schwarz wie ein Mohr ist, und auch die schöne Jungfrau Sidrat. Desgleichen hörte ich, er lasse jedem Freier ohne Erbarmen den Kopf abschlagen, weil er die Tochter stets in seiner Nähe haben wolle. Zweiundsiebzig Häupter grinsten bereits hohläugig von den Zinnen herab. He, kühner Neffe, trägst du Gelüste, das deinige als das dreiundsiebzigste dem Mohrenkönig darzubieten?“ - „Manch seltsames Abenteuer habe ich schon bestanden“, erwiderte Ortnit, „so will ich es auch mit dem Heiden versuchen.“

Wir lernen hier in Ortnit einen Menschen kennen, der außergewöhnliche körperliche Stärke hatte, aber auch einen königlichen Geist, so daß er als Herrscher das irdische Reich der Natur erobern konnte, soweit das damals möglich war. Er hatte sozusagen alles Irdische gewonnen, und doch war er nicht zufrieden, denn es fehlte ihm die lebendige Seele der Natur und damit der „Sieg-Frieden“ eines Siegfrieds. Kennen wir das Gefühl auch? Ja, so steht er am Meer der Ursachen und erblickt in der aufsteigenden Nebelwelt das Ziel seiner Wünsche, die reine Seele als Quelle aller Schönheit und Vollkommenheit. Der Reuße Ylias, sein Oheim, ist dann wohl wieder der Verstand, den er noch mit der reinen Seele verwechselt und küßt, und der ihn vor diesem „Meerwunder“ als „Zauberhexe“ warnt und das dunkle Geistwesen natürlich gut kennt, das die Seele in seiner Körperburg für sich festhalten und nicht freigeben will. In dieser Symbolik treffen wir wieder auf das trennende Ego-Bewußtsein, das die Seele als „mein Leben“ in die Körperburg einschließt und damit die Hauptursache für den Unfrieden der menschlichen Unzufriedenheit ist. Dementsprechend erinnert uns der Name Machorel an einen relativen und damit abhängigen maskulinen Geist, den wir auch heute noch als „Macho“ kennen. Und die Körperburg Montabur erinnert an „Monte-Pur“, die das Reine im Berg bzw. in der körperlichen Materie einschließt und deren Burgmauern und Verteidigungs-Zinnen die tote Hülle oder Hülle des Todes bilden, weil Trennung auch Tod bedeutet. Über die Zahl 72 kann man die Phantasie spielen lassen. Zum Beispiel wird im Lukas-Evangelium von 72 früheren Jüngern gesprochen, und der Islam kennt 72 Sekten, die zum Tod in der Hölle verurteilt sind. Der Name Sidrat erinnert an „Sidrat al-Muntaha“, den islamischen Paradies- oder Himmelsbaum, der bis zur äußersten Himmelsgrenze wächst und so viele Blätter hat, wie es Menschen gibt. Auch das ist ein schönes Symbol für eine ganzheitliche Seele der Natur.

Und das Riesenweib erzählte weiter:
Gleich am folgenden Tag berief der König die Lehnsträger des Reiches zusammen und erklärte seinen Wunsch, eine Heerfahrt über das Meer nach Syrien zu unternehmen. Yljas brachte seine Einwände vor und schilderte die Gefahren, worauf andere meinten, der König könne sich doch eine geziemende Ehefrau unter den Fürstentöchtern des Landes wählen. Aber Ortnit beharrte auf seinen Entschluß. Er berichtete von dem Vorhaben Machorels, und wie es unsterblichen Ruhm und ewiges Heil bringe, wenn man das Oberhaupt der Heidenschaft samt seinem Volk zum Christentum bekehre. Die königlichen Worte überwanden mit siegender Gewalt alle kleinlichen Bedenken, und alle Fürsten waren bereit, ihm zu folgen, was den König erfreute. Doch er bat sie, von der Fahrt abzustehen, weil sie inzwischen die Burgen und Städte beschützen sollten, und insbesondere auch seine geliebte Mutter. Da rief Yljas, der Fürst der Reußen: „Beim heiligen Nikolas! Wenn du deinen Tollkopf auf die Zinne von Montabur tragen willst, Neffe Ortnit, dann bleibe ich nicht zurück. Mit fünftausend Recken in blanker Rüstung sollst du mich bereit finden, auch wenn mein eigener Kopf am Giebel von Montabur als Vogelscheuche aufgesteckt wird.“ So war die Fahrt beschlossen, und Zacharis, der Herr von Pullien (Apulien) und Sizilien, der zwar ein heidnischer Mann war, aber der treueste Wehrgenosse des Königs, erbot sich, dafür zwölf Schiffe mit Speise und Trank auf Jahre hinaus auszurüsten und mit Kaufgut von goldbesticktem Gewand und Samt und Seide reichlich zu beladen. „Wohl, vielgetreuer Heide“, sprach der König, „du gehörst in den Kreis der Edlen des Reiches, auch wenn du die christliche Taufe nicht empfangen hast. Nun laßt die Werbung in allen Landen geschehen. Ich habe Schätze genug, um wohl hunderttausenden Sold zu zahlen. Seht dort den festen Turm mit eisernen Pforten! Er ist vom Boden bis zum Dach mit Gold und Silber und manchem Kleinod angefüllt. Wohlauf, in wenig Wochen sind wir alle zur Reise fertig.“ - „Ja, ja, guter Neffe“, sagte Yljas, „da wäre die Reise schnell getan, doch Sturmriesen werden alsbald die Schiffe umwerfen, und Meerammen uns zur Hochzeit laden. Der Herbst hat schon begonnen, und wir müssen die Fahrt bis zum Frühling verschieben. Wenn im schönen Mai die Quellen rieseln und die Blumen blühen, dann besteigen wir unter Vogelgesang die Schiffe.“ Da gegen den Rat des erfahrenen Mannes kein Einwand erfolgte, wurde es so beschlossen.

König Ortnit blieb auf Burg Garden mit seiner Ungeduld allein zurück. Wohl stellte ihm seine verständige Mutter wiederholt die Gefahren der Fahrt vor. Sie meinte auch, es sei mißlich, eine Jungfrau zu begehren, die man nur wie im Traum gesehen hat, von deren Gemütsart man gar keine Kenntnis habe. Sie könne wohl eine böse Schlange sein, die das Leben vergifte. Das alles brachte ihn von seinem Entschluß nicht ab. Er hatte keine Ruhe mehr, als der Gesang der Lerchen den nahenden Frühling verkündigte. Es zog ihn hinaus in die wilden Berge, und er wünschte irgendein verwegenes Abenteuer, um in Kampf und Gefahr seinen Unmut zu vergessen. So trat er eines Tages gerüstet zu seiner Mutter, um sich auf kurze Zeit zu verabschieden. - „Kannst du denn nimmer ruhen, nimmer Frieden finden, mein lieber Sohn?“, fragte die sorgende Frau: „Ich fürchte, ich verliere dich früher als deinen Vater, und ich habe dann niemanden, der mich recht von Herzen liebt und mich in meinem Alter tröstet. Dein Oheim Yljas ist wohl mein Bruder und ein treuer Mann, aber wild und trotzig, wie das Volk der Reußen. Bleibe hier bei mir im schönen Schloß Garden! Da kannst du jagen oder im See fischen und friedlich deines königlichen Amtes als König der Völker walten. Entschlage dich der Heerfahrt und der Abenteuer, da du schon in jungen Jahren der Lorbeeren viele auf blutigen Schlachtfeldern gewonnen hast. Bald stehen die Auen in grüner Pracht, da ist es gar lieblich im Lombardenland.“ - „Lieb Mütterchen“, sagte er schmeichelnd, „bleibe mir hold und gewogen. Ich sitze noch immer gern, wie früher als Knabe, zu deinen Knien und spiele mit deinen beringten Fingern, aber ich kann doch nicht mehr Tage und Stunden verträumen. Es ist mir, als müsse ich hinaus in die fremde Welt, in Kampf und Streit. Mich dünkt, ich würde hier vor Unruhe sterben. Gib mir noch einmal deine liebe Hand, und nun lebe wohl, ich kehre bald zurück.“ - „So nimm nun diesen Fingerring“, sagte die Frau, „das Gold ist von geringem Wert und der Stein unscheinbar, aber ein Zauber ist darin beschlossen, den man nicht um ein Königreich kaufen könnte. Dann reite getrost in das wilde Gebirge, zuerst den Weg links über die Höhen bis an den See, dann seitwärts an der hohen Steinwand entlang und weiter zu Tal, wo ein Brünnlein aus dem Felsen hervorquillt. Dort wirst du an eine mächtige Linde gelangen und ein großes, nie geahntes Wunder erfahren.“ Ihre Stimme stockte vor innerer Aufregung. Er hätte gern mehr erfragt, aber ihre tränenden Augen schienen ihn anzuflehen, er solle nicht weiter forschen.

Als er in den Hof kam und sein gutes Streitroß bestieg, umringten ihn die Dienstmänner, alle wohl gerüstet. Sie wollten den lieben Herrn in das wilde Gebirge begleiten, aber er lehnte ihre Hilfe ab und schlug gedankenvoll die bezeichnete Richtung ein. Die frische, kühle Luft verscheuchte bald die Grillen. Er ritt fröhlich fort, obgleich der Abend schon hereinbrach und der Weg sich im Wald verlor. Wegen der starrenden Baumäste mußte er endlich absteigen und das Pferd am Zügel führen. Das war nun sehr beschwerlich, um so mehr, als die Dunkelheit überhandnahm. Er konnte sich nur nach den hier und da durchschimmernden Sternen richten. Nach mühsamer Wanderung erreichte er endlich den Ausgang des Waldes, eben als der Morgen aufdämmerte. Das heitere Morgenrot bestrahlte die Gipfel der Berge und spiegelte sich im wallenden See, der sich vor dem Wanderer ausbreitete. Der kühne Held verzehrte einen Imbiß, den er bei sich führte, während der Hengst im frischen Gras weidete. Darauf schlug er wieder den Weg nach dem Gebirge ein und erreichte endlich die Steinwand, von der ihm die Mutter gesagt hatte. Er schritt ihr entlang, bis er das Brünnlein rauschen hörte und bald auch, um einen Vorsprung biegend, die Linde vor sich sah. Es war ein mächtiger, majestätischer Baum und schon in der frühen Jahreszeit ganz grün und voller Blüten, die würzigen Wohlgeruch hauchten. Er stand auf einer weiten Aue, wo Gras und Klee, von roten, weißen, blauen und goldglänzenden Blumen übersäet, üppig hervorsprossen. Im Gezweig des weitschattenden Baumes hüpften und nisteten viele befiederte Sänger, die, so schien es, den Wanderer mit hundert- und tausendstimmigem Getön begrüßten. Es war dem König seltsam zumute, denn er meinte, er habe das alles schon in früher Kinderzeit gesehen.

Wie er noch darüber nachsann, fiel sein Blick auf den von der Mutter empfangenen Ring. Der darin befindliche Stein glänzte jetzt wie loderndes Feuer und beleuchtete ein liebliches Kind, das vor ihm unter Blumen lächelnd schlummerte. „Armer Knabe“, sagte der königliche Held mitleidig, „wer hat dich hierher in die Wildnis gebracht? Wie wird deine Mutter in Sorgen um dich sein! Aber ich darf dich nicht hier zurücklassen. Du würdest vor Hunger umkommen oder eine Beute der wilden Tiere werden.“

Er hatte schon vorher sein Pferd an einen Baumast gebunden und hob nun den Knaben auf, um ihn dorthin zu tragen, aber er erhielt plötzlich einen so gewaltigen Stoß auf die Brust, daß er nicht bloß das Kind fallenließ, sondern fast rückwärts zu Boden getaumelt wäre. Er hatte kaum wieder festen Fuß gefaßt, so fühlte er sich von dem Knaben umschlungen, und er mußte seine ganze Kraft aufbieten, um nicht zu Fall zu kommen. Es begann nun ein wütender Ringkampf zwischen dem großen, stattlichen König und dem wunderbaren Knaben. Blumen und Gräser wurden niedergetreten, Büsche und Sträucher zerstampft. Endlich brachte Ortnit den unscheinbaren Gegner unter sich und zückte im auflodernden Zorn sein Schwert, um ihn zu durchbohren. Er konnte aber den Streich nicht ausführen, denn der Kleine sah ihn flehend an und bat ihn mit sanfter, schmeichelnder Stimme, er möge ihn, den Wehrlosen, nicht ermorden, sondern Buße annehmen. Dann erbot er sich, für die Auslösung seines Lebens wertvolles Rüstzeug zu liefern, nämlich Helm, Schild und Brünne, glänzend von Silber und Gold, und das Schwert Rosen, der Zwerge Werk, gehärtet in Drachenblut. Der König forderte Bürgschaft, aber der Kleine versicherte ihm, in der einsamen Wildnis sei kein Bürge zu finden. Er könne sich auf seine Treue, auf sein gegebenes Wort verlassen, denn auch er sei ein König über ein weit größeres Reich als das Lombardenland. Es liege jedoch nicht auf, sondern unter der Erde, wo seine Untertanen Tag und Nacht auf Erz, Gold und Silber schürften, Waffen und Kleinodien mit kunstfertigen Händen schmiedeten. Da keine Bürgschaft zu beschaffen war, ließ endlich der Held seinen Gefangenen aufstehen. Ehe sich derselbe aufmachte, die verheißenen Gaben zu beschaffen, bat er ihn um den schmalen Fingerring an seiner Hand, der ihm, wie er meinte, ohne Wert und Nutzen sei. „Das Fingerringlein erhältst du nimmer!“, sagte Ortnit: „Es ist ein Geschenk von meiner vielgeliebten Mutter, die mir niemals wieder hold würde, wenn ich es von mir ließe.“ - „Hei, du kühner Held!“, spottete der Kleine: „Fürchtest der Mutter Rutenstreiche?! Wie könntest du im Kampf Schwertwunden ertragen?“ - „Würde mir auch der Leib von Schwertern zerhauen“, versetzte der Lombarde, „so schmerzte es mich nicht so sehr, als eine Träne oder ein Seufzer meiner Mutter.“ - „Nun, tapferer Weiberknecht“, fuhr der Kleine fort, „anschauen und betasten darf ich doch das Ringlein. Ich bin ja in deiner Gewalt, da du noch immer das blanke Schwert in der Rechten hältst, während ich wehrlos vor dir stehe.“

Nach einigem Zögern ließ es der König zu, daß ihm der Knabe den Ring vom Finger streifte. Aber kaum war es geschehen, so verschwand derselbe vor seinen Augen, und er starrte in die leere Luft. Nur seine Stimme hörte er, die ihm höhnisch zurief, er werde nun wohl zu Hause die Rute kriegen. Er tastete, er hieb mit dem Schwert in der Richtung, aber traf nur Blumen und Sträucher, und der listige Dieb höhnte fort: „Einem Schalksnarren ist solch ein Ringlein nichts nütze, denn er kennt die Kraft des winzigen Steinchens nicht, das in dem Gold verschlossen ist. Ich will ihm dafür ein paar handliche Steine zuwerfen.“ Bei diesen Worten flogen dem Helden scharfkantige Steine an den Kopf, daß ihm der Schädel zerborsten wäre, hätte ihn nicht der stahlfeste Helm geschützt. Wie ergrimmt auch der König war, wie er die Faust gegen den unsichtbaren Kobold ballte, der ihm bald von der einen, bald von der anderen Seite Steine und höhnende Worte zuschleuderte, er sah endlich doch ein, daß hier weder seine Zwölfmännerstärke noch sein scharfes Schwert Hilfe schaffen konnte. Er ging zu seinem Roß, schnallte den Gurt fest und wollte aufsitzen. Da rief ihm der Kobold zu: „Bleibe doch, guter Freund! Mich erbarmen die Schläge, die dir die Mutter geben wird. Höre mich an: Ich habe noch von großen Dingen mit dir zu reden. Verpfändest du mir dein königliches Wort, daß ich frei reden darf, und daß du auch das Geschehene nicht rächen willst, dann erhältst du sogleich das Fingerringlein zurück.“ - „Wohl“, sagte der Lombarde, „auf des Königs Wort und Treue hast du Sicherheit.“ - „Auch wenn ich von deiner Mutter Unliebsames rede?“, fuhr der Kleine fort. „Ha, nimmer!“, rief Ortnit: „Schilt mich, wie du magst, lästere, kläffe immer zu, aber meine Mutter sei ohne Makel und Tadel!“ - „Das ist sie mir, wie dir.“, sprach der Kleine: „Höre mich in Frieden an, denn ich bin Alberich, König der Zwerge, die im Schoß der Erde schaffen, und bin dir näher verwandt, als du denkst. Ich will dir die Wahrheit verkünden. Zuvor aber nimm dein Fingerringlein hin, da ich deinem Wort und deiner guten Treue vertraue.“

Alsbald fühlte der König den Ring wieder in seiner Hand, und wie er ihn an den Finger schob, sah er den Knaben vor sich stehen. „Wisse denn, reicher König“, begann der Kleine wieder, „Land und Leute, Burgen, Städte und Siegesehren und deine große Leibesstärke, das alles verdankst du mir. Dein Vorfahr, den du Vater nanntest, verheiratete sich im fortgeschrittenen Alter mit der jugendlich blühenden Schwester vom Fürsten der wilden Reußen. Doch die Ehe blieb kinderlos, und vergebens beteten beide Gatten, der Himmel möge ihnen einen Leibeserben schenken. Deine Mutter härmte sich, daß nach ihres Gatten Tod das Reich verwaist, den habsüchtigen Lehnsfürsten und den lauernden Feinden preisgegeben, und sie selbst schutzlos, vielleicht sogar vertrieben, ins äußerste Elend verstoßen sein sollte. Ich hörte oft ihre Klagen, wenn ich unsichtbar ihr Gemach betrat. Ihre Sorge, ihr Harm nahmen zu, je mehr der König alterte. Dann - ja, du mußt es doch erfahren - tat ich dem harmvollen König den Vorschlag einer heimlichen Scheidung und einer ehelichen Verbindung der Königin mit mir. Er willigte ein, aber nicht die edle und tugendhafte Frau. Sie weinte Tage und Monde, und nur der bestimmende Befehl ihres Gemahls bezwang ihren Widerstand. Priesterspruch heiligte die zweite Ehe, und du giltst als Sohn des Königs. Schau mich nur an, so wahr ich schon fünfhundert Jahre zähle, so klein ich bin, so gewaltig an Körpergliedern du vor mir stehst, ich bin doch dein rechtmäßiger Vater. Doch erst als der alternde Herrscher ins Grab sank, gelang es mir, der Gattin Herz zu gewinnen. Da führte ich sie manchmal hierher unter die Linde, und oft spielte ich mit dir in den Blumen der Aue, wie Kinder es tun. Als du zum Mann, zum Helden heranwuchsest, war ich in blutiger Schlacht neben dir, wehrte feindliche Waffen ab und erschreckte die feindlichen Kämpfer. So werde ich auch weiter dein treuer Helfer sein, wenn du über die wilde See fährst, um die Mohren-Jungfrau zu erkämpfen. Solange du das Ringlein am Finger trägst, wirst du mich vor dir sehen, wenn du meines Beistandes bedarfst. Nun harre hier, daß ich dir die Rüstung bringe, die keine Waffe versehrt, und das Schwert Rosen, das Stahl und Eisen und sogar Drachenschuppen durchschneidet.“

Wolfdietrich hörte gespannt zu, und das Riesenweib erzählte weiter:
Ortnit sah nun alles wie im Traum: Die Kinderspiele auf der Blumenwiese, der Vogelgesang im Gezweig der Linde, der Zwergenkönig Alberich, die unsichtbare Hand, die im Schlachtgetümmel die Geschosse ablenkte, alles ging vor seinem inneren Auge vorüber, und dann die edle Gestalt der königlichen Mutter, welche ihn gepflegt, ihm den Ring gegeben hatte, und ihn auch jetzt mit Sorgen erwartete, denn sie war ja seiner Liebe wert.

Hier wird nun die Rolle von Ortnit deutlich. Der Name Ortnit erinnert über altdeutsch „ort“ als „Schwertspitze“ und „nit“ als „nicht“ sozusagen an einen Geist ohne Schwertspitze, die das Symbol der Einheit am Schwert der Weisheit ist. Er kämpft daher vor allem mit der Schwertschneide, also mit dem gedanklichen Verstand der Unterscheidung, den wir in der Rolle seines Oheims Ylias finden. Doch mit seiner Körperkraft der „zwölf Männer“ ist er ein Sohn des mächtigen Naturgeistes Alberich, und in seiner geliebten Mutter können wir die Materie der Natur sehen, die den Menschenkörper in dieser Welt verkörpert und gebiert, gezeugt vom mächtigen Naturgeist. Ja, wer denkt heute noch daran, daß der Begriff „Materie“ ursprünglich von lateinisch „Mater“ kommt und „Mutter“ bedeutet, so daß auch die „materielle Natur“ nichts anderes als die „mütterliche Natur“ ist, die daher auch jeder Körper liebt. Damit es aber ein Mensch wird, muß auch irgendwo die Vernunft einfließen, die wir dann im geistigen Vater von Ortnit sehen können, der nicht weiter beschrieben wird, außer daß er als König altgeworden war und die Zeugung durch Alberich bestimmt hatte.

Diesbezüglich erscheint uns nun Ortnit wie ein Gegenspiel von Wolfdietrich: Ortnit als Sohn von Alberich kommt aus der körperlichen Natur und strebt mit dem Verstand und seiner Gedankenarmee in das geistige Reich, um dort seine lebendige Seele zu erobern. Und Wolfdietrich als Sohn von Hugdietrich kommt aus dem geistigen Reich und strebt in die körperliche Welt der Natur, um dort seine innere Seele der Siegminne wiederzufinden und den Berchtung-Verstand von der Belagerung durch die Ego-Weisheit von Sabene zu befreien. So möchten wir im Folgenden Ortnit in der Rolle der „vernünftigen Körperlichkeit“ betrachten, und Wolfdietrich in der Rolle der „körperlichen Vernunft“, worin das Gegenspiel zum Ausdruck kommt, obwohl die beiden in Wahrheit natürlich ein einziges Wesen sind. Man könnte auch sagen, Ortnit ist der Wolf von Dietrich. Das kann man auch gut im Stammbaum sehen, der sich bisher aufgebaut hat:

Dazu finden wir in der Geschichte auch wieder viele interessante Symbole: Der goldene Fingerring mit dem unscheinbaren Steinchen erinnert uns an das Gold der Wahrheit, den Ring der Einheit und ein kleines Steinchen vom Stein der Weisen als ein reines Bewußtsein, mit dem man auch die Naturgeister sehen kann. Damit findet Ortnit auch den König der Naturgeister an der Wurzel der Linde als Lebensbaum im Reich der Berge bzw. Materie, wo auch der körperliche Mensch geboren wird und im Reich der blühenden Natur unter dem Vogelgezwitscher der Gedanken spielt und aufwächst. So wird auch schön beschrieben, wie die Naturgeister im körperlichen Lebenskampf immer mit dabei sind, denn ohne sie könnte sich in der materiellen Natur nichts bewegen. Wie es sinngemäß auch in der Bibel heißt: »Der Geist ist es, der lebendig macht, sonst wäre der Leib zu nichts nütze.« Zu diesem Geist gehört dann auch das Bewußtsein auf verschiedenen Stufen und Graden. Und das große Ziel des irdischen Lebens liegt wohl darin, dieses Bewußtsein zu erweitern und zu erhöhen, wofür auch der Fingerring ein schönes Symbol ist, den man im weltlichen Handeln immer tragen sollte, um in hohem Grad bewußt zu bleiben und das Wirken der Naturgeister zu erkennen. Damit setzt sich auch in der Geschichte das bisherige Thema der Bewußtheit weiter fort, um aus dem weltlichen Traum zu erwachen.

Schwere Schritte und das Klirren von Waffen schreckten ihn aus seinen Träumen. Es war Alberich, der mit Hilfe seiner Zwerge die versprochenen Gaben herbeischleppte. Das väterliche Geschenk war in der Tat eines Königs würdig: Der silberglänzende Helm mit goldenen Spangen, oben auf der Spitze ein leuchtender Diamant, Halsberg und Brünne gleichfalls mit silbernen und goldenen Ringen, der goldene Schild mit Edelsteinen verziert, und die ganze Rüstung leicht und zierlich gearbeitet und doch fest gegen alle Waffen, das Schwert Rosen in goldener Scheide, der Knauf ein glänzender Karfunkel, die Klinge haarscharf, mit goldenen Bildern und dem Namenszug des Königs versehen, und alles in Drachenblut gehärtet. Ortnit staunte über die nie gesehene Pracht. Er legte das Rüstzeug an, und es paßte ihm wie angegossen. Da hob er den winzigen Vater zu sich empor und küßte ihn auf den rosigen Mund. Und der erwiderte den Gruß nicht mit einem Faustschlage, wie bei der ersten Begegnung, sondern mit einer zärtlichen Umarmung. Als der König sein Roß bestieg und Abschied nahm, rief ihm Alberich noch zu: „Vergiß das Fingerringlein nicht! Gib es niemals von dir. Drehst du es um, dann bin ich zur Hilfe bereit.“

Wie der Name Dietrich an den „Reichtum der Menschen“ erinnert, so deutet Alberich auf den „Reichtum der Naturgeister“, die früher Alben, Elben oder auch Elfen genannt wurden. So kann uns der Naturgeist für das Erwachen des Bewußtseins den großen Schatz der Nibelungen bzw. Nebelgeister geben, das berühmte „Rheingold“ im Fluß des Lebens, das der Mensch empfangen kann, wenn er entsprechend bewußt wird. Dazu erinnert uns das Schwert Rosen an die Waffe der Naturgeister im Reich der Körperlichkeit: Die Blüte der Rose ist das Ziel der Schönheit, Harmonie und Vollkommenheit, und die Dornen am Stiel sind der Weg des körperlichen Leidens, wie auch Christus diesen Weg ging und die Dornenkrone trug. Der Helm trägt den leuchtenden Diamanten des wachsamen Geistes als das führende Licht, der Schild ist aus dem Gold der Wahrheit, und die unzerstörbare Rüstung versinnbildlicht die Unzerstörbarkeit des Bewußtseins selbst, das natürlich für jede Form wie angegossen paßt. Das alles ist im Drachenblut gehärtet und verkörpert, in der ganzheitlichen Essenz von „Ich bin“, im reinen Bewußtsein, reinen Licht oder auch in reiner Information oder Energie, wie man es auch nennen möchte.

Als sich Ortnit der zinnengekrönten Burg Garden näherte, eilten die Dienstmänner und Knechte auf die Mauer, um den Recken in der strahlenden Rüstung zu sehen, den sie nicht erkannten. Erst als er den Helm abnahm, erhob sich der Jubel über die glückliche Heimkehr des Gebieters. Auch die Mutter winkte ihm vom Söller herab freudig zu. Er stieg eilends zu ihr hinauf und sprach: „Ich komme von Vater Alberich.“ - „Du weißt?“, fragte sie. „Ich weiß“, versetzte er, und schloß sie an seine starke männliche Brust.

Der Mai, der fröhliche und jauchzende Mai kam endlich wieder ins Land. Da sammelte sich das Kriegsvolk der Lehnsträger, und streitbare Söldner fanden sich zahlreich ein, denn der König hatte seinen Turm geöffnet und zahlte aus den darin verborgenen Schätzen reichlichen Sold. Der Zug ging von Garden südwärts durch Lombardenland, Toskana, das Gebiet von Rom und Lateran, Benevento, Troyen und Pullien (Apulien), wo sich überall zahlreiche Mannschaft dem Heer anschloß. Auf bereitgehaltenen Booten setzte man über nach Messina, dem allgemeinen Sammelplatz auf Sizilien. Der getreue Zacharis hatte daselbst die Schiffe schon gerüstet, und nicht nur mit Speise und Trank, sondern auch mit Kaufgut versehen, um im Fall der Not feindliche Raubgaleeren zu täuschen. Bald war die Mannschaft an Bord, günstiger Wind schwellte die Segel, und erfahrene Seeleute steuerten die Fahrt durch die wilde See.

„Land in Sicht!“, rief eine Stimme vom Mastkorb herunter: „Land Syrien! Stadt Tyros!“ Bald erblickte man auch auf dem Verdeck das Land und die befestigte Stadt. Da trat der Kapitän zum König mit den Worten: „Herr, wir sind alle verloren. Der Wind ist uns zu sehr entgegen, als daß wir vorüberfahren könnten. Schon hat man uns erblickt. Die Raubgaleeren werden sogleich auf uns Jagd machen.“ - „He, Neffe!“, rief der Reuße Yljas: „Wirf den feigen Kerl ins Meer, daß er mit den Fischen Brüderschaft trinke! Haben wir nicht gute Rüstung und scharfe Schwerter und sollten uns vor dem mohrischen Raubvolk scheuen?“ - „Herr“, versetzte der Bootsmann, „die Heiden werden uns mit Wildfeuer (griechischem Feuer) bewerfen. Dagegen hilft weder Schild noch Schwert. Die Schiffe lodern auf, und die gesamte Mannschaft wird verbrannt oder ertränkt.“ Die Helden standen ratlos und blickten den Raubschiffen entgegen, die sich allmählich, vom Wind begünstigt, der Flotte der Christenleute näherten. Da rief eine Stimme vom Mastkorb herunter: „Waffen unter Deck, Kaufgut herauf! Segel gerefft, daß die Feinde nicht wähnen, wir flöhen!“ - „Hei, das ist Alberich“, sagte Ortnit, „wie konnte ich ihn vergessen?!“ Er blickte empor und sah den Zwergkönig schnell, wie eine Lerche aus hoher Luft sich ins Weizenfeld niedersenkt, am Mastbaum herunter auf das Verdeck gleiten. „Du hast des Ringes, hast meiner vergessen!“, raunte er dem König zu: „Aber ein Vater vergißt des Sohnes nicht. Nun schaffe, daß meine Befehle vollzogen werden!“ Beschämt tat Ortnit nach dem Gebot. Bald waren alle Hände beschäftigt, die kriegerischen Geräte in den unteren Raum und den Kaufschatz herauf zu schaffen, ihn auszubreiten und die Waren in zierliche Ordnung zu bringen. Währenddessen hatte das Zwerglein schon wieder den Mast erklommen und rief den Mohren zu: „Ohe! Friedliche Männer führen Kaufschatz, schöne Gewänder aus Welschland (Italien), Gold- und Silbergerät, Schmuck und Kleinodien aus Frangistan (Christenreich)! Begehren freies Geleit nach Tyros!“

So beginnt nun der „Heilige Krieg“ zwischen der Körper-Natur und dem Ego-Geist: Die körperhaften Kräfte bzw. Prinzipien wurden in der äußerlichen Natur zurückgelassen, nämlich die Fürsten zum Schutz der heimischen Burgen und Städte, denn die Reise geht nun über das Meer in eine innerliche und mehr geistige Welt im Dreierbund von wachsender Vernunft, begrifflichem Verstand und mächtigem Naturgeist. Hier treffen die „heiligen Krieger“ zunächst am Meeresufer auf die Hafenstadt des Ego-Geistes. Und ja, Geist ist Feuer und hat die Macht, alle Formen zu verbrennen, doch ist er auch gierig auf Formen, um sie zu besitzen, damit zu handeln und sich darin zu finden. Dazu ist der Naturgeist auch intelligent und kennt die Wege zum Ziel, was sich der Verstand nicht vorstellen kann:

Yljas starrte mit offenem Mund nach der Mastspitze, wo er nur die königliche Flagge wehen sah, aber keinen Menschen erblickte. „Ist der Teufel an Bord?“, fragte er sich bekreuzigend, „Oder ein guter Geist? Mit wem hast du geredet, Neffe? Wer ruft von oben herab?“ - „Es ist ein guter Geist“, erwiderte Ortnit, „ein Zwerglein, das uns aus der Klemme hilft. Du sollst es gleich mit Augen schauen.“ Er schob ihm das Ringlein an den Finger, und der Reuße erblickte den schönen Knaben, der schon wieder herunterstieg, und er staunte, als ihm Ortnit eilends einige Kunde von seinem Abenteuer gab. Indessen waren die Galeeren nahe herbeigekommen. Der Hauptmann derselben erschien an Bord, und wie er die prächtigen Kaufschätze sah, versprach er sicheres Geleit und führte selbst die Kauffahrer in den Hafen von Tyros. Da stellte sich alsbald der Stadthalter ein, und auch er ließ sich täuschen, erlaubte die Landung und den freien Verkehr mit der städtischen Bevölkerung. Posaunenschall verkündigte den Frieden, welcher den fremden Gästen gewährt war.

Am Abend hielten die beiden Führer Rat, was weiter zu tun sei. „Schlachten!“, rief Yljas, „Schweine schlachten, Mann und Maus, Weib und Kind, die ganze Heidenschaft müssen alle auf den Block und werden dann für den Teufel und seine Gesellen gebraten, wenn das Nest im Feuer aufgeht.“ - „Das ist ein übler Rat!“, ließ sich Alberich vernehmen, der ungesehen genaht war: „Ein König, der ehrlich um Sieg und Ruhm wirbt, sendet dem Feind durch einen Herold den Aufruf zur Fehde.“ - „Aber der wilde Heide wird den Boten an den Galgen hängen“, wandte Ortnit ein. „So will ich selbst die Botschaft bringen.“, sprach der Zwerg und verschwand bald aus den Augen des Königs.

Es ist typisch für den Ego-Geist, daß er den Boten für die Botschaft verantwortlich macht. Dabei ist er es selbst, der die Botschaft beurteilt und entscheidet, ob sie gut oder schlecht ist. In diesem Sinne ist auch die ganze wirkende Natur, die wir hier in der Rolle von Alberich als König der Naturgeister sehen können, eine Botin mit einer wichtigen Botschaft für den Ego-Geist in seiner Körperburg:

Alberich eilte auf unbetretenen Wegen nach Montabur. Da stand König Machorel auf der Burgmauer, um nach der Tageshitze die abendliche Kühlung zu genießen. „Merke auf, Heidenkönig“, rief ihm der Zwerg aus dem Burggraben zu, „was dir König Ortnit, mein Herr, entbieten läßt. Du sollst ihm dein holdes Töchterlein Sidrat zur Ehegenossin geben, daß sie an seiner Seite als Königin über das Land der Lombarden herrsche. Bist du dessen nicht willig, dann kündigt er dir Krieg an und wird, ehe der Tag graut, deine Hauptstadt Tyros mit Heeresmacht angreifen und, wenn sie erobert ist, vor Montabur rücken, um dich für deine Untaten zu strafen und die geliebte Jungfrau heimzuführen!“ - „Heda!“, rief Machorel zornig, „Willst du den Kuppler machen? Zuvor wird dein Haupt auf eine Burgzinne gesteckt, dann auch das deines gottverfluchten Herrn, wenn er sich blicken läßt. Aber wo ist denn der Kobold? Kann ich ihn doch nicht schauen!“ - „Hier, unter dir, im Burggraben.“, war die Antwort. Darauf wälzte der König einen schweren Stein hinunter, der jedoch sein Ziel verfehlte. Er rief nun seine Mannschaft herbei, ließ den Graben und die Umgegend durchforschen, aber Alberich blieb unsichtbar. Der wiederholte nochmals den Fehderuf und trat sodann den Rückweg an. Vor Tagesanbruch war er wieder auf dem Schiff und half, eine große Anzahl geräumiger Boote vom Strand herbeizuschaffen, auf denen das Heer übergeführt wurde.

Die ganze bewaffnete Macht stand in früher Dämmerung vor der Stadt, die dem Untergang geweiht war. Die Bürger schliefen fest, selbst die Wächter waren eingenickt und hatten die Tore unverschlossen und unbehütet gelassen. Als aber das Heer anrückte, wurden sie vom Klirren der Waffen und Hufschlag der Pferde aufgeweckt. „Ho! Feinde! Verrat! Mord!“, riefen die aufgeschreckten Wächter und stießen in die Hörner und Hallposaunen, daß es weit über Land und Meer erscholl. Die Bürger ergriffen ihre Waffen und stürmten zur Verteidigung. Doch sie fielen haufenweise unter den Speeren und Schwertern der Lombarden, die unaufhaltsam in geschildeter Ordnung vordrangen. Als sie sich aber mehr und immer mehr sammelten, wurde der Kampf schwer und mörderisch auf beiden Seiten. Indessen, mit Ortnit war der Sieg. Das Schwert Rosen in seiner Hand spaltete Helme und Schilde. Der Schrecken des Todes ging vor ihm her, Blut und Leichen bezeichneten seinen Weg. Nicht weniger tapfer focht Yljas an der Spitze seiner Reußen. Des Heeres Sturmfahne in der Linken, das Schwert in der Rechten, schritt er wie ein Würgengel seinen Mannen voraus. Da kam Botschaft, ein Teil der Stadtwehr sei durch ein anderes Tor ausgefallen und dringe gegen die Schiffe vor, um sie in Brand zu stecken und dann das Heer im Rücken anzugreifen. Ortnit überließ dem Reußen die Verfolgung der weichenden Sarazenen („Morgenländer“) und warf sich mit einem auserlesenen Häuflein der feindlichen Macht entgegen, welche Flotte und Rückzug bedrohte. Der Stadthalter führte diese an, und er war der erste, der unter Ortnits Streichen fiel. Ihm folgte der größte Teil seiner Kämpfer in den Tod, die anderen ergriffen die Flucht, wo irgend des Königs Schwert blitzte. „Hab acht auf den Reußen!“, ließ sich jetzt eine Stimme neben Ortnit hören, und er erkannte seinen Beschützer Alberich. Er eilte sogleich nach der Walstatt, wo er seinen Oheim verlassen hatte. Aber schon kamen ihm Flüchtlinge, erst einzeln und dann in Masse entgegen, bald auch die siegreich nachdringende Stadtwehr, die durch Hilfsmannschaft vom Land mächtig verstärkt war. Doch sie bestand nicht vor Ortnits furchtbaren Streichen. Die flüchtigen Scharen sammelten sich wieder um ihn her und zwangen nun ihrerseits die Feinde zum Rückzug. Sie gelangten auf den früheren Kampfplatz, aber der gewährte einen traurigen Anblick. Zerhauen, tot oder wund lagen da Freunde und Feinde. Und da lag auch der starke Yljas mitten unter seinen Reußen, die mit ihrem Blut ihre Treue besiegelt hatten.

Hier zeigt sich nun das Wesen des begrifflichen Verstandes mit seiner Gedankenarmee, wie er den Feind durch Töten besiegen will. Ja, anderes können wir gewöhnlich nicht denken. Doch Tod bedeutet Trennung. Wie könnte Trennung das trennende Ego-Bewußtsein besiegen? Und auch dem Naturgeist geht es nicht um das Töten, sondern um das Leben.

Der Name Yljas stammt von Elias mit der Bedeutung „der Mächtige“ oder „Gott ist der Herr“, so daß auch der Verstand eine mächtige Kraft in der Natur ist, wenn er sich dem Göttlichen bzw. ganzheitlichen Bewußtsein der Vernunft unterordnet und ihm dient. Sein Stamm der Reußen erinnert uns an die langen, röhrenförmigen Reusen als Fischernetze, in denen die Fische als Symbol des Lebens gefangen werden, wie auch der Verstand die lebendige Natur mit einem Netz aus toten Begriffen erobern will. So ist der Verstand im wesentlichen eine Kraft der geistigen Bindung an die körperliche Welt und hat dort, vom reinen Bewußtsein belebt, seine Aufgabe im „Heiligen Kampf“ zu erfüllen. Aber wie?

Ortnit ließ von der Verfolgung ab und betrachtete in tiefer Trauer den gefallenen Freund. Er nahm ihm den Helm ab und fand, daß noch Leben in ihm war. Zufällig berührte er dessen bleiche und faltige Stirn mit dem Fingerring Alberichs, da schlug der Held die Augen auf. Er erhob sich in voller Kraft, holte Schwert und Sturmfahne aus der Blutlache hervor und begehrte Kampf. „Hei, Neffe!“, rief er: „Ich lebe noch. Ein Keulenschlag auf den Helm warf mich nieder, und da sind meine Dienstmänner alle erschlagen! Aber die heidnischen Teufel sollen es entgelten. Wo? Wo sind die Höllenhunde? Ich will sie alle zu ihrem teuflischen Ahnherrn befördern.“

Die Stadtwehr hatte sich wieder gesammelt, als Ortnits furchtbares Schwert nicht mehr im Kampf blitzte. Der Reuße warf sich nun überaus wütend auf die anrückenden Scharen. Er durchbrach, versprengte sie, daß Ortnit kaum folgen konnte. Endlich war jeder Widerstand gebrochen, und nur vereinzelte Flüchtlinge fand noch der grimmige Reuße, die er ohne Erbarmen niederhieb. Wehrlose Leute, Männer, Frauen und Kinder, in einem unterirdischen Gewölbe versteckt, flehten vergebens um Gnade. Er und seine Gefährten würgten und metzelten, bis der König erschien und dem Morden Einhalt tat. Yljas aber geriet darüber in noch größere Wut. Er wußte nicht mehr, was er tat, stürzte auf das Schlachtfeld zurück und zerstampfte oder erwürgte mit dem Schwert die Verwundeten, mochten sie Freunde oder Feinde sein. Der König hörte das Jammergeschrei. Er sah mit Entsetzen das Wüten des Mannes, der gleich einem Tiger nach Mord und Blut brüllte. Da umfaßte er ihn und entwand ihm die bluttriefende Waffe.

So erkennt nun Ortnit das Wesen des begrifflichen Verstandes, seinen Wahn des Tötens und wie er sich damit nur selbst tötet. Ja, so stellt sich wohl der gewöhnliche Verstand das berühmte „Bad im Drachenblut“ vor, was offenbar nicht der Weg zur Unsterblichkeit ist. Doch nun zeigt sich der König bereits als wachsende Vernunft, um den Verstand zu zügeln und dem blinden Wüten im Blutrausch des Tötens Einhalt zu gebieten. Denn damit läßt sich natürlich der Ego-Geist nicht besiegen, um die reine Seele der Harmonie und Vollkommenheit zu gewinnen.

Die Stadt Tyros war erobert, die Bürgerschaft, soviel von ihr noch am Leben war, erhielt Gnade. Sie mußte dem König den Huldigungseid leisten und sein Banner auf der Zinne der Burg aufpflanzen. Nun aber sorgte der königliche Eroberer für die Verwundeten. Die Sarazenen übergab er zur Pflege den Bürgern, die eigenen Streitgenossen wurden auf die Schiffe gebracht. Es waren ihrer noch fünfhundert. Dem Heer hatte der fürchterliche Kampf neuntausend Mann gekostet, ein empfindlicher Verlust, da noch der wilde Machorel mit seiner Hauptmacht in Montabur lagerte.

Das Riesenweib fuhr fort, Wolfdietrich hörte achtsam zu:
Nur wenige Tage gönnte der König dem Heer Rast. Die Sehnsucht nach der wundervollen Jungfrau ließ ihn Tag und Nacht nicht ruhen. Wer aber sollte auf dem Zug die Sturmfahne tragen? Wer sollte das Heer in dem fremden Land führen? Der zornmutige Reuße schien dazu nicht mehr geeignet. Da gedachte Ortnit seines Vaters Alberich, drehte das Ringlein, und sogleich stand der Zwerg an seiner Seite und fragte nach seinem Begehr. „Vertraut und folgt mir!“, rief er, als er vernahm, was den König wünschte. Mit diesen Worten bestieg er ein gesatteltes Pferd, nahm das Banner in die Hand und setzte sich an die Spitze des Heeres, das staunend die wunderbare Erscheinung vor Augen sah. Denn man gewahrte wohl das Roß und die wallende Fahne, aber nicht den Reiter, der sie trug. „Es wurde ein Engel vom Himmel zu uns gesandt!“, sprachen die Krieger untereinander und folgten mit Freuden, obgleich der Weg weit und die Beschwerden unendlich waren. Anfangs ging der Marsch durch fruchtbares Gelände, dann aber durch grauenvolle Einöde, wo die Sonne glühend brannte und kein Wasser zu finden war. Da sehnten sich die fast verschmachtenden Krieger nach den frischen Brunnen des Vaterlandes, nach einem kühlenden Tropfen vom Labsal der grünenden Heimat. Doch der Marsch des Heeres ging indessen weiter. Die Krieger folgten nicht in der Richtung, wo die trügerische Wüstenfee Morgana ihre sprudelnden Quellen zeigte. Das königliche Banner in unsichtbaren Händen, war ihnen ein himmlisches Zeichen auf dem Weg zu Siegesehren oder zur Seligkeit durch die Pforte des Todes.

So war nun der Großteil der Gedankenarmee des begrifflichen Verstandes gefallen und im Kampf um die Hafenstadt der greifbaren Handelswaren sozusagen zu toten Gedanken geworden, bevor der eigentliche Kampf um das Wesentliche überhaupt beginnen konnte. Und das war wohl auch gut und wichtig, damit der König als wachsende Vernunft das Wesen des Verstandes erkennen konnte und das Kriegsbanner, das dieser bisher trug, in die Hand des Naturgeistes gibt, an den er sich mittlerweile zur rechten Zeit erinnern kann, was auch eine zunehmende Bewußtheit bedeutet. Die „überlebenden“ Gedanken, die bisher greifbaren Dingen nachgejagt waren, folgen nun dem neuen Bannerträger im Vertrauen auf Gott, auch wenn er nicht zu sehen ist. Wunderbare Symbolik!

Dann geht es natürlich in die Wüste, wo auch Christus den Teufel besiegt hatte und wo die durstigen Gedanken unter der geistigen Sonne der Bewußtheit keine Nahrung mehr finden. Doch im Vertrauen auf ihren himmlischen Führer widerstehen sie der verführerischen Illusion, was schon einmal eine wichtige Voraussetzung ist, um den „Heiligen Krieg“ zu gewinnen.

Und endlich tauchten am Horizont blaue Berge auf, bald breiteten sich duftige grüne Matten aus, hohe Zedernstämme, die keines Menschen Hand gepflegt, beschatteten den Weg, und von steilen Felsen hernieder stürzte brausend und schäumend ein wilder Bergstrom hinab ins Tal. Da ruhten die lechzenden Krieger von der mühseligen Wanderung, sie schlürften durstig mit begierigem Mund den kühlen Trank, der aus den Bergen quoll, doch nimmer, so schien es, wurde ihr Durst gestillt. Da flatterte am jenseitigen Ufer eine blutrote Fahne, und blutrot wimmelten dort die Turbane in Busch und Strauch. Bögen wurden gespannt, und scharfe Pfeile flogen alsbald von starker Hand entsandt, um das feindliche Ufer blutrot zu färben.

In dieser Symbolik können wir wieder den Fluß des Lebens mit seinen beiden Ufern von Natur und Geist finden, und wie die durstigen Gedanken vergeblich versuchen, darin ihren Durst zu stillen. Der Naturgeist bildet die Furt bzw. Brücke zwischen den Ufern, und dann beginnt auch der Kampf von der geistigen Seite her, der wohl immer noch ein Verstandeskrieg der Gedanken ist:

Es war der grimmige Machorel, der hier mit zahlreichem Aufgebot das feindliche Heer zu hemmen suchte. Er hatte bereits Kunde erhalten von der Eroberung seiner Hauptstadt Tyros und von dem Zug nach Montabur. Auf sein Geheiß waren zahlreiche Krieger aus der Nähe und Ferne herbeigeströmt, und immer noch kamen Schwärme zu Roß und zu Fuß, um seine Macht zu verstärken. Ortnit ordnete seine Streiter zum Angriff. Ihm war nicht vor der Übermacht bange, wohl aber trug er Sorge, wie man durch den reißenden Strom kommen sollte. Da zog der unsichtbare Führer mit dem wallenden Banner voran, und kühn folgten die Krieger, und es war, als ob die schäumenden Wasser zurückwichen und eine breite Furt eröffneten. Ein fürchterlicher Kampf entbrannte am jenseitigen Ufer, und obgleich der König mit seinem guten Schwert alles vor sich her niederschlug und der Reuße nicht minder wütete, so wichen doch die Feinde nur Schritt für Schritt. Doch wurden sie bis an den Burggraben gedrängt. Hier machten sie Halt und versuchten, sich mit äußerster Gewalt zu verteidigen. Gleichzeitig begannen die Katapulte und andere Wurfmaschinen von der Mauer herab, zentnerschwere Steine und Balken auf die Belagerer zu schleudern, von denen Hunderte den tödlichen Geschossen erlagen. Gegen solche Waffen halfen weder Schwerter noch Speere, und die bisher Sieger waren, mußten weichen. In diesem Augenblick, da eine Niederlage, vielleicht sogar der Untergang des ganzen Heeres bevorstand, griff Ortnit nach dem Ring. Sogleich war der hilfreiche Zwerg zur Stelle und schaffte Rat. Er eilte, er flog durch das Kampfgetümmel, verschwand unter den feindlichen Scharen und erschien alsbald wieder auf der Burgmauer. Ungesehen von den arbeitenden Kriegsknechten, nur dem König sichtbar, stürzte er mit seiner wunderbaren Kraft eine Maschine nach der anderen in den Burggraben, während die Knechte, unwissend, wer ihnen ihre Werkzeuge entriß, voll Staunen und Schrecken den krachend hinabstürzenden Geräten nachblickten. Ortnit sah freudig die Werke des Zwerges, und nun flammte sein furchtbares Schwert wieder seinen Scharen voran und brach ihnen einen blutigen Weg durch das feindliche Heer.

Alberich verließ unterdessen die Burgmauer und schritt nach einem turmartigen Vorbau, der über die Mauer emporragte. Daselbst war das Heiligtum der Mohren, wo ihre Abgötter Machmet und Apollon, zwei mächtige Steinbilder, aufgestellt waren. Die Königin und ihre Tochter, die schöne Sidrat, knieten vor ihnen und flehten um Schutz vor den grimmigen Feinden, welche den König, sie selbst und das Land bedrängten. Da fühlte Sidrat ihre Hand von einer unsichtbaren erfaßt. Sie erschrak zuerst, dann glaubte sie, der Gott selbst habe ihr Gebet erhört und wolle ihr seinen Schutz anzeigen. Es war aber Alberich, und der flüsterte ihr zu: „Deine Götter sind Staub. Ich bin ein Bote aus einer anderen Welt, der dir Rettung bringen und den wahrhaftigen Gott verkündigen will.“ Die Jungfrau riß sich erschrocken los und flüchtete zu ihrer Mutter. Nun ergriff der starke Zwerg die Steinbilder, trug sie auf den Söller und stürzte sie hinunter in den Graben. Die Frauen hörten das Krachen des Falles und drängten sich in einen Winkel des Betsaales, denn sie meinten, ein böser Geist habe das Werk getan. Aber Alberich stand schon wieder neben der Jungfrau und zog sie gegen ihren Willen nach dem Söller, indem er sagte: „Sieh dort den Helden, der dich begehrt, der dich glücklich, zur reichen Königin über alle seine Reiche machen will.“ Unwillkürlich blickte sie hinunter auf das fürchterliche Kampfgewühl. Da stand Ortnit inmitten des blutigen Streites, hoch, alle überragend, in glänzender Rüstung wie ein Gott, der sich unantastbar und unwiderstehlich durch die wild anstürmenden Wogen des Krieges freie Bahn schafft. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Aber nun nahte er ihrem Vater, der seine ausweichenden Krieger sammelte und ermutigte. Da erreichte er ihn, sein blitzendes Schwert spaltete dessen Schild und erhob sich abermals zum Todesstreich. Sie stieß einen lauten Schrei aus, und Ortnit konnte den Streich nicht vollenden. Sein Auge hing an dem Frauenbild auf dem Söller, denn sie war die Erscheinung am Meeresstrand.

Daß in dieser Ego-Burg Mohren als dunkelhäutige Afrikaner herrschen, und Machmet als Prophet Mohamed und Apollon als griechischer Gott des Lichtes verehrt werden, deutet darauf hin, daß es hier ursprünglich nicht gegen irgendeinen bestimmten Glauben oder ein Volk ging, wie in späteren Überarbeitungen der Sage ausgebaut wurde, sondern um das Grundproblem der geistigen Verdunklung und der Verehrung von „Abgöttern“ als versteinerte Abbilder und nicht Gott selbst als lebendige Ganzheit. Dazu gab es auch entsprechende Gebote zur Heilung im Alten Testament, wie »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.«, »Du sollst dir kein Kultbild machen, keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.«, und was vor allem in dieser Geschichte eine wesentliche Rolle spielt: »Du sollst nicht töten.« Dazu hilft nun die Natur mit ihrer Seele und ihrem Naturgeist, um die versteinerten Vorstellungen des begrifflichen Verstandes in den Abgrund zu stürzen, des trennende Ego-Bewußtsein zu besiegen und die ganzheitliche Vernunft mit der göttlichen All-Liebe im ewigen Leben wieder aufzurichten. Entsprechend finden wir auch hier eine treffliche Symbolik, wie Alberich in dieser Ego-Burg zuerst die Steinwerfer als Mittel zur Abwehr in den Abgrund stürzte und danach die Götterbilder als Mittel der Anhaftung.

„Siehst du den königlichen Helden?“, sprach die Stimme des Unsichtbaren zu der Jungfrau: „Er will dich zur Königin über alle seine Reiche erheben.“ Sie antwortete nicht, doch ihr Blick war dem des Königs begegnet. Der Zwerg verstand die stumme Sprache und fuhr fort: „Morgen beim ersten Tagesgrauen steige in den Burggraben nieder. Dein Vater wird es dir vergönnen, wenn du sagst, du wollest seine Götter anrufen, daß sie wieder in die Burg zurückkehren. Dort wirst du den König finden.“

Das Gefecht war indessen lässig geworden, weil Ortnit säumte. Nur Yljas wütete noch schonungslos unter den Mohren, die fortwährend im Weichen waren. Doch konnte er ihren Rückzug in die Burg nicht verhindern, noch die eisernen Tore sprengen, die sich hinter ihnen schlossen. Der Verlust auf beiden Seiten war groß. Zwar hatten die Heiden doppelt soviel Streiter eingebüßt, aber sie erhielten fortwährend Hilfsmannschaft, da die geschwächten Belagerer die ausgedehnten Festungswerke nicht einschließen konnten. Um vor einem nächtlichen Ausfall sicher zu sein, zog sich das Heer hinter den Strom zurück. Da wurden die Verwundeten verbunden. Das frische Wasser und die mitgeführten Vorräte an Wein und Speise gaben ihnen, wie den gesunden Kriegern, die wohlverdiente Labung. Als die Nacht den Schleier des Friedens ausbreitete, überließen sich die müden Recken dem Schlaf und träumten von neuen Kämpfen und Siegesehren. Nur der König konnte nicht ruhen. Er hatte von seinem Beschützer die Verabredung in Erfahrung gebracht. Er wappnete sich nach kurzer Rast, bestieg seinen Streithengst und ritt nach Montabur. Der Mond leuchtete hell. Hinter ihm lag das Lager im Frieden des Schlafes, vor ihm und um ihn die leichenvolle Walstatt im Frieden des Todes. Es war schauerlich unter den Leichen. Der König hielt nahe an der Burg unter einem weitschattenden Tamarindenbaum, wo er nicht leicht von den schlaftrunkenen Wächtern gesehen werden konnte. Er stieg ab und dachte, an den Stamm gelehnt, über das nach, was geschehen war und was noch geschehen sollte. „Wird Sidrat kommen? Werde ich sie endlich in die Arme schließen? Und wenn sie mein ist, dann biete ich der ganzen Heidenwelt Trotz.“ Unter diesen und ähnlichen Gedanken sah er nicht, wie sich am östlichen Horizont das erste Licht des Tages zeigte. Aber nun öffnete sich ein Ausfallpförtchen, eine weiße Gestalt trat heraus. „Sidrat!“, rief er und hielt sie in seinen Armen, und sie erwiderte seinen Kuß. „Fort! Säume nicht!“, flüsterte der Zwerg neben ihm: „Dort rechts nach dem Strom!“ Er begriff die Mahnung, hob die Jungfrau auf sein Roß, stieg selbst auf und ritt in der angedeuteten Richtung eilend vorwärts.

Es war auch höchste Zeit, denn ein Wächter auf der Mauerzinne erkannte die glänzende Rüstung und den Karfunkel auf der Helmkrone und stieß in sein Lärmhorn, daß die ganze Burgmannschaft wach wurde. Die Tore öffneten sich, Krieger zu Roß und zu Fuß stürmten hinaus, den Flüchtlingen nach. Mit Mühe erreichte Ortnit die schmale Furt durch das Bergwasser, das sonst überall wegen der reißenden Strömung und der felsigen Ufer nicht zu überqueren war. Auf der anderen Seite verbarg er Sidrat in einer kleinen Höhle, und nun stand der Held, sein gutes Schwert Rosen in der Hand, um die Furt zu verteidigen. Wurfspieße, Pfeile und krumme Säbel klirrten ihm auf Helm, Schild und Brünne, aber Alberichs Werk widerstand, Rosen flammte wie ein Blitzstrahl in der Faust des Helden und spaltete Rüstungen und Häupter, daß das Wasser rot von Blut wurde. Der erste Angriff war abgeschlagen, aber nun erschien Machorel mit frischer Mannschaft. „Seid ihr Männer?“, rief er den Kriegern zu: „Dann schlagt den Hund, den Mädchenräuber, in Stücke, daß sich Wölfe und Geier an seinem Fleisch mästen!“ Der Kampf wurde immer erbitterter, Ortnit fühlte, wie die menschliche Kraft zuletzt der Übermacht unterliegen müsse. Er stieß in sein Horn und hoffte, sein Oheim werde es hören, aber nirgends zeigte sich Hilfe, während immer neue Horden gegen ihn andrangen und sein Arm mehr und mehr erlahmte. Da hörte er Pferdehufschlag und Getümmel hinter sich und fürchtete, die feindliche Schar haben das Wasser anderweitig überquert und greife nun auch von hinten an. Dann wäre kein Entrinnen und keine Rettung mehr möglich gewesen. Aber es waren die Freunde, es war Yljas, der Reuße, und der stand bald an seiner Seite, die Sturmfahne in der Linken, das Schwert in der Rechten, warf er die vorgedrungenen Mohren in den Bach und drängte nach dem jenseitigen Ufer. Ortnit, erschöpft zum Sterben, sank in das hohe Gras. „Da nimm!“, rief er dem Freund zu: „Nimm Rosen! Ich kann nicht mehr.“

Der Reußenheld ergriff die starke Waffe und wütete unter den weichenden Heiden, indem er rechts und links niederschlug, was Widerstand leistete. Dennoch kam das Gefecht nicht zum Stehen, da neue feindliche Haufen auf dem Schlachtfeld angelangten. Sidrat fand den König, eilte mit Ortnits Horn zum Wasser und erfrischte den Ermatteten mit einem kühlen Trank.

Als sich daraufhin Ortnit erholt hatte und Rosen wieder in seiner Hand flammte, wurde der Rückzug der Mohren allgemein. Zweimal begegnete ihm Machorel im Mordgetümmel, zweimal warf er ihn mit dem Schild zu Boden, aber er scheute sich, den Vater der Geliebten zu töten. So gelang es dem Mohrenkönig, seine erschöpften Scharen in die Burg zurückzuführen, ohne daß die Lombarden zugleich mit eindringen konnten.

Der Verlust der Belagerer war indessen so groß, daß an Einschließung und Erstürmung der Festungswerke nicht mehr gedacht werden konnte. Da nun auch der Zweck der Heerfahrt erreicht war, so trat das Heer den Rückzug an. Man fand zu Tyros die Flotte noch wohlbehalten, schiffte sich ein und fuhr mit reicher Beute und der schönen Königstochter durch die blauen Meereswogen der Heimat zu. Sidrat aber vergaß an der Seite des geliebten Freundes Vater, Mutter und ihre Götterbilder, deren Ohnmacht sie erkannt hatte. Sie wurde im Christentum unterrichtet und erhielt in der Taufe den Namen Liebgart. Nach der glücklichen Landung ging der Zug unter großem Jubel der Landbevölkerung nach Garden, wo die alte Königin die mit viel Mühe und Blut erworbene Schwiegertochter und ihren ruhmvollen Sohn freudig empfing.

So lesen wir nun, wie Ortnit mit der Hilfe des Verstandes und des Naturgeistes sein Ziel erreicht, die reine Seele durch die Kraft der Liebe gewinnt und auch versucht, die immer enger werdende Furt durch den Fluß des Lebens zu verteidigen, die der Naturgeist geschaffen hatte. Dabei übernimmt nun Sidrat als Seele der Natur die Rolle des Naturgeistes, der nun sozusagen zur „Geistnatur“ wird, und gibt Ortnit wieder neue Kraft im Kampf, was aber wohl immer noch ein Verstandeskampf war, so daß auch der Ego-Geist nicht grundlegend besiegt werden konnte. Denn der Ego-Geist lebt natürlich vom Kampf, und vor allem vom Verstandeskampf. Ja, so einfach ist es offenbar nicht, den Ego-Drachen zu besiegen, um den großen „Sieg-Frieden“ zu erreichen.

Doch zumindest wurde die Seele gewonnen, die Ortnit als „vernünftige Körperlichkeit“ und wachsende Vernunft mit in das Reich der äußerlichen Natur führen konnte. Damit ergibt sich eine sehr interessante Konstellation. Denn auch Wolfdietrich hatte einen ähnlichen Kampf um Marpilia geführt und damals im „Glaubenskrieg“ den Vater besiegt, aber auch getötet, so daß er dessen Tochter Marpilia als zauberhafte Seele der äußerlichen Natur nicht gewinnen und heimführen konnte. Das gelingt nun Ortnit, der zwar den Vater nicht besiegen, sondern im Verstandeskampf nur abwehren konnte, aber auch nicht tötete und damit die Liebe der Tochter als Seele der Natur gewann. Dazu spielt auch ihre Hexen- und Zauberkraft, vor der Yljas anfangs warnte und auch Wolfdietrich bei Marpilia zurückschreckte, für ihn keine große Rolle, denn er kommt ja aus der äußerlichen Natur der Körperlichkeit, hatte sie erobert und kennt ihr zauberhaftes Wesen. Damit zeigt sich hier erneut das Gegenspiel von Ortnit und Wolfdietrich, wie sie sich gegenseitig ergänzen, von dem wir oben bereits gesprochen haben. Und wir ahnen wieder einmal mehr, was für ein großer Schatz in diesen alten Sagen verborgen liegt und wie tiefgründig die Menschen damals das komplexe menschliche Wesen durchschaut und in solchen symbolischen Geschichten verdeutlicht haben.

Dann wird noch einmal das ganzheitliche Wesen der reinen Seele ähnlich wie bei Rauh-Else, Siegminne, Marpilia und Bramilla beschrieben, wie sie auf dem Meer der Ursachen vielfältige Formen und Namen annehmen kann, je nach dem Glauben und Wirken des Geistes. So wird aus Sidrat als „Paradiesbaum, der in den äußersten Himmel wächst,“ eine Liebgart als „Garten der Liebe“. Ja, das ist die Macht der wahren Liebe, die der gewöhnliche Verstand wohl niemals begreifen kann und von der uns Christus als ganzheitliches bzw. göttliches Bewußtseins sagt: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert. (Matth. 10.37

Hier kann man auch an die Tochter von Machorel, sowie an Mutter und Vater von Ortnit denken. Und wieder steht die große Frage: Wie bewußt muß man für diese wahre Liebe werden? Dazu sollte der Geist bereit sein, wenn er sich mit der reinen Seele vereinen will. Doch zunächst kehren sie nach Garden am Gardasee zurück, in das Reich des Verstandes am See des Gedächtnisses und am Rande der „Alben“, dem Reich der Naturgeister im Norden Italiens, wo später auch Hildebrand mit den Wölflingen wohnte. So ist dieser Ort auch nicht weit von Meran entfernt, wo Herzog Berchtung mit seinen Söhnen vom Ego-Sabene belagert wird und in der Burg Lilienporte auf seine Befreiung wartet.

Und das Riesenweib erzählte weiter:
Eine glänzende Hochzeit wurde hierauf gefeiert, und da gab es viele Turnierspiele und ein fröhliches Gelage mehrere Wochen lang. Eine große Zahl edler Knappen empfing das Ritterschwert und Burgen, auch Kleinodien aus dem noch unerschöpften königlichen Schatz. Nach den festlichen Tagen lebten die beiden Ehegatten in Liebe und Ehren. Der gefeierte Held erhielt sogar in Rom die Kaiserkrone und wurde von den Sängern und Spielleuten wegen seiner Taten gepriesen. Einst saß er mit der Kaiserin in festlicher Halle auf dem Thron, während seine Recken umher fröhlich zechten. Da wurde ein fremder Mann gemeldet, der, wie er sagte, aus dem Morgenland komme und reiche Geschenke bringe. Nach erteilter Zustimmung trat der Fremdling ein. Er war von riesenhaftem Wuchs und wildem Ansehen und nannte sich Welle. Er gab an, König Machorel wünsche um der Tochter willen Versöhnung mit seinem Schwiegersohn und sende ihm zum Zeichen seiner friedlichen Gesinnung die edelsten Kleinodien, welche in Syrien zu finden seien. Als der Mann seine Rede geendigt hatte, rief er sein Weib Ruotze. Sie erschien sogleich und war noch ungeschlachter als er selbst. Sie schleppte vier Kisten herein, deren Inhalt sie vor dem königlichen Paar und den neugierig zudrängenden Hofleuten auskramte. Die erste enthielt feine, zierliche Gewänder und allerlei Stahlwaren, die zweite Spangen, Ringe und Gürtel von Silber, die dritte dergleichen von Gold. Die vierte Kiste öffnete der Mann selbst und brachte daraus zwei riesige Eier zum Vorschein, die seltsam geformt und gefärbt waren. „Es sind Eier der Abrahamschen Wunderkröte.“, sagte der Mann: „Wenn sie ausgebrütet werden, was das Werk meines Weibes ist, dann findet man darin den herrlichen Krötenstein, der im Dunkeln wie die Sonne leuchtet, oder ein Wundertier, das, sofern man es gut nährt, die Grenzen des Landes gegen jeden feindlichen Angriff sicherstellt. Ich bin König Machorels Jägermeister und verstehe mich auf die Zucht. Darum, wenn ihr mir und meinem Weib in den Bergen eine finstere, feuchte Höhle anweist, dann wird die Brut wohlgeraten. In einem Jahr wird mein königlicher Herr selbst über das Meer herkommen, um Frieden und Freundschaft zu schließen und die Wunder zu beschauen.“

Nach der Hochzeit zwischen Geist und Seele ist der Weg zur ganzheitlichen Vernunft frei, und man sagt nicht umsonst „Alle Wege führen nach Rom“, wo sich irdische und geistige Macht auf dem Gipfel der Einheit des Bewußtseins wieder vereinen. So wird auch Ortnit zum Kaiser als Symbol eines ganzheitlichen Bewußtseins. Doch erscheinen offenbar noch während der Feierlichkeiten zwei Riesen, sozusagen als Naturgeist und Geistnatur, die uns an eine unbeglichene „Übermacht“ erinnern: Der Riese Welle als ein geistiger Wille der Wirkung auf dem Meer der Ursachen, und die Riesin Ruotze als „verschleimt“ oder „berußt“, vielleicht im Sinne einer verdunkelten Seele, die sich beim Kaiserpaar einschleimen will. So schwappt der unbesiegte Ego-Geist als „klebrige Welle“ über das Meer der Ursachen dem neuernannten Kaiser mit verführerischen Geschenken entgegen und weckt die trügerische Hoffnung, man könne sich auch mit dem Ego-Geist in Liebe versöhnen:

Die Königin freute sich der väterlichen Gaben und der nicht erloschenen Liebe ihrer Eltern. Sie fiel ihrem Gemahl um den Hals und bat ihn, die gebotene Hand ihres Vaters nicht zurückzuweisen. Dem stimmten die Hofleute zu, denn sie wußten, daß das Morgenland reich an mancherlei Wunderdingen war. Nur Zacharis, der getreue Heide, meinte kopfschüttelnd, es sei der Rede und den Gaben nicht zu trauen. Doch seine Worte blieben unbeachtet, und der König befahl dem Verwalter des Gebirges, den Boten zurechtzuweisen und für seine Bedürfnisse Sorge zu tragen.

Hier zeigt sich wieder das verursachende Wesen der Seele, die alle unverarbeiteten bzw. unbesiegten Ursachen wieder hervorholt und den Geist um die Auswirkung bittet. Und doch hat der Geist immer die Freiheit über die Wirkung zu bestimmen. Das ist das große Spiel zwischen Naturgesetz und Geistfreiheit, die unser gewöhnlicher Verstand nicht miteinander vereinen kann. Diese Ursachen sind dann auch die „Eier der Abrahamschen Wunderkröte“, die sozusagen der Riese als Naturgeist anbietet und die Riesin als Geistnatur ausbrüten kann, je nachdem, wie es der menschliche Geist will. Die Symbolik ist wieder sehr tiefgründig. Denn in den Ursachen kann man entweder den „Krötenstein“ der Weisheit als reines Licht des Bewußtseins finden oder ein „Wundertier“, das als Ego-Geist sein Reich und seinen Körper verteidigen will. Die „Entscheidung“ trifft das Bewußtsein selbst und hier spielt wieder der Glaube eine bedeutende Rolle. Ortnit als Christ schaut wohl mehr auf „Abraham“ als vertrauenswürdigen Stammvater, und der Heide mehr auf die Wunderkröte als tierhaftes Wesen der illusorischen Natur. Damit entscheidet sich Ortnit für den Weg zurück in die Verstandeswelt am Rande der Alben, denn obwohl „alle Wege nach Rom führen“, so hat doch der Geist die Freiheit zu bestimmen, in welche Richtung er auf diesen Wegen geht:

Hoch im Gebirge bei Trient in einer Steinwand war eine finstere und moorige Felsenhöhle. Dort nahm Welle mit seinem Weib Herberge, und letztere versorgte die Brut. Es dauerte nicht lange, da krochen aus den geborstenen Eiern zwei Lindwürmchen heraus. Sie waren gar zierlich und gelehrig und ringelten sich der Frau um den Leib, oder auch um einen Baumstamm, wie sie ihnen befahl. Selbst der Verwalter, der manchmal die Höhle besichtigte, hatte seine Freude an den munteren Tieren. Sie fraßen begierig das vorgeworfene Fleisch und wuchsen schnell heran, daß sie bald den Riesen und sein Weib überragten, wenn sie sich aufbäumten. Sie begehrten aber immer mehr des Fraßes, ein ganzes Rind genügte ihnen nicht mehr. Dabei wurden sie bösartig, zischten und heulten, wenn der Verwalter oder sonst ein Fremder eintrat, rissen die Rachen weit auf und zeigten zwei Reihen Zähne, die Fleisch und Knochen zu zermalmen drohten. Weil mit der Größe auch der Hunger wuchs und der Verwalter sich weigerte, mehr als zwei Rinder täglich zu liefern, so bedrohten sie selbst den Riesen Welle und sein Weib Routze so schrecklich, daß sich dieselben in eine andere Felsenhöhle flüchteten. Nun aber brachen die Ungeheuer heraus, erwürgten Menschen und Vieh und verheerten die ganze Gegend. Das Volk verließ die anmutigen Fluren am Ausgang des Gebirges und suchte anderwärts sichere Unterkunft. Aber die Ungetüme brachen bald da, bald dort aus der Wildnis hervor, so daß man nirgends mehr sicher war. Vergeblich suchten mancherlei Recken, sie zu bekämpfen. Sie fanden alle ihren Untergang. Der Verwalter rückte mit einigen Heerhaufen aus, doch Wurfspeere und andere Geschosse prallten wie schwache Zweiglein von den Drachenschuppen ab, und als die Ungeheuer, unter das Kriegsvolk stürzend, Roß und Mann zerrissen, ergriffen die Scharen die Flucht. Das ganze Königreich schien dem Verderben verfallen.

Die dunkle und feuchte Felsenhöhle, in der die Lindwürmer als Ego-Drachen ausgebrütet werden, deutet auf den materiellen Körper hin, in dem sich das Ego-Bewußtsein zu einem unersättlich gefräßigen Ungeheuer entwickeln kann, wenn es der Geist zuläßt. Und das war wohl auch mit der Ankündigung gemeint, daß der „königliche Herr“ nach einem Jahr selbst über das Meer kommen wird. Nur der versprochene Frieden war offenbar eine Lüge, und so entwickelte sich in Ortnits Kaiserreich kein goldenes Zeitalter der Zufriedenheit, wie er sich damals am Meeresufer wünschte, sondern eine unruhige Ego-Welt der gierigen und unersättlichen Ego-Drachen, die im gewöhnlichen Kampf auch mit größter Gewalt nicht zu besiegen sind. Kommt uns das bekannt vor? Zumindest erkennt der Kaiser das Problem, auch daß es in ihm selbst liegt und er dafür verantwortlich ist:

Eines Tages trat Kaiser Ortnit zu seiner Gattin und bat sie, ihm die Rüstung anzulegen, weil er einen schweren Kampf bestehen müsse. Sie sah ihn traurig an und sprach stockend: „Ortnit, in welchen Kampf?“ - „Sieh, Liebgart“, sagte er, „die Linddrachen, die Land und Leute verderben, das sind die Krötensteine, die mir dein Vater gesandt hat. Ich aber bin des Volkes Schutz. Wie mein Volk für mich kämpfte und blutete, als ich auszog, dich zu erwerben, so will, so muß ich jetzt für dasselbe Sieg gewinnen oder sterben.“ - „Du schaffst mir großes Leid“, sagte sie weinend: „Du bist mir Vater und Mutter, dein Gott ist mein Gott geworden, an deinem Leben hängt das meine. Wenn du in dem schrecklichen Abenteuer umkommst, dann muß auch ich untergehen. Und sollte ich das elende Leben weiter ertragen, so wird man mich, die Landesfremde, hinausstoßen wie eine Bettlerin.“ - „Sei getrost, Liebgart“, sagte er, „ich habe Rosen, das gute Schwert, das Stahl und Stein spaltet. Es wird auch die Drachenschuppen zerhauen. Kehre ich aber nicht zurück, dann wird mir ein Rächer auferstehen. Wer dir dann den Ehering wiederbringt, den ich einst von dir empfing, der ist mein Rächer, und ihm magst du die Hand zum neuen Ehebund reichen.“ Er drückte den Abschiedskuß auf ihre Lippen, dann riß er sich aus ihren Armen und eilte fort. Sie sah dem geliebten, hochherzigen Mann lange nach, wie er auf seinem edlen Roß in strahlender Rüstung nach dem wilden Gebirge ritt, wo schon so viele treffliche Recken ihren Untergang gefunden hatten.

Ortnit erreichte auf bekanntem Weg die Steinwand, an deren Fuß die finstere Felshöhle sein sollte, in welcher die Würmer ausgebrütet worden waren. Doch er fand sie nicht. Er stieg vom Pferd, stieß in sein Horn und ließ den treuen Jagdhund los, den er mitgenommen hatte, um die Unholde aufzuspüren. Da öffnete sich plötzlich ein Felsentor, und der Riese Welle trat heraus. „Holla, Mädchendieb!“, rief der Berserker und schlug mit seiner Eisenstange nach ihm, fehlte jedoch, und der König hieb ihm mit seinem guten Schwert die Stange mittendurch. Der Riese sprang zurück, zückte aber blitzschnell ein sechs Ellen langes Schwert und traf ihn damit auf den Helmkegel, daß er zu Boden taumelte. „Hast gut getroffen, altes Mondkalb!“, schrie das Riesenweib Ruotze, das vom Kampfgetöse herbeigelockt war: „Nun will ich dem Dieb den Hals umdrehen und seinen Leib den Würmern zum Fraß vorwerfen.“ In diesem Augenblick erhob der Jagdhund des Königs im Wald ein wütendes Gebell. Ruotze stürzte fort, um zu sehen, was es gebe, und da erhob sich der König und hieb nach kurzem Gefecht dem Riesen ein Bein ab. Der Unhold heulte laut und wehrte sich noch, an die Felswand gelehnt, aber sein Gegner hieb ihm auch das andere Bein ab. Auf das Geschrei kam die Riesin zurück. Mit einem entwurzelten Baum schlug sie nach dem König, traf aber in der Wut ihren Mann, daß ihm der Schädel zerbarst. Ortnit erschlug nun auch die Riesin und ruhte nach dem gräßlichen Kampf mit den Scheusalen. Er aß und trank von den mitgenommenen Vorräten, während sein Hengst im Gras weidete. Als er sich wieder gestärkt fühlte, brach er auf. Er ritt durch unwirtliche Wälder und traf endlich auf einige Waldleute, die sich mit Holzkohlebrennen beschäftigten. Sie sagten, die Ungeheuer hätten sich westwärts verzogen. Doch hause daselbst nur das eine und habe in einer tiefen Höhle ein Nest voller Jungen. Das andere sei, wie es scheine, tiefer ins Gebirge, vielleicht auch in ein fernes Land gegangen. Dann beschworen sie den Helden, die Untiere nicht weiter aufzusuchen, weil kein sterblicher Mensch sie bestehen könne.

Hier zeigt sich wieder das Prinzip der Trennung, das die Lindwürmer als Ego-Drachen verkörpern und bereits mit den zwei Eiern als Wesen der Dualität angedeutet wurde. Nachdem sich ihre Zieheltern von ihnen getrennt hatten, müssen sie sich auch selbst trennen und können nicht friedlich zusammenleben. „Tiefer ins Gebirge“ erinnert uns an die materielle Körperlichkeit, und das „ferne Land“ and die mehr geistige Welt, wo auch Sabene immer noch als Ego-Weisheit herrscht.

Der Kampf gegen die Riesenkräfte beginnt vielversprechend, denn Ortnit kann dem übermächtigen Naturgeist die Beine abschlagen, so daß er Grundlage und Stand verlor und von der weiblichen Geistnatur wie von selbst vernichtet wird, womit sich die Übermacht im Gegenspiel von Geist und Natur wieder ausgleichen konnte. Doch Ortnit tötete dann auch die Riesin als Geistnatur, was uns an Meister Hildebrand erinnert, als er am Ende des Nibelungenliedes Kriemhild tötete. Damit fällt nun auch Ortnit wieder mehr und mehr aus der ganzheitlichen Kaiser-Vernunft in den begrifflichen Verstand mit der Vorstellung des „Tötens“ zurück und wird auf dieser Bewußtseinsebene „ein sterblicher Mensch“.

Ohne auf die Warnung zu achten, ritt Ortnit in der angegebenen Richtung nach Westen weiter. Anderen Tages kam er in einen Wiesengrund, wo er unter einem Baum den kleinen Alberich sitzen sah. Der Zwerg schien sehr traurig und sagte zu ihm, als er das Pferd anhielt: „Ortnit, mein lieber Sohn, es ist der Weg des Todes, den du reitest. Kehre um! Denn ich habe keine Macht über das höllische Gezücht, das du bekämpfen willst. Ich kann dir dabei keine Hilfe leisten.“ - „Ich bedarf der Hilfe nicht!“, versetzte der Held: „Habe ich nicht das Schwert Rosen? Das ist mein Helfer gegen die Mächte der Hölle, die mein geliebtes Volk verderben wollen.“ - „Fahre glücklich!“, rief der Kleine, war mit einem Sprung bei ihm auf dem Sattel und küßte ihn auf den bärtigen Mund. „Fahre glücklich, sei wachsam und schlafe nicht! Achte auf diesen letzten Rat, den ich dir geben kann. Nun aber gib mir das Fingerringlein, das du von deiner Mutter empfangen hast. Kommst du wieder heil nach Garden, dann erhältst du es zurück.“ Kaum hatte Ortnit die Gabe dem Zwerg ausgehändigt, da fühlte er noch einen Kuß auf seinen Lippen, und der Kleine war verschwunden.

Der unverzagte Held ritt unbeirrt weiter durch rauhe Felsentäler und wilden Tann. Er gelangte unvermutet an die ihm bekannte Steinwand und, ihr entlang reitend, an jene Linde, unter welcher er den guten Alberich zuerst schlafend gefunden hatte. Da tönte noch der heitere Vogelgesang, da blühten und dufteten noch die vielfarbigen Blumen, da lud der frische Rasen den Wanderer zur Ruhe ein. Ortnit und sein Pferd waren müde. Er stieg daher ab, ließ seinen Hengst frei weiden und lagerte sich in das weiche Gras. Der treue Hund streckte sich dicht neben seinen Herrn. Der König dachte über sein Vorhaben nach. Es schien ihm, als jubelten ihm die Vögel Beifall zu, sie sangen immer lieblicher und gaukelten über ihm in den Zweigen, die ein sanfter Lufthauch bewegte. Der Held sah dem Spiel zu, seine müden Augenlider schlossen sich allmählich, und er fiel in tiefen Schlaf.

Warum kann ihm Alberich nicht mehr helfen? Nun, einerseits hat er nun seine Seele als Geistnatur gefunden, auf die er sich stützen sollte, anderseits sind doch die Naturgeister und alle ihre Mittel, die sie an Waffen und Rüstungen geben können, schließlich nur dafür da, um das Bewußtsein zu „entwickeln“ und zu „entfalten“, daß es aus seiner Traumwelt erwacht und wie die Lilie göttliche bzw. ganzheitliche Blüten trägt, oder wie der Paradiesbaum des Lebens im Garten der Liebe in die höchsten Himmel wächst. Und das kann das Bewußtsein nur selbst tun. Alberich erkannte natürlich, daß sein Sohn noch nicht soweit war, und deshalb mußte er auch den Goldring der ganzheitlichen Sicht abgeben, denn auch das war nur ein äußerliches Mittel für den Weg. In gleicher Weise werden ihm auch das Schwert Rosen und die unzerstörbare Rüstung als äußerliche Mittel nichts mehr nützen. So schließt sich dann auch der Lebenskreis, und Ortnit kommt an die Wurzel der Linde als Lebensbaum zurück, wo er einst Alberich als König der Naturgeister gefunden hatte, wo die Vögel singen und die vielfältigen Blumen blühen und duften, also immer noch eine Verstandeswelt der Sinne und Gedanken. Doch hier trifft er nun nicht auf den schlafenden Alberich, sondern wird selbst zum schlafenden Naturgeist und trifft auf die Geistnatur als weiblichen Ego-Drachen, der wie immer gierig auf Nahrungssuche ist:

Plötzlich verstummte der Vogelgesang, die Zweige lispelten nicht mehr, die Blumen senkten, wie von einem Gifthauch angeweht, ihre Kronen. Durch das Gehölz kroch, Bäume und Sträucher niederbrechend, der scheußliche Lindwurm, seine Schuppenhaut rasselte, seine Augen glühten wie Feuerbrände, sein halboffener Rachen zeigte zwei Reihen spitzer Zähne. Der treue Jagdhund, ein starkes und flinkes Tier, fiel ihn mit wütendem Gebell an. Als der Wurm aber den Rachen weit aufriß und mit gräßlichem Geheul auf ihn zu stürzte, lief er zu seinem Herrn zurück und zerrte an seinem Gewand, um ihn zu wecken. Es war vergeblich, der Held war wie von einem Zauberschlaf befangen. Der Hund sprang von neuem auf den Drachen los, er umkreiste ihn, versuchte ihn am Rücken zu fassen, aber er entging kaum den Schlägen des Schweifes, der sich wie ein Rad umschwang. Jetzt hatte der Wurm den Helden aufgespürt. Er stürzte auf ihn zu, erfaßte ihn mit den Zähnen, trug ihn mit einigen Sprüngen ins Dickicht, wo er ihn an einer Felsenzacke zermalmte. Helm und Rüstung blieben zwar unverletzt, aber alle Körperglieder waren wie morsches Holz zerbrochen. Darauf ergriff er die zermalmte, tote Masse wieder und trug sie nach der finsteren Höhle, wo er sein Nest mit den jungen Würmern hatte. Der Jagdhund verfolgte ihn zwar mit wütendem Gebell. Als ihm aber der alte Drache wieder zähnefletschend und brüllend entgegenkam, wich er scheu zurück, blieb jedoch während der Nacht in der Nähe und trat erst am folgenden Morgen den Rückweg nach Garden an. Die jungen Ungeheuer versuchten indessen vergebens Helm und Rüstung zu zerbeißen, sie konnten nur mit ihren spitzen Schnauzen durch die festen Stahlringe Blut und Fleisch aussaugen.

Der Lindwurm an der Linde als Lebensbaum erinnert uns hier aus geistiger Sicht wieder an das biblische Bild, wo sich die teuflisch-feindliche und giftige Schlange um den Baum des Lebens schlängelt und ihn damit zum Baum der Gegensätze von Gut und Böse macht. Durch dieses trennende Bewußtsein erscheinen dann Mann und Frau, Geist und Natur, Körper und Seele. Und um diese Gegensätze wieder zu vereinen, muß der berühmt-berüchtigte Lindwurm oder Ego-Drachen besiegt werden, der so schwer zu besiegen ist.

Wie bewußt muß man sein, um den Ego-Drachen zu besiegen? Wie bewußt muß man sein, daß das trennende wieder ein ganzheitliches Bewußtsein wird, das vergängliche ein ewiges? Der Jagdhund als Symbol der begrifflichen Gedanken reicht hier offenbar nicht aus, wie treu er auch immer ist. Damit erinnert uns diese Symbolik auch an die Geschichte von Wolfdietrich am Magnetberg, wo er Waffen und Rüstung im Meer versinken ließ, um selbst lebendig zu bleiben und sich mit lebendiger Seele bewußt vom Greif erfassen und in sein Nest tragen ließ. Was wohl auf eine höhere Ebene des Bewußtseins hindeutet, die Ortnit noch nicht erreicht hatte. So kehrt dann nur der Jagdhund als Gedanke des Todes nach Garden in die Verstandeswelt zurück:

Wolfdietrich hörte aufmerksam zu, und das Riesenweib fuhr fort:
In Garden brachten unterdessen Liebgart und die alte Königin Tage und Nächte in großer Unruhe zu. Sie hofften und fürchteten. Am vierten Tag saßen sie kummervoll beisammen, da kratzte und winselte etwas an der Tür. Liebgart öffnete und erblickte den wohlbekannten treuen Hund, den Begleiter ihres Gemahls. Er sprang nicht, wie sonst, fröhlich auf sie zu, sondern kroch langsam herein und legte sich wimmernd der alten Königin zu Füßen. „Er ist tot, von dem Ungeheuer erwürgt!“, rief die unglückliche Mutter. Es waren ihre letzten Worte. Sie sank leblos von ihrem Hochsitz. „Tot! Alles tot!“, klagte die junge Königin: „Höre es, Lombarden-Land, dein König ist tot!“ Die lauten Klagen riefen die Frauen und viele Burgmannen in die Halle. Sie hörten, sie sahen, was geschehen war, und allgemeine Bestürzung verbreitete sich in der Burg, in der Stadt und bald weiter im ganzen Land. Mehrere Recken machten sich auf, den geliebten König, den hochherzigen Landesvater, zu suchen oder zu rächen. Sie folgten dem Jagdhund, der, als ob er ihre Absicht verstehe, voranlief. Doch als die ersten zur Beute des Ungetüms wurden, das bald da, bald dort aus dem Dickicht hervorbrach, da scheuten sich auch die mutigsten Helden, das Abenteuer zu wagen, denn es war etwas anderes, den ruhmvollen Schlachtentod zu sterben, als unter den Zähnen eines Untiers sein Leben auszuhauchen.

So trägt nun der Jagdhund als Gedanke die Vorstellung von „Tod“ in die Verstandeswelt, und mit dem Körper des Sohnes stirbt auch die Mutter als Materie, wie wir auch heute noch Materie als etwas Totes betrachten. Und die Seele der Natur? Stirbt sie nun auch zusammen mit der Liebe?

Das Lombarden-Land war nun herrenlos. Die großen Vasallen rissen die königlichen Rechte an sich, führten Krieg, verwüsteten einander die Länder mit Feuer und Schwert, während der Linddrache Menschen und Vieh raubte und seinen Jungen zum Fraß vorwarf. Es war eine schlimme und trostlose Zeit. Da traten endlich die Großen des Reiches zusammen und berieten sich, wie Besserung zu schaffen sei. Man kam zu dem Beschluß, die Kaiserin müsse aufgefordert werden, sich einen edlen Gemahl zu wählen, der Macht und Weisheit besitze, das Reich aus dem tiefen Verfall zu erheben. Dazu meinte nun jeder, der geeignete Mann zu sein. Jeder hoffte daher, die kaiserliche Braut heimzuführen. Als nun die Fürsten vor die trauernde Witwe traten, erklärte diese ernst und feierlich, sie werde dem einzig geliebten Ortnit die Treue bis in den Tod bewahren. Auch sei keiner der Fürsten würdig, sein Nachfolger in der königlichen Halle zu werden, als wer ihn an dem gräßlichen Ungeheuer räche. Die Fürsten sahen einander bestürzt an und verließen die edle Frau. Indessen ließen sie dieselbe bald ihren Unwillen fühlen. Sie rissen die königlichen Schätze an sich, beschränkten sie auf ein armseliges Jahresgehalt und nötigten sie dadurch, ihr Gefolge zu entlassen und mit wenigen Frauen, die nicht von ihr wichen, für ihren Unterhalt selbst zu spinnen und zu weben.

Ja, richtig, der Geist kann die reine Seele als Paradiesbaum des ewigen Lebens und Garten der reinen Liebe in der körperlichen Welt nur gewinnen, wenn er den Ego-Drachen besiegt, wie auch Siegfried den Flugdrachen auf dem Drachenstein besiegte, um Kriemhild zu heiraten. Nur dann ist auch der „Sieg-Frieden“ im Menschenreich möglich.

Mit Unmut hörte der gute Markgraf von Tuskan (Toskana) von der Bedrängnis der Kaiserin. Er bot ihr Burgen und Schlösser in seinem Land an, aber sie erwiderte, in Garden sei sie einst mit Ortnit glücklich gewesen, da wolle sie auch in ihrer Trauer um ihn verharren. Gerührt von der Treue der edlen Frau, sandte ihr nunmehr der Fürst täglich die nötigen Vorräte an Speise und Wein, damit sie mit ihren Dienerinnen vor unwürdigem Mangel geschützt sei. Indessen lebte sie doch fortwährend unter schweren Drangsalen, da sie von den übrigen Burgherren unablässig mit Beschränkungen gekränkt wurde, um sie zu einer zweiten ehelichen Verbindung zu zwingen. Sie ertrug aber alle Mißhandlungen mit Hingabe, denn in ihrer Seele lebte das Andenken an den geliebten Gatten und die Hoffnung, es werde ihm noch ein Rächer auferstehen.

Damit beschloß das Riesenweib die Geschichte von Kaiser Ortnit. Wolfdietrich saß lange schweigend und dachte darüber nach. Seine frohen Hoffnungen waren weit entschwunden, doch war er entschlossen, seine Fahrt fortzusehen. Da meinte das Riesenweib, das werde auf seinem vierbeinigen Klepper sehr langsam gehen, nahm ihn samt Pferd auf ihre gewaltigen Schultern und trug ihn huckepack in einem Tag zweiundsiebzig Meilen über Berge, Täler und Flüsse ins Lombardenland, wo sie die Bürde absetzte.

So erfuhr nun Wolfdietrich als „körperliche Vernunft“ vom Schicksal der „vernünftigen Körperlichkeit“ und erkannte, daß er seine Hoffnung nicht auf „jemand anderen“ setzen konnte, sondern das Problem als ganzheitliche Vernunft selbst lösen mußte. Das Riesenweib zeigt sich dann wieder als Mutter Natur, die alles Körperliche trägt, und wenn der Geist bereit ist, geht die Fahrt in die Verstandeswelt am Rande der „Alben“ schnell voran. Und sie weiß natürlich, an welchen Ort sie ihn jetzt bringen sollte, denn die Natur kennt ja alle Geschichten.


.....
Hugdietrichsage: Hugdietrich und Hildburg
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und seine Dienstmänner
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Siegminne
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und der Messermann
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Bramilla
Hugdietrichsage: Die Geschichte von Kaiser Ortnit
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Liebgart
Hugdietrichsage: Wolfdietrichs Weg der Befreiung
Hugdietrichsage: Kaiser Dietwart als Hugdietrich
Dietrichsage: Samson als erster großer König der Amelungen
Dietrichsage: Dietrichs Kindheit und Jugend
... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: